[...] Seine Arbeit wurde auch in der Folgezeit als autobiographisch
verstanden, wodurch rein literaturtheoretische Analyseversuche
die Seltenheit blieben2.
Bei genauerer Betrachtung des Werkes fällt seine Widersprüchlichkeit
auf3, die eine reine Verherrlichung des Ästhetizismus-Gedankens in
Frage stellt. Durch das Leben der Figur Dorian Gray im Sinne des von
Lord Henry Wotton propagierten new hedonism wird der theoretische
Ansatz zwar zu einem praktischen Versuch umgewandelt, jedoch wird
durch das Scheitern des Helden das Fehlschlagen der vollständigen
Ästhetisierung des Lebens deutlich. Auch an der Figur Lord Henry ist
erkennbar, dass der Ästhetizismus ein widersprüchliches Phänomen ist
und dies im Werk auch deutlich wird.4
Ziel der vorliegenden Arbeit ist die kritische Betrachtung und Analyse
dieser Widersprüchlichkeit. Es wird insbesondere die Frage zu klären
sein, ob der kunsthistorische Diskurs des Ästhetizismus in der Fiktionalität
des Werkes ad absurdum geführt wird. Dazu soll zunächst der Begriff
Ästhetizismus unter soziologischen und kunsthistorischen Aspekten
kurz beleuchtet werden, um im zweiten Teil die von Lord Henry Wotton
propagierte Lehre des new hedonism zu analysieren und dessen Auswirkungen
auf das Leben Dorians aufzuzeigen. Im Zentrum der Betrachtung
steht hierbei die Schuldfrage. Ist es allein der Einfluss Lord
Henrys, der den Fall Dorian Grays verursacht, und welche Auswirkungen
hat die Frage der Schuld auf die Aussageabsicht des Romans, sofern
es eine solche in einem ästhetizistischen Werk überhaupt geben
kann? Der dritte Teil widmet sich daraufhin der Figur Lord Henry Wotton
und soll das Thema Dandysmus in dem Roman näher beleuchten.
Den Abschluss bildet ein kritisch zusammenfassendes Fazit.
2 Vgl. Pfister: Oscar Wilde: The Picture of Dorian Gray. S. 7
3 Dieser Widerspruch wird u.A. in Norbert Kohls Essay Der angepaßte Rebell
beschrieben. (Vgl. S. 16-19)
4 Im Zentrum der nachfolgenden Betrachtung stehen daher diese beiden
Figuren und ihre Konzeption soll mit den theoretischen Äußerungen Oscar
Wildes und Walter Paters verglichen werden Die Figur Basil Hallward, die
deutliche Züge des Kunstverständnisses von John Ruskin beinhaltet, kann
aus Platzgründen in dieser Arbeit nicht berücksichtigt
werden.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Ästhetizismus
2.1 sozial-geschichtlicher Hintergrund
2.2 Die Kunst
3 Dorian Gray und der New Hedonism
3.1 Begriffsklärung
3.2 Das Leben Dorians
3.3 Die Folgen
4 Lord Henry – der Dandy?
5 Fazit
6 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
The Picture of Dorian Gray ist eines der meist diskutierten Werke der englischen Literatur und hat schon unmittelbar nach seiner Entstehung einen großen Sturm der Entrüstung bei den Lesern provoziert. Der Roman, als „Thesenschrift des Ästhetizismus“[1], und damit von vielen als Aufbegehren gegen die Moral und den konventionellen Kunstgeschmack verstanden, diente sogar als Beweisstück des Prozesses, in dem Oscar Wilde 1895 wegen seiner homosexuellen Neigungen angeklagt wurde. Seine Arbeit wurde auch in der Folgezeit als autobiographisch verstanden, wodurch rein literaturtheoretische Analyseversuche die Seltenheit blieben[2].
Bei genauerer Betrachtung des Werkes fällt seine Widersprüchlichkeit auf[3], die eine reine Verherrlichung des Ästhetizismus-Gedankens in Frage stellt. Durch das Leben der Figur Dorian Gray im Sinne des von Lord Henry Wotton propagierten n ew hedonism wird der theoretische Ansatz zwar zu einem praktischen Versuch umgewandelt, jedoch wird durch das Scheitern des Helden das Fehlschlagen der vollständigen Ästhetisierung des Lebens deutlich. Auch an der Figur Lord Henry ist erkennbar, dass der Ästhetizismus ein widersprüchliches Phänomen ist und dies im Werk auch deutlich wird.[4]
Ziel der vorliegenden Arbeit ist die kritische Betrachtung und Analyse dieser Widersprüchlichkeit. Es wird insbesondere die Frage zu klären sein, ob der kunsthistorische Diskurs des Ästhetizismus in der Fiktionalität des Werkes ad absurdum geführt wird. Dazu soll zunächst der Begriff Ästhetizismus unter soziologischen und kunsthistorischen Aspekten kurz beleuchtet werden, um im zweiten Teil die von Lord Henry Wotton propagierte Lehre des new hedonism zu analysieren und dessen Auswirkungen auf das Leben Dorians aufzuzeigen. Im Zentrum der Betrachtung steht hierbei die Schuldfrage. Ist es allein der Einfluss Lord Henrys, der den Fall Dorian Grays verursacht, und welche Auswirkungen hat die Frage der Schuld auf die Aussageabsicht des Romans, sofern es eine solche in einem ästhetizistischen Werk überhaupt geben kann? Der dritte Teil widmet sich daraufhin der Figur Lord Henry Wotton und soll das Thema Dandysmus in dem Roman näher beleuchten. Den Abschluss bildet ein kritisch zusammenfassendes Fazit.
2 Ästhetizismus
2.1 sozial-geschichtlicher Hintergrund
Das England am Ende des 19. Jahrhundert ist durch einen großen Umbruch in der sozialen und politischen Welt geprägt. Mit dem langsamen Verschwinden der Aristokratie und dem Aufblühen der Demokratie beginnt für die Bürger Englands ein neues Zeitalter, welches grundlegende Veränderungen in allen Bereichen des Lebens zur Folge hat. Aus einer Ständegesellschaft, in der die soziale Position des Menschen durch die Geburt festliegt, entwickelt sich eine Klassengesellschaft, in der soziale Mobilität durch Leistung möglich wird:
“Industrialism had made wealth, and not birth, the yardstick of social distinction which was to the benefit of the
bourgeoise and the commercial classes, that enjoyed a prosperity never dreamt before.”[5]
Massenproduktion und Konformität waren die Folge der wachsenden Industrialisierung und des Kapitalismus und prägten einen Utilitarismus, der diese „Leistungsgesellschaft“ charakterisierte.
Ästhetizistisches Denken, als Gegenbewegung dieser Entwicklung, manifestiert sich in der Erscheinungsform des Dandys.
Das Bestreben des Dandys in der Zeit der aufkommenden Demokratie ist, den Stolz und die Würde des Adels zu bewahren, und sein gesamtes Auftreten dient dem Protest und der Rebellion gegen die Gesellschaft.
Der Dandysmus wird von Charles Baudelaire als „das letzte heroische Sichaufbäumen in Zeiten des Verfalls“[6] beschrieben. Der Dandy will in der Zeit der Massenproduktion und des Utilitarismus die Idee des Schönen kultivieren und der hässlichen Wirklichkeit Eleganz und Originalität entgegensetzen. Dies erfordert eine Absonderung von der Gesellschaft, der er mit Kälte, Blasiertheit und einer kontemplativen Haltung gegenübersteht..[7]
Die 90er Jahre des 19. Jahrhunderts sind als eine Zeit der Dekadenz zu betrachten, deren Bezeichnung als ‚Fin de siècle‘ für die Ästhetizisten treffend eine Art Endzeitstimmung ausdrückt, in der jeglicher Halt an das sozio- kulturelle Umfeld verlorengegangen ist.
Diese Stimmung spiegelt sich auch in den Dialogen in The Picture of Dorian Gray wieder:
‚Fin de siècle‘, murmured Lord Henry.
,Fin du globe‘, murmured his hostess.
‚I wish it were no fin du globe‘ said Dorian, with a sigh. ‚Life is a great disappointment‘[8]
2.2 Die Kunst
Entsprechend der sozialen Transformation bildet sich ein neues Verständnis von Kunst heraus: Da die Wirklichkeit von den Künstlern als hässlich und unzureichend empfunden wird, ist es nicht mehr Auftrag der Kunst die Wirklichkeit realistisch abzubilden. Vielmehr steht der sinnliche Lustgewinn und die Erhebung der Schönheit als das höchste Gut im Vordergrund.
Oscar Wildes kunsttheoretische Äußerungen finden sich hauptsächlich in seinen beiden Essays „The Decay of Lying“ und „The Critic as Artist“. Angelehnt an Gautier, Baudelaire, Flaubert und Pater vertritt Wilde u.a. den Gedanken der Autonomie der Kunst, und zwar nicht nur als Abkehr von der mimetisch-realistischen Abbildung der Wirklichkeit, sondern ebenso als Abhebung von moralischen und gesellschaftlichen Verpflichtungen.[9] Schlagwort dieser Epoche ist ‚L’art pour l’art‘, „ eine Devise, die gegen die Unterordnung der Kunst unter die Moral... aufbegehrt“[10]. Die konventionelle und puritane Moral der viktorianischen Gesellschaft wird verpönt, und in dieser Zeit der Entfremdung ist es die Kunst allein, in der der Mensch wahre Erfüllung erlangen kann. Sie soll keinen sinnvollen Zweck mehr erfüllen und jeden Bezug zur Realität verlieren, so dass jegliche didaktische Funktion der Kunst entfällt. Kunst soll nicht mehr lehren, sondern erfüllt für die Ästhetizisten eher eine eskapistische Funktion: mittels der Schönheit der Kunst soll es möglich sein, der hässlichen Wirklichkeit zu entfliehen. Daher werden Form und Ausdruck dem Inhalt vorangestellt und die Kunst wird zur „Feindschaft gegen das Leben“[11].
„Das Leben hat den einheitsstiftenden gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang verloren, auf den jede menschliche und künstlerische Betätigung als sinnvoll zu bezeichnen wäre“.[12]
[...]
[1] Wuthenow: Europäischer Ästhetizismus. S. 151
[2] Vgl. Pfister: Oscar Wilde: The Picture of Dorian Gray. S. 7
[3] Dieser Widerspruch wird u.A. in Norbert Kohls Essay Der angepaßte Rebell
beschrieben. (Vgl. S. 16-19)
[4] Im Zentrum der nachfolgenden Betrachtung stehen daher diese beiden
Figuren und ihre Konzeption soll mit den theoretischen Äußerungen Oscar
Wildes und Walter Paters verglichen werden Die Figur Basil Hallward, die
deutliche Züge des Kunstverständnisses von John Ruskin beinhaltet, kann
aus Platzgründen in dieser Arbeit nicht berücksichtigt
werden.
[5] Ojala: Aestheticism and Oscar Wilde. S. 19
[6] Baudelaire: Der Maler des modernen Lebens. S. 244
[7] Vgl. Ebd. S. 241-245
[8] The Picture of Dorian Gray. S. 179
[9] Vgl. Pfister: Oscar Wilde: The Picture of Dorian Gray. S. 75
[10] Wuthenow: Europäischer Ästhetizismus. S. 108
[11] Ebd. S. 117
[12] Lindner: Ästhetizismus, Dekadenz, Symbolismus. S. 71
- Arbeit zitieren
- Constanze Rüther (Autor:in), 2003, Ästhetizismus und new hedonism in The Picture of Dorian Gray, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/18556
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