Die deutsch-französischen Beziehungen der Jahre 1989-1990 stehen unter dem Eindruck der sogenannten „Wende“ im Osten. Der Wandel von sozialistischer Diktatur zu Demokratie und Freiheit beendet die Ära des Kalten Krieges und stellt die gesamte Nachkriegsordnung in Frage. Mit ihr kommt die deutsch-französische Zusammenarbeit auf den Prüfstein, die jahrzehntelang auf einer empfindlichen Balance zwischen einem politischen Übergewicht Frankreichs und einer wirtschaftlichen Überlegenheit der Bundesrepublik basiert. In der Tradition dieser Betrachtungsweise hat schon 1979 der damalige französische Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing dem sowjetischen Staatsoberhaupt Leonid Breschnew versichert, daß die deutsche Teilung im Interesse der Nachbarn und des europäischen Gleichgewichts beibehalten werden müsse.
Mitterrand führt diese Politik insofern fort, als er die Beziehungen zur „DDR“ stark ausbaut und auch wirtschaftliche Unterstützung gibt1. 1978 schreibt er, damals Generalsekretär der Sozialistischen Partei:
„Von der politischen und moralischen Bedeutung der Vereinigung für die Deutschen abgesehen, wenn ich bei den Tatsachen bleibe, also dem europäischen Gleichgewicht, der Sicherheit Frankreichs, der Bewahrung des Friedens, halte ich sie weder für möglich noch für wünschenswert.“
Je dringender die Lösung der deutschen Frage Ende der achtziger Jahre wird, desto offensichtlicher stürzt sie das deutsch-französische Paar in eine tiefe Krise. Gegenüber dem Streben nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten frappiert der heftige und emotional verstärkte Widerstand der Franzosen.
Die Darstellung der deutsch-französischen Beziehungen stützt sich auf die im August 1998 erschienene Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes zur deutschen Einheit. In minutiöser Arbeit ist hier mit Dokumenten und Zeugnissen der gesamte Verhandlungs- und Gesprächsablauf auf dem Weg zur Einheit aus deutscher Sicht aufbereitet worden. In Anbetracht der Tatsache, daß auf dem diplomatischen Parkett oft eine verhaltene und indirekte Sprache gesprochen wird, sind die jeweiligen Kommentare und Interpretationen von großer Hilfe (Einführung von Hanns Jürgen Küsters). Unter der Prämisse, daß der französische Staatspräsident die deutsche Einheit nur widerwillig akzeptiert hat, ist es aufschlußreich, seine offiziellen Stellungnahmen im Kontrast zu seinen politischen Handlungen zu betrachten. [...]
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I EINLEITUNG
II Die deutsch-französischen Beziehungen 1989-90 auf Regierungsebene
III Die Haltung der intellektuellen Elite Frankreichs
IV FAZIT
ANHANG
BIBLIOGRAPHIE
I Einleitung
Die deutsch-französischen Beziehungen der Jahre 1989-1990 stehen unter dem Eindruck der sogenannten „Wende“ im Osten. Der Wandel von sozialistischer Diktatur zu Demokratie und Freiheit beendet die Ära des Kalten Krieges und stellt die gesamte Nachkriegsordnung in Frage. Mit ihr kommt die deutsch-französische Zusammenarbeit auf den Prüfstein, die jahrzehntelang auf einer empfindlichen Balance zwischen einem politischen Übergewicht Frankreichs und einer wirtschaftlichen Überlegenheit der Bundesrepublik basiert. In der Tradition dieser Betrachtungsweise hat schon 1979 der damalige französische Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing dem sowjetischen Staatsoberhaupt Leonid Breschnew versichert, daß die deutsche Teilung im Interesse der Nachbarn und des europäischen Gleichgewichts beibehalten werden müsse.
Mitterrand führt diese Politik insofern fort, als er die Beziehungen zur „DDR“ stark ausbaut und auch wirtschaftliche Unterstützung gibt[1]. 1978 schreibt er, damals Generalsekretär der Sozialistischen Partei:
„Von der politischen und moralischen Bedeutung der Vereinigung für die Deutschen abgesehen, wenn ich bei den Tatsachen bleibe, also dem europäischen Gleichgewicht, der Sicherheit Frankreichs, der Bewahrung des Friedens, halte ich sie weder für möglich noch für wünschenswert.“[2]
Je dringender die Lösung der deutschen Frage Ende der achtziger Jahre wird, desto offensichtlicher stürzt sie das deutsch-französische Paar in eine tiefe Krise. Gegenüber dem Streben nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten frappiert der heftige und emotional verstärkte Widerstand der Franzosen.
Die Darstellung der deutsch-französischen Beziehungen stützt sich auf die im August 1998 erschienene Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes zur deutschen Einheit[3]. In minutiöser Arbeit ist hier mit Dokumenten und Zeugnissen der gesamte Verhandlungs- und Gesprächsablauf auf dem Weg zur Einheit aus deutscher Sicht aufbereitet worden. In Anbetracht der Tatsache, daß auf dem diplomatischen Parkett oft eine verhaltene und indirekte Sprache gesprochen wird, sind die jeweiligen Kommentare und Interpretationen von großer Hilfe (Einführung von Hanns Jürgen Küsters). Unter der Prämisse, daß der französische Staatspräsident die deutsche Einheit nur widerwillig akzeptiert hat, ist es aufschlußreich, seine offiziellen Stellungnahmen im Kontrast zu seinen politischen Handlungen zu betrachten. Neben dem Vergleich von Wort und Tat oder Taktik sind die vertraulichen Bemerkungen, die sein Berater Jacques Attali in den Verbatim- Bänden aufgezeichnet hat, erhellend und geradezu brisant[4]. Die der Öffentlichkeit nicht zugedachten Äußerungen stehen teilweise in krassem Widerspruch zu seinen offiziellen Beteuerungen für die Einheit. Mitterrand selbst hat Über Deutschland geschrieben (1996 posthum erschienen)[5]. Seine Memoiren über die Zeit der Wiedervereinigung sind natürlich subjektiv, überraschen jedoch durch beträchtliche Unterschiede zu Zeitzeugen in der Darstellung seiner Haltung zur deutschen Einheit. Es drängt sich der Verdacht auf, daß der Staatsmann nachträglich den Versuch unternimmt, seine Politik in einem für ihn vorteilhafteren Licht darzustellen[6]. So entgegnet er Kritikern, die ihn bezichtigten, den „Zug zur deutschen Einheit verpaßt“ zu haben, er sei gemeinsam mit George Bush „der erste gewesen (...), der die Perspektive der Vereinigung begrüßt hatte...“[7]
Im Laufe der Arbeit hat sich der Eindruck verstärkt, daß die deutsche Frage und schließlich die Wiedervereinigung die deutsch-französischen Beziehungen stark belastet und ihrer womöglich größten Bewährungsprobe ausgesetzt haben. Dabei ist die verschlechterte Stimmung größtenteils der französischen Seite zuzuschreiben, die mit der neuen, politischen Situation schwer umzugehen wußte. Aus diesem Grund hat sich die vorliegende Arbeit zunächst hauptsächlich auf die Aktivitäten des offiziellen Frankreichs, allen voran Mitterrands, konzentriert, um dann die Stimmen der „intellektuellen Elite“ Frankreichs (hauptsächlich der Presse) exemplarisch einzufangen. Die Darstellung soll die Reaktionen des offiziellen und öffentlichen Frankreichs vom Fall der Mauer bis zur deutschen Wiedervereinigung erleuchten. Wie stellten sich Politiker und Meinungsmacher auf das Ende der europäischen Teilung ein? Wie gingen sie mit der neuen Position Deutschlands, wie mit der veränderten Rolle ihres eigenen Landes um? Welche Ängste bedrückten, welche Hoffnungen beflügelten sie?
Die Wende bedeutet eine historische Zäsur für die Akteure der Weltpolitik, und sie ist eine Zäsur in den deutsch-französischen Beziehungen. Deshalb soll ein Ausblick auf das Europa der Maastrichter Verträge zeigen, wie sich die Partner nach der „Vertrauenskrise“ in ihre neuen Rollen eingefunden haben. Nachdem das Problem der deutschen Frage vor allem auf französischer Seite latentes, aber gravierendes Mißtrauen wieder hat aufbrechen lassen, ist die Frage berechtigt, welche Chancen für eine tiefreichende Verständigung das deutsch-französische Paar in der Ära der europäischen Integration hat.
II Die deutsch-französischen Beziehungen 1989-90 auf Regierungsebene
A Die deutsch-französischen Beziehungen im Spiegel von Verhandlungen und Gesprächen
Solange es scheint, als sei die deutsche Wiedervereinigung faktisch unmöglich, fällt es den französischen Politikern und Staatsrepräsentanten leicht, Lippenbekenntnisse abzulegen, sie befürworteten die Überwindung der deutschen Teilung.
So erklärt Präsident Mitterrand noch am 5. Juli 1989 in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem sowjetischen Staatspräsidenten Gorbatschow in Paris, „daß das Streben nach Wiedervereinigung ein legitimes Streben ist für diejenigen, die es, hier und da, egal in welchem Teil Deutschlands, empfinden.“ Im gleichen Atemzug relativiert der Franzose allerdings seine Aussage, indem er fragt: „Was ist die Realität? Zwei Deutschlands, die verschiedenen Systemen in jeder Hinsicht angehören: wirtschaftlich, sozial, politisch, verschiedene Bündnisse, die innerhalb der Staaten, souveräner Staaten, bestehen.“ Man könne nicht einfach „die Geschichte über Bord werfen“. Wie unwahrscheinlich eine Änderung des Status Quo zu diesem Zeitpunkt erscheint, macht die abschließende Bemerkung Mitterrands deutlich: „Es gibt daher weder eine grundsätzliche Verweigerung noch eine zwingende Realität [gemeint: für oder gegen die Wiedervereinigung].“[8]
Die Bundesregierung ihrerseits legt angesichts der revolutionären Umwälzungen, die sich im Osten abzeichnen, deren Ausgang aber noch völlig unklar ist, Wert auf die Pflege ihrer internationalen Kontakte zu Partnern und Freunden.
Bei den 54. deutsch-französischen Konsultationen vom 2.-3. November 1989 in Bonn hält Kohl die Entwicklung in der „DDR“ für „nicht vorhersehbar“, und legt Mitterrand gegenüber seine derzeitigen Prioritäten auf seine Polenreise, das kommende Gipfeltreffen zwischen Bush und Gorbatschow und den Prozeß der europäischen Integration. Kohl nimmt auf die enge Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern Bezug: er wolle „keine Kontroverse zwischen Frankreich und Deutschland“ über die Währungsunion, diesem „Kernbereich der europäischen Einigung“. Meinungsverschiedenheiten sollten „vertraulich zwischen Elysée und Bundeskanzleramt abgeklärt und ausgeräumt werden“. Mit Blick auf die Bewegungen im Osten erklärt er, gerade deshalb wolle er „den Erfolg des Gipfels in Straßburg. Ohne den europäischen Integrationsprozeß gäbe es keine Reformen im Osten.“ Und an anderer Stelle versichert er Mitterrand: „Fortschritte in der deutschen Frage sind nur in «Europa» möglich.“[9] Der französische Staatspräsident beteuert seinerseits, das deutsche Problem werde sich durch die „magnetische Kraft Europas regeln lassen.“ Nach Ansicht seines Beraters Attali hat Mitterrand bei dieser wichtigen Zusammenkunft der Wiedervereinigung „ausdrücklich grünes Licht gegeben“.
Bei der anschließenden Pressekonferenz sagt Mitterrand seine berühmten Worte, er habe „keine Angst vor der Wiedervereinigung“.
Ganz anders äußert er sich privat, wenige Tage nach den Konsultationen:
„Ein wiedervereinigtes Deutschland bedeutete eine doppelte Gefahr für Europa. Durch seine Macht. Und weil sie zu einer Allianz Großbritannien-Frankreich-Sowjetunion antriebe. Das brächte mit Sicherheit einen Krieg im 21. Jahrhundert. Europa muß sehr schnell realisiert werden, um die deutsche Wiedervereinigung zu entschärfen.“[10]
Wieder anders liest sich seine Einschätzung der Lage in den viel später verfaßten Erinnerungen Über Deutschland:
„ Ich verhehlte mir (...) nicht das Risiko, das Frankreich mit der wiedergefundenen Stärke seines mächtigen Nachbarn einging. Diese neue Situation würde von Frankreich eine außergewöhnliche (...) Anstrengung erfordern, um sich der Konkurrenz (...) gewachsen zu zeigen (...). Doch wir sollten diese Herausforderungen annehmen. Frankreich war dazu in der Lage.“[11]
Am selben Tag erhält er einen Brief Kohls, der ihn über die finanzielle Hilfe der Bundesrepublik für Polen und Ungarn informiert (drei bzw. zwei Milliarden Mark). In dem Geiste, daß die Pflichten unter den Westmächten aufgeteilt würden, habe die Bundesregierung einen wesentlichen Beitrag zu der Erfüllung der zukünftigen Aufgaben der Achse Paris-Bonn geleistet. Mitterrands Reaktion ist aufschlußreich. Er ruft aus:
„Was für eine gekünstelte Ausdrucksweise! Wenn er glaubt, er könne alles mit Geld kaufen, dann irrt er sich! Die Sowjets werden ihm nie Polen überlassen. Mischen wir uns nicht ein. Gorbatschow wird seine Arbeit auch alleine machen.“[12]
Seine Hoffnung, Gorbatschow werde sein Veto gegen die Wiedervereinigung einlegen und Frankreich ein offizielles „Nein“ ersparen, kommt nicht zum letzten Mal zum Ausdruck.
1. Der Fall der Mauer
Im Herbst 1989 überschlagen sich die Ereignisse. Der Mauerfall am 9. November kommt für alle völlig überraschend, sowohl für die Deutschen selbst als auch für das Ausland.
Die ersten Reaktionen aus Frankreich sind von Sympathie und gar Begeisterung für die Revolution geprägt, die die Deutschen im Jubiläumsjahr der Französischen Revolution im Zeichen der Freiheit unternehmen. So nennt Premierminister Rocard am 9. November in einem Radiointerview den Mauerfall ein „gigantisches Ereignis“ und ein „Signal des Friedens“[13]. Der damalige Bürgermeister von Paris, Jacques Chirac, begrüßt in einem Vortrag vor dem Institut Français des Relations Internationales die „Volksbewegung (...) in der DDR“, die sich ohne „nationalistische Töne“ abspiele. Er spricht sich für die Wiedervereinigung aus, die „Sache des deutschen Volkes“ sei. Entscheidend sei jedoch, daß sie in Abstimmung mit den westlichen Partnern und mit der europäischen Einigung erfolge[14].
Während allgemein noch von einem langwierigen Prozeß der Annäherung zwischen den beiden deutschen Staaten ausgegangen wird, muß Kohl auf dem EG-Sondergipfel in Paris am 18. November „Überzeugungsarbeit“ leisten. Nachdem Giscard d’Estaing am Wochenende zuvor zur „Rettung der EG“ aufgerufen hatte, wozu die Verpflichtung aller Mitgliedstaaten gehöre, „die gegenwärtigen Grenzen nicht in Frage zu stellen“, ist wohl klar geworden, daß die betroffenen Länder einer möglichen Wiedervereinigung nicht einfach zusehen werden. Weniger dramatisch, aber doch sorgenvoll, betont auch Mitterrand, „der Integrationsprozeß müsse wegen der Entwicklung im Osten nicht nur fortgeführt, sondern verstärkt und beschleunigt werden.“ Es sei für Frankreich von Bedeutung, „nach außen herauszustellen, daß [Deutschland] klar in die westliche Gemeinschaft und ihre Entscheidungsprozesse eingebunden“ sei.
Dementsprechend entwirft Kanzlerberater Teltschik seinen Vorschlag für Kohls Gesprächsführung. Demzufolge wird der Kanzler sein Engagement für die europäische, politische Union unterstreichen, für die Unterstützung der Reformprozesse in Mittel- und Osteuropa werben und vor allem die „Perspektiven zur Überwindung der Teilung Europas“ betonen, um „zu einer neuen und dauerhaften Stabilität in ganz Europa zu kommen.“ Dies schließe zudem die Perspektive ein, „im Rahmen einer europäischen Friedensordnung die Teilung Deutschlands zu überwinden.“ Was Kohl dem französischen Staatsoberhaupt dann im einzelnen sagt, wird er in den folgenden Wochen und Monaten ständig wiederholen:
„Unsere Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft und in der Atlantischen Allianz ist für uns unverzichtbar und Teil unserer Staatsräson. Unsere Antwort auf die deutsche Frage war von Anfang an europäisch und wird europäisch bleiben. Die Lösung der deutschen Frage und die Überwindung der Teilung Europas stehen in einem untrennbaren Zusammenhang. Wir wollen eine gerechte und dauerhafte europäische Friedensordnung erreichen, in der auch das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt.“[15]
2. Erste Reaktionen der europäischen Partner
Auf dem Straßburger Gipfel wird allerdings auch klar, daß die französische Regierung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion den Vorrang vor der politischen Union gibt. Erstere birgt für Frankreich die Aussicht, die D-Mark in den Integrationsprozeß einzubinden, d.h. abzulösen.
Attali berichtet von dem Abendessen der zwölf Regierungschef am 18. November 1989, zu dem Mitterrand ins Elysée eingeladen hat. Bis zum Dessert haben alle tunlichst vermieden, das Wort „Wiedervereinigung“ in den Mund zu nehmen. Es ist hauptsächlich die Rede davon, daß Gorbatschow geholfen werden müsse. Erst ganz zum Schluß veranlaßt eine dementsprechende Bemerkung Thatchers Kohl dazu, auf eine Erklärung der NATO aus dem Jahre 1970 zu verweisen, in der die Wiedervereinigung befürwortet wurde. Worauf Frau Thatcher das ausspricht, was wohl die meisten Europäer bis zum Fall der Mauer gedacht hatten: „Aber diese Erklärung wurde zu einem Zeitpunkt abgegeben, da man annahm, [die Wiedervereinigung] werde nie stattfinden!“ [16]
Wenige Tage später muß Attali in Moskau allerdings feststellen, daß der Berater Gorbatschows, Vadim Zagladine, sich schon eingehend mit der Idee einer deutschen Wiedervereinigung beschäftigt hat, auch wenn man natürlich Bedingungen und große Sorgen hat.
Der Brief Helmut Kohls an Mitterrand vom 27. November 1989 stellt eine Enttäuschung für die französische Seite dar. Seine Vorschläge für einen „Kalender der Europäischen Union“ empfindet man in Paris als unzureichend, was die politische Union betrifft. Die Regierungskonferenz, die institutionelle Reformen besprechen soll, scheint er auf Anfang 1991 verschieben zu wollen. Für Attali heißt das: „Alles ist begraben. Die deutschen Probleme werden die europäische Konstruktion hinwegfegen.“[17]
Renata Fritsch-Bournazel faßt die Hauptsorgen der politischen Führer Europas wie folgt zusammen:
1. Deutschland könnte sich von der Europäischen Gemeinschaft abwenden, um seine Beziehungen zu den USA und den Ländern im Osten zu privilegieren, es würde eine Achse Washington-Bonn-Moskau entstehen.
2. Mit seinen 80 Millionen Einwohnern, seinem vergrößerten Territorium und seiner gesteigerten wirtschaftlichen Macht wird Deutschland ein noch größeres Gewicht in der Europäischen Gemeinschaft haben, dort eine Art Hegemonie innehaben, indem es seine Vorstellungen in Brüssel und im Europarat durchsetzen wird.
3. Die durch die Vereinigung entstandenen wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten werden fatale Folgen für Deutschlands Partner haben, und zumindest eine Zeit lang den Prozeß der Europäischen Union verlangsamen: dies ist das Ergebnis des am 9. Juli von der Kommission dem Europäischen Parlament vorgelegten Berichts, die die Wirkung der deutschen Vereinigung auf die Gemeinschaft untersuchen sollte.[18]
Frankreich sorgt sich zudem um sein nunmehr abgewertetes Militär- und Nuklearpotential. Auch die Aussicht auf ein drohendes „strategisches Vakuum“, durch einen eventuellen amerikanischen Rückzug und die europäische Abrüstung bewirkt, beunruhigt die Franzosen[19].
3. Das Zehn-Punkte-Programm
Die fortlaufende Entwicklung in Ostdeutschland erfordert eine strategische Antwort der Bundesregierung. Diese wird im Bundeskanzleramt in Form des Zehn-Punkte-Programms erarbeitet. Die Verkündigung am 28. November 1989 im deutschen Bundestag durch Kohl ist ein kommunikationstaktischer „Coup“. Der Kanzler hat vorab weder die Fraktionsspitzen des Bundestages noch den Koalitionspartner noch die Westmächte (mit Ausnahme von US-Präsident Bush) informiert. Das deutschlandpolitische Konzept stellt einen Stufenplan zur Einheit dar. Mit Sofortmaßnahmen für die „DDR“ beginnend, sieht es zunächst eine Vertragsgemeinschaft, dann konföderative Strukturen und schließlich die Konföderation der beiden deutschen Staaten vor. Kohl geht dabei von einer Dauer von fünf bis zehn Jahren aus.
Im einzelnen schlägt er vor:
1. Soforthilfe in humanitärer, medizinischer und finanzieller Form für die DDR
2. Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik und der DDR
3. Ausweitung der Zusammenarbeit und Hilfe unter der Bedingung , daß es zu Reformen in der DDR kommt, u.a. zur Einführung von freien, gleichen und geheimen Wahlen
4. Vertragsgemeinschaft durch „Vereinbarungen in allen Bereichen und auf allen Ebenen“ (Vorschlag von Ministerpräsident Modrow)
5. Entwicklung konföderativer Strukturen nach freien Wahlen zu einer demokratisch legitimierten Regierung der DDR
6. Einbettung des innerdeutschen Prozesses in die gesamteuropäische Architektur und in eine dauerhafte und gerechte europäische Friedensordnung unter Achtung der Integrität und Sicherheit jedes Staates, des Rechts jedes Staates, das eigene politische und soziale System frei zu wählen, des Selbstbestimmungsrechts der Völker und der Menschenrechte
7. baldiger Abschluß eines Handels- und Kooperationsabkommens zwischen der DDR und der EG
8. Vorantreiben des KSZE-Prozesses
9. weitere Schritte in der Abrüstung und der Rüstungskontrolle
10. „Mit dieser umfassenden Politik wirken wir auf einen Zustand des Friedens in Europa hin, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangen kann. Die Wiedervereinigung, das heißt die Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands, bleibt das politische Ziel der Bundesregierung.“[20]
Während die im Bundestag vertretenen Parteien mehrheitlich positiv reagieren, schlägt das Zehn-Punkte-Programm im Ausland wie eine Bombe ein.
Mit seinem Verständnis dafür, daß Kohl die Handlungsinitiative ergriffen hat, erweist sich Bush als der engste Verbündete und wohl aufrichtigste ausländische Befürworter der deutschen Einheit. Seine conditio sine qua non für die Wiedervereinigung lautet: das vereinigte Deutschland muß im westlichen Allianzsystem bleiben[21].
Die anderen drei Alliierten machen ihrem Ärger über den deutschen Alleingang Luft, durch den sie sich überrollt und in ihrer Rolle als Siegermächte übergangen fühlen. Zwar bezeichnet Mitterrand die deutsche Wiedervereinigung nach wie vor als legitim, betont jedoch das Mitspracherecht, daß die Alliierten beanspruchen: es sei notwendig, „daß die übrigen europäischen Völker nicht vor eine vollendete Lage gestellt werden, vor allem jene nicht, die die Funktion von Garanten ausüben..“
In Attalis Aufzeichnungen klingen die Worte des Staatspräsidenten etwas anders:
„Er [Kohl] hat mir nichts gesagt! Nichts gesagt! Das werde ich nie vergessen! Gorbatschow wird wütend sein; er wird das nicht mit sich machen lassen, das ist unmöglich! Ich brauche keinen Widerstand zu leisten, die Sowjets werden es für mich machen.“[22]
In den entsprechenden Passagen in seinem Deutschlandbuch verewigt Mitterrand eine ihm schmeichelhaftere Version.
„Anders als in der deutschen Presse verbreitet (...), habe ich nicht das Recht des deutschen Regierungschefs bestritten, initiativ zu werden, wo doch das Schicksal seines Vaterlandes auf dem Spiel stand (...). Im übrigen belegt eine aufmerksame Lektüre der zehn Punkte, daß sie keinen Bruch mit dem früheren Vorgehen darstellten(...) Was hatte ich ihm [Kohl] vorzuwerfen? Daß die «kleinen Schritte» sich überstürzten? Die Ereignisse auch! In den deutsch-französischen Beziehungen gab es weder Dissens noch Abkühlung (...) Es gab Debatten. Diese Debatten führten wir (...) Tatsächlich war strenggenommen an dem Zehn-Punkte-Programm nichts, was die wachsamsten, nicht einmal die argwöhnischsten Zensoren der deutschen Politik hätte beunruhigen können.“
Nach einer längeren Betrachtung der einzelnen Programmpunkte kritisiert Mitterrand aber doch das Schweigen Kohls in drei Fragen: in denen „der Grenzen, (...) der Bündnisse, (...) der Rechte der Garantiemächte.“ [23]
Außenminister Dumas betont in seiner Erklärung vor der französischen Nationalversammlung, wie wichtig es für seine Regierung sei, daß die „Wiedervereinigung im Kontext der europäischen Integration erfolge.“[24]
Am 30. November trifft der deutsche Außenminister Genscher mit Mitterrand zusammen und deutet ein deutsches Einlenken an, was den Europäischen Kalender angeht. Man sei nun doch bereit, ein Datum für die Konferenz zur Währungsunion beim Straßburger Gipfel festzulegen. Mitterrand erzählt später Attali, er habe Genscher mit den Worten gedroht:
„Entweder findet die deutsche Einheit nach der europäischen Einheit statt, oder Sie werden eine dreifache Allianz (Frankreich, Großbritannien, Rußland) gegen sich haben, und dies wird mit einem Krieg enden. Wenn die deutsche Einheit nach der europäischen erfolgt, werden wir Ihnen helfen.“[25]
In einem Brief an Kohl spricht der Franzose dagegen nur von der Konferenz zur Wirtschafts- und Währungsunion, die er noch 1990 wünscht. Sein Berater Attali bemerkt hierzu, wie seltsam es doch anmute, die beiden Staatsmänner über ein Konferenzdatum reden zu hören, das in über einem Jahr anberaumt sei, während gleichzeitig die deutsche Wiedervereinigung realisiert werde. Das habe zum einen seinen Grund darin, daß Kohl die Einheit wolle, ohne daß sie „Thema einer internationalen Verhandlung“ werde. Zum anderen sähen die Franzosen die Beschleunigung des europäischen Zusammenwachsens als „das beste Bollwerk gegen die Dynamik der Wiedervereinigung“[26].
Bei der Tagung des Europäischen Rates am 8./9. Dezember in Straßburg wird Kohl wahrscheinlich erst richtig bewußt, wie sehr er seine europäischen Partner mit dem überfallartigen Zehn-Punkte-Plan brüskiert hat: noch nie habe er „einen EG-Gipfel in so eisiger Atmosphäre“ miterlebt. Dennoch können sich die Mitgliedstaaten auf eine gemeinsame Erklärung einigen, wonach ein Frieden angestrebt werde, „in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Freiheit wiedererlangt.“[27] Dies ist jedoch an klare Bedingungen geknüpft:
„Dieser Prozeß muß sich auf friedliche und demokratische Weise, unter Wahrung der Abkommen und Verträge sowie sämtlicher in der Schlußakte von Helsinki niedergelegten Prinzipien im Kontext des Dialogs und der Ost-West-Zusammenarbeit vollziehen. Er muß auch in die Perspektive der europäischen Integration eingebettet sein.“[28]
Vom Straßburger Gipfel wird außerdem berichtet, Mitterrand habe der „eisernen Lady“ eine enge französisch-britische Zusammenarbeit vorgeschlagen, „um den deutschen Koloß im Zaum zu halten“, so wie „in den Stunden großer Gefahr in der Vergangenheit“, da er befürchte, man sei „zu jenen Stunden zurückgekehrt.“ Allerdings solle dies nicht in offener Opposition zu den Deutschen geschehen, da er trotzdem die deutsch-französische Achse beibehalten wolle[29].
Attali gegenüber beklagt Mitterrand die „schwammige Ausdrucksweise“ des Kanzlers, sobald es um die Grenzanerkennung geht. Kohl spreche beharrlich von der „Einheit des deutschen Volkes“ anstatt von der Wiedervereinigung. Ob er damit die im heutigen Polen lebenden Schlesier und die Sudetendeutschen auch einschließe? Indem er dergestalt Zweifel lasse, „spiele er ein gefährliches Spiel“. Man dürfe nicht vergessen, wie Europa 1937 „explodiert“ sei[30].
Ihren Anspruch auf Mitsprache bei der deutschen Frage demonstrieren die vier Siegermächte mit dem Treffen der Botschafter im Alliierten Kontrollratsgebäude in Berlin. Für die Bundesregierung bedeutet dies einen steten Balanceakt: einerseits kann sie es sich nicht leisten, die vier Mächte nochmals vor den Kopf zu stoßen, andererseits wird das Auftreten der alten Besatzungsmächte als entwürdigend empfunden.
4. Mitterrands Verzögerungsversuche
„Der Zug zur Einheit ist abgefahren. Wer will, wer kann ihn jetzt noch aufhalten?“[31]
Mitterrands diplomatische Aktivitäten lassen seinen Willen erkennen, wenigstens soviel wie möglich „mitzumischen“, wenn sich die Einheit schon nicht verhindern läßt. Nach Einschätzung deutscher Beobachter hat sich Mitterrand auf das „Konzept der Verzögerungspolitik“ verlegt: „Wenn Frankreich die Wiedervereinigung schon nicht verhindern kann, so muß es sie dennoch nicht besonders forcieren.“[32]
a. Die Intensivierung der französisch-sowjetischen Beziehungen
Vorangegegangene Zitate haben bereits die Hoffnung des französischen Staatspräsidenten verraten, die Wiedervereinigung werde am sowjetischen Widerstand scheitern. Am 6. Dezember 1989 trifft er Gorbatschow, von dem er lange Zeit annimmt, er werde niemals der Wiedervereinigung zustimmen. Im Vorfeld der Reise nach Kiew verspricht er dem Kanzler, diesem ausführlich über die Ergebnisse zu unterrichten. Gorbatschow und Mitterrand beschwören eine notwendige Annäherung Frankreichs und der Sowjetunion gerade in diesen Zeiten der „ernsten Themen“. Mitterrand spricht von der Wiederbelebung einer „großen historischen Tradition der Beziehungen zwischen Paris und Moskau.“ Natürlich wird auch das „deutsche Problem“ (so Mitterrand) diskutiert. Der Franzose betont erneut den Vorrang der europäischen Konstruktion, die unabdinglich für eine nachgeschaltete deutsche Wiedervereinigung sei. Er bezeichnet sein Land und die Sowjetunion als „Buchführer“ des europäischen Gleichgewichts und moniert, daß die Deutschen sich noch nicht offiziell über die Oder-Neiße-Grenze geäußert hätten. Die Freundschaft zu Deutschland mache es ihm schwer, den Deutschen etwas zu verweigern. Er wolle sie nicht verletzen, aber zuerst hätten die Probleme der Europäischen Gemeinschaft und im Osten Priorität. Auch Gorbatschow zeigt sich brüskiert über die Art und Weise, in der Kohl sein Zehn-Punkte-Programm verkündet hat: er sei wie ein „Elefant im Porzellanladen“ aufgetreten. Ganz offen bittet er Mitterrand, ihm zu helfen, „die Wiedervereinigung zu verhindern.“ Er werde sonst durch einen Militär ersetzt. Sollte Frankreich ihm nicht helfen, trage es die Verantwortung für einen Krieg. Kohls Tempo sei viel zu schnell, sein Vorgehen gleiche einem „politischen Diktat“. Trotz der von Gorbatschow demonstrierten Härte ist Mitterrand sich im klaren, daß die Sowjetunion genauso wenig wie die internationale Gemeinschaft eine Bewegung aufhalten kann, die von der Straße ausgeht[33].
b. Der Besuch der DDR
Unmißverständliches Signal und „Höhepunkt eines momentanen Zerwürfnisses“[34] ist Mitterrands Besuch in der „DDR“ am 20./21. Dezember, über den er schon in Straßburg bei einem Arbeitsfrühstück anläßlich des EG-Gipfels mit Kohl spricht. Offensichtlich ist Mitterrand die Brisanz seines Besuches klar, denn er weist den Kanzler darauf hin, daß die Einladung in die „DDR“ schon 1988 erfolgte, zu einem Zeitpunkt also, als niemand etwas vom Umsturz im Osten ahnte. Er betont außerdem, Kohl habe bei Nachfragen keine Bedenken wegen des französischen Staatsbesuchs geäußert, woraufhin man der erneuten Einladung durch den Staatsratsvorsitzenden Krenz zugesagt habe. In der Presse werde der Eindruck vermittelt, Mitterrand „wolle unbedingt vor dem Bundeskanzler in die DDR.“ Dies sei jedoch falsch. Kohl hält sich eher bedeckt und antwortet lediglich, er „sehe keinen Grund für den Staatspräsidenten, den Besuch abzusagen.“[35] Die der „DDR“ bekundete Solidarität und Mitterrands eineinhalbstündiges Gespräch mit Gregor Gysi, dem Vorsitzenden der PDS, können Bonn jedenfalls nicht gleichgültig lassen.
Zu Attali sagt Mitterrand, der Vorwurf, er wolle mit seiner Visite der Wiedervereinigung entgegenwirken, sei „dumm“. Die Wiedervereinigung stehe überhaupt nicht auf der Tagesordnung[36].
Über seine Motive und Absichten läßt sich streiten: ist es Trotz angesichts des selbstbewußten Auftretens der deutschen Nachbarn, ist es der Glaube, den bankrotten Staat „DDR“ wiederbeleben zu können, ist es der Wunsch, die eigene Position im „internationalen Vereinigungspoker“ zu stärken? Tatsache ist, daß sich im Gefolge des französischen Staatschefs zahlreiche Wirtschaftsleute befinden und im Laufe der Visite sechs bilaterale Verträge abgeschlossen werden, die für den Zeitraum zwischen 1990 und 1994 gelten. Auf deutscher Seite führt der ostentative Besuch Mitterrands verständlicherweise zu Irritationen, zumal Kohl fast zeitgleich am 19. und 20. Dezember in der „DDR“ weilt. Dazu kommt die Weigerung des französischen Präsidenten, an der Öffnung des Brandenburger Tores am 22. Dezember teilzunehmen. Von Beobachtern wird das als verpaßte Chance gesehen, die deutsch-französischen Spannungen durch eine versöhnliche Geste zu beruhigen. Seinen Vertrauten erklärt der französische Staatspräsident, die Öffnung sei eine „Angelegenheit zwischen den Deutschen“.
„Kohl hat mich nicht über sein Zehn-Punkte-Programm informiert; er weigert sich, die Oder-Neisse-Grenze anzuerkennen. Und er will, daß ich seine Inbesitznahme der DDR legitimiere? Das ist zuviel! Er kann nicht hoffen, daß ich in diese Falle tappe. Und die französische Presse, die behauptet, daß ich nichts verstehe...Die Journalisten sind immer bereit, sich zu Füßen des Siegers zu legen, wie 1940!“[37]
Es lohnt sich, Mitterrands spätere Eigendarstellung zu lesen. Er zeigt sich überrascht angesichts der in der deutschen Presse ausgesprochenen Verdächtigungen über seine wahren Intentionen und über die „tiefe (...) Animosität gewisser deutscher Meinungsmacher gegenüber Frankreich“, deren „Hauptanklagepunkte“ der Besuch in der „DDR“ und in Moskau seien. Zur Rechtfertigung seiner großen Eile vor der Visite in Ostdeutschland gibt sich Mitterrand
„neugierig, jenes Land kennenzulernen, in dem sich ein Teil des Schicksals von Europa abspielte. Noch war die deutsche Einheit als Tatsache nicht besiegelt, mein Wunsch war, daß Frankreich dabei präsent sei und seine Rechte auf die ihm gemäße Art ausübe.“[38]
Wenige Seiten später beteuert er, im Gegensatz zu den Sowjets nicht an die Fortdauer der deutschen Teilung geglaubt zu haben. Die Grenzfrage hätte jedoch nicht die Zukunft Europas ernsthaft belasten dürfen: „Deshalb mein fester Wille, daß die Deutschen für ihre Ostgrenzen Garantien abgaben.“ Schließlich begründet der Franzose seine Weigerung, Kohl zum Brandenburger Tor zu begleiten:
„Es hätte mir gefallen, an diesem Tag neben dem zu stehen, mit dem ich so beharrlich an der französisch-deutschen Freundschaft und am Aufbau gearbeitet hatte. Die Geste war einfach. Doch ich hatte auch die anderen Partner Frankreichs zu berücksichtigen (...) Schließlich war ich auch der Meinung, (...) daß diese Feier ureigenste Sache der Deutschen war. Im übrigen, was hatte ich zu beweisen?“
Mitterrand zählt seine bisherigen Gesten und Taten auf, zu denen das Auftreten Kohls und Mitterrands in Verdun, die Gründung des deutsch-französischen Corps und das gemeinsame europäische Engagement gehören. Er kommt zu dem Schluß: „Nein, ich hatte nichts zu beweisen, und hielt es unter meiner Würde, das zu tun.“[39]
5. Europa als Dach für die deutsche Wiedervereinigung
a. Deutsche und französische Vorstellungen
In seiner Sylvesteransprache entwirft der französische Präsident erstmals die Vision einer „europäischen Konföderation“, die jedoch vage bleiben wird. Sein Ziel ist es, die dreifache Dynamik von EG, Revolution in der „DDR“ und Wandel in Osteuropa unter einem Dach stattfinden zu lassen. Davon verspricht er sich vor allem, das sich entwickelnde politische und wirtschaftliche Übergewicht Deutschlands in Osteuropa zu verhindern[40]. Dieser Plan bleibt jedoch Fiktion, vielleicht weil er zu unpräzise ist.
Von großer Bedeutung für das deutsch-französische Verhältnis ist Kohls Besuch bei Mitterrand in dessen Privathaus in Latché am 4. Januar 1990. Er nutzt die Gespräche, um dem französischen Präsidenten die Lage in Ostdeutschland und die Hintergründe des Zehn-Punkte-Programms zu erklären und französischen Ängsten und Bedenken entgegenzuwirken.
Der Kanzler betont die Wichtigkeit der bilateralen Beziehungen: „Der geborene Partner für uns [ist] Frankreich (...) Der Weg der neunziger Jahre [muß] ein deutsch-französischer Weg sein.“ Deutschland halte auch weiterhin an der europäischen Integration fest: „Die feste Verankerung Deutschlands in der EG [ist] die Voraussetzung für die spätere Entwicklung.“
Für Mitterrand liegt das Problem bei der Wiedervereinigung hauptsächlich bei Rußland: „Die Einigung Deutschlands [darf] nicht so erfolgen, daß die Russen sich [verhärten] oder mit Säbelrasseln“ reagieren. Bei dem Treffen in Kiew sei Gorbatschow ob der deutschen „Eile“ sehr beunruhigt gewesen. Mitterrand selbst zeigt Verständnis für die Deutschen: wäre er Deutscher, wollte er „die Wiedervereinigung so schnell wie möglich.“ Allerdings sei er nun einmal Franzose. Aus eigenem Interesse könne ihm nicht daran liegen, daß „die Lösung des deutschen Problems (...) ein neues russisches Drama“ hervorrufe.
Mitterrand bleibt also bei seiner skeptischen Haltung, vor allem, was die instabile Lage in Rußland betrifft. Nach den Mißtönen der vorangegangenen Wochen hat das Gespräch jedoch die beiden Staatsmänner einander wieder näher gebracht, die Wogen scheinen geglättet[41].
Kohls Rede im Pariser Institut Français des Relations Internationales (IFRI) am 17. Januar hat ebenfalls zum Ziel, die bekannten französischen Sorgen wegen der deutschen Einheit zu zerstreuen. Er versichert den Nachbarn:
„ Ein nationaler Alleingang zur Lösung der deutschen Frage wäre vermessen und zum Scheitern verurteilt. (...) Wir Deutschen wollen diesen Weg vor allem auch mit Frankreich gehen, mit dem uns eine enge und kostbare Freundschaft verbindet.“[42]
b. Die Haltung des EG-Kommissionspräsidenten
Im Januar 1990 veranlaßt der Präsident der EG-Kommission, der Franzose Jacques Delors, schnelle Hilfestellung in Form eines Handels- und Kooperationsabkommens mit der „DDR“. Er befürwortet die Eingliederung Ostdeutschlands in die EG und „setzt auf die Europapolitik Kohls und dessen Willen, konkrete Fortschritte in Richtung einer Wirtschafts- und Währungsunion und institutioneller Reformen zu erreichen.“ Mit seinem Entgegenkommen sichert er sich wiederum „die Unterstützung des Kanzlers für die Fortsetzung der nächsten Schritte im europäischen Einigungsprozeß und bindet das künftige Gesamtdeutschland eng an die Europäischen Gemeinschaften.“ [43] Delors sorgt dafür, daß die neuen Bundesländer ohne Beitrittsverhandlungen und Ratifizierungsverfahren in den Wirtschaftsraum der Gemeinschaft aufgenommen werden können. Angesichts der im Ausland geäußerten Bedenken wegen einer deutschen Wiedervereinigung, die teilweise von „irrationaler Feindseligkeit“ zeugten, hält Delors den von Kohl und Mitterrand angeregten EG-Sondergipfel für wichtig. Bei diesem Anlaß sollten die Mitgliedstaaten erneut ihren Willen zur Realisierung der Politischen Union erklären, um zu verdeutlichen, daß die deutsche Einigung eben nicht von diesem Ziel wegführe. Andererseits bezweckt Delors mit der wirtschaftlichen Hilfe für die „DDR“, das „EG-Bewußtsein“ der Menschen dort zu fördern[44].
Er kritisiert aber auch den Alleingang von Kohl bei der Initiierung der deutsch-deutschen Wirtschafts- und Währungsunion: „Die deutsche Regierung informiert uns regelmäßig, aber sie konsultiert uns nicht.“[45]
6. Die Frage des militärischen Bündnisses
Die revolutionären Ereignisse in Osteuropa haben zur Folge, daß das System der aus dem Kalten Krieg stammenden Militärbündnisse neu überdacht werden muß. Für die deutsche Einheit besteht konkret das Problem, daß die beiden Staaten dem jeweils feindlichen oder zumindest entgegengesetzten Verteidigungspakt angehören. Für die Westalliierten ist von Anfang an klar, daß das vereinigte Deutschland Mitglied der NATO bleiben muß. Eine deutsche Neutralität, wie sie unter anderem von deutschen Oppositionspolitikern gefordert wird, ist für sie indiskutabel. Sie brächte die Gefahr eines „strategischen Vakuums“ mit sich, und könnte außerdem eine intensive Annäherung an die Sowjetunion fördern. Im Grunde ist die Haltung Gorbatschows entscheidend.
Lange Zeit glaubt Mitterrand nicht an die Verwirklichung der deutschen Einheit. Seiner Meinung nach wird der Generalsekretär der KPdSU niemals die Mitgliedschaft des vereinigten Deutschland in der NATO zulassen.
Im Januar 1990 aber erklärt Hans Modrow mit dem Einverständnis Gorbatschows, daß auch er die Wiedervereinigung anstrebt. In Paris ist man unsicher, was Gorbatschow wirklich will, und Mitterrand ist skeptisch:
„Eines Tages werden wir erfahren, daß Gorbatschow durch Generäle gestürzt worden ist. Und wir werden zum Kalten Krieg zurückkehren. Die Wiedervereinigung muß gebremst werden, selbst wenn sie unvermeidbar ist, um nicht die Errungenschaften der Perestroïka zu verlieren.“[46]
Zugleich zeigt der Franzose jedoch auch Verständnis für Kohls Weitertreiben der Wiedervereinigung. Er bestätigt, er würde an Kohls Stelle genauso handeln. Die gestörte Kommunikation wird an dem Vorwurf deutlich, der Kanzler solle ihm doch sagen, was er vorhabe, damit Mitterrand ihm helfen könne. „Warum muß ich alle seinen wichtigen Initiativen aus der Presse erfahren?“, klagt er[47].
Nach den verstimmten Reaktionen auf sein Zehn-Punkte-Programm ist Kohl vorsichtiger geworden. So ruft er vor seinem Besuch Gorbatschows im Februar 1990 Mitterrand an, und teilt ihm mit, er werde mit dem sowjetischen Präsidenten über die Lage in Deutschland sprechen. Er versichert dem französischen Präsidenten, „der Westen müsse jetzt eng zusammenstehen. Alles müsse im europäischen Konsens geschehen. (...) Es sei äußerst wichtig, daß er mit dem Präsidenten jetzt engsten Kontakt halte.“ Mitterrand stimmt ihm zu. Entgegen einiger Darstellungen in der deutschen Presse „sehe er keine Schwierigkeiten zwischen dem Bundeskanzler und ihm selbst.“[48]
Kohl will zwar nicht die Vier Mächte direkt an dem Prozeß der Wiedervereinigung beteiligen, er muß jedoch stets auf ihr Einvernehmen in der Sache bedacht sein.
Anfang Juni 1990 trifft sich der Generalsekretär der KPdSU mit Bush, um mit diesem über die Einbindung des neuen Deutschland in das Mächteverhältnis zu sprechen. Als Mitterrand über den Ausgang des Gesprächs informiert wird, sieht er seine Vorsicht bestätigt, nicht unnötig weit vorzupreschen und sich womöglich zu isolieren:
„Mit mir hat Gorbatschow den Angeber gespielt. Und hinterher gibt er den Amerikanern für ein paar Dollar in allem nach....Zum Glück habe ich ihn nicht beim Wort genommen und Position gegen die Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO bezogen!“[49]
7. Die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen
Wenn die Vier Mächte schon kein politisches Mitspracherecht in der „innerdeutschen Angelegenheit“ haben, so beharrt der Franzose auf dem „juristischen Prüfungsrecht“ der Alliierten. Die von Genscher vorgeschlagenen Verhandlungen, übrigens von den Franzosen lange Zeit ostentativ „Vier-plus-zwei“-Verhandlungen genannt, müssen ihnen als einzige, geeignete Möglichkeit erscheinen, ihre Position einzubringen.
Im Februar 1990 treffen sich zur Festlegung solcher Verhandlungen die Außenminister der NATO-Mitgliedstaaten und des Warschauer Pakts in Ottawa. Dort beschließt man, daß die Integrierung der deutschen in die europäische Einigung sichergestellt sowie der UdSSR Sicherheitsgarantien gegeben und die Unantastbarkeit der Grenzen bestätigt werden müssen[50].
Bei einem Besuch Kohls in Paris am 15. Februar pocht Mitterrand erneut auf das „droit de regard“ (eine Art „Prüfungsrecht“) der Alliierten: dieses sei legitim, wenn es um die Konsequenzen der Einheit für Deutschlands Nachbarn gehe, also z.B. die Präsenz alliierter Truppen auf deutschem Boden, die NATO-Mitgliedschaft und die atomare Bewaffnung. Hierzu zähle außerdem die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die Deutschen. Juristisch gesehen sei der Kanzler im Recht, den polnischen Forderungen nach Beteiligung an den Verhandlungen nicht gefolgt zu sein, politisch gesehen wäre es aber Mitterrands Meinung nach besser gewesen. Der Präsident fügt hinzu, der Bundeskanzler dürfe „nicht den Eindruck erwecken, daß dies «die andern» nichts“ angehe. Die anderen betreffe sehr wohl, „was die Deutschen unter sich machten.“
Beide sind sich einig über die Ausarbeitung einer europäischen Konföderation. Zu dieser sollten alle demokratischen und freiheitlichen Rechtsstaaten Europas Zugang haben. Außerdem wollen sie einen informellen EG-Sondergipfel zur Lage in Ostdeutschland einberufen.
Kohl setzt Mitterrand auseinander, daß die Wiedervereinigung günstige wirtschaftliche Folgen für Frankreich haben werde. Er betont weiterhin, wie wichtig die deutsch-französische Freundschaft und die Integration Deutschlands in die EG sei, „weil hierdurch jeglicher Verdacht gegen eine deutsche Hegemonie relativiert“ werde[51].
Aus dem Gespräch resultiert, daß weiterhin Meinungsverschiedenheiten über die deutsch-polnische Grenze bestehen. Denn der Bundeskanzler will diese erst nach der Wiedervereinigung anerkennen, weil nur ein gesamtdeutsches Parlament hierzu befugt sei. Sollte ein Vertrag mit Polen unterzeichnet werden, schließt Kohl die Alliierten als „Garantiemächte“ in dieser Sache aus. Die beiden Staatsmänner mögen sich über viele politische Richtungsentscheidungen einig sein- der Streit über die Oder-Neiße-Grenze wird die deutsch-französischen Beziehungen nachhaltig überschatten[52]. Aus Mitterrands Sicht ist dieses Thema „so etwas wie sein letzter Trumpf“, nun da er sich mit der Wiedervereinigung als solcher abfinden muß[53].
8. Die Oder-Neiße-Grenze
Die deutsche Position in den Verhandlungen über die Oder-Neiße-Grenze ist von taktischen Überlegungen bestimmt. Innenpolitisch liegt Kohl daran, nationalen Stimmen, die Deutschland in den Grenzen von 1937 wiederherstellen wollen, den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ihnen soll nicht unnötig Brennstoff gegeben werden, indem die Grenze früher als nötig unumkehrbar anerkannt wird. Der Kanzler wird später argumentieren, die deutsche Einheit sei nur zum Preis der Grenzanerkennung möglich gewesen.
Außenpolitisch versucht die Bundesregierung ebenfalls, die Grenzfrage so lange wie möglich hinauszuschieben. Kohl hält es für „taktisch ungeschickt und politisch unverantwortlich, die Grenzanerkennung auszusprechen, solange die Entscheidung über die Einheit Deutschlands nicht getroffen worden ist.“[54]
Eine denkwürdige Rolle spielen Mitterrand und die französischen Entscheidungsträger in der Frage der Oder-Neiße-Grenze. Kohl erläutert dem französischen Staatspräsidenten telefonisch seine Strategie: zunächst sollten die beiden deutschen Parlamente jeweils eine Erklärung verabschieden, daß nach der Einheit eine völkerrechtliche Grenzanerkennung durch ein gesamtdeutsches Parlament vollzogen werde. Im Gegenzug erwartet Kohl den vom damaligen polnischen Ministerpräsidenten Mazowiecki bereits zugesagten Schutz der Rechte der in Polen lebenden deutschen Minderheit sowie die Bekräftigung des Verzichts Polens auf deutsche Reparationszahlungen. Mitterrand hält sich eher bedeckt: Man müsse „zwischen dem juristischen und dem politischen Aspekt unterscheiden.“ Politisch gesehen sei „die Grenze eine Realität.“ Doch scheint ihm eine Absichtserklärung, wie Kohl sie vorschlägt, nicht auszureichen[55].
In Bonn gelingt es dem Kanzler, zunächst einmal die Koalition auf eine Linie einzuschwören. Deren Entschließungsantrag sichert den Polen das Recht auf sichere Grenzen zu und fordert zugleich deren Verzicht auf Reparationen. Außerdem soll nach vollendeter Wiedervereinigung ein Vertrag zwischen einer gesamtdeutschen Regierung und Polen abgeschlossen werden. Der Wortlaut des Entschließungsantrags wird von Kohl an die Vier Mächte vermittelt, um ihnen seine Vertrauenswürdigkeit zu demonstrieren.
Doch entgegen Kohls Hoffnung ist keineswegs Ruhe in die Grenzfrage eingekehrt. Bei dem Besuch von Mazowiecki und dem polnischen Präsidenten Jaruzelski in Paris im März 1990 treten die unterschiedlichen Positionen erneut zu Tage. Polen will den Abschluß eines Friedensvertrags mit Deutschland noch vor der Wiedervereinigung. Außerdem fordert es die Teilnahme an allen Zwei-plus-Vier-Verhandlungen in Sicherheitsfragen.
Der Streit nimmt noch größere Ausmaße an, als sich Mitterrand in einer gemeinsamen Pressekonferenz demonstrativ auf die Seite der Polen stellt. Er unterstützt deren Forderung nach einem Friedensvertrag, der durch die Vier Mächte garantiert werden soll, sowie die polnische Teilnahme an den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen. Der französische Präsident sieht selbst, daß „die französische Position weiter geht als die, die sich aus der Erklärung des Bundestags ergibt“. Dieses liege aber „im Interesse Europas und des Friedens“[56]. Er macht sich somit „zum Sachwalter der Interessen Warschaus und stellt sich öffentlich gegen den Bundeskanzler.“[57]
Von Attali wird die Bemerkung Mitterrands überliefert, die Grenze stehe nicht zur alleinigen Verfügung der Deutschen, sondern sei „das Resultat eines Krieges, bei dem wir [die Franzosen] auf der Seite der Sieger standen.“ Er begrüßt zwar die Resolution des Bundestags, besteht aber auf einem international gültigen Vertrag: „Es ist sonst nichts wert.“[58]
Erst viel später, in seinen Reflexionen zur deutschen Einheit, beteuert Mitterrand Verständnis für das deutsche Zögern bei der Anerkennung der Ostgrenze. Verlange man von den Deutschen, dieses Grenze als „vollendete Tatsache“ zu betrachten, billige man damit auch die hier erfolgte, sogenannte „ethnische Säuberung“, die „massenhafte und zwangsweise Umsiedlung der Bevölkerung“[59].
Die Tatsache, daß man im Ausland einer Entschließung des Bundestages nur begrenzt Vertrauen schenkt, bedeutet einen Rückschlag für die diplomatischen Bemühungen der Bundesregierung. Sie steht zu diesem Zeitpunkt recht isoliert in dem internationalen Beziehungsgeflecht da.
In einem weiteren Telefongespräch am 14. März 1990 teilt Mitterrand persönlich dem Bundeskanzler die Ergebnisse der französisch-polnischen Gespräche mit. Bei der Gelegenheit stimmt der Kanzler einer polnischen Beteiligung an den die Grenzfrage betreffenden Verhandlungen zu. Er betont aber auch sein Mißfallen daran, daß die Polen mit Frankreich, nicht aber mit Deutschland über den gewünschten Grenzvertrag gesprochen hätten. Erbitterung macht sich Luft über die jüngsten Reaktionen im Ausland, nachdem die beiden deutschen Parlamente und die Bundesregierung verbindliche Erklärungen zur Grenzgarantie abgegeben haben: Er habe lernen müssen, „daß vierzig Jahre Demokratie in der Bundesrepublik nichts gelten.“ Der Kanzler bringt auch seine persönliche Enttäuschung zum Ausdruck. Er habe derzeit den Eindruck, man nehme zwar viel Rücksicht auf die Psychologie der Polen, nicht aber auf die der Deutschen. Kohl zeigt sich „betroffen über alles, was er erlebe, und die Gehässigkeit, mit der dies zum Ausdruck komme.“ [60]
Die französische Seite hat nach diesem Telefongespräch, in dem der Bundeskanzler kein Blatt vor den Mund genommen hat, dessen Verärgerung deutlich wahrgenommen. In Paris ist man nun seinerseits bemüht, „Schadensbegrenzung“ zu betreiben. So wird unter anderem verabredet, eine deutsch-französische Initiative zur politischen Union für den EG-Gipfel in Dublin im April 1990 vorzubereiten[61].
Mit Bush wird sich Kohl über die weiteren großen Linien der Deutschlandpolitik einig: die Polen sollen an den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen beteiligt werden, soweit die Grenzfrage betroffen ist, jedoch nicht als reguläre Teilnehmer erscheinen. Warschau, von den Polen als Verhandlungsort gewünscht, wird kategorisch ausgeschlossen. Kohl erklärt dem US-Präsidenten, dieser könne bei seinem anstehenden Gespräch mit Mazowiecki sagen, daß der Kanzler „fest zur Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze entschlossen sei.“ Nach den Volkskammerwahlen in der „DDR“ solle eine gemeinsame Erklärung von Volkskammer und Bundesparlament verabschiedet werden. Jedoch sei der juristische, letzte Akt einem gesamtdeutschen Parlament vorbehalten. Auffällig ist in dieser Situation das Vertrauensverhältnis, das zwischen Bush und Kohl herrscht, vor allem nach den soeben aufgetretenen deutsch-französischen Spannungen.
Die besondere Rolle der deutsch-amerikanischen Beziehungen ist auch schon bei den Gesprächen in Camp David am 23. und 24. Februar 1990, deutlich geworden. Die beiden Politiker stimmen in wichtigen Schritten zum weiteren politischen Vorgehen überein. Dazu zählen die NATO-Vollmitgliedschaft Deutschlands, „eine gewisse Verzögerungsstrategie bei den Zwei-plus-Vier-Gesprächen“, um einen Konsens unter den westlichen Verbündeten zu finden, der Verzicht Deutschlands auf die Ostgebiete und die Präsenz amerikanischer Truppen in Deutschland als „Voraussetzung für die Stabilität und die Sicherheit der europäischen Nachbarstaaten“[62].
Nach kurzem Streit setzt sich Kohl in der Grenzfrage auch gegenüber Außenminister Genscher durch. Die Vorgehensweise wird wie folgt festgelegt: man will sich mit Ost-Berlin über eine Entschließung abstimmen, die von Bundestag und Volkskammer verabschiedet werden soll und dann der polnischen Regierung präsentiert wird. Damit wird also der polnische Wunsch nach Vertragsabschluß vor der Einheit von deutscher Seite aus endgültig abgelehnt.
9. Die Verlangsamung der Europäischen Integration
Die Abkühlung des deutsch-französischen Verhältnisses ist nun auch im Prozeß der europäischen Integration zu spüren. Vor dem EG-Gipfel in Dublin im April möchte die Bundesregierung die deutsch-französische Initiative zur europäischen Wirtschafts- und Währungsunion und zur politischen Union mit der französischen Regierung konkretisieren. Aus den zurückhaltenden französischen Reaktionen erhalten die Kanzleramtsmitarbeiter jedoch den Eindruck, Mitterrand sei „nicht interessiert, mit Kohl eine substantielle Diskussion über Inhalte einer institutionellen Reform und einer politischen Union zu beginnen.“ Während die Franzosen Sachdiskussionen während des Gipfels abhalten wollen, ist aus deutscher Sicht eine gemeinsame Initiative nur sinnvoll, wenn sie vor dem Gipfel organisiert wird. Der Kanzlerberater Bitterlich vermutet nicht zu Unrecht, „die französischen Partner suchen sich (...) herauszuwinden.“ Er stellt ferner fest:
„Für Mitterrand geht es in den nächsten Jahren in erster Linie und vor allem um die Wirtschafts- und Währungsunion, (...) weitere Etappen zur Europäischen Union haben für ihn eine Nebenrolle.“
Die deutsche Seite zweifelt deshalb , „ob Frankreich im Moment großen Wert auf eine politische Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaften legt.“[63]
In einem Briefwechsel tauschen sich die beiden Regierungschefs weiter über ihre Vorstellungen aus. Kohl insistiert auf der Erstellung eines präzisen Arbeitskalenders, der zeitliche und inhaltliche Vorgaben machen soll, zu denen auch eine Erweiterung der Rechte des Europäischen Parlaments zählt: „Die endgültigen Vertragstexte [auch anderer Reformvorhaben] könnten dann bis spätestens Frühjahr 1992 finalisiert werden.“ Immer wieder betont der Kanzler, wie wichtig es ihm erscheint, „ein klares, politisches Signal zu setzen und unser Engagement zu bekräftigen, in den kommenden Jahren entschieden auf dem Weg zur Politischen Union voranzuschreiten.“[64] Der Kontakt und Gedankenaustausch mit Mitterrand macht außerdem deutlich, daß Kohl auf dessen Hilfe und Unterstützung zählt.
Vorsichtige und distanziert anmutende Formulierungen des Franzosen lassen jedoch durchklingen, daß er es mit der politischen Union weniger eilig hat:
„Ich persönlich sehe keinen Nachteil darin, daß die Regierungskonferenz - nach Abschluß der Arbeiten am Vertrag zur Wirtschafts- und Währungsunion - entscheidet, andere institutionelle Fragen anzugehen. Mit Ihnen wünsche ich in der Tat über die Wirtschafts- und Währungsunion hinaus die Europäische Union (...) in den kommenden Jahren zu verwirklichen.“[65]
Am 2. April findet ein Arbeitsessen von Teltschik und Attali statt. Die beiden Berater unterhalten sich unter anderem über die Integrierung der „DDR“ in die Europäische Gemeinschaft. Teltschik macht klar, daß eine alleinige deutsche Finanzspritze für die UdSSR eine Intensivierung der deutsch-sowjetischen Beziehungen zur Folge hätte. Alternativ könnte die EG im Rahmen eines größeren Vertrags die UdSSR für den Beitritt der „DDR“ in die westliche Gemeinschaft entschädigen. Für Attali kommt das einer Drohung von seiten der Deutschen gleich: entweder „Ihr bezahlt der UdSSR die Wiedervereinigung, oder wir nehmen eine wirtschaftliche Annexion Osteuropas vor!“[66]
10. Erneute Annäherung
Im Vorfeld der 55. deutsch-französischen Konsultationen können einige Unstimmigkeiten ausgeräumt werden. Dazu hat Bush einiges beigetragen, der sich am 20. April 1990 mit Mitterrand trifft und dessen Einwilligung zu der Wiederherstellung von Deutschlands voller Souveränität erhält. Wichtig ist auch die Zusage von Mitterrand und ebenso von Frau Thatcher, daß sie die Viermächte-Rechte aufgeben wollen.
Nach Kohls Willen soll der „deutsch-französische Motor“ neuen Schwung erhalten.
Eine Aktion ist das gemeinsame Schreiben von Kohl und Mitterrand vom 18. April an den EG-Ratsvorsitzenden, den Iren Charles Haughey. Das Hauptanliegen lautet: Beschleunigung der Umsetzung der politischen Union. Als Zieldatum setzen sie den 1. Januar 1993, also zeitgleich mit der Wirtschafts- und Währungsunion[67].
Am 25. und 26. April finden dann Konsultationen in Paris statt. Der Ton ist wieder versöhnlicher geworden. Zu dem Thema der ausländischen Truppenpräsenz in Deutschland merkt Mitterrand an, die Franzosen „wollten auf keinen Fall eine Besatzungsmacht sein“. Kohl erwidert darauf, daß die französischen Soldaten an ihren Stützpunkten gut integriert seien, und in Deutschland herzlich willkommen seien[68]. Abschließend betont Kohl, der wichtigste Punkt, der auf der Pressekonferenz herausgestellt werden sollte, seien die „freundschaftlichen und ausgezeichneten deutsch-französischen Beziehungen (...) und daß man in Dublin mit Europa vorankommen wolle.“[69]
Attali notiert in seinen Aufzeichnungen, Mitterrand habe anschließend bemerkt, „die Spannungen seien nützlich gewesen. Nun kehre der Fluß in sein Bett zurück.“[70]
Das Treffen des Europäischen Rates am 28. April 1990 ist ein Erfolg für die manchmal mühsame diplomatische Arbeit der Bundesregierung. In einer Erklärung stellt sich der Rat hinter die deutschen Bestrebungen zur Verwirklichung der Wiedervereinigung. Die deutsche Vereinigung sei „ein positiver Faktor in der Entwicklung Europas im allgemeinen und der Gemeinschaft im besonderen: Wir freuen uns, daß die Vereinigung Deutschlands unter einem europäischen Dach stattfindet.“[71]
Der von der EG-Kommission vorgelegte „Drei-Stufen-Plan zur Eingliederung der DDR in die Europäischen Gemeinschaften“ wird gebilligt, ohne daß Beitrittsverhandlungen erwähnt werden. Statt dessen sieht der Plan eine „Interimsphase“ mit einer deutsch-deutschen Währungsunion vor, der dann die „Übergangsphase“ mit der deutschen Wiedervereinigung folgen soll. Letzter Schritt ist die „volle Integrierung der DDR“[72].
11. Französisch-sowjetische Allianz?
Als Mitterrand am 25. Mai 1990 zu einem Besuch nach Moskau fliegt, sieht er voraus, daß Gorbatschow ihn wieder bitten werde, Widerstand gegen die deutsche Wiedervereinigung zu leisten. Er fügt hinzu: „Ich täte das mit Vergnügen, wenn ich annähme, daß er durchhält. Aber warum soll ich mich mit Kohl streiten, wenn Gorbatschow mich drei Tage später im Stich läßt?“ Attali schreibt über die anschließende Unterhaltung mit Gorbatschow, daß Mitterrand sich noch nie so kritisch über Kohl geäußert habe. Er erklärt, nicht begeistert von der deutschen Einheit zu sein, es gebe aber keine Mittel der Opposition. Soweit dies möglich sei, müsse die Wiedervereinigung mit der europäischen Konstruktion „synchronisiert“ werden. Die beiden schwören sich auf gemeinsame Interessen ein, die gegen Kohl und die deutsche Einheit gerichtet sind; man verspricht, einander zu helfen.
Attali faßt die Position seines Vorgesetzten mit den Worten zusammen: „Mitterrand hat Gorbatschow gesagt, daß sein Herz in Moskau sei, und sein Verstand in Bonn.“[73]
12. Deutsch-französischer Routineeinsatz für Europa
Ein Treffen Mitterrands und Kohls auf einer Schiffstour auf dem Rhein steht in der Folge der deutsch-französischen Initiativen zur europäischen Integration. Am 22. Juni halten sie eine Vorbesprechung zum nächsten Europaratsgipfel ab, der auf den 25.-26. Juni in Dublin festgesetzt ist. Dort soll ein Termin für die Regierungskonferenzen zur Wirtschafts- und Währungsunion und zur Politischen Union gefunden werden, um den Prozeß voranzubringen.
Sodann kommen sie auf die deutsche Einheit zu sprechen. Soeben haben Bundestag und Volkskammer die Entschließung zur deutsch-polnischen Grenze verabschiedet. Der Kanzler macht deutlich, daß er auf die Forderungen Polens nach Änderung des Grundgesetzes und der Vertriebenengesetzgebung nicht einzugehen bereit ist. Mitterrand antwortet, indem er sich angetan von der „sehr schönen, überzeugenden Rede“ Kohls vor dem Bundestag zeigt, in welcher der Kanzler seine Positionen bereits dargelegt hatte[74].
Im Laufe der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen über die Grenzfrage stellt sich aber heraus, daß Mazowiecki weiterhin auf einem Vertragsabschluß vor der Wiedervereinigung beharrt. Diese Forderungen sind vor allem wegen der französischen Unterstützung unangenehm für die Bundesregierung. So schreibt Teltschik an Kohl, „daß die polnische Haltung in der Grenzfrage noch immer ein großes Störpotential für den deutschen Einigungsprozeß“ darstelle[75].
13. Deutsch-sowjetische Einigung
Für die weitere Entwicklung in Europa wie natürlich auch in der Frage der deutschen Einheit hängt viel von Gorbatschows politischem Überleben in der UdSSR ab. Kann er seinen Reformkurs durchsetzen und sich gegenüber seinen politischen Feinden behaupten, kann er die von der Bundesregierung gewünschten deutschlandpolitischen Entscheidungen treffen? Seine Lage ist innenpolitisch äußerst instabil. Angesichts der enormen Wirtschaftsprobleme seines Landes benötigt er dringend die Hilfe des Westens. Dies ist der Hebelpunkt für Kohl. Bei einem Treffen in Moskau am 15. und 16. Juli 1990 bringt der Kanzler seine Bedingungen für Hilfeleistungen vor: er erwartet Gorbatschows Zustimmung zu einem voll souveränen Deutschland, das zudem NATO-Mitglied sein soll. Weiterhin muß eine Lösung für den Abzug der sowjetischen Truppen aus der „DDR“ gefunden werden. Gorbatschow verbindet seinerseits eine NATO-Mitgliedschaft mit der Auflage, daß dies erst nach dem vollständigen Rückzug der sowjetischen Streitkräfte aus Ostdeutschland denkbar sei. Es werde also eine Übergangsregelung geben, die in einem separaten Vertrag festgelegt werden solle. Die Rechte der Vier Mächte könnten erst nach Abschluß der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen aufgehoben werden. Gorbatschow besteht auf einem deutschen Verzicht auf ABC-Waffen. Außerdem soll es deutsche Hilfestellungen bei der Truppenrückführung geben, zum Beispiel in Form eines Wohnungsbauprogramms. Des weiteren sprechen Kohl und Gorbatschow über den Inhalt eines bilateralen Vertrages „über Partnerschaft und Zusammenarbeit“, der die Länder einander noch näher bringen soll[76].
Zum endgültigen Durchbruch der Verhandlungen kommt es bei Gesprächen in Archys im Kaukasus. Deutschland sagt seine finanzielle Hilfe für den sowjetischen Truppenabzug zu, der innerhalb von drei bis vier Jahren erfolgen soll. Dafür stellt sich Gorbatschow bei dem Grenzstreit zwischen Polen und Deutschland auf die deutsche Seite. Er billigt also die Weigerung, einen Vertrag vor der Wiedervereinigung abzuschließen und die Regelung innerhalb eines Friedensvertrages anzulegen. Deutschland wird ein souveräner Staat sein und als solcher eine freie Bündniswahl treffen. Kohl erhält grünes Licht für eine NATO-Mitgliedschaft, eine Zustimmung, die vor einiger Zeit wohl kaum jemand für realistisch gehalten hätte, allen voran der französische Staatspräsident Mitterrand. Solange sowjetische Truppen auf ostdeutschem Boden präsent sind, werden die NATO-Strukturen jedoch nicht auf dieses Gebiet erstreckt werden.
Vielsagend ist der Wunsch Gorbatschows, „die gefundenen Kompromisse“ dürften beim nächsten Zwei-plus-Vier-Treffen „nicht den Eindruck erwecken, als seien alle Fragen schon bilateral entschieden worden. Vor allem dürfe nicht der Anschein entstehen, als habe er (...) die NATO-Mitgliedschaft gegen Kreditleistungen der Bundesregierung verkauft. (...) Es sei Realpolitik betrieben worden.“[77]
Das deutsch-sowjetische Treffen gilt als historisch, und es bringt die Deutschlandpolitik der Bundesregierung einen entscheidenden Schritt weiter. Kohls nächste Sorge ist die Reaktion der europäischen Nachbarn. So schreibt er am 20. Juli dem Vize-Präsidenten der EG-Kommission, Bangemann: „Das letzte, was wir angesichts der Stimmungslage in Europa jetzt brauchen, ist die These: «Wir müssen die deutsche Wiedervereinigung bezahlen.»“[78]
In diesem Sinne erklärt Delors zum Beitritt der „DDR“ in die EG, dieser werde ohne erhöhte Geldmittel möglich sein[79].
Auch Mitterrand hat die Bedeutung der deutsch-sowjetischen Einigung erkannt. Attali gegenüber gibt er sich erleichtert, der Bitte Gorbatschows, Kohl nicht nachzugeben, nicht gefolgt zu sein: „Er [Gorbatschow] überläßt ihm alles, ohne Zweifel für ein paar Mark mehr. So werden wir nicht mehr lange der Wiedervereinigung widerstehen können.“[80]
Bei den nächsten Zwei-plus-Vier-Verhandlungen am 17. Juli in Paris bleibt den Außenministern nicht mehr viel anderes übrig, als die deutsch-sowjetischen Ergebnisse zu akzeptieren. Insbesondere Polen hat einen wichtigen Rückhalt verloren und nimmt seine Forderung nach einer Vertragsunterzeichnung vor der deutschen Einheit zurück. Darüber hinaus wird die Alternative eines Friedensabkommens endgültig verworfen. Damit ist das „deutsch-polnische Problem“ weitestgehend beigelegt.
Der „Überleitungsvertrag“, der die Rückführung der sowjetischen Truppen regelt, kostet Deutschland zwölf Milliarden Mark zuzüglich eines zinslosen Kredits von drei Milliarden. Nach dieser Einigung ist der Weg frei für die Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrages in Moskau am 12. September 1990.
14. Das Ende der „Siegerrechte“ der Alliierten
In dem „Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland“ erklären die beiden deutschen Staaten, Frankreich, Großbritannien, die UdSSR und die USA unter anderem:
Artikel 1
(1) Das vereinte Deutschland wird die Gebiete der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik und ganz Berlins umfassen.
(2) Das vereinte Deutschland und die Republik Polen bestätigen die zwischen ihnen bestehende Grenze in einem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag.
Artikel 7
(1) Die Französische Republik, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und die Vereinigten Staaten von Amerika beenden hiermit ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes.
(2) Das vereinte Deutschland hat demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten.[81]
Weiter heißt es, von deutschem Boden werde nur Frieden ausgehen. Der Verzicht Deutschlands auf ABC-Waffen ist ebenso festgeschrieben wie die Reduzierung seiner Streitkräfte auf 370000 Mann. Bis zum 31.12.1994 sollen die sowjetischen Truppen abgezogen sein. Die wiedererlangte Souveränität Deutschlands gesteht ihm freie Bündniswahl zu, es wird also in der NATO bleiben.
Kohl nennt die Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrages ein „weiteres Schlüsseldatum auf dem Wege zur deutschen Einheit“, die sich „im Einvernehmen mit allen Verbündeten, Nachbarn und Europäern“ vollziehe[82].
Die 56. deutsch-französischen Regierungskonsultationen am 17. und 18. September 1990 stehen unter dem Eindruck der Vertragsunterzeichnung. Kohl und Mitterrand appellieren an die französische Wirtschaft, im Osten Deutschlands zu investieren. Zudem wird der Grundstein für einen deutsch-französischen Kulturkanal gelegt, heute bekannt als ARTE. Mitterrand überrascht die Deutschen mit seiner Ankündigung, die in Deutschland stationierten französischen Truppen abzuziehen, bevor sie „unter dem Druck der öffentlichen [deutschen] Meinung abziehen müßten.“[83] Dies entspricht nicht den Vorstellungen der Bundesregierung, die stets Wert auf die französische Truppenpräsenz gelegt hat und durch Mitterrands einseitig beschlossene Maßnahme dementsprechend irritiert ist.
15. Der Tag der deutschen Einheit
Zum Tag der deutschen Einheit, dem 3. Oktober 1990, übermittelt Bundeskanzler Kohl eine Botschaft an alle Regierungen der Welt, in der er unter anderem erklärt:
„Mit dem heutigen Tage ist das deutsche Volk in Frieden und Freiheit wiedervereint. 45 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der von deutschem Boden ausging und unendliches Leid in Europa und in der Welt verursacht hat, endet die schmerzliche Trennung der Deutschen.
In Ausübung ihres Rechts auf freie Selbstbestimmung, im Einvernehmen mit ihren Nachbarn und auf der Grundlage des Vertrags über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland haben sich heute die Deutschen in einem Staat - der Bundesrepublik Deutschland - mit voller Souveränität in seinen inneren und äußeren Angelegenheiten vereint. (...)
I. Unser Land will mit seiner wiedergewonnenen nationalen Einheit dem Frieden in der Welt dienen und die Einigung Europas voranbringen (...).
Wir wissen, daß wir mit der Vereinigung auch größere Verantwortung in der Völkergemeinschaft insgesamt übernehmen.(...)
Von deutschem Boden wird in Zukunft nur Frieden ausgehen.(...)
II. Die Einigung Deutschlands ist untrennbar verbunden mit der Europas. Mit der gleichen Beharrlichkeit, mit der wir unsere Einheit angestrebt haben, werden wir uns weiterhin entschlossen für die europäische Einigung einsetzen.(...)
Wir bekennen uns zum Prozeß der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa als Hoffnung der Völker Europas und als Wegweiser zu seiner zukünftigen Einheit.(...)
V. (...) Nach Wiedererlangen der Deutschen Einheit in voller Souveränität ist die Bundesrepublik Deutschland bereit, sich künftig an Maßnahmen der Vereinten Nationen zur Wahrung und zur Wiederherstellung des Friedens auch durch den Einsatz ihrer Streitkräfte zu beteiligen.(...)“[84]
Zu den Glückwünschen aus aller Welt gehört natürlich auch eine Grußbotschaft aus Paris. Mitterrand bezeichnet hierin den 3. Oktober als „die große Stunde Ihrer nationalen Einheit. (...) Versichern Sie [Herr Kohl] Ihre Nächsten, versichern Sie alle Deutschen der Solidarität Frankreichs.“[85]
Von Attali weiß man aber auch, daß Mitterrand skeptisch bleibt:
„Der Kanzler ist aufrichtig.(...)Aber nach ihm? Man muß Deutschland (...) in der politischen Union Europas auflösen, bevor Kohl den Stab weitergibt. Sonst wird die deutsche Arroganz - dieses Mal die bayerische, und nicht mehr die preußische - erneut den Frieden in Europa bedrohen.“[86]
Das deutsch-polnische Grenzabkommen wird am 14. November unterzeichnet. In ihm wird die Oder-Neiße-Grenze bestätigt und somit endgültig völkerrechtlich anerkannt. Dies berührt nach deutscher Auffassung nicht die Entschädigungsansprüche der Vertriebenen.
B Ausblick auf die weitere Entwicklung
Mit dem liberalisierten Kapitalverkehr und einer verstärkten Koordination der Wirtschafts- und Währungspolitik innerhalb der EG beginnt am 1. Juli 1990 die erste Stufe zur Wirtschafts- und Währungsunion.
In dem Bemühen, die osteuropäischen Länder zu unterstützen, die sich im Umbruch zu Demokratie und Marktwirtschaft befinden, verabschiedet die KSZE-Gipfelkonferenz vom 21. November 1990 die „Charta von Paris für ein neues Europa“. Sie bekundet darin ihren Willen zu einem Neubeginn in Europa. In der Folge wird jedoch deutlich, daß Frankreich aus Angst vor einer deutschen Hegemonie im Osten der Vertiefung der bestehenden Gemeinschaft Vorrang gibt[87].
1. Deutsch-französische Initiativen
Eine Initiative des „deutsch-französischen Motors für Europa“ ist die gemeinsame Botschaft Kohls und Mitterrands an den Präsidenten des Europäischen Rates, Andreotti. In Erwartung des EG-Gipfels in Rom am 12. Dezember betonen die beiden die Wichtigkeit der europäischen politischen Integration neben der wirtschaftlichen Union. Sie plädieren für eine Verstärkung der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik:
„Ihr Ziel sollte es sein, die wesentlichen Interessen und die gemeinsamen Werte der Union und ihrer Mitgliedstaaten zur Geltung zu bringen, ihre Sicherheit zu stärken, die Zusammenarbeit mit anderen Staaten zu fördern und zum Frieden und zur Entwicklung in der Welt beizutragen.“ (6. Dezember 1990)[88]
Auf dem EG-Gipfel in Rom am 14. und 15. Dezember beschließen die Teilnehmer offiziell die Realisierung der Wirtschafts- und Währungsunion sowie der Politischen Union durch die Einberufung zweier entsprechender Regierungskonferenzen. Später wird sich zeigen, daß viele der ehrgeizigen Ziele, wie sie im deutsch-französischen Vorschlag gesteckt worden waren, nach langen Verhandlungen nur noch als „Restbestände“ in den Maastrichter Vertrag eingehen[89].
Nach dem gewaltsamen Einsatz der Roten Armee im „abtrünnigen“ Litauen verdeutlicht ein von den Außenministern Dumas und Genscher im Januar 1991 gemeinsam entworfenes „Deutsch-französisches Papier zur künftigen Rolle der WEU“ die Überzeugung, daß eine Zusammenarbeit in der europäischen Sicherheitspolitik nötiger denn je ist. Sie erklären u.a.:
„Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zielt darauf ab, ein gemeinsame europäische Verteidigungspolitik zu verwirklichen. (...) Eine europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität sollte im Ausbau eines europäischen Pfeilers der [ Atlantischen ] Allianz zum Ausdruck kommen. (...) Die WEU würde der Kanal werden, durch den Politische Union und NATO zusammenarbeiten mit dem Ziel einer wechselseitigen Verstärkung der europäischen und der transatlantischen Sicherheitsstrukturen.“[90]
Im Laufe des Jahres werden viele Anstrengungen gemacht, die dem deutsch-französischen Austausch und der engen Zusammenarbeit zum Wohle der Europäischen Union dienen.
Die traditionellen deutsch-französischen Konsultationen am 29. und 30. Mai in Lille stehen ganz im Zeichen der Sicherheitspolitik, ohne die für Kohl „die Politische Union Europas nicht denkbar“ ist. Dementsprechend stehen die Situation auf dem Balkan, im Nahen Osten und in Mittel- und Osteuropa auf der Tagesordnung[91].
In bilateralen Gremien wird der Abschluß des Maastricht-Vertrages vorbereitet, indem man an Problemen bei der Wirtschafts- und Währungsunion und der Politischen Union arbeitet. Bei einem Treffen am 23. Juli in Bad Wiessee beschäftigen sich Kohl und Mitterrand mit der Krise in Jugoslawien.
Vom 18. bis 20. September besucht der französische Präsident Deutschland. Der Schwerpunkt seiner Reise liegt auf den neuen Bundesländern. Die Franzosen sind die größten ausländischen Investoren in wichtigen wirtschaftlichen und kulturellen Projekten.
Anläßlich der verschärften Jugoslawien-Krise erklären Kohl und Mitterrand:
„1. Wir sind bestürzt über die Fortdauer der Gewalttätigkeiten in Jugoslawien (...). Wir sind überzeugt, daß diese Entwicklung die Stabilität in dieser Region bedroht und auch Rückwirkungen auf ganz Europa hat. (...)
7.(...)Gleichzeitig gilt es sicherzustellen, daß die Rechte der betroffenen Minderheiten respektiert werden.“ (18. September 1991)
Letzteres ermöglicht auch die Entsendung von Friedenstruppen in das Krisengebiet[92].
Mitte Oktober schlagen sie im Rückgriff auf das im Februar gemeinsam veröffentlichte Papier dem EG-Ratspräsidenten Lubbers vor, die Westeuropäische Union (WEU) als Verteidigungsorgan der zukünftigen Europäischen Union auszubauen. In diesem Zusammenhang kündigen sie außerdem die Gründung der deutsch-französischen Brigade an.
2. Maastricht
Am 10. und 11. Dezember 1991 findet dann der lange von Paris und Bonn vorbereitete Maastricht-Gipfel statt. Die Deutschen setzen sich bei der Unabhängigkeit der Zentralbank und ihrer Verpflichtung auf einen Stabilitätskurs den Franzosen gegenüber durch (diese fordern ein Primat der Politik). Dafür bleibt die politische Union mit ihren vagen Zielsetzungen hinter ihren Erwartungen zurück[93]. Frankreich, das großen Wert auf nationale Eigenständigkeit legt, blockiert sowohl die Kompetenzerweiterung für das Europa-Parlament als auch die Einschränkung der nationalen Souveränitäten in der Außen- und Sicherheitspolitik zugunsten Brüssels[94].
Zu den wesentlichen Bestandteilen des Vertrages gehören:
1. die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU)
Die Mitgliedsstaaten, die die strengen Konvergenzkriterien erfüllen,
werden ab 1999 den EURO als gemeinsame Währung haben.
2. die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP)
Die WEU als verteidigungspolitisches
Element soll Bindeglied zwischen NATO und EU sein.
3. die Gemeinsame Innen- und Rechtspolitik
In der Asyl-, Einwanderungs- und Visapolitik, in der Bekämpfung
des Terrorismus, des Drogenhandels, der Geldwäsche und der
organisierten Kriminalität soll eine Zusammenarbeit gemeinsames
Vorgehen ermöglichen. Neu ist das Europäische Polizeiamt
(EUROPOL).
4. Kompetenzerweiterung für das Europäische Parlament
Hier kann sich die deutsche Delegation nicht durchsetzen, die neuen
Kompetenzen bleiben hinter ihren Forderungen zurück. In einigen
Bereichen des Mitentscheidungsverfahrens kann das Parlament (wie der Rat) ein wirksames Veto einlegen. Es muß Beitritts- und Assoziierungsverträgen zustimmen.
5. Der Ausschuß der Regionen
Die regionale Ebene nimmt beratende Tätigkeiten wahr.
6. Unionsbürgerschaft
Sie beinhaltet aktives und passives Wahlrecht bei Kommunal- und
Europawahlen für jeden EU-Bürger innerhalb der EU.
7. Subsidiariätsprinzip
Die Gemeinschaft soll nur dann in öffentliche Aufgaben eingreifen,
wenn ein Staat zu deren Lösung nicht fähig ist. „Sie darf nur so viel
entscheiden wie nötig, aber so wenig wie möglich.“ Ziel ist also,
der gefürchteten EU-Bürokratie entgegenzuwirken und statt dessen
möglichst bürgernah zu sein.
8. Europäischer Wirtschaftsraum (EWR)
In diesem werden die EU-Mitgliedsstaaten mit den EFTA-
Mitgliedern (nach einem negativ ausgefallenen Referendum ist die
Schweiz ausgeschieden) zum Europäischen Binnenmarkt
zusammengeschlossen.
Die Unterzeichnung der Verträge erfolgt am 7. Februar 1992 durch die zwölf Außen- und Finanzminister der Mitgliedsstaaten[95].
Beobachtern erscheinen die Verträge als „hart erkämpfter Kompromiß zwischen den beiden Hauptprotagonisten Frankreich und Deutschland“, was die „vielen Brüche und Widersprüche“ erklärt[96]. Während Frankreich im Zweifelsfalle immer die Zusammenarbeit der Regierungen stärken will, die den Einzelstaaten ein Höchstmaß ihrer Souveränität beläßt, begünstigt Deutschland traditionell föderalistische Strukturen.
3. Neue weltpolitische Verantwortung
Das vereinigte, nunmehr voll souveräne Deutschland tut sich schwer mit der Definition seiner Außenpolitik, die sich den veränderten Umständen anpassen soll. Aber auch das Ausland reagiert oftmals mit widersprüchlichen Bewertungen des deutschen Verhaltens. Es scheint, als ob die Bundesrepublik es den Nachbarn und Verbündeten nie recht machen kann. Sobald sie Anstalten macht, entsprechend ihrem gesteigerten politischen Gewicht zu agieren, sprechen ausländische Stimmen von einem „Wiedererwachen des Nationalismus“, von „Imperialismus“ und dem „Willen zur Beherrschung“. Verweigert sie die Teilnahme an militärischen Aktionen, wird ihr „Egoismus“ vorgeworfen[97]. Zumindest straft die „Zurückhaltung der Deutschen gegenüber militärischer Intervention“ alle diejenigen Lügen, „die ihnen hegemoniale Absichten unterstellt hatten.“[98] Gerade in Frankreich kritisiert man die negative Haltung des Bundestags zu Bundeswehreinsätzen außerhalb des NATO-Gebietes, die Deutschland nicht davon abhält, gleichzeitig einen Ständigen Sitz im UNO-Sicherheitsrat zu fordern[99]. Eine erste Bewährungsprobe hat die Bundesrepublik in der Golfkrise zu bestehen. Der gesteigerten internationalen Verantwortung versucht die Regierung mit „Scheckbuchdiplomatie“ gerecht zu werden. Aus Verfassungsgründen an einem militärischen Einsatz außerhalb des NATO-Gebietes gehindert, zahlt Deutschland über 18 Milliarden Mark an Solidarbeiträgen und für Hilfslieferungen[100].
Nach endlosen Debatten setzt Kohl schließlich mit dem Einverständnis des Bundesverfassungsgerichts den Einsatz der Bundeswehr auch außerhalb des NATO-Gebietes durch.
Erneute Spannungen gibt es wegen der Jugoslawienkrise. Zuerst ringt die Bundesrepublik der widerstrebenden Europäischen Gemeinschaft - vor allem Frankreich wehrt sich aus traditioneller Freundschaft zu Serbien- die Anerkennung der Unabhängigkeit von Slowenien und Kroatien ab. Als die Situation immer weiter eskaliert, führen einige Stimmen, darunter viele französische, dies auf die schnelle Anerkennung der Unabhängigkeit zurück, die zu dem Auseinanderfallen des Vielvölkerstaates beigetragen habe. Dabei ist es gerade für die vereinten Deutschen nur allzu verständlich, daß die Völker ihr Recht auf Selbstbestimmung und ihre Befreiung von dem kommunistischen Regime einfordern. Offensichtlich befürchtet man in Frankreich aber eine „Ausdehnung des deutschen politischen wie ökonomischen Einflusses“ im Balkan. Mit der Uneinigkeit darüber, wie Europa und die internationale Staatengemeinschaft sich in der Jugoslawienkrise verhalten sollten, scheint „der Höhepunkt (...) der Zerstrittenheit der Europäer in einer existentiellen Frage“ erreicht, bei der Deutschland und Frankreich jeweils „nationale Interessen“ verfolgen[101].
Nach wie vor stößt sich die westeuropäische Sicherheitspolitik an den „uralten deutsch-französischen Divergenzen.“ Denn Frankreich erstrebt eine Europäisierung der NATO durch die Verstärkung der WEU. Deutschland dagegen spricht von dem „europäischen Pfeiler der Allianz“. „Dahinter steckt der ewige Streit zwischen den «atlantischen Europäern» und den «europäischen Europäern», der wie ein roter Faden seit de Gaulle die deutsch-französischen Beziehungen durchzieht.“[102] Auch Initiativen wie die zum Eurocorps kränkeln an demselben Problem: für die einen soll es die europäische Verteidigung unabhängiger machen, für die anderen soll sie möglichst nahe bei der NATO bleiben.
Soutou zufolge erstrebt die französische Sicherheitspolitik „eine atlantische Allianz ohne Integration (...), eine europäische Verteidigung neben der Allianz, die den Einzelstaaten das letzte Wort einräumt.“ So gesehen richtet sich Frankreich recht offensichtlich gegen die USA beziehungsweise die NATO, während es sich andererseits genauso gegen eine zu weitgehende Integration innerhalb der Europäischen Union verwahrt. Dieses Beharren auf der eigenen Souveränität ist von manchem Beobachter im Zusammenhang mit einer auffälligen Annäherung an sowjetische Interessen gesehen worden. Die UdSSR sollte demnach ein Gegengewicht zu den USA und auch zu dem vereinigten Deutschland bilden. Deshalb auch die Sorge um die Stabilisierung der wirtschaftlich und politisch äußerst labilen Lage in der Sowjetunion[103].
Selbst wenn man sich der letzten These nicht anschließen will, muß man es in der derzeitigen Lage doch als „Kunststück“ betrachten, „nationale Konzeptionen, europäische Identität und atlantische Integration koexistieren zu lassen.“[104]
4. Die Ostpolitik
Nach der Lösung der „DDR“ aus dem Ostblock, der insgesamt dank Gorbatschows Politik eine Wende zu mehr Demokratie erlebt, ist das Engagement der Bundesrepublik im Osten stärker denn je. An anderer Stelle ist bereits auf das ständige Werben des Bundeskanzlers für finanzielle und wirtschaftliche Unterstützung der sich im Umbruch befindenden Staaten hingewiesen worden. Sein Einsatz wird von den Alliierten mißtrauisch beäugt: sie befürchten eine Umorientierung der Bundesrepublik hin zum Osten, was zugleich eine Abwendung vom Westen bedeuten würde. Dies paßt zu alten, wieder aufgewärmten Vorurteilen, wonach das neu erstarkte Deutschland nun seine wahren Ambitionen, nämlich die Vorherrschaft in Mitteleuropa, verfolgt. Damit ginge natürlich eine Intensivierung und Privilegierung der deutsch-sowjetischen Beziehungen einher. Der ehemalige Innenminister Chevènement erklärt in einem Vortrag am 21. Mai 1990 die Gefahr einer solchen Entwicklung, denn „zwischen diesen beiden Völkern besteht ein altes Einverständnis, das von Katharina II bis zu Bismarck schon viele Ausformungen erlebt hat.“[105]
Sachlicher betrachtet, bedeutet die Demokratisierung des Ostens die Öffnung eines riesigen Marktes, und zwar nicht nur für Deutschland, das geographisch allerdings ideal liegt, sondern für die Europäische Gemeinschaft insgesamt. Im Falle der Bundesrepublik sind die Wirtschaftsbeziehungen auch deshalb von Anfang an sehr intensiv, weil früher bestehende Handelsverflechtungen zwischen der „DDR“ und den Ostblockstaaten weiter gepflegt werden.
Geopolitisch muß Deutschland die Stabilität der östlichen Länder auch deshalb am Herzen liegen, weil es Hauptzielland einer kaum abzuschätzenden Ausreisewelle wäre, wenn diese im völligen Chaos versinken würden[106].
C Zusammenfassung
Grundsätzlich bedeutet die Wiedervereinigung einen diplomatischen Erfolg für die Bundesregierung.
Kohl ebnet den Weg zur deutschen Einheit, indem er die westlichen Verbündeten stets der Bündnistreue Deutschlands und seines Verbleibens in der NATO versichert. Parallel dazu ist er bemüht, den Prozeß der europäischen Integration voranzutreiben. Sein europäisches Engagement und die damit einhergehende Einbindung der deutschen Währung und Wirtschaftskraft sind besonders für Mitterrand wichtig, der um die Führungsrolle seines Landes bangt.
Die deutsche Wiedervereinigung ändert das deutsch-französische Verhältnis in entscheidendem Maße. In enger Absprache mit Bush und Gorbatschow verfolgt Kohl eine eigenständige Deutschlandpolitik, während Mitterrand dazu verurteilt ist, in der „deprimierenden Rolle eines Zaungastes“ zu verweilen. Die Angst vor einem übermächtigen Nachbarn vermischt sich mit einer Infragestellung der eigenen, internationalen Position, nun da die politischen und rechtlichen Privilegien der einstigen Siegermacht Frankreich obsolet geworden sind. Das offizielle Frankreichs strebt danach, eine drohende Marginalisierung zu verhindern. Doch mit seiner „merkwürdig kurzatmigen, zum Teil fast kopflosen Politik“ kämpft Mitterrand ein im Grunde „chancenloses Rückzugsgefecht, um für Frankreich zu retten, was schon verloren“ ist[107]. Der französische Staatspräsident hält die deutsche Einheit lange Zeit für nicht realisierbar, weil er nicht mit der Billigung Gorbatschows rechnet. Jener willigt jedoch nicht zuletzt wegen der desolaten finanziellen und wirtschaftlichen Lage der Sowjetunion ein und toleriert sogar die NATO-Mitgliedschaft des gesamtdeutschen Staates sowie die Stationierung amerikanischer Truppen in Europa. Als Mitterrand dergestalt in seiner Annahme widerlegt wird, die Wiedervereinigung werde an Gorbatschows Widerstand scheitern, versucht er selbst wieder, eine aktivere Rolle in dem „Verhandlungspoker“ zu übernehmen. Diesem Ziel dienen die Wiederbelebungsversuche alter Allianzen mit Großbritannien und vor allem mit der Sowjetunion, aber auch die Unterstützung der „DDR“. Besonders brisant ist die Unterstützung der polnischen Forderungen nach einem deutsch-polnischen Grenzvertrag noch vor der Einheit. Solche diplomatische Manöver verzögern die Wiedervereinigung aber nur zeitweilig. Der Bundeskanzler setzt sich in dem Grenzstreit durch, und die Grenzanerkennung erfolgt nach seinen Vorstellungen. Mit Abschluß der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen geben die Alliierten ihre Siegerrechte auf, die bei einigen Teil ihres nationalen Selbstverständnisses waren. Eine weitere Blockade hätte jedoch das westliche Bündnis insgesamt in Frage gestellt.
Als diese Probleme gelöst sind, setzt Mitterrand auf die feste Einbindung des vereinigten Deutschlands in die Europäische Gemeinschaft und erhofft sich darüber hinaus, im Rahmen der „Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ erneut eine Führungsrolle zu übernehmen. Das Verhalten des französischen Staatspräsidenten erscheint aufgrund mancher Brüche paradox. Mitunter ist es schwer abzuschätzen, was der Präsident in ehrlicher Bewunderung einer friedlichen Revolution für Freiheit und Demokratie meint, und was nur offizielle Worte sind, denen oft widersprüchliche Taten folgen. Sein „Diplomatiespiel“ hat nicht vermocht, aktiv und entscheidend in die internationalen Angelegenheiten einzugreifen[108].
Die deutsche Machtzunahme in demographischer, ökonomischer und geostrategischer Hinsicht bedeutet natürlich auch eine wesentliche politische Stärkung. Frankreich befürchtet eine Verlagerung des Machtgewichts von Paris nach Berlin und eine Vereinnahmung Osteuropas durch Deutschland: „Der «Tauroggen-Rapallo-Komplex» (...) wie der Begriff «Mitteleuropa» sind allgegenwärtig.“ Als Beobachter der deutsch-französischen Beziehungen kann man sich unmöglich dem Eindruck verschließen, daß „trotz aller Interdependenzen und Freundschafts-Kundgebungen“ „ausgeprägte nationale Sensibilitäten“ fortdauern[109].
Die Schwierigkeit für Deutschland besteht also darin, daß es seinen neuen Platz in der Europäischen Union und der Welt finden muß, ohne seine Nachbarn zu beunruhigen. Diese befürchten, der wirtschaftlich und finanziell so starke Partner könnte die Übernahme neuer internationaler Verantwortung zu unerwünschter Dominanz zu nutzen. Dabei vergessen die Partner jedoch, daß Deutschland im Gegensatz zu Frankreich und den ehemaligen Supermächten keine Atomwaffen besitzt und keine Ambitionen einer militärischen Großmacht gezeigt hat. Auch ist seine wirtschaftliche Stellung und Macht weitestgehend in die Europäische Gemeinschaft eingebunden. Seine Einbindung hängt allerdings ebenfalls von dem Verhalten seiner Partner ab, die die neuen „europäischen Realitäten“, also ein stärkeres Deutschland ohne einseitige Souveränitätsbeschränkungen, akzeptieren müssen[110].
Europa als „Allheilmittel“ ist für Mitterrand und Kohl gleichermaßen wichtig. Ersterer wollte eine noch stärkere Einbindung des bedrohlich wachsenden Nachbarn in die Gemeinschaft, letzterer durfte keine Zweifel an seiner Westorientierung aufkommen lassen, um nicht die Wiedervereinigung zu gefährden.
- Arbeit zitieren
- Johanna Pflüger (Autor:in), 1999, Die Deutsch-Französischen Beziehungen 1989-90. Ausgewählte Aspekte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/185285
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