Wissenschaft und Moral. Bemerkungen zur Motivation von Sozialpädagoginnen.


Diploma Thesis, 1998

74 Pages, Grade: 1


Excerpt


INHALT:

1 EINLEITUNG

2 PHILOSOPHISCHE BETRACHTUNG DER WISSENSCHAFT UND MORAL
2.1 Begriffliche Eingrenzung von ‘Wissenschaft’
2.2 Begriffliche Eingrenzung von ‘Moral’
2.3 Aufgaben der Moralphilosophie
2.4 Der Widerspruch zwischen Wissenschaft und Moral; Einführung in die Philoso- phie Kants
2.5 Interpretation zentraler Themen der Moralphilosophie Kants durch Adorno
2.5.1 Willensfreiheit und Kausalität (Freiheit und Determinismus)
2.5.2 Praxis und Theorie
2.5.3 Imperative
2.5.4 Zusammenfassender Kommentar
2.6 Wissenschaftskritik aus der philosophischen Konsequenz
2.6.1 Kritik an der wissenschafttheoretischen Sicht der Wirklichkeit
2.6.2 Problematik der wissenschaftlichen Reduzierung
2.7 Fazit/ Kommentar

3 KRITIK DER POSITIVISTISCHEN AUFFASSUNG VON SOZIALPÄDAGOGIK
3.1 Zweck-Mittel-Orientierung der Theorien der Sozialpädagogik
3.2 Darstellung des Zweck-Mittel-Schemas anhand von Beispielen aus der sozialpäda- gogischen Fachliteratur
3.2.1 Professionalität
3.2.2 Beispiel Fachwissen
3.3 Hilfe und HelferInnen
3.3.1 Kritik der positivistischen Sichtweise von Hilfe
3.3.2 Zur emotionalen Komponente der Hilfe
3.3.3 Bemerkungen zur Motivation der SozialpädagogInnen
3.3.4 Fazit
3.4 Zweckrationale Interpretation von Werten
3.4.1 Kritik aus wertrationaler Sicht
3.4.2 Fazit

4 WERTRATIONALITÄT ALS GRUNDPRINZIP DES HANDELNS
4.1 ‘Kantische Sittlichkeit’ als pädagogische Handlungsorientierung
4.2 Möglichkeiten und Schwierigkeiten der transzendentalen Sicht von Erziehungszie- len
4.3 Fazit

5 ZUSAMMENFASSENDE REFLEXION UND INTENTION DER ARBEIT

6 SCHLUßBEMERKUNG

7 LITERATUR

1 EINLEITUNG

„Was soll ich tun“ ist nicht nur die Frage eines ‘Helfers in Handlungsverzug’ sondern die Frage der Praktischen Philosophie schlechthin; Kant wählte sie zu einer zentralen Fragestellung seiner Moralphilosophie.

Diese Frage steht in direktem Zusammenhang mit den Sozialwissenschaften, die sich mit ih- ren empirischen Forschungen um die Möglichkeit der objektiven Beantwortung dieser Frage bemühen.

Daraus ergeben sich verschiedene Probleme sowohl auf der theoretischen als auch auf der praktischen Ebene, die sich ebenfalls auf den einzelnen beziehen lassen.

Hinter der Frage ‘was soll ich tun’ steht letztlich die Frage:

Gibt es das ‘objektiv richtige (moralische) Handeln’ oder anders ausgedrückt gibt es eindeutige Kriterien für die praktische Handlungsorientierung?

Hierbei handelt es sich um ein philosophische Problemstellung und es muß in Hinblick auf das ‘zerbröckelnde Selbstverständnis der Pädagogik’ die Frage erlaubt sein, ob es nach den Maßstäben einer zweckrationalen Ausrichtung der erzieherischen Ziele überhaupt noch sinn- voll sein kann, die empirische Basis jener Zweckorientierung auszuweiten und methodisch zu verfeinern.

Die implizierte Antwort, die es zu ergründen gilt, steckt in der Frage, ob eine transzendentale Deutung der Handlungsprinzipien weiterhin aus der fachlichen Diskussion ausschließen läßt und inwieweit Kant sich mit seinem sittlichen Prinzip nicht nur rational legitimieren läßt, sondern auch Möglichkeiten für die Handlungstheorien der Erziehungswissenschaften sowie die Handelnden bieten kann.

Um das Spannungsverhältnis zwischen Philosophie und Wissenschaft, zwischen Moral und Empirik soll es im ersten Kapitel gehen, wobei der Hauptaugenmerk auf der Vernunft, dem Schlüsselaspekt der Kantischen Philosophie und der Erkenntnistheorie, vertreten durch A- dorno, liegen wird.

Dazu werde ich zunächst auf die Begriffe der Wissenschaft und Moral eingehen und eine kurze ‘Einführung’ in die Thematik Kants geben.

Der Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis sowie zwischen Quantität und Qualität sol- len anhand wichtiger Problemausschnitte der Philosophie Kants, die Adorno interpretiert hat, verdeutlicht werden. Methodisch folge ich Adornos Vorgehensweise, der bevorzugt einzelne Zitate zu den wichtigsten Problemen aus den Schriften Kants analysiert und deutet. Ich schließe mich im ersten Kapitel dieser Methode an, indem ich zunächst die wichtigsten As- pekte aus Adornos Sicht erkläre und mit meiner Art der Auslegung dieser Textstellen von Kant kommentiere.1

Daraus hervorgehend werde ich Kritik an an der wissenschaftlichen Sichtweise üben.

Das zweite Kapitel stellt den Bezug zwischen der Sozialpädagogik2 und den erläuterten Prob- lemen zwischen Wissenschaft und Moral dar. Es geht vor allem um die Herstellung eines di- rekten Praxisbezugs, d.h. die philosophische Diskussion unterwirft sich hier letztlich pragma- tischen Zwecken. Gemeint ist nicht die methodische Anwendbarkeit philosophischer ‘Weis- heiten’, sondern gemeint ist eine Orientierungsbasis, die für den pragmatisch Handelnden unabdingbar notwendig ist, will er sich nicht dem Vorwurf des irrationales, nicht begründba- ren Vorgehens aussetzen.

Anhand des Zweck-Mittel-Schemas werden Beispiele aus der theoretischen Fachliteratur der Sozialpädagogik behandelt. Methodisch gesehen werde ich anhand verschiedener Beiträge von AutorInnen aus unterschiedlichen Theorierichtungen diese Beispiele miteinander vergleichen und zum Abschluß aus meiner Sicht analysieren.

Vorgehensweise meiner Beweisführung wird hier die Betrachtung wissenschaftlicher Begriffe sein, die in der sozialpädagogischen Theorie und Praxis verwendet werden und die zum selbstverständlichen Repertoire der ‘Fachliteratur’ gehören.

Als Konsequenz dieser Diskussion werde ich Schlußfolgerungen für den Begriff der Hilfe im allgemeinen und im besonderen für die Motivation von HelferInnen, in dem Fall von SozialpädagogInnen ziehen.

Auch hier wird die Methode der Vergleich von verschiedenen Beiträgen aus der ‘sozialpädagogischen Fachliteratur’ sein und kommentiert werden durch die Kritikpunkte an den Beiträgen aus meiner Sicht.

Im dritten Kapitel geht es um die Werte und die Moral des Handelns. Als Fazit der vorherigen Diskussion, die von der wissenschaftlich zweckorientierten Interpretation von Handlungen Abstand nimmt, werde ich Beispiele aus der sozialpädagogischen Fachliteratur zum Thema Werte und Moral des Handelns hinterfragen und kritisieren.

Als Gegengewicht zu der wissenschaftlichen Interpretation von Hilfe und Werten werde ich einige Beispiele der wertrational orientierten Grundprinzipien des Handelns aufzeigen, um einen Einblick in andere Formen der Handlungsorientierung zu bieten.

Zum Schluß werde ich mein persönliches Fazit und meine Intention zu dieser Arbeit im Rahmen einer allgemeinen Zusammenfassung und Kritik darstellen.

Im Vorfeld erscheint es mir wichtig zu erwähnen, daß der von mir geäußerten Kritik kein ‘Wert an sich’ zukommt, d.h. sie will nicht als Kritik um der Kritik willen verstanden werden. So geht es mir in keinem Moment darum, inhaltliche oder methodische Diskussionen zu führen, auch dann, wenn auf inhaltlicher Ebene Kritik geübt wird, ist dies lediglich als methodisches Instrument in einem Gesamtkontext zu verstehen.

Beispielsweise liegt es mir fern, Erkenntnisse der Didaktik/Methodik zu verteufeln, sondern es geht mir vielmehr um eine Differenzierung zwischen der grundsätzlichen und der inhaltli- chen Ebene.

2 PHILOSOPHISCHE BETRACHTUNG DER WISSENSCHAFT UND MORAL

Im folgenden Kapitel werde ich das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Moral anhand einer kritischen Bertrachtung von Ausschnitten der Transzendentalphilosophie Kants aus der erkenntnistheoretischen Sicht von Adorno herausarbeiten.

Dazu werde ich zunächst die von mir verwendete Bedeutung dieser Begriffe klären.

Im philosophischen Teil wird Adorno anhand von Ausschnitten der Schriften Kants die Hauptprobleme der Moralphilosophie herausstellen.

Kant gilt als ‘Begründer’ der Moralphilosophie und die hier erörterten philosophischen Dis- kurse zu diesem Thema basieren grundsätzlich auf der Kantischen Argumentation. Aus die- sem Grund beziehe auch ich mich in meiner Darstellung der moralischen Diskussion auf die Philosophie Kants.

2.1 Begriffliche Eingrenzung von ‘Wissenschaft’

Meine Auffassung von Wissenschaft, die für die folgende Arbeit als Richtlinie gelten soll, stützt sich auf die Einteilungen der Wissenschaften, wie sie laut Anzenbacher ‘allgemein’ üblich sind.

Einzelwissenschaften können in Realwissenschaften und Formalwissenschaften (Mathematik, formale Logik) aufgegliedert werden.

Die Sozialwissenschaften und damit auch die Teilbereiche und Theorien der Sozialpädagogik gehören zu den sogenannten Realwissenschaften, wobei eine Theorie als ein System wissenschaftlich begründeter Aussagen zur Erklärung bestimmter Tatsachen oder Erscheinungen und der ihnen zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten verstanden wird.

Wenn in Folge also von Wissenschaft die Rede ist, beziehe ich mich im eigentlichen Sinne auf die Sozialwissenschaften und auf die Theorien der Sozialpädagogik, was aber keineswegs bedeutet, daß die von mir aufgezeigten Probleme auch nur für die Sozialwissenschaften gelten können.

„Die Realwissenschaften haben einen bestimmten Teilbereich der Erfahrungswirklichkeit zum Gegenstand und erforschen diesen in einer bestimmten Methode.“3

Die Realwissenschaften weisen folgende charakteristische Merkmale aus:

- Sie sind empirisch, d.h. ihr Gegenstand ist ein Teilbereich der Erfahrungswelt.
- Die Beschreibungs- und Begründungszusammenhänge, die aufgewiesen werden, sind im Teilbereich bestätigungsfähig und übersteigen diesen nicht.
- Sie sind thematisch reduziert, d.h. ihr Thema wird auf einen bestimmten Gesichtspunkt hin eingeschränkt, während andere Gesichtspunkte unbeachtet bleiben.
- Sie sind methodisch abstrakt, d.h. ihr Thema kommt nur in der Weise in den Griff der Forschung, den die Methode zuläßt.“ Alles andere ist nicht Thema oder wird abstrahiert.

Das kennzeichnende Merkmal jeder Einzelwissenschaft ist, daß sie sich auf einen Ausschnitt beziehen, den sie der Empirik entnommen haben. Einzelwissenschaft erklärt damit immer Empirisches mit Empirischen.

Die empirischen Wissenschaften erforschen die drei Wirkungszusammenhänge: Einwirkung, Auswirkung und Gegenwirkung.

Wenn zwei dieser Variablen bekannt sind, läßt sich die dritte aus diesen Informationen be- rechnen.

Ein Beispiel verdeutlicht dieses Prinzip: Ein Stein fällt auf den Boden und hinterläßt ein Loch. Der Stein (Einwirkung) hinterläßt aufgrund des Widerstands des Bodens (Gegenwirkung) ein Loch in demselben (Auswirkung).4

Empirisches läßt sich immer durch diese drei Wahrnehmungszusammenhänge beschreiben, die man auch mit dem Gesetz der Ursache und Wirkung (Kausalität) beschreiben kann.

Kausalität in dem hier gemeinten Sinne meint also, daß jede Wirkung eine Ursache besitzt, und mit dieser in einem Zusammenhang steht.

Wissenschaftlich gesehen muß es also für jeden Vorgang in dieser Welt eine Ursache geben, die ausnahmslos dem Gesetz der Kausalität gehorcht, weil unter einer anderen Voraussetzung wissenschaftliches Forschen und Erkennen sinnlos und unmöglich wäre.5

In den Sozialwissenschaften ist die hier vertretene Auffassung der Wissenschaften am deut- lichsten mit dem Begriff des Positivismus beschrieben worden, den ich im folgenden synonym mit den beschriebenen Merkmalen der empirischen Wissenschaften benutzen werde.

2.2 Begriffliche Eingrenzung von ‘Moral’

Moral läßt sich nicht ‘wissenschaftlich’ definieren und die Assoziationen mit dem Moralbegriff sind vielfach.

Das macht es notwendig, zunächst Abgrenzungen des Moralbegriffs zu treffen, die der folgenden Arbeit zugrunde liegen.

Dazu meint Adorno, daß „der Begriff von Moral vor allem deshalb problematisch sei, weil er eine Übereinstimmung der öffentlichen Sitten in einem Lande mit der moralischen, der sittlich richtigen Verhaltensweise, dem richtigen Leben des einzelnen postuliert.“

Desweiteren besitzt der Begriff der Moral eine „unbehagliche Aura, die sich mitteilt, ohne daß die Bedeutung direkt erklärbar, faßbar ist.6

Das liegt zum einen an der Beschränktheit des Begriffes (im Volksmund wird moralisches Verhalten mit erotisch korrektem Verhalten gleichgesetzt) und zum anderen daran, daß „er bewußt oder unbewußt ‘asketische Ideale’ mit sich führt“.

Auf dieses Unbehagen lassen sich laut Adorno die Bestrebungen zurückführen, daß der Be- griff Moral durch den Begriff der Ethik ersetzt und harmonisiert wurde.

Ich möchte einen weiteren Aspekt ergänzen, nämlich daß dem Begriff der Moral etwas ‘Alt- modisches’ anhaftet, was sich auch auf das implizierte Verhalten ausdehnt. Obwohl unklar bleibt, was Moral im einzelnen ist, begleitet doch das Etikett der Naitvität und Weltfremdheit den Begriff der Moral.

Nach den Ausführungen läßt sich Moral somit von den Begriffen der Sitte und Ethik abgrenzen, die sich auf einen inhaltlichen Aspekt beziehen, was im folgenden Abschnitt verdeutlicht werden soll; Moral hingegen meint etwas ‘Umfassenderes’.

Wittschier nennt einige Beispiele für den Begriff der Ethik, wie ich ihn verwenden möchte:

“Verhaltensregeln [gemeint sind Bräuche und Traditionen] haben keinerlei Bedeutung für die Moral, das moralisch gute Handeln oder Leben der Menschen!“7

Dasselbe gilt für Sitte und Konvention, die lediglich das Zusammenleben regeln, die oftmals einfach üblich sind oder den Gewohnheiten der Mehrheit entsprechen nicht aber Auskunft geben können über gutes oder schlechtes Denken, Verhalten und Handeln.

Moral hat weiterhin nichts mit Recht und Gesetz zu tun, denn sie ist weder zeitlich datierbar, noch wird sie dadurch gültiger, wenn Bestrafung droht oder ungültiger, wenn sich kein Mensch mehr an sie hält.

Alle diese aufgeführten Bedeutungen spielen für den Moralbegriff, wie ich ihn verwenden werde, keine Rolle und ich schließe mich der Auffassung Adornos an, daß der Ethikbegriff das schlechte Gewissen des Moralbegriffes ist, sozusagen das schlechte Gewissen des Gewis- sens.

„Das Problematische an dem Begriff Ethik liegt darin, daß das Spannungsverhältnis zwischen den individuellen Interessen und Glücksansprüchen mit irgendwelchen objektiven, für die Gattung verbindlichen Normen in Übereinstimmung zu bringen seien, daß dieses Spannungs- verhältnis schon von vornherein eskamotiert wird und impliziert wird, daß man nur man sel- ber und nur mit sich selber identisch zu sein brauche, um auf diese Weise ein richtiges Leben zu führen.“8

Die Sitten können zum Zwang werden, weil sich der Inhalt der Sitten verselbstständigt hat und ohne Hinterfragung tradiert wird. Dies birgt nach Adorno einen gewalttätigen, repressiven Charakter in sich, weil niemand mehr nach dem Inhalt der Sitte handelt, sondern nach dem Zwang der Sitte.

Moral bezieht sich also nicht auf Verhalten, sondern auf eine innere Einstellung. So ist es möglich, unsittlich zu handeln, obwohl ich einen moralischen Zweck damit verfolge (z.B. Robin Hood).

Im Sinne Kants meint Moralität „die reine Gewissensgemäßheit eines Handelns“.9

2.3 Aufgaben der Moralphilosophie

„Die Aufgabe der Moralphilosophie heute ist die Herstellung von Bewußtsein vor allem ande- ren.“10

Dies soll durch die Aufdeckung von Widersprüchen, der genauen Unterscheidung zwischen Sitten, Normen und Moral geschehen.

Adorno hält es für die Pflicht der Moralphilosophie, den ‘repressiven Charakter’ von ‘entleerten Sitten’ aufzufinden.

„Vorgegebene Sitten und Normen sollen eben entlarvt werden, nicht mehr als Selbstverständ- liche wahrgenommen werden, entwirrt werden, um den Widerspruch dahinter klarer zu se- hen.“11

Desweiteren geht es um die Widersprüche zwischen Theorie und Praxis.

Als Theorie wird von Adorno die Philosophie bezeichnet, Praxis bezeichnet das Handeln.

Die Moralphilosophie versucht eine Einheit herzustellen, d.h. die Schwierigkeiten und Widersprüche aufzulösen.

Adorno weist darauf hin, daß in den „hastigen zur Praxis schreiten, dem Nichts-Anfangen- Können mit der Theorie die Gefahr einer blinden gewaltsamen Praxis und der Denunziation des Denkens und des Intellektuellen steckt, weil wie Theorien die Gefahr bergen, daß der Praktizismus in Irrationalismus umschlägt und damit zur repressiven Praxis wird Auch kann die Praxis im Namen der Übermacht über die Theorie zur bloßen Betriebsamkeit verkommen.“12 Beispielsweise das bloße Organisieren von Kundgebungen liefert noch nicht den Beweis, daß diese Kundgebungen auch sinnvoll sind. Die Existenzberechtigung einer Sache kann nur aus dem Inhalt in Bezug auf die objektive Möglichkeit der Verwirklichung hervorgehen.

„Moralphilosophie in diesem Sinn heißt, daß man sich die Problematik der moralischen Kate- gorien, daß man sich die Fragen, die sich auf das richtige Leben und die Praxis in jenem hö- heren Sinn beziehen - und zwar unerschrocken und ungehemmt -, wirklich einmal bewußt macht, anstatt daß man glaubt, diese ganze Zone wäre eben als praktische dem theoretischen Denken enthoben. Denn wenn man sich so benimmt dann läuft es im allgemeinen nur darauf hinaus, daß die Praxis, die man für etwas Höheres und Reineres gegenüber der Theorie hält, dann von irgendwelchen autoritären Mächten, sei es von der Tradition des eigenen Volkes oder von irgendeiner verordneten Weltanschauung her, als etwas Fertiges übernimmt [...].“13

So birgt eine praxisentfernte Theorie die Gefahr, leer und zu einem Element der bloßen Bildung zu werden, „also zu einem toten Wissensstoff, der für uns als lebendige Geister und lebendig handelnde Menschen völlig gleichgültig ist“.14

Nun geht es in der Moralphilosophie von Kant aber nicht nur darum, die bereits angedeuteten Widersprüche aufzuzeigen, sondern letztlich geht es immer um die Frage, ob sich diese Widersprüche überhaupt auflösen lassen und wenn ja, wie? Denn auch die Aufdeckung der Widersprüche in der Philosophie dienen keinem selbstgefälligen Zweck, sondern haben letztlich die Aufgabe zum Ziel, diese Widersprüche aufzulösen.

Anders ausgedrückt heißt das: Gibt es auf die Frage „was soll ich tun“ eine richtige Antwort, die allgemeingültig wäre?

Gibt es also eine allgemeingültige Moral, das Objektive, das richtige Handeln?

2.4 Der Widerspruch zwischen Wissenschaft und Moral; Einführung in die Philosophie Kants

Ich halte es für notwendig einen Überblick darüber zu geben, wo die Grundüberlegungen der Philosophie Kants ansetzten, da vor allem auch die Begrifflichkeiten, die er verwendet, in gewisser Weise ein Eigenleben führen, welches sich nicht unbedingt mit den Bedeutungen, die durch Alltagssprache assoziiert werden können, decken müssen.

Ich weise jedoch ausdrücklich darauf hin, daß ich mich mit der Bestimmung von Begriffen zwangsläufig bereits in einer philosophischen Überlegung befinde und daß jegliche ‘Aussage’ über diese Begriffe eigentlich schon Interpretationen sind, die genaugenommen nur aus dem Zusammenhang zu hinterfragen wären.

Trotzdem ist ein Hinweis auf manche Begriffe unabdingbar, da vor allem Bezeichnungen wie Freiheit, Willen, Kausalität, Vernunft bei Kant eine ganz andere Bedeutung zukommt, als die, welche durch unsere Alltagssprache assoziiert wird.

Grundbedingung der Philosophie ist die Annahme, daß es etwas gibt, was über das rein Empirische15, über das sinnliche Wahrnehmen und das triebhafte Streben (Lust-Unlust-Motivation) hinausgeht, das sozusagen das Empirische erklären kann.

Folgendes Beispiel bezieht sich auf das Phänomen der Erkenntnis, die über das Empirische hinausgeht:

Wir sehen eine Kuh. Wir nehmen aber keine Kuh wahr. Was wir wahrnehmen ist eine Viel- zahl von Wirkzusammenhängen, die sich empirisch beschreiben lassen, z.B. unser Auge emp- fängt das Signal von schwarz-weiß-gefleckt o.ä. Wir verknüpfen dieses komplexe Bild der Wahrnehmung mit einer einheitlichen Erkenntnis, nämlich ‘das ist eine Kuh’.

Auch wenn sich die Wahrnehmung stark verändert, z.B. die Kuh wälzt sich im Schlamm und ist anschließend komplett braun, lautet unsere Erkenntnis immer noch ‘das ist eine Kuh’.

Ohne die Wirkzusammenhänge wäre diese Erkenntnis undenkbar, jedoch ist deutlich, daß sie nur dadurch nicht erklärbar wird.

Auch die Erkenntnis ist ein Grundvollzug des menschlichen Geistes, die über eine Kette von Wirkungszusammenhängen hinausgeht, da sie sich nicht mit bloßer Sinneswahrnehmung be- schreiben läßt.

Sie beinhaltet gleichfalls etwas Bewußtes, etwas Subjekthaftes, Ichhaftes.16

Bei Erkenntnis handelt es sich um eine nicht-empirische Bedingung des Empirischen.

Ähnlich verhält es sich mit der Moralität einer Handlung, die ohne Willensfreiheit nicht existent sein kann und zwar aus folgender Überlegung heraus:

Das bereits erwähnte Zitat von Kant, daß Moralität die reine Gewissensgemäßheit eines Handelns sei, gibt den entscheidenden Hinweis auf den Zusammenhang von Wissenschaft und Moral, nämlich dem Handeln.

Das Handeln beinhaltet eine Tätigkeit, die in sich selbst wertvoll ist, d.h. das Ziel der Tätigkeit liegt in der Tätigkeit selbst.17 Sobald ein ‘Machen’, eine Tätigkeit also, eine Wertigkeit welcher Art auch immer erhält, wird es zum bewertbaren Handeln.

Aufgrund dieser Wertbewandtnis sprechen wir von moralisch oder unmoralisch Handeln oder von kompetenten oder inkompetenten, von professionellen oder unprofessionellen Handlun- gen.

Die Schwierigkeit, die sich hier stellt ist folgende:

Ist eine Handlung Folge einer Kette von Wirkungszusammenhängen, die sich bloß durch empirische Zusammenhänge beschreiben läßt, d.h. ist eine Handlung nach dem Prinzip der Kausalität, bei Kant der Naturkausalität18 bestimmt?

Es gibt Wissenschaftler, die uns mehr oder weniger überzeugend nachweisen können, daß Veranlagung und Umwelt den Menschen so prägen, daß man prinzipiell für jede unsere Willensentscheidungen eine von uns selbst nicht frei zu verantwortende Ursache nennen könnte, die quasi hinter unserem Rücken eine bestimmte Entscheidung für oder gegen etwas mit Notwendigkeit herbeigeführt hat.“19

Diese Vorstellung ist einfach nachzuvollziehen, wenn man das Beispiel des Geisteskranken wählt, der einen Mord begangen hat und dafür nicht verantwortlich gemacht werden kann, weil er sich nicht darüber bewußt war, weil ihm Bewußtsein aufgrund seiner Krankheit gar nicht möglich ist.

Die Idee der Naturkausalität beinhaltet aber noch mehr; letztlich sagt sie aus, daß jedes Ver- halten naturbestimmt ist, egal ob es dann als gut oder böse bewertet wird.

Diese Anschauung findet sich z.B. in der (alten) aktuellen Idee einiger Menschen wieder, daß jedes Verhalten theoretisch erklärbar wird, wenn ich alle Gene des Menschen entschlüsselt habe.

Das würde bedeuten, daß auch ein Mörder, der nicht geisteskrank ist, für seine Tat nicht verantwortlich gemacht werden kann; denn in der naturkausalistischen Kategorie gibt es nur Handeln, was determiniert ist, was sich aus einer Ursache erklären läßt, die außerhalb von dem Handelnden liegt.

Im allgemeinen werden als Ursache die Triebe und die damit verbundene Befriedigung angenommen, anders ausgedrückt das Lust-Unlust-Prinzip; Kant nannte es die „niederen Begehrungsvermögen“. Damit sind auch die Befriedigungen durch die Sinne gemeint, denn die Sinnesbefriedigung ist ebenfalls triebhaft.

Wenn man also der Naturkausalität als Gesetzmäßigkeit zustimmen würde, dann würde das heißen, daß es so etwas wie Eigenverantwortung, eine freie Entscheidung gar nicht gibt und eine Handlung sich von einer anderen auch nicht unterscheidet.

Auf der anderen Seite steht also die Idee des freien Willens, ohne die moralisches Handeln, wie gezeigt wurde, nicht möglich ist.

Ich brauche etwas, was mich aus dieser Gesetzmäßigkeit der Kausalität enthebt und frei ist von ihr.

Freiheit bedeutet bei Kant zunächst einmal die Unabhängigkeit von der Regelhaftigkeit in der Folge.

Am deutlichsten wird die Notwendigkeit dieser Idee, wenn ich eine Handlung vollziehe, die mich als Person selbst sehr schädigt, die aber einer inneren Moral verpflichtet ist, z.B. die Hingabe des eigenen Lebens dafür, daß jemand anderes weiterleben kann o.ä.

Eine solche Handlung beinhaltet ein Prinzip, was über meine Determiniertheit durch die Na- tur hinausgeht.

Die Willensfreiheit steht also in Widerspruch zur Naturkausalität sowie Erkenntnis in Widerspruch zur sinnlichen Wahrnehmung steht.

Die Moral steht in Widerspruch zur empirischen Wissenschaft, denn zur moralischen Hand- lung wird Willensfreiheit benötigt und dementgegen steht die empirische Wissenschaft, die die Erscheinungen (u.a. Handlungen) d.h. Empirik mit Kausalität auf der empirischen Ebene, erklären möchte.

„In der Philosophie geht es darum, sich diesen Widersprüchen zu stellen, sie bis zum letzten logisch zu betrachten und Möglichkeiten zu finden, diese Widersprüche aufzulösen.“20

Kant nannte diese Widersprüche Antinomien und der Widerspruch der Willensfreiheit und Naturkausalität steht im Mittelpunkt seiner ‘Antinomienlehre’.

Wie oben bereits angedeutet brauchen wir nicht nur die Willensfreiheit, um aus der Naturkausalität herauszutreten, sondern der Wille benötigt etwas Objektives, denn sonst wäre der Wille ohne Maßstab und ohne Orientierung.

Ohne Maßstab wäre es aber wiederum nicht möglich aus der Naturkausalität herauszutreten, denn es ist nicht möglich eine Notwendigkeit ohne Maßstab zu erkennen.

Willen steht also in Zusammenhang mit ‘nach etwas Streben’, ist also nur in Verbindung mit einem angestrebten Objekt zu finden.

Wenn es mein Wille ist, gut zu Handeln, dann muß ich auch wissen, was gut oder schlecht ist, denn sonst ist es unmöglich zu handeln.

„Der Wille richtet sich immer und wesentlich auf ein Gut überhaupt, auf Selbstverwirklichung, auf Sinn.“21

Ohne etwas Allgemeingültiges, ohne eine objektive Moral gibt es keinen Willen, keine Freiheit von der Kausalkette.

„Wenn man also davon ausgeht, daß der Mensch nicht vollkommen in der Nauturkausalität aufgeht, dann muß man ebenfalls davon ausgehen, daß es etwas Objektives gibt.“22

Die Freiheit des Willens liegt für Kant im Transzendentalen, was hier zunächst einmal negativ definiert lediglich bedeutet, daß es sich um etwas handelt, was über unsere Erfahrung hinausgeht, was also nicht durch das Empirische zu erklären ist.

Die Schwierigkeit, die sich daraus ergibt, ist zum ersten die Bestimmung des Willens und die Abgrenzung zu einem Willen, der nach alltagsprachlichen Verständnis determiniert , kausal bedingt und keineswegs frei wäre und zum zweiten die positive Bestimmung des Objektiven. Der freie Wille muß mit einer Allgemeingültigkeit verknüpft sein und ist von individuellen Wünschen zu differenzieren.

Desweiteren hängt der Wille mit der Erkenntnis zusammen, wodurch sich ein weiteres Prob- lem der Philosophie erschließt, nämlich das des Zusammenhangs zwischen Theorie und Pra- xis.

„Das Wollen erstrebt die Identität von Subjekt und Objekt im Objekt, also es erstrebt die reale Identität beider.“23

Ich brauche zum Beispiel einen Wunsch oder Ziel (Objekt) um die Verwirklichung des Ziels (Identität Objekt[Ziel] und Subjekt[ich als Mensch mit Ziel] im Objekt [Ziel]) anzugehen (Wille zu Handeln).

Der Wille steht also für die Praxis, für das Handeln.

Das Erkennen erstrebt die Identität von Subjekt und Objekt im Subjekt, also im Wissen, in der Erkenntnis und erschließt damit Welt als Inbegriff des Wahren.

Wenn ich zum Beispiel erkenne, warum Theoretiker und Praktiker sich nicht einig werden, dann ist das Objekt (etwas verstehen wollen) mit dem Subjekt identisch geworden (ich habe es verstanden, ich habe es erkannt).

Das Erkennen steht für die Theorie; hängt aber mit der Praxis insofern zusammen, weil ich den Willen auch für die Erkenntnis brauche (ich muß das Verstehen wollen, sonst kann ich nicht beginnen, nach Erkenntnis zu suchen).

Umgekehrt kann ich aber auch nichts wollen, was ich nicht erkannt habe, denn um zu Wollen brauche ich die Erkenntnis eines Ziels.

Hier wird deutlich, wie Theorie und Praxis zusammenhängen, daß sie sich bedingen und das eine ohne das andere nicht denkbar ist.

Dem entspricht auch Adornos Meinung, daß die Moralphilosophie zwar von der Theorie eines moralischen Lebens zu unterscheiden sei, daß sie aber trotzdem mit der Praxis zu tun habe, denn nur wenn wir theoretisch wissen, was „wir tun sollen“, können wir auch danach han- deln.24

Zusammenfassend geht also Kant davon aus, daß Freiheit des Willens und Naturkausalität in einem Widerspruch zueinander stehen. Diesen Widerspruch behandelt er in der Antinomielehre (Freiheit und Determinismus).

Er geht davon aus, daß sich diese Antinomie im Transzendentalen auflösen läßt, wodurch er gleichzeitig etwas Objektives voraussetzt.

Kant ist nicht nur davon ausgegangen, daß es dieses ‘objektiv Gute’ gibt, sondern er formulierte es in seinem ‘Kategorischen Imperativ’ sogar in positiver Form, d.h. er behauptete nicht nur die Existenz des ‘Guten’, sondern er hat auch beschrieben, wie dieses ‘Gute’ definiert und wie der Mensch damit in der Praxis umzugehen hat.

2.5 Interpretation zentraler Themen der Moralphilosophie Kants durch Adorno

Die oben angedeuteten Widersprüche sollen nun anhand von Adorno und Kant verdeutlicht werden.

Dabei konzentriert sich Adorno wiederum darauf, die Widersprüche, die Kant hinterlassen hat, hervorzuheben, denn „es kommt darauf an, daß wo Widersprüche gelten, wo also Wider- sprüche in der Sache liegen, die man nicht durch theoretische Manipulationen und Begriffs- bildungen irgendwie wegräumen kann, daß man auch dieser in der Sache liegenden Wider- sprüche sich bewußt wird, daß man die Kraft lernt, ihnen ins Gesicht zu sehen, anstatt daß man sie mehr oder minder durch auslogisierendes Verfahren aus der Welt schafft.“25

Kant verwendet die „skeptische Methode“, also die These und Antithesenmethode.26

Es gibt also eine These und eine Antithese, die widersprüchlich sind. Beide sind gleichwertig. Durch die Ungereimtheiten, die in der Antithese auftauchen, werden beide bewiesen, praktisch von ihrem Gegenteil her (negative Beweisführung).

Der positive Beweis ist nicht möglich, weil beide Thesen ins Unendliche führen, worüber positive Aussagen nicht gemacht werden können.

Laut Kant, was Adorno jedoch bezweifelt, ist es dann möglich, anhand der Gegenthese, oder besser, den Ungereimtheiten der Gegenthese eine These zu entwickeln, die „gesichert zu gel- ten habe“.

Adorno sagt dazu: „Aus dem Beweis der Untriftigkeit der Gegenthese zu dem je Entwickelten die Gültigkeit der in Rede stehenden These selbst folgt, springt logisch keineswegs unmittel- bar hervor.“27

2.5.1 Willensfreiheit und Kausalität (Freiheit und Determinismus)

Kant geht davon aus, daß ‘ich’ nur dann, wenn ‘ich’ frei handeln kann, nicht blind der Naturkausalität unterlegen bin.

„[...]Alle Vorstellungen der Sittlichkeit oder der Moral beziehen sich auf ein Ich, welches da handelt.“28

These: „Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität durch Freiheit zu Erklärung derselben anzunehmen notwendig.“29

Antithese: „Man nehme an, es gebe keine andere Kausalität, als nach Gesetzen der Natur: so setzt alles, was geschieht, einen vorigen Zustand voraus, auf den es unausbleiblich nach einer Regel folgt.“30

Folgerung daraus: „Nun muß aber der vorige Zustand selbst etwas sein, was geschehen ist, weil, wenn es jederzeit gewesen wäre, seine Folge auch nicht allererst entstanden, sondern immer gewesen sein würde.“31

Adorno stimmt dieser Folgerung zu und ergänzt, wenn das nicht so wäre, „sondern von allem Anfang an dagewesen wäre, dann müßte das jetzige Phänomen, das aus diesem Zustand erklärt wird, ja ebenfalls ein ursprüngliches und schlechthin seiendes sein.“32

Es würde einer kausalen Ableitung dann erst gar nicht bedürfen.

Kant meint dazu erklärend: „Also ist die Kausalität der Ursache, durch welche etwas ge- schieht, selbst etwas Geschehenes, welches nach dem Gesetze der Natur wiederum einen vo- rigen Zustand und dessen Kausalität, dieser aber eben so einen noch älteren voraussetzt usw.“33

Dieser Kausalkette folgend gäbe es also keine primäre Ursache.

Dagegen steht: “Nun besteht aber eben darin das Gesetz der Natur: daß ohne hinreichend a priori34 bestimmte Ursache nichts geschehe.“

Daraus folgert Kant, daß die Antithese nicht als einzige angenommen werden kann, sprich sie beinhaltet den o.g. Widerspruch und ist nicht allgemeingültig.

Kant und Adorno meinen, daß, wenn man von der Gesetzmäßigkeit der Kausalität ausgeht, es eigentlich einen Anfang der Kausalkette geben müsse, weil sonst das Geschehene das gleiche wäre, wie das, was immer geschieht.

Dem widerspricht aber, daß es sich eben nicht immer um das gleiche handelt, sonst wäre eine Kausalkette gar nicht möglich.

Laut Adorno folgert Kant nun, daß dieser Anfang also bestehen muß.

Kant nennt diesen Anfang „transzendentale Freiheit“, wobei Adorno anmerken möchte, daß Kant hier mit „transzendental“ zunächst einmal einfach das meint, was über unsere Erfahrung hinausgeht, was also keineswegs in irgendeiner Form positiv definiert wird, was er im übrigen aber auch grundsätzlich ablehnt, da dies eine „neue Theorie des menschlichen Wesens, soweit ihre Charaktere ebenfalls der empirischen Welt angehören“ wäre.35

„Diesemnach muß eine Kausalität angenommen werden, durch welche etwas geschieht, ohne daß die Ursache davon noch weiter, durch eine andere vorhergehende Ursache, nach notwendigen Gesetzen bestimmt sei, d.i. eine absolute Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen, mithin transzendentale Freiheit, ohne welche selbst im Laufe der Natur die Reihenfolge der Erscheinungen auf der Seite der Ursachen niemals vollständig ist.“36

Adorno interpretiert den Begriff der ‘transzendentalen Freiheit mit der Selbsterfahrung des Individuums von sich, nämlich der Erfahrung, daß, unabhängig wie sich das innerhalb eines universalen Determinismus verhalten würde, die Möglichkeit der Erfahrung besteht, bestimmte Reihen aufeinander gesetzmäßig folgender Zustände neu zu stiften durch einen Akt der Selbständigkeit.37

Insgesamt ist dies die Argumentation Kants gegen die unsiversale Kausalität und für die Kau- salität der Freiheit, und damit also für den Freiheitsbegriff als den Grundbegriff der Ethik.

Die Antithese, die Kant gegen diese ‘Vermutung’ anhand der skeptischen Methode setzt ist jetzt die vorherige These und lautet:

„Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Na- tur.“38

Wenn man im Gegensatz zur ersten Argumentation nun von der Richtigkeit der transzenden- talen Freiheit ausgeht, dann würde das bedeuten, daß „Freiheit, also das Handeln und der Ver- lauf von Dingen unabhängig von Gesetzen, dann selber zu einer Grundbestimmung werden würde, nach der die Erkenntnis und damit die Organisation der phänomenalen Welt überhaupt organisiert ist.“39

Freiheit würde zur Kategorie selbst also auch zur bestimmenden Kategorie der Gesetzmäßigkeit werden, was wiederum auch ein Widerspruch ist, denn dann gäbe es keine Gesetzmäßigkeit (Freiheit ist das Handeln und der Verlauf von Dingen unabhängig von Gesetzen).

Die Folgerung daraus ist, daß Freiheit nicht als erste Kategorie gelten kann; es muß eine Ursache voraus gegangen sein:

„Es setzt aber ein jeder Anfang zu handeln einen Zustand der noch nicht handelnden Ursache voraus, und ein dynamisch erster Anfang der Handlung einen Zustand, der mit dem vorhergehenden eben derselben Ursache gar keinen Zusammenhang der Kausalität hat, d.i. auf keine Weise daraus erfolgt.“40

Geht man jedoch von der Universaltität der Kausalität aus, dann kann es diesen ‘ersten Anfang’ der Kausalkette nicht geben und die Antithese daraus folgernd lautet:

„Wir haben also nichts als Natur, in welcher wir den Zusammenhang und Ordnung der Weltbegebenheiten suchen müssen. Die Freiheit (Unabhängkeit) von den Gesetzen der Natur, ist zwar eine Befreiung vom Zwange, aber auch vom Leitfaden aller Regeln.“41

Laut Adorno würde das jedoch bedeuten, daß die Natur selbst chaotisch wäre, daß es Regeln nicht gibt. „Es steht doch in Wirklichkeit das dahinter,[...] daß ein Verhalten, das überhaupt keine Kausalität kennt, das also absolut frei wäre, das ein Verhalten ohne jede Regel wäre, daß ein solches Verhalten das schlechterdings Chaotische wäre, und daß dann tatsächlich die amorphe, ungeformte Natur über jenes Vernunftprinzip triumphieren müßte, das ja von Kant in der ‘Kritik der Urteilskraft’ ganz eindeutig an einigen Stellen gerade als die Kraft bestimmt wird, eben diesem Chaotischen der Natur zu widerstehen.

Ist auf der anderen Seite aber das Gesetz universal, so hört dadurch ebenso die Möglichkeit von Übernatur auf, das heißt, dann ist der Mensch seinerseits auch wieder nichts anders als ein Stück dieser blinden Natur und kann nicht heraus.“42

Adorno hebt hervor, daß es sich hier um einen unauflöslichen Widerspruch handelt, den Kant aber dadurch auflöst, daß sein Kausalitätsbegriff sehr weit gefaßt ist, „daß eben doch Raum bleibt für das, was man Motivation nennen kann, das heißt, für die Selbstgewißheit oder unmittelbare Evidenz dessen, warum zwei Zustände aufeinander folgen sollen“.43

Kant selbst spricht auch von „einem Spezialfall von Kausalität“, wo wir selber innerhalb unseres Bewußtseinslebens eine Kausalreihe absolut beginnen.“

Kant nennt dies ‘Kausalität der Freiheit’ und laut Adorno meint Kant damit den „elementaren Tatbestand irgendeines Entschlusses“.

Kant hat nach Adornos Auffassung „offenbar angenommen, daß es im Rahmen dieser allge- meinen Kausalität so einen Punkt gibt, wo das Subjekt jedenfalls eingreift und von sich aus primäre Bedingungen setzt, von denen aus die Kausalreihe dann abläuft, und er hat geglaubt [!], daß in diesem Bereich der Praxis, des praktischen Handelns, jedenfalls der Punkt, an dem eine solche neue Kausalreihe beginnt, anzugeben sei, und daß deshalb in der Praxis, nämlich in dem motivierten Verhalten [motiviertes Verhalten, weil ja Entscheidung, die Kausalreihe zu ändern] des Menschen, so etwas wie eine Ausnahmesituation gegeben sei.“

Diese Auflösung des Widerspruch, den Kant hier vorschlägt, beinhaltet zwei Merkmale:

zum einen geht es um die ‘ erste Ursache ’ , die sich sowohl von der Kausalität der Freiheit als auch von der Naturkausalität unterscheidet, da sonst die oben erwähnten Widersprüche nicht auflösbar wären. Das Absolute hält Kant für Gegeben.

Mit dem ‘ Absoluten ’ ist das ‘ Gute ’ gemeint, für Kant ‘ die Sittlichkeit ’ , die an späterer Stelle konkretisiert wird.

Hier geht es zunächst einmal um die Tatsache der ‘ Gegebenheit des Absoluten ’ .

Zum anderen geht es darum, daßdie transzendentale Freiheit es dem Subjekt in der Praxis, d.h. im Handeln ermöglicht, eine Kausalreihe neu zu beginnen.

Diese Freiheit kann das Subjekt aber nur entwickeln, wenn es ‘ das Absolute ’ erkennen kann und das kann es laut Kant mithilfe der Vernunft.

Da die Vernunft Erkenntnis beinhaltet, also etwas Nicht-Empirisches, handelt es sich hier um einen Schlüsselbegriff der Kantischen Philosophie, dessen Verständnis die Richtung einer Interpretation stark beeinflußt.

Dies wird auch anhand Adornos Ausführungen deutlich.

Das Sittengesetz, welches bedeutet, daß ich rein vernunftmäßig handle, wurde von Kant als Gegebenheit betrachtet, das man in gewissen Sinn nicht weiter ableiten kann, weil es mit dem Vernunftsprinzip identisch ist.

„[...], daß die sittlichen Prinzipien nicht auf die Eigenheiten der menschlichen Natur gegrün- det, sondern für sich a priori bestehenden sein müssen, aus solchen aber, wie für jede vernünf- tige Natur, also auch für die menschliche, praktische Regeln müssen abgeleitet werden kön- nen.“44

Adorno interpretiert das ‘Gegebene’ als ein ‘natürliches Sosein’, und er übt Kritik daran.

Diese Interpretation läuft in die Richtung, daß Kant gemeint haben soll, dem Mensch sei etwas ‘Gegeben’ und davor soll er Respekt haben und insofern ist auch sein Handeln in gewisser Weise Zoll dieses Respekts.

Adorno deutet es hier schon an, sagt aber später ganz klar, daß er die Auflösung der Widersprüche bei Kant für ontologisch hält.

Ich würde Kant hier aber anders interpretieren. Wenn ich davon ausgehe, daßKant das Ge- gebene angenommen hat, dann kann daraus nicht automatisch gefolgert werden, daßdieses Gegebene auf das Subjekt bezogen werden kann und desweiteren, selbst wenn ich das mache, heißt das nicht, daßdas Gegebene auch ohne weiteres zugänglich ist. Den Respekt, von dem er spricht, hält er für notwendig, Adorno bringt diesen Respekt aber in Verbindung mit Glau- ben.

Respekt in dem Sinne von Kant verstehe ich als etwas, was ich nur haben kann, wenn ich er kenne, warum ich das haben sollte.

Desweiteren setzt Adorno das Prinzip der Vernunft mit dem Sittengesetz gleich.

Nun steckt genau darin meiner Meinung nach eine Schlußfolgerung, der ich so nicht so zu- stimmen würde. In der Tat wäre ein rein sittliches Handeln auch ein rein vernünftiges Han- deln. Vernunft beinhaltet aber nicht gleichzeitig das sittliche Handeln, denn das Handeln ist der Vollzug,

Vernunft beinhaltet aber lediglich nach meiner Interpretation erst einmal die Fähigkeit zur Erkenntnis, die dem Handeln vorausgeht, nicht aber das perfekte Handeln an sich.

Kant läßt laut Adorno „keine Sekunde von dem Gedanken ab, daß die Einheit, die in unserer Vernunft zu finden ist, selber auch den Dingen an sich zugeschrieben werden muß, wenn die Dinge an sich nicht wirklich chaotisch, ein Rückfall in das völlig Blinde und Unorganisierte sein sollen.“45

An anderer Stelle sagt Kant nämlich: “Aus dem Angeführten erhellet: daß alle sittliche Be- griffe völlig a priori in der Vernunft ihren Sitz und Ursprung haben, und dieses zwar in der gemeinsten Menschenvernunft eben sowohl, als der im höchsten Maße spekulativen; daß sie von keinem empirischen und darum bloß zufälligen Erkenntnisse abstrahiert werden können; daß in dieser Reinigkeit ihres Ursprungs eben ihre Würde liege, um uns zu obersten prakti- schen Prinzipien zu dienen; daß man jedesmal so viel, als man Empirisches hinzu tut, so viel auch ihrem echten Einflusse und dem uneingeschränkten Werte der Handlungen entziehe; [...]“.46

Mit anderen Worten: die Vernunft beinhaltet die Möglichkeit die Widersprüche zwischen der Naturkausalität und dem Absoluten aufzulösen, und jedes Wesen ist grundsätzlich mit dieser Vernunft ausgestattet, unabhängig von Bildung, Intelligenz o.ä.

Wie bereits schon erwähnt, kann ein Subjekt durch seinen Willen nur handeln, wenn das Objekt erkennbar ist. Die ‘ Vernunft ’ beinhaltet also Erkenntnis und ist für das praktische Han deln von großer Bedeutung.

Insofern vollzieht Kant die Auflösung der Widersprüche durch die Trennung zwischen Theo rie und Praxis anhand des ‘ Vernunftbegriffs ’ .

[...]


1 Erklärungen und Eigeninterpretationen werden, wenn sie sich nicht direkt auf Beiträge aus der ‘Fachliteratur’ zurückgehen, erscheinen in ‘Kursivsatz’.

2 Der Bezug auf die Sozialpädagogik steht hier stellvertretend für das Pädagogische Handeln im allgemeinen; Sozialarbeit ist beispielsweise ebenfalls in die folgenden Erörterungen eingeschlossen.

3 Vgl. dazu und zum folgenden Anzenbacher, 1995, S. 22f.

4 Vgl. Anzenbacher, 1995, S. 104.

5 Wittschier, 1983, S. 31.

6 Dazu und zum folgenden Adorno, 1996, S. 24f.

7 Vgl. dazu und zum folgendenWittschier, 1983, S. 19f.

8 Adorno, 1996, S. 28f.

9 Anzenbacher, 1995, S. 263.

10 Adorno, 1996, S. 21.

11 Vgl. dazu und zum folgenden Adorno, 1996, S. 14.

12 Vgl. Adorno, 1996, S. 14.

13 Adorno, 1996, S. 15f.

14 Adorno, 1996, S. 17.

15 Empirik ist der Bereich des Erfahrbaren.

16 Vgl. dazu und zum folgenden Anzenbacher, 1995, S. 104.

17 Vgl. dazu und zum folgenden Anzenbacher, 1995, S. 263.

18 Die Beschaffenheit und die Existenz der Kausalität ist seit jeher ein philosophisches Problem. Hume lieferte die fundamentale Kritik der kausalen Determiniertheit, die laut Eberhard bis heute nicht widerlegt ist. Zumindest wird aber allgemein angenommen, daß der Mensch dazu neigt, eine Kausalität anzunehmen, weil das eine Ver- einfachung der Erscheinungen der Wirklichkeit bedeutet. Kant ging von dem Prinzip der Kausalität aus, jedoch differenzierte er zwischen Naturkausalität und Kausalität der Freiheit. Vgl. Eberhard, 1977, S. 31ff.

19 Wittschier, 1983, S. 31.

20 Anzenbacher, 1995, S. 263.

21 Anzenbacher, 1995, S. 265.

22 Adorno, 1996, S. 11.

23 Vgl. dazu und zum folgenden Anzenbacher, 1995, S. 264.

24 Adorno, 1996, S. 11f.

25 Adorno, 1996, S. 21.

26 Adorno, 1996, S. 52.

27 Adorno, 1996, S. 55.

28 Adorno, 1996, S. 48.

29 Kant zitiert nach Adorno, 1996, S. 58.

30 Kant zitiert nach Adorno, 1996, S. 60.

31 Kant zitiert nach Adorno, 1996, S. 60.

32 Adorno, 1996, S. 60.S. 61

33 Kant zitiert nach Adorno, 1996, S. 61.

34 Apriorisch bedeutet bei Kant jene Erkenntnisse, die nicht aus der Erfahrung stammen, sondern in unserer Erkenntnisart aller Erfahrung vorausgesetzt sind und diese bedingen. Vgl. Anzenbacher, 1995, S. 107.

35 Kant zitiert nach Adorno, 1996, S. 64.

36 Kant zitiert nach Adorno, 1996, S. 62f.

37 Adorno, 1996, S. 63.

38 Kant zitiert nach Adorno, 1996, S. 65.

39 Vgl. dazu und zum folgenden Adorno, 1996, S. 65f.

40 Kant zitiert nach Adorno, 1996, S. 66.

41 Kant zitiert nach Adorno, 1996, S. 67.

42 Adorno, 1996, S. 84.

43 Vgl. dazu und zum folgenden Adorno, 1996, S. 79ff.

44 Kant, 1956 (1), S. 38.

45 Adorno, 1996, S. 88.

46 Kant, 1956 (1), S. 39f.

Excerpt out of 74 pages

Details

Title
Wissenschaft und Moral. Bemerkungen zur Motivation von Sozialpädagoginnen.
College
University of Applied Sciences Düsseldorf
Grade
1
Author
Year
1998
Pages
74
Catalog Number
V185247
ISBN (eBook)
9783656998587
ISBN (Book)
9783867461535
File size
909 KB
Language
German
Keywords
wissenschaft, moral, bemerkungen, motivation, sozialpädagoginnen
Quote paper
Sylvia Zander (Author), 1998, Wissenschaft und Moral. Bemerkungen zur Motivation von Sozialpädagoginnen., Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/185247

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