Der Geistesmensch und das Scheitern seiner Studien in "Kalkwerk" und "Korrektur" von Thomas Bernhard


Term Paper (Advanced seminar), 2011

16 Pages, Grade: 12 Punkte


Excerpt


Inhalt

1. Einleitung

2. Der literarische Typus des ‚Geistesmenschen’
2.1. Der ungeistige, geistige und übergeistige Typus
2.2. Der Weg in die Isolation
2.3. Die wissenschaftliche Studie

3. Zum Scheitern der Geistesmenschen und ihrer Projekte

4. Fazit

Literaturverzeichnis

Primärtexte

Forschungsliteratur

1. Einleitung

In Thomas Bernhards Werken sieht man sich als Leser häufig mit dem Begriff des ‚Geistesmenschen’ konfrontiert. Ein Terminus, den der Autor häufig für seine literarischen Figuren, vor allem seine Protagonisten, verwendet hat und deren Selbstverständnis und Identität weitgehend auf den ‚Geist’ reduziert ist.

Zweifellos können die Protagonisten der Werke Kalkwerk und Korrektur als Geistesmenschen identifiziert werden, wenngleich sie in ihrer je spezifischen Eigenart aufgefasst werden müssen. Denn Bernhards Figuren sind nicht allein Typen, doch haftet ihnen etwas Typenhaftes an, weshalb diese Klassifizierung getroffen werden kann.

Im Folgenden soll daher der Fragestellung Beachtung geschenkt werden, ob und inwiefern es gerechtfertigt ist, von einem Protagonisten-Typus auszugehen. Dabei soll zugleich berücksichtigt werden, wie sich Bernhards Hauptfiguren verändern bzw. entwickeln, was sie vereint und was sie trennt.

Neben der literarischen Konstruktion des Geistesmenschen soll nachfolgend auch ein immer wiederkehrendes Motiv bernhardscher Prosa eingehender beleuchtet werden, nämlich das Studien- und Schriftmotiv. So handeln die Romane vielfach von Tragik, Vereinsamung und Selbstzersetzung eines Menschen, der nach Vollkommenheit strebt, doch letztendlich an seinen eigenen Ansprüchen scheitert. Die Problematik des „Künstlers ohne Werk“[1] wirft an dieser Stelle die Frage auf, inwiefern das Scheitern der Geistesmenschen an ihren Studien, welche als Symbol für vollkommene Geistigkeit fungieren, ein von der Natur aus vorgegebener Prozess der Geistesexistenz ist. Anhand der beiden Romane Kalkwerk und Korrektur sollen diese Auffassungen bzw. Annahmen auf ihre Daseinsberechtigung hin überprüft werden.

2. Der literarische Typus des ‚Geistesmenschen’

Charakteristisch für Thomas Bernhards Prosa ist die Orientierung der Erzählinhalte an den Konfliktpotenzialen der einzelnen Protagonisten bzw. Geistesmenschen, so die immer wiederkehrende Bezeichnung der Hauptfigur durch den Autor, in Form von statischen Normkonflikten, an Stelle von dynamischen Handlungskonfrontationen innerhalb des Figurenpersonals.[2] Dabei ist das Konfliktpotential nicht generell in einer einmaligen Tat der Hauptfigur angelegt, auch wenn es zu einem drastischen Ausbruch kommen kann, wie beispielsweise der Mord Konrads an seiner Frau im Roman Kalkwerk, sondern vielmehr in der allgemeinen existenziellen Situation der Figur. Die Darstellung der geistigen Grundverfassung bzw. der Geistesexistenz der Protagonisten gelangt somit in den Mittelpunkt der Betrachtung.

„Doch was genau ist unter dem literarischen Typus des bernhardschen Geistesmenschen und dessen Geistesexistenz zu verstehen?“

Indem Bernhard seine Begrifflichkeit vermehrt auf den Geist und die Geistigkeit fixiert, ist damit ein, zur Klärung der Fragestellung, relevantes, jedoch auch weites Feld angesprochen.

Allgemein kann zunächst festgehalten werden, dass sich Geistesmenschen durch alle die Eigenschaften und Fähigkeiten auszeichnen, die dem menschlichen Geist zugesprochen werden.[3] Der Aspekt der Vernunft und der des Verstandesgebrauchs nehmen in Bezug auf Kants aufklärerisches Denken[4] eine bedeutende Stellung ein, da „es bei der Entwicklung des Geistesmenschen nicht allein [...] darum geht, Verstand zu haben, sondern auch um das Wagnis und den Mut, ihn zu gebrauchen.“[5] Doch spiegelt sich in den Werken Bernhards nicht nur der Aspekt des Verstandesgebrauchs wider, sondern auch eine „Desavouierung des aufklärerischen Gedankens in jenen Bereichen, wo das Denken in den Irrationalismus des Wahnsinns umzuschlagen droht oder schlägt.“[6] Die Unmöglichkeit, Vernunft und Wahnsinn voneinander abgrenzen zu können, spiegelt sich nicht nur in der Geistesexistenz wider, sondern auch in dem Seelenleben der Hauptfigur. Krankheit und Tod rücken an diesem Wende- oder Schlusspunkt in das Zentrum der geistesmenschlichen Reflexion und es offenbart sich ein Anblick von psychischer sowie physischer Verstörung und Zersetzung.

Diese zunächst sehr weit gefasste und im Hinblick auf Bernhards Prosa sicherlich unzureichende und oberflächliche Charakterisierung der Hauptfigur, rechtfertigt nur in geringem Maße die Differenz zwischen dem geistesmenschlichen Typus und dessen Umwelt. Vielmehr bedarf es einer detaillierteren Beschreibung des Protagonisten, um grundlegende und tiefgreifende Wesenszüge herauszustellen, welche geradezu ausschlaggebend für den Handlungsverlauf und dessen Erzählinhalte sind.

2.1. Der ungeistige, geistige und übergeistige Typus

Eine erste konkrete Unterscheidung zwischen dem literarischen Typus des Geistesmenschen und seiner Umwelt liefert Jens Tismar, indem er auf eine hierarchische Rangordnung innerhalb des Figurenpersonals verweist, welche „auf den Gegensatz zwischen Geisteskranken und Schwachsinnigen hin reduziert ist; und Geistes-Kranke, nicht Schwach-Sinnige sind seine monologisierenden Berichterstatter und Hauptfiguren.“[7] Auch Oliver Jahraus bezieht sich in seiner Schrift auf den „sozialen Antagonismus“[8] zwischen dem sensiblen, bildungsbesitzenden Individuum und der allgemeinen Masse, indem er auf der Grundlage eines Klassifizierungsversuchs drei grundlegende Typen hervorhebt, welche anhand von Bernhards Werken zweifelsfrei identifiziert werden können. Die vorrangige Differenz besteht zunächst zwischen dem geistigen und ungeistigen Typus, wobei letzterer nochmals in den Teilbereich der relativen Geistlosigkeit und den der absoluten Geistlosigkeit untergliedert wird. Als Gegenspieler mit einem „anti-geistigen Norminventar“[9] gelten vor allem Familienmitglieder der Geistesmenschen. So werden beispielsweise die Beziehungen, die der Protagonist Roithamer im Roman Korrektur zu den einzelnen Familienmitgliedern unterhält, von ihm recht differenziert dargestellt. Während auf der einen Seite die sogenannten, immer auf ihr Gefühl hin handelnden und existierenden ‚Instinktmenschen’ stehen, die Mutter sowie die beiden Brüder, befinden sich auf der anderen, die ‚Verstandesmenschen’, zu denen er seine Schwester, seinen Vater und sich selbst zählt (KO 265). Den ‚Instinktmenschen’ steht Roithamer sehr distanziert gegenüber, da sie „alles Geistige“ hassen und „alles, was mit Denken zu tun hat, von vornherein“ verachten (KO 45). Im Gegensatz dazu habe die Mutter, so Roithamer, stets versucht ihn „in ihre Gefühlswelt hineinzuziehen“ und aus seiner „eigenen, dieser Gefühlswelt entgegengesetzten“ Welt verdrängen wollen (KO 292). Aufgrund der keineswegs intakten Beziehung Roithamers zu seinem Vater, stellt lediglich die Schwester eine Ausnahmefigur dar. Das durchaus harmonisch geprägte Verhältnis der beiden Geschwister fruchtet in dem gemeinsamen Interesse an denselben Gegenständen. Auch wenn seine Schwester selbst keine Geistesprodukte zu entwickeln vermag, so hat sie doch im Unterschied zu seiner Mutter „immer zuhören“ können (KO 309). Das ehrlich entgegengebrachte Interesse, wie auch Verständnis an geistigen Themen seitens der Schwester führen schließlich dazu, dass Roithamer sie zum Vorbild für sein eigenes „Lebenskunstwerk“ (KO 274), den Wohnkegel, nimmt. Im Hinblick auf das Klassifizierungsmodell von Jahraus wäre die Schwesterfigur somit der relativen Geistlosigkeit zuzuordnen, da ihr Wesen durchaus kompatibel mit der Geistigkeit Roithamers ist; seine Geistigkeit wird respektiert, „ohne sie in ihren Ausdrucksformen zu beeinträchtigen.“[10] Der wesentliche Unterschied zwischen der geistigen und ungeistigen Lebensform besteht folglich darin, dass die ungeistige Existenz geistig unproduktiv ist, während die geistige Existenz hochgradig produktiv ist. So ist für die Geistigkeit die Produktion konstitutiv, d.h. die Ausdrucksform der Geistigkeit manifestiert sich in der Auseinandersetzung mit geistig-genialen Werken in Form von Schriften oder Studien. Als Beispiel wäre an dieser Stelle die Studie über das Gehör im Roman Kalkwerk zu nennen. Das unentwegte Streben Konrads nach einer Vollendung seiner Niederschrift artet letztendlich in einer wahrhaften Katastrophe aus, in der die Chance auf eine positive Lebensform verspielt wird. Über weite Strecken dokumentiert der Roman die verzweifelten Versuche Konrads, die wahren Ursachen für das Scheitern seines Manuskripts zu erforschen. Dieser Punkt verdeutlicht jedoch, dass sich die Geistigkeit hier in einer Art und Weise realisiert, dass sie sich zugleich negiert. Diese Form beschreibt Jahraus mit dem Begriff der Übergeistigkeit, den er wie folgt definiert:

Die übergeistige Existenz entsteht aus der Geistesexistenz; sie ist eine Extremform davon. Ist die Geistigkeit das Prinzip der Geistesexistenz, seine Existenz in der (zumal feindlich gesinnten ungeistigen) Welt einzurichten, so wird in der übergeistigen Existenz jeder Weltbezug abgetrennt, und die Existenz ist auf sich selbst zurückgeworfen. Die Geistigkeit realisiert sich nicht mehr in einer Geistesexistenz unter anderem, sondern nur noch in sich selbst. Die Existenz verliert ihr Selbstverständnis und letztlich ihre Grundlage.[11]

Die Grundopposition ‚geistig-ungeistig’ wird demnach erweitert durch die Möglichkeit der Übergeistigkeit. Überträgt man diesen Gedanken auf die Werke Bernhards, so wird deutlich, dass fast alle Protagonisten, so auch Konrad und Roithamer diesem Typus zuzuordnen sind. Folglich kann festgehalten werden, dass sich die Konflikte entweder aus dem Nebeneinander von ungeistigen und geistigen Existenzformen ergeben, oder aber aus dem ebenso konfliktbehafteten Übergang von der geistigen zur übergeistigen Existenz.

2.2. Der Weg in die Isolation

Charakteristisch für Bernhards Erzählfiguren ist, dass sie in Abgrenzung zur Außenwelt in abgeschlossenen Räumen leben und schreiben. Sowohl der Konradsche “Arbeitskerker“ (KA 33) als auch die Roithamersche „Denkkammer“ (KO 23) gehören zu diesen Zufluchtsstätten der einsam arbeitenden Menschen, welche oftmals fern ab von jeglicher Zivilisation liegen. Die Orte sind dabei „verstreut über die österreichische Berglandschaft, städtische Studierzimmer, verlassene abgelegene Dörfer, Baracken in Steinbrüchen, Gasthäuser, Burgen, ein Turm.“[12] So ist beispielsweise die Lage des Kalkwerks in „vollkommener Abgeschieden-heit und Abgeschnittenheit“ (KA 23), allein durch die natürliche Ummantelung von Felsen und Wasser gegeben. Dieses bereits vor zwanzig Jahren gesperrte Kalkwerk, genügt jedoch Konrads Ansprüchen nicht, weshalb er einige Umbauarbeiten vornimmt, um „den Urzustand des Kalkwerks wiederherzustellen“ (KA 19). Zunächst befreit Konrad die Wände von unnötigem Zierrat (vgl. KA 19) und stattet die Fenster mit „Zweckmäßigkeitsgittern[n]“ (KA 19) aus, die die bisherigen Ziergitter ersetzen. Anschließend bringt er an den Türen, wo vorher einfache Schlösser waren, „tief in die Mauern hineingelassene Kanthölzer“ (KA 20) an. Das nun vollkommen abgesicherte Kalkwerk scheint für Konrad, allerdings weniger für dessen Frau, der ideale Ort für seine Geistesexistenz zu sein, auch wenn der äußere Anblick des Kalkwerks dem eines Kerkers oder Gefängnisses gleicht. Die Tatsache, dass Konrad gemeinsam mit seiner Frau in dem Kalkwerk lebt, zeigt, dass sich die Isolation nicht ausnahmslos auf das einzelne Individuum beziehen muss, sondern „sie ist auch dann gewährleistet, wenn mehrere Individuen sich unter der Leitlinie der Geistigkeit eines Individuums zurückziehen.“[13]

[...]


[1] Zitiert nach Schwarz: Zum Sichten und Ordnen. Vier weitere Bände der Thomas-Bernhrad-Werkausgabe bei Suhrkamp. In: Rezensionsforum Literaturkritik. http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=9051

[2] Vgl. Jahraus: Das ‚monomanische’ Werk, S. 98.

[3] Vgl. ebd., S. 99.

[4] Ich verweise an dieser Stelle auf die im Dezember 1784 erschienene „Berlinische Monatsschrift“, in welcher Kant eine Antwort auf die Frage: „Was ist Aufklärung?“ gibt.

[5] Jahraus: Das ‚monomanische’ Werk, S. 99.

[6] Ebd., S. 99

[7] Tismar: Thomas Bernhards Erzählfiguren. S. 68.

[8] Ebd., S. 68.

[9] Jahraus: Das ‚monomanische’ Werk. S. 102.

[10] Vgl. ebd., S. 102.

[11] Ebd., S. 108.

[12] Kummer; Wendt: Die Schauspieler in den Schauspielern der Schauspieler. S. 116.

[13] Ebd., S. 158.

Excerpt out of 16 pages

Details

Title
Der Geistesmensch und das Scheitern seiner Studien in "Kalkwerk" und "Korrektur" von Thomas Bernhard
College
University of Marburg  (Neuere deutsche Literatur)
Course
Krankheit in der Literatur der Moderne
Grade
12 Punkte
Author
Year
2011
Pages
16
Catalog Number
V181415
ISBN (eBook)
9783668171060
File size
410 KB
Language
German
Keywords
Kalkwerk, Korrektur, Thomas Bernhard, Geistesmenschen
Quote paper
Anne Arenz (Author), 2011, Der Geistesmensch und das Scheitern seiner Studien in "Kalkwerk" und "Korrektur" von Thomas Bernhard, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/181415

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