1989 war Peter Singer, ein australischer Philosoph und Bioethiker, nach Marburg eingeladen, um auf einem europäischen Symposium zum Thema „Biotechnologie, Ethik und geistige Behinderung” einen Vortrag zu halten. In Verbindung dazu hatte er auf Anfrage zugesagt, auch an der Universität Dortmund zum Thema „Haben schwerstbehinderte Neugeborene ein Recht auf Leben?” zu sprechen.
Doch kurz vor der Eröffnung des Symposiums wurde die Einladung zurückgezogen und zwar aufgrund von massiven Protesten von Behindertenorganisationen, denen sich auch einige anderen Gruppen angeschlossen hatten. Auch in Dortmund konnte er nicht sprechen. Später in Saarbrücken war es ihm erst möglich, einen Vortrag zu halten, nachdem der einladende Professor eine Gruppe, die ihn durch Trillerpfeifkonzerte am Sprechen hinderte, überreden konnte, die Störung abzubrechen.
In dieser Examensarbeit, eingereicht am Fachbereich Katholische Theologie der Universität Frankfurt / Main im Sommer 2003, geht es um die Darstellung und die kritische Auseinandersetzung mit Peter Singers Buch „Praktische Ethik“, das im wesentlichen für die Aufregung und die sogenannte „Singer-Debatte“ im deutschsprachigen Raum gesorgt hat.
Ich habe mich bei der Darstellung der Position des Autors im wesentlichen auf die Kapitel zum Thema Abtreibung und Euthanasie beschränkt, da dort aus meiner Sicht die Thesen Singers, die die größte Aufregung erzeugten, am deutlichsten und drastischsten greifbar sind.
Im Anschluss an die Darstellung werde ich mich kritisch, auch anhand von Sekundärliteratur, mit dem zuvor Erarbeiteten auseinandersetzen, um am Ende zu einem Schlussfazit contra Singer zu gelangen.
Dabei will ich zuvor auch die aktuelle Gesetzgebung und Handhabung (Stand: August 2003) in Fällen von Abtreibung und Euthanasie in einigen Ländern Europas darstellen, um dadurch eventuelle Einflüsse Peter Singers „praktische(r) Ethik“ bzw. (präferenz-)utilitaristischer Ansätze zu untersuchen und etwaige Auswirkungen auf das gesellschaftliche Verhalten, wie die Diskussion um die Aufhebung des Tötungsverbots und eventuelle Folgen in der Zukunft, aufzuzeigen.
INHALT:
1. EINLEITUNG
2. Darstellung und kritische Auseinandersetzung mit Peter Singers „Praktischer Ethik“
2.1. Wer ist Peter Singer? Was ist Bioethik?
2.2. Die Darstellung der Position Peter Singers
2.2.1. Warum sich überhaupt mit Peter Singer beschäftigen?
2.2.2. Singers Aussagen
2.2.2.I. Singers Unterscheidung zwischen Mensch und Person
2.2.2.II. Singers Schlussfolgerungen am Beispiel Abtreibung und Euthanasie
2.2.2.II.a. „Leben nehmen: Der Embryo und der Fötus”
2.2.2.II.b. „Leben nehmen: Menschen“
2.2.3. Eventuelle Motive für Singers Überlegungen
2.3. Kritische Auseinandersetzung mit Peter Singers „Praktischer Ethik“
2.3.1. Ein einfaches Beispiel für die Inkonsequenz in Singers Theorie
2.3.2. Missbrauch des Personbegriffs als Rechtfertigung von Abtreibung und Euthanasie
2.3.3. Die Diskussionen um den „Wert des Lebens“
2.3.4. Person als „reiner Moralbegriff“
2.3.5. Probleme des bewusstseinstheoretischen Personbegriffs
2.4. Die gesetzliche Aufhebung des Tötungsverbotes – Die Anwendung praktischer Ethik in Europa?
2.4.1. Abtreibung in Europa
2.4.2. Euthanasie in Europa
2.4.3. Bioethik in Europa
2.4.4. Europäische Handhabung bei Abtreibung und Euthanasie – ein Spiegelbild der Ethik Singers?
2.5. Der Abschied von der Würde des Menschen – Eine kritische Stimme von Bischof Prof. Dr. Franz Kamphaus (Limburg)
2.6. „Slippery Slope“ – Ist die Theorie der „Schiefen Bahn“ und die „Nazi-Analogie“ bloß ein „Totschlagsargument“ gegen Peter Singer, Abtreibung und Euthanasie?
3. Fazit: Jeder einzelne Mensch ist Person
4. Literatur
1. EINLEITUNG
1989 war Peter Singer, ein australischer Philosoph und Bioethiker, nach Marburg eingeladen, um auf einem europäischen Symposium zum Thema „Biotechnologie, Ethik und geistige Behinderung” einen Vortrag zu halten. In Verbindung dazu hatte er auf Anfrage zugesagt, auch an der Universität Dortmund zum Thema „Haben schwerstbehinderte Neugeborene ein Recht auf Leben?” zu sprechen. Doch kurz vor der Eröffnung des Symposiums wurde die Einladung zurückgezogen und zwar aufgrund von massiven Protesten von Behindertenorganisationen, denen sich auch einige anderen Gruppen angeschlossen hatten. Auch in Dortmund konnte er nicht sprechen. Später in Saarbrücken war es ihm erst möglich, einen Vortrag zu halten, nachdem der einladende Professor eine Gruppe, die ihn durch Trillerpfeifkonzerte am Sprechen hinderte, überreden konnte, die Störung abzubrechen.[1]
In dieser Examensarbeit, eingereicht am Fachbereich Katholische Theologie der Universität Frankfurt / Main im Sommer 2003, geht es um die Darstellung und die kritische Auseinandersetzung mit Peter Singers Buch „Praktische Ethik“[2], das im wesentlichen für die Aufregung und die sogenannte „Singer-Debatte“ im deutschsprachigen Raum gesorgt hat.
Ich habe mich bei der Darstellung der Position des Autors im wesentlichen auf die Kapitel zum Thema Abtreibung und Euthanasie beschränkt, da dort aus meiner Sicht die Thesen Singers, die die größte Aufregung erzeugten, am deutlichsten und drastischsten greifbar sind.
Im Anschluss an die Darstellung werde ich mich kritisch, auch anhand von Sekundärliteratur, mit dem zuvor Erarbeiteten auseinandersetzen, um am Ende zu einem Schlussfazit contra Singer zu gelangen.
Dabei will ich zuvor auch die aktuelle Gesetzgebung und Handhabung (Stand: August 2003) in Fällen von Abtreibung und Euthanasie in einigen Ländern Europas darstellen, um dadurch eventuelle Einflüsse Peter Singers „praktische(r) Ethik“ bzw. (präferenz-) utilitaristischer Ansätze zu untersuchen und etwaige Auswirkungen auf das gesellschaftliche Verhalten, wie die Diskussion um die Aufhebung des Tötungsverbots und eventuelle Folgen in der Zukunft, aufzuzeigen.
2. Darstellung und kritische Auseinandersetzung mit Peter Singers „Praktischer Ethik“
2.1. Wer ist Peter Singer? Was ist Bioethik?
Peter Singer, geboren 1946 in Melbourne, Australien, erhielt seine Ausbildung an den Universitäten Melbourne und Oxford, England. Nach Lehraufträgen an verschiedenen Universitäten war er seit 1977 Professor für Philosophie in Clayton/Australien und seit 1983 Co-Direktor des Institute of Ethics and Public Affairs sowie stellvertretender Direktor am Centre for Human Bioehtics der Monash University in Melbourne. Im Herbst 1999 wurde er Professor am Centre for Human Values der Princeton University, New Jersey (USA).
In der englischsprachigen Welt wurde Singer vor allem durch sein Buch „Animal Liberation – A New Ethics for Our Treatment of Animals“ (1975, deutscher Titel: „Befreiung der Tiere – Eine neue Ethik zur Behandlung der Tiere“, München, 1982) bekannt. Im deutschsprachigen Bereich erregte sein Buch „Practical Ethics“ (1979, zu deutsch: „Praktische Ethik“) größte Aufmerksamkeit.
Peter Singer ist außerdem der Verfasser des Übersichtsartikels „Ethics“ in der neuesten Ausgabe der Encyclopedia Britannica. 1992 wurde er zum Gründungspräsidenten der International Association of Bioethics gewählt.
Singer bekennt sich zur Theorie des Präferenz-Utilitarismus, einer Form des Utilitarismus. Nach Ansicht der Utilitaristen ist jene Handlung gerechtfertigt, deren Folgen mehr Positives bewirken als alle alternativen Handlungsmöglichkeiten.
Lust ist zu vermehren, Unlust zu vermindern – so lautet die Hauptforderung, wobei manche Utilitaristen unterschiedliche Arten von Lust anerkennen, andere nicht.
Der Präferenz-Utilitarismus will die Interessen der Handelnden oder der von einer Handlung Betroffenen berücksichtigen. Er verlangt, dass eine Handlung den Interessen der Beteiligten entspricht, wobei eben nur die Interessen an sich einbezogen werden, nicht der Status dessen, der ein Interesse hat.[3]
Peter Singer ist Bioethiker. Was heißt das?
„Unter Bioethik wird die ethische Reflexion jener Sachverhalte verstanden, die den verantwortlichen Umgang des Menschen mit dem Leben betreffen. Nimmt man den Begriff Bioethik beim Wort, so erstreckt sich die damit apostrophierte ethische Verantwortung des Menschen grundsätzlich auf alles Leben, also nicht nur auf die Frage seines verantwortlichen Umgangs mit menschlichem Leben, sondern darüber hinaus auch mit Fragen seines verantwortlichen Umgangs mit jeglicher Art von außermenschlichem Leben. Bioethik umfasst dann aber zum einen die Probleme der klassischen ärztlichen Berufsethik und der modernen medizinischen Ethik ebenso wie die Probleme der heutigen Humanökologie mit ihren vielfältigen psychologischen, psycho-sozialen und bio-sozialen Aspekten, und zum anderen die noch elementarer ansetzenden und darin gleichsam fächerübergreifenden Problemstellungen der modernen Biotechnologien bis hin zu den explizit auf das außermenschliche Leben gerichteten Fragen des Naturschutzes und des Tierschutzes sowie der übergreifenden Fragestellungen heutiger Umweltethik.“[4]
2.2. Die Darstellung der Position Peter Singers
2.2.1. Warum sich überhaupt mit Peter Singer beschäftigen?
„Man sagt oft, Leben sei heilig. Man meint fast nie, was man sagt. Man meint nicht – im strengen Wortsinn – Leben an sich sei heilig. Würde man das meinen, so müsste man es ebenso entsetzlich finden, ein Schwein zu töten oder einen Kohlkopf auszureißen, wie einen Menschen zu ermorden.”[5]
„Die biologischen Fakten, an die unsere Gattung gebunden ist, haben keine moralische Bedeutung.”[6]
„Unsere heutige Haltung geht auf das Christentum zurück. Es ist Zeit dies zu überdenken”[7]
„Einem Leben bloß deshalb den Vorzug zu geben, weil es unserer Gattung angehört, würde uns in dieselbe Position bringen wie Rassisten.”[8]
„Daher sollten wir die Lehre, die das Leben von Angehörigen unserer Gattung über das Leben der Angehörigen anderer Gattungen erhebt, ablehnen. Manche Angehörige anderer Gattungen sind Personen: manche Angehörigen unserer eigenen Spezies sind es nicht. Keine objektive Beurteilung kann den Standpunkt unterstützen, dass es schlimmer ist, Mitglieder unserer eigenen Spezies, die keine Personen sind, zu töten, als Mitglieder anderer Spezies, die es sind. Im Gegenteil gibt es (...) starke Gründe dafür, der Überzeugung zu sein, dass es an sich schwerwiegender ist, Personen das Leben zu nehmen, als Nichtpersonen. So scheint es, dass die Tötung eines Schimpansen schlimmer ist als die Tötung eines menschlichen Wesens, welches Aufgrund einer angeborenen geistigen Behinderung keine Person ist und nie sein kann.”[9]
Diese Aussagen des australischen Philosophie-Professors und Bioethikers Peter Singer mögen einem so ungeheuerlich vorkommen, dass man es für überflüssig halten mag, sich mit ihnen zu beschäftigen. Eine gemeinsame Basis, von der aus man argumentieren könnte, scheint nicht mehr gegeben, wenn der Begriff „Person” so eigenwillig verwendet wird.
Warum ist es dennoch notwendig, sich mit der Position Peter Singers auseinander zu setzen?
Singer steht mit seinen Überlegungen nicht allein. Der Amerikaner Tristram Engelhardt, Professor für Philosophie und Leiter bzw. Mitglied verschiedener Ethik-Kommissionen, schreibt in einem Beitrag[10]: „Was den Fötus anbelangt, so gilt es hervorzuheben, dass die öffentliche Meinung in Amerika derzeit zum Teil von der Auffassung bestimmt ist, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen rein biologischem menschlichen Leben und dem Leben des Menschen als Person besteht, und dass es keine allgemeingültigen nichttranszendenten Gründe dafür gibt, den Fötus als Person anzuerkennen. (...) Nach der herrschenden Tendenz in der amerikanischen Rechtssprechung, wie umstritten sie auch sein mag, ist der Fötus eher mit einem hirntoten, ansonsten aber noch lebenden menschlichen Körper, der keine Person ist, zu vergleichen, als mit einem jungen Kind, dem die Rechte einer Person zuerkannt sind.” Den Begriff Menschenwürde hält Engelhardt für „zweideutig”. „Er könne dahingehend interpretiert werden, dass er sich eigentlich nur auf die Würde von Personen bezieht, oder könnte so verstanden werden, dass er den rein biologischen Gegebenheiten des Menschseins eine moralische Bedeutung zuschreibt. Der Begriff der Menschenwürde sollte deshalb am besten durch einen Begriff von Rechten der Person bzw. von Achtung der Person ersetzt werden.”[11]
Engelhardt referiert aber nicht nur das, was – wie er schreibt – zum Teil öffentliche Meinung in den USA ist, sonder vertritt auch selbst diese Position, wenn er an anderer Stelle formuliert: „Andererseits aber steht fest, dass nicht alles menschliche Leben personales Leben ist, so wie wir diesen Begriff im Allgemeinen verwenden – man denke an hirntote, sonst aber lebende Körper. So gibt es auch keine generelle, weltliche philosophische Basis für die Haltbarkeit der These, dass der Präembryo eine Person ist. (...) Fazit ist, dass Embryonen als Zustandsformen menschlich biologischen Lebens, aber nicht menschlich personalen Lebens betrachtet werden können.”[12]
Die Unterscheidung zwischen Mensch und Person – human being und human person – wird also nicht nur von Peter Singer gemacht, sondern spielt eine große Rolle zum Beispiel bei dem Versuch der Rechtfertigung bestimmter medizinischer Forschungsprojekte (z. B. Embryonen-Experimente).
In Deutschland wurden die Thesen von Peter Singer vor allem durch Norbert Hoerster bekannt gemacht. Hoerster ist Professor für Rechts- und Sozialgeschichte in Mainz. Er stellt zunächst fest: „Wenn der Fötus als menschliches Individuum ein eigenständiges Lebensrecht und einen, diesem Lebensrecht entsprechenden Schutz verdient, dann ist tatsächlich jede nicht durch einen Notstand gerechtfertigte Abtreibung – rechtsethisch gesehen – Mord. Und wer diesen Mord auch positiv rechtlich entsprechend behandelt wissen möchte, kriminalisiert dadurch nicht etwa unschuldige Frauen, die lediglich ihr Selbstbestimmungsrecht ausüben, sondern verlangt, dass Frauen, die durch die Tötung eines menschlichen Individuums das schlimmste Unrecht unter der Rechtsordnung begehen und deshalb der Sache nach kriminell sind, auch als Kriminelle behandelt werden.”[13] Mit Berufung auf Singer bestreitet Hoerster die erste Prämisse, nämlich dass jedes menschliche Individuum ein Recht auf Leben hat.
Singers Thesen haben Anhänger gefunden und eine große Kontroverse ausgelöst. Das ist der Grund, sich damit zu befassen.
2.2.2. Singers Aussagen
In meinen Darlegungen über Singer stütze ich mich auf sein Buch „Praktische Ethik”, das in der 2. Auflage 1993 in Cambridge erschienen ist; die deutsche Übersetzung kam 1994 in Stuttgart heraus. Peter Singer hat – wie er im Vorwort schreibt – in dieses Werk einige frühere Veröffentlichungen eingearbeitet, d.h. es ist kein erster Entwurf, sondern fasst seine vorhergehenden Überlegungen zusammen; von daher ist es begründet, diese Veröffentlichung zur Grundlage der Auseinandersetzung zu nehmen.
2.2.2.I. Singers Unterscheidung zwischen Mensch und Person
Singer zieht als Hauptthese einen Unterschied zwischen Mensch und Person. Nicht jeder Mensch ist eine Person und umgekehrt gibt es Personen, die nicht Menschen sind.[14] Für Singer eine wichtige Grunderkenntnis in seiner Argumentation – zum Beispiel in der Frage „Ist der Fötus bereits ein menschliches Wesen?” und „Ist Töten verwerflich?”.
Er unterscheidet in:
1. „Angehörige der Gattung Homo Sapiens”: Ob ein Wesen Mitglied einer Spezies ist, lässt sich wissenschaftlich bestimmen durch die Beschaffenheit der Chromosomen in den Zellen lebender Organismen. Legt man, so Singer, diese Bedeutung zugrunde, so besteht kein Zweifel, dass ein von menschlichen Eltern gezeugter Fötus vom ersten Moment seiner Existenz an ein menschliches Wesen ist. Dasselbe trifft auch, so Singer weiter, für die am stärksten und unheilbar zurückgebliebenen `dahinvegetierenden Menschen´ zu. Singer greift im englischsprachigen Original zu dem Begriff „human vegetable”, menschlichem Grünzeug oder Gemüse. An anderem Ort[15] spricht Singer nicht-bewusstem, also etwa pflanzlichem Leben („Pflanzen haben kein zentral organisiertes Nervensystem wie wir.”)[16] ohne Empfindungs- oder Erlebnisfähigkeit, jeden Wert an sich ab. Naturwissenschaftlich, so Singer, ist die Zugehörigkeit zur Gattung Homo sapiens konstatierbar, für die Frage nach dem moralischen Wert allerdings irrelevant.
2. „Person”: Nach Singer ein selbstbewusstes oder rationales Wesen, eine „destinkte Entität”, ein klares Dasein, das sich seiner Vergangenheit und Zukunft bewusst ist. Hierbei beruft sich Singer auf John Lo name="_ftnref17" title="">[17] Zudem übernimmt Singer die Position des protestantischen Theologen Joseph Fletcher, der folgende „Indikatoren des Menschseins” festhält: Selbstbewusstsein, Sinn für Zukunft und Vergangenheit, die Fähigkeit sich um andere zu kümmern, Kommunikation und Neugier. Jedoch beharrt Singer auf der Feststellung, dass der Begriff „menschliches Wesen” und „Person” nicht deckungsgleich sind. „Es könnte eine Person geben, die nicht Mitglied unserer Spezies ist. Es könnte auch Mitglieder unserer Spezies geben, die nicht Personen sind.”[18] Singer denkt hier beispielsweise an Menschenaffen und bezeichnet diese als „nichtmenschliche Personen.”
Der Unterscheidung „Angehörige der Gattung Homo sapiens” und „Person” liegt bei Singer ein Denkmodell zugrunde, in dem er drei Kategorien des Lebendigen unterscheidet. Das Bewusstsein eines Wesens gilt hierbei als Kriterium der Schutzwürdigkeit und des Lebenswertes: 1. nicht-bewusstes, 2. bewusstes und 3. selbstbewusstes Leben.[19]
zu 1. Nicht-bewusstes, etwa pflanzliches Leben, das weder über Empfindungs- und Erlebnisfähigkeit, noch über einen bewussten Willen oder Interessen verfügt, hat keinen Wert an sich.
zu 2. Empfindungsfähige Lebewesen, die bewusst und fähig sind Schmerz zu erfahren, verfügen bereits über einen Wert, den es zu achten gilt.
zu 3. Der höchste Schutz kommt jedoch nur Leben zu, sobald und solange es über bestimmte Eigenschaften wie Selbstbewusstsein und Rationalität verfügt, die es als „Person” qualifizieren. In diesem Falle besteht ein generelles Tötungsverbot.
2.2.2.II. Singers Schlussfolgerungen am Beispiel Abtreibung und Euthanasie
„Da wir nun (...) unsere speziesistische Auffassung von der Natur überdenken, ist es auch an der Zeit, unseren Glauben zu revidieren, dass das Leben der Angehörigen unserer Gattung heilig sei.”[20]
So stellt sich Singer nun die Frage: Hat das Leben eines rationalen und selbstbewussten Wesens einen besonderen, vom Leben bloß empfindender Wesen verschiedenen Wert? Dabei folgt er der oben genannten, zweiteiligen Unterscheidung von „Angehöriger der Gattung Homo sapiens” und „Person”. Eine Person, eine „destinkte Entität”, ist fähig, Wünsche hinsichtlich ihrer eigenen Zukunft zu haben, so Singer. Nimmt man diesem selbstbewussten Wesen allerdings das Leben, so durchkreuzt man damit seine Wünsche für die Zukunft. „Eine Person zu töten, die es vorzieht weiter zu leben, ist demnach falsch. (...) Für Präferenz-Utilitaristen (wie Singer) ist das Töten einer Person in der Regel schlimmer als das Töten eines anderen Wesens, weil Personen in ihren Präferenzen sehr zukunftsorientiert sind. Eine Person zu töten bedeutet darum normalerweise nicht nur eine, sondern eine Vielzahl der zentralsten oft bedeutendsten Präferenzen, die ein Wesen haben kann, zu verletzen. (...) Im Gegensatz dazu kann ein Wesen, das sich nicht selbst als eine Entität mit einer Zukunft sehen kann, keine Präferenzen hinsichtlich seiner zukünftigen Existenz haben. Damit wird nicht bestritten, dass ein solches Wesen gegen eine Situation ankämpfen kann, in der sein Leben in Gefahr ist (...).”[21]
Aber, so Singer: „Tötet man eine Schnecke oder ein einen Tag altes Kind, so durchkreuzt man keine Wünsche dieser Art, weil Schnecken und Neugeborene unfähig sind, solche Wünsche zu haben. (...) Wenn ein Wesen unfähig ist, sich selbst als in der Zeit existierend zu begreifen, brauchen wir nicht auf die Möglichkeit Rücksicht zu nehmen, dass es wegen der Verkürzung seiner künftigen Existenz beunruhigt sein könnte. Und zwar deshalb nicht, weil es keinen Begriff von seiner eigenen Zukunft hat.”[22]
2.2.2.II.a. „Leben nehmen: Der Embryo und der Fötus”
Die Abtreibung stellt ein schwieriges moralisches Problem dar. Die Entwicklung des menschlichen Wesens, so Singer, ist ein gradueller Prozess. Über das befruchtete Ei – die Zygote, unmittelbar nach der Empfängnis – wird kaum ein Streit entbrennen, wenn es abstirbt, meint Singer, da die Zygote eine winzige Ansammlung von Zellen ist, die unmöglich dazu in der Lage ist, Schmerzen zu empfinden oder in irgendeiner Form ein Bewusstsein hat. Vertraut man der Feststellung, so Singer, das viele Zygoten aus der Gebärmutter herausgeschwemmt werden, ohne dass die Frau eine Störung bemerkt – warum, fragt Singer, sollte es dann beunruhigen, eine unerwünschte Zygote mit Absicht zu entfernen?
Singer hält die in der heutigen Gesellschaft verbreiteten Argumentationen und Positionen gegen eine Abtreibung (konservativ wie liberal / siehe unten) für „erfolglos” und gibt aus seiner Sicht im Rahmen „einer nicht-religiösen Ethik” eine für ihn eindeutige Antwort auf das moralische Dilemma der Abtreibung.[23]
So kontert er zunächst die drei Annahmen der konservativen Position: 1. es ist falsch, ein unschuldiges menschliches Wesen zu töten, 2. ein menschlicher Fötus ist ein unschuldiges menschliches Wesen, 3. daher ist es falsch, einen menschlichen Fötus zu töten.
Singers Antwort: „Diejenigen, die gegen Abtreibung protestieren, jedoch regelmäßig das Fleisch von Hühnern, Schweinen und Kälbern verspeisen, (zeigen) nur ein vordergründiges Interesse am Leben von Wesen, die zu unserer eigenen Spezies gehören. Denn bei jedem fairen Vergleich moralisch relevanter Eigenschaften, wie Rationalität, Selbstbewusstsein, Bewusstsein, Autonomie, Lust- und Schmerzempfindung und so weiter haben das Kalb, das Schwein und das viel verspottete Huhn einen guten Vorsprung vor dem Fötus in jedem Stadium der Schwangerschaft – und wenn wir ein weniger als drei Monate alten Fötus nehmen, so würde sogar ein Fisch mehr Anzeichen von Bewusstsein zeigen. Ich schlage daher vor, dem Leben eines Fötus keinen größeren Wert zuzubilligen, als dem Leben eines nichtmenschlichen Lebewesens auf einer ähnlichen Stufe (...) des Bewusstseins. Da kein Fötus eine Person ist, hat kein Fötus denselben Anspruch auf Leben wie eine Person. Bis die Fähigkeit Schmerz zu empfinden bei einem Fötus vorhanden ist, beendet ein Schwangerschaftsabbruch eine Existenz, die keinen Wert an sich hat. (...) Dann jedoch wenn ein Fötus Bewusstsein (wenn auch kein Selbstbewusstsein) hat, sollte eine Abtreibung nicht leichtgenommen werden. Aber die ernsthaften Interessen der Frau würden normalerweise jederzeit vor den rudimentären Interessen selbst eines bewussten Fötus Vorrang haben. Ja selbst ein Schwangerschaftsabbruch aus den trivialsten Gründen ist schwerlich zu verurteilen, wenn wir nicht gleichzeitig das Abschlachten viel weiter entwickelter Lebensformen, nur weil uns das Fleisch schmeckt, verurteilen.”[24]
Auch die liberalen Prämissen, die gegen eine Abtreibung sprechen und nach denen dem Fötus nicht nur tatsächliche, sondern auch potenzielle Eigenschaften zugesprochen werden (1. es ist unrecht, ein potenzielles menschliches Wesen zu töten, 2. ein menschlicher Fötus ist ein potenzielles menschliches Wesen, 3. daher ist es unrecht, einen menschlichen Fötus zu töten), werden von Singer gekontert, wenngleich er die liberale Position stärker empfindet als die vorhergegangene konservative.
Singers Antwort: „Da eine allgemeine Ableitung aus >>A ist ein potenzielles X<< zu >>A hat die Rechte von X<< nicht gegeben ist, sollten wir verneinen, dass eine potenzielle Person die Rechte einer Person hat.”
Die bloße Potenzialität, so Singer, eine Person zu werden, spricht nicht gegen das Töten.[25]
Auch im Falle neugeborener Säuglinge bezieht Singer Stellung: „Nichts weist darauf hin, dass das Töten eines Säuglings ebenso schlimm sei wie das Töten eines (unschuldigen) Erwachsenen. (...) Auch kann die Hilflosigkeit eines Homo-sapiens-Säuglings nicht der Grund dafür sein, ihm vor einem ebenso hilflosen und unschuldigen Homo-sapiens-Fötus den Vorzug zu geben, oder schließlich vor Versuchsratten, die in genau dem gleichen Sinn unschuldig sind wie der menschliche Säugling und, angesichts der Macht des Versuchsleiters, ebenso hilflos.”[26]
Ein Neugeborenes ist nicht im Stande, sich selbst als ein Wesen zu sehen, dass eine Zukunft haben kann oder nicht, so Singer, und daher kann es auch keinen Wunsch haben weiterzuleben.
So macht Singer schließlich den Vorschlag, unter bestimmten Umständen das volle gesetzlich verankerte Recht auf Leben nicht mit der Geburt in Kraft treten zu lassen, sondern erst kurze Zeit nach der Geburt, vielleicht etwa einen Monat. Der heutige absolute Schutz des Lebens von Säuglingen sei Ausdruck einer klar definierten christlichen Haltung aber kein universaler moralischer Wert. Im Falle schwerstbehinderter Babys beispielsweise sei deshalb über eine Neueinschätzung in punkto Infantizid nachzudenken.[27]
Die Erlaubnis, neugeborene Behinderte töten zu dürfen, bräuchte erwachsene Behinderte, die selbst entscheiden können, so Singer in Anspielung auf die vehementen Proteste von Behindertenorganisationen, aber nicht zu beunruhigen, da diese Regelung sie nicht betreffen würde. Singers zweifelhaftes Argument gegen den Protest der Behindertenverbände: Sie befänden sich außerhalb des Anwendungsbereiches einer derartigen Maßnahme.[28]
2.2.2.II.b. „Leben nehmen: Menschen“
Wenn man, wie von Singer dargelegt, nun die Abtreibung aus den von ihm vorgebrachten Gründen akzeptiert, dann, meint Singer, „ergeben sich daraus auch gute Gründe dafür, unter bestimmten Bedingungen andere menschliche Wesen zu töten.“[29]
Im Bezug auf Euthanasie (Singers Übersetzungshinweis: „freundlicher und leichter Tod”) unterscheidet er zwischen freiwilliger, unfreiwilliger und nichtfreiwilliger Euthanasie.
Dass freiwillige Euthanasie straffrei sein soll, steht für ihn außer Frage: „Man würde den Respekt vor der individuellen Freiheit und Autonomie besser wahren, wenn Sterbehilfe legalisiert und es den Patienten überlassen würde zu entscheiden, ob ihre Situation erträglich ist. (...) Freiwillige Euthanasie ist eine Handlung, für die es gute Gründe gibt.”[30]
Die unfreiwillige Euthanasie, das heißt die Tötung eines Menschen gegen seinen Willen, lehnt Singer ab.
Von nichtfreiwilliger Euthanasie spricht Singer, wenn Menschen getötet werden, die noch nicht entscheiden können, bzw. nicht mehr entscheiden können und sich vorher nicht entschieden hatten, ob sie weiter leben wollen. Es geht also um Neugeborene oder um Patienten, die im Koma liegen, aus dem sie nach menschlicher Erfahrung nicht mehr aufwachen werden. Eigentlich, so Singer, haben sie kein Recht auf Lebensschutz, da sie ja kein Interesse am Leben haben können. Für Neugeborene sagt Singer eindeutig: „Die Tötung eines behinderten Säuglings ist moralisch nicht gleichbedeutend mit der Tötung einer Person. Sehr oft ist sie überhaupt kein Unrecht.”[31]
Dennoch sei das Interesse der Eltern am Leben ihrer Kinder zu respektieren. „Einige Eltern wollen, dass selbst ein schwerstbehindertes Kind so lange wie möglich lebt, und dieses Verlangen wäre dann ein Grund gegen die Tötung des Kindes.”[32] Gleiches gilt für Singer auch „im Falle derer, (...) die einmal Personen und fähig waren, zwischen Leben und Tod zu wählen, doch jetzt durch einen Unfall oder hohes Alter, diese Fähigkeit für immer verloren und vor dem Verlust dieser Fähigkeit keinerlei Ansichten darüber geäußert haben, ob sie unter diesen Umständen weiterleben wollten. (...) In den meisten Fällen unterscheiden sich diese Menschen nur unerheblich von behinderten Säuglingen. Sie sind nicht selbstbewusst, rational oder autonom, und so sind Erwägungen des Rechts auf Leben oder des Respekts vor Autonomie hier nicht angebracht.“[33]
Die Konsequenzen, die sich aus diesen Überlegungen Singers ergeben, sind eindeutig: Ist Lebensschutz abhängig von der Fähigkeit zu Empfindungen, verlieren Menschen, die noch nicht oder auf Grund einer schweren Schädigung des Gehirns überhaupt nicht oder nicht mehr empfindungsfähig sind sowie sehr alte und schwache Menschen das Recht auf Leben.
[...]
[1] vgl. Singer, P.: Zum Schweigen gebracht in Deutschland, in Kuhse, H./Singer, P.: Muss diese Kind am Leben bleiben?, Erlangen, 1993, S. 283-297.
und: Singer, P.: Wie man in Deutschland mundtot gemacht wird, in: Singer, P.: Praktische Ethik, 2. Auflage, S. 425ff
[2] Singer, P.: Praktische Ethik, 2. revidierte und erweiterte Auflage, Stuttgart, 1994
[3] vgl. Stanke, G.: Mensch, Ja – Person, Nein?, Kritische Auseinandersetzung mit Peter Singer, Frankfurt, 1999, S.12
[4] Korff, W./ Beck, L./ Mikat, P.: Lexikon der Bioethik, Band 1, Gütersloh, 1998, S.7
[5] ebd., S.115-116
[6] ebd., S. 121
[7] ebd., S. 122
[8] ebd., S. 121
[9] ebd., S. 156
[10] Engelhardt, T.H.jr.: Entscheidungsprobleme konkurrierender Interessen von Mutter und Fötus, in: Braun, V. (Hsg.): Ethische und rechtliche Fragen der Gentechnologie und der Reproduktionsmedizin, München, 1987, S. 150-159
[11] ebd., S.152
[12] Engelhardt, T.H.jr.: Ethische Akzeptant menschlicher Fertilisationstechniken, in Sass, H.-M.: Bioethik in den USA, Berlin, 1988, S. 180
[13] Hoerster, N.: Abtreibung im säkularen Staat, Frankfurt, 1991, S.53
[14] vgl. Singer, P.: Praktische Ethik, 2. Auflage, S. 118-120
[15] Singer, P.: Praktische Ethik, 1.Ausgabe, Stuttgart, 1984, S.128; in der zweiten Auflage hat Singer diesen Absatz seines Buches überarbeitet und verweist auf Kapitel 10 “Die Umwelt”. Dort gesteht Singer etwa Pflanzen einen Wert zu, muss sich dabei im Sinne “der Erhaltung der unberührten Natur” (Umweltehtik) ein wenig selbst revidieren. Allerdings mit dem Zusatz: “(...) Es existiert keine (...) Empfindung. In dieser Hinsicht kommen Bäume (...) eher Felsen als empfindungsfähigen Wesen gleich.” (S.359)
[16] Singer, P.: Praktische Ethik, 2. Auflage, S. 100
[17] ebd., S. 121
[18] ebd., S. 120
[19] vgl. Baumgarten, H.M./ Honnefelder, L./ Wickler, W./ Wildfeuer, A.G.: Menschenwürde und Lebensschutz, in: Rager, G.: Beginn, Personalität und Würde des Menschen, Freiburg/München, 1998, S. 183-184
[20] Singer, P.: Praktische Ethik, 2. Auflage, S. 123
[21] ebd.: S. 129
[22] ebd.: S. 123-125
[23] vgl., ebd.: S.180
[24] ebd.: S. 196-197
[25] ebd.: S. 200-201
[26] ebd.: S. 220
[27] vgl. ebd.: S. 222ff
[28] vgl. Stanke, G.: Mensch, Ja – Person, Nein?, S. 14-17
[29] ebd.: S. 225
[30] ebd.: S. 255
[31] ebd.: S. 244
[32] ebd.: S. 234
[33] ebd.: S. 244-255
- Arbeit zitieren
- Holger Kliem (Autor:in), 2003, Darstellung und kritische Auseinandersetzung mit Peter Singers "Praktischer Ethik", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/17979
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