Im Arginusenprozess des Jahres 406 v. Chr. trifft die athenische Volkversammlung eine folgenschwere Entscheidung: Sie verurteilt die angeklagten Strategen der Arginusenschlacht kollektiv zum Tode und vernichtet dadurch einen erheblichen Teil der militärischen Führungselite Athens. Die antiken Autoren Xenophon und Diodor berichten über den Schlacht- und Prozessverlauf und bewerten die Verurteilung als schwere Fehlentscheidung der Volksversammlung und als Scheitern des demokratischen Systems. Ziel dieser Hausarbeit soll es daher sein, die Gegenüberstellungen von Moral und Unmoral, Volkswille und Wankelmut sowie Illegalität und Legalität innerhalb der Prozessdarstellung bei Xenophon und Diodor nachzuweisen, zu vergleichen und sie hinsichtlich einer Demokratiekritik zu deuten. In dieser Kritik werden die Zweifel am demokratischen System wird und das Politik- und Gesellschaftsverständnis beider Autoren als Gegenüberstellung binärer Wertpaare deutlich.
Der erste Teil der Arbeit gibt einen Überblick zur Quellendarstellung bei Xenophon und Diodor und verweist auf Schilderungsdifferenzen, Deutungstendenzen und Quellenwert beider Überlieferungen. Im zweiten und dritten Teil wird die Gegenüberstellung der Konzepte von Moral und Unmoral sowie Volkswille und Wankelmut bei beiden Autoren nachgewiesen, kritisch analysiert und hinsichtlich ihrer demokratiekritischen Tendenzen geprüft. Im letzten Teil der Arbeit wird die vermeintliche Illegalität dem geschilderten Verfahrensablauf gegenübergestellt und es werden weitere Interpretationen hinsichtlich einer Demokratiekritik angestellt.
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
2. Gegenüberstellungen in den Quellen zum Arginusenprozess
2.1 Zur Darstellung des Arginusenprozesses bei Xenophon und Diodor
2.2 Moralische und unmoralische Charaktere im Arginusenprozess
2.3Wille und Wankelmut des Volkes im Prozess
2.4 Illegalität und Legalität des Prozessverfahrens
3. Zusammenfassung
4. Quellen- und Literaturverzeichnis
4.1 Quellen
4.2 Forschungsliteratur
1. Einführung
Im Arginusenprozess des Jahres 406 v. Chr. trifft die athenische Volkversammlung eine folgenschwere Entscheidung: Sie verurteilt die angeklagten Strategen der Arginusenschlacht kollektiv zum Tode und vernichtet dadurch einen erheblichen Teil der militärischen Führungselite Athens. Die antiken Autoren Xenophon und Diodor berichten über den Schlacht- und Prozessverlauf und bewerten die Verurteilung als schwere Fehlentscheidung der Volksversammlung und als Scheitern des demokratischen Systems. Ziel dieser Hausarbeit soll es daher sein, die Gegenüberstellungen von Moral und Unmoral, Volkswille und Wankelmut sowie Illegalität und Legalität innerhalb der ProzessdarstellungbeiXenophonund Diodor nachzuweisen, zu vergleichen und sie hinsichtlich einer Demokratiekritik zu deuten. In dieser Kritik werden die Zweifel am demokratischen System wird und das Politik- und Gesellschaftsverständnis beider Autoren als Gegenüberstellung binärer Wertpaare deutlich.
Der erste Teil der Arbeit gibt einen Überblick zur Quellendarstellung bei Xenophon und Diodor und verweist auf Schilderungsdifferenzen, Deutungstendenzen und Quellenwert beider Überlieferungen. Im zweiten und dritten Teil wird die Gegenüberstellung der Konzepte von Moral und Unmoral sowie Volkswille und Wankelmut bei beiden Autoren nachgewiesen, kritisch analysiert und hinsichtlich ihrer demokratiekritischen Tendenzengeprüft. Im letzten Teil der Arbeit wird die vermeintliche Illegalität dem geschilderten Verfahrensablauf gegenübergestellt und es werden weitere Interpretationen hinsichtlich einer Demokratiekritik angestellt.
Unzählige Publikationen setzen sich mit der Arginusenschlacht und dem anschließenden Prozess auseinander, weshalb eine thematische Eingrenzung unumgänglich erscheint. Im Sinne einer Gegenüberstellung verschiedener Konzepte rücken die Darstellung des Prozessverlaufs und die Charakterisierung der Akteure in den Vordergrund, während der Schlachtverlauf in den Hintergrund der Deutung tritt. Auch musstesich die Interpretation der Quellen auf das Zeitfenster des Prozesses in den Schilderungen der antiken Autoren konzentrieren und versucht die Deutung nicht aus einem gesamtwerklichen Kontext heraus, sondern allein auf Grundlage des Arginusenabschnittes.
Als Quellen dienten bei der Gegenüberstellung und InterpretationXenophons „Hellenika“ und Diodors „Griechische Weltgeschichte“. Sie stellen die Hauptquellen für die Darstellung der Arginusenschlacht und den anschließenden Prozessverlauf dar. Platons Verweis auf Sokrates‘ Rolle im Arginusenprozess in seiner „Apologie des Sokrates“ lieferte ergänzende Informationen. Daneben stellten innerhalb der Forschungsliteratur insbesondere die literaturtheoretischen und –kritischen Deutungsansätze des Quellenmaterials eine wichtige Grundlage dieser Arbeit dar.
Bereits Mitte der 1970er Jahre traf Anthony Andrewes wichtige Erkenntnisse zum Quellenwert der Darstellung Diodors und ihrer Glaubwürdigkeit.Leonhard Burckhardt liefert Ansätze einer Interpretation beider Quellen hinsichtlich ihrer Demokratiekritik und wies auf Logik- und Handlungslücken in Xenophons Bericht hin. Besonders die Arbeiten von Frances Skoczylas Pownall und Andreas Mehl stellen eine wichtige Grundlage dieser Arbeit dar. Ihre Identifizierung von Textmotiven, die Hervorhebung der Rolle der Volksversammlung und die Infragestellung der Illegalität des Prozesses bildeten den Ausgangspunkt für die Herausarbeitung textlicher Gegenüberstellungen. In Bezug auf die Rechtsfrage des Prozesses konntenMogens Herman Hansen und Jochen Bleicken wichtige Erkenntnisse zum Eisangelie-Verfahren und zur Prozessbewertung treffen. Rudolf Dietzfelbinger wies sittliche Tendenzen bei Xenophon nach und zeichnete diese anhand der moralisch-religiösen Motive Euryptolemos‘ nach. Unter Einbeziehung dieser und einiger anderer Forschungsbeiträge konnten die aufgeführten Fragen zu Gegenüberstellungen in der Darstellung des Arginusenprozesses diskutiert werden.
2. Gegenüberstellungen in den Quellen zum Arginusenprozess
2.1 Zur Darstellung des Arginusenprozesses bei Xenophon und Diodor
406 v. Chr.hatte eine spartanische Flotte unter dem Oberbefehl des Kallikratidas die athenische Flotte unter dem Befehl des Konon bei Lesbos eingekesselt und zwang die Athener zu einer militärischen Rettungsaktion. Nach der Arginusenschlacht undder Rückkehr nach Athen wurden die acht kommandoführenden Strategen trotz desdeutlichen militärischen Sieges aufgrund der nichterfolgten Bergung der Schiffbrüchigen1 beziehungsweise Toten2 angeklagt und nach einer turbulenten Verhandlung kollektiv zum Tode verurteilt.
Xenophon berichtet in seinem Werk „Hellenika“ von einer Aufteilung der athenischen Flotte nach dem Ende der Schlacht, bei dem ein Teil der Flotte, unter Führung der Trierarchen Theramenes und Thrasybulos, mit 47 Schiffen nach Schiffbrüchigen suchen sollte und sich der größere Teil der Flotte gegen die „in Mytilene ankernden Schiffe wenden sollte“3. Weder die Bergungstruppe unter Befehl der beiden Trierarchen, noch die Rettungsflotte für die eingekesselten Einheiten bei Lesbos hätten aber ihren Auftrag erfüllen können, denn ein heftiger aufkommender Sturm habe jegliche weitere Manöver verhindert und beide Flotten zum Halt gezwungen4. Kurz nach ihrer Rückkehr nach Athen seien die acht Strategen der Rettungsflotte, von denen zwei nicht nach Athen zurückkehrten, angehörtund daraufhin in Gewahrsam genommen worden, weil Theramenes sie bezichtigte, die Bergung der Schiffbrüchigen versäumt zu haben5. Dabei tritt die Gruppe um Theramenes als Ankläger6 auf, welche das Volk auf ihre Seite zu ziehen versucht, während Euryptolemos als Verteidiger7 der Strategengruppe um Perikles, Diomedon, Lysias, Aristokrates, Thrasyllos und Erasinides8 in Erscheinung tritt und das Prozessverfahren in ihrem Interesse zu entscheiden versucht. Immer wieder kommt es während des Verfahrens durch das Vorbringen von Anträgen und Gegenanträgen zu vorläufigen Abstimmungen zugunsten der Strategen, schließlich endet der Prozess jedoch mit einem kollektiven Schuldspruch der Strategen durch die Volksversammlung, ihrer Hinrichtung sowie der Konfiskation ihres Vermögens9.
Xenophons Bericht der Schlacht inklusive der anschließenden Verhandlung dient bei der Deutung der Geschehnisse zumeist als Hauptquelle, insbesondere aufgrund seiner Ausführlichkeit und Xenophons Detailkenntnis als Zeitzeuge des Prozesses. Dennoch erscheint Xenophons Darstellung in mehreren Punkten problematisch: Zum einen schildert Xenophon den fatalen Ausgang des Prozesses vor allem als ein Produkt der massiven Agitation der Gruppe um Theramenes und ihrer Beeinflussung des Volkes. Zum zweiten stellt Xenophon eindeutig die Verteidigung des Euryptolemos in das Zentrum seiner Darstellung, welches allein die enorme Länge der Rede beweist10, lässt den Beteiligten der Anklage allerdings keinen erzählerischen Raum für ihre Argumentationsversuche und Handlungsmotive. Außerdemmuss Xenophons Darstellung vor allem deshalb kritisch interpretiert werden, weil er zwar um eine ausführliche Schilderung bemüht scheint, wichtige Details und Verknüpfungen jedoch scheinbar außen vor lässt. Andrewes weist, wie auch Lang11, in diesem Zusammenhang beispielsweise auf die Handlungslücke12 hin, welche zwischen dem Ende der Schlacht, dem damit verbundenen Versäumnis der Bergung der Schiffbrüchigen und der Rückkehr der Strategen steht. Unklar bleibt in diesem Zusammenhang, ob die Strategen kollektiv nach Athen zurückkehrten (zusammen mit Theramenes und Thrasybulos) oder gesondert beziehungsweise zeitversetzt.
Diodor schildert in seiner Darstellung der Arginusenschlacht innerhalb der „Griechischen Weltgeschichte“einen Konflikt zwischen den Strategen nach Ende der Schlacht, bei dem ein Teil fordert, die Toten an Bord zu bringen und die Leichen zu bergen, während der andere nach Mytilene fahren will, um der dortigen Belagerung ein Ende setzen13. Anders als bei Xenophon geht es hier folglich nicht um die Bergung lebender Schiffbrüchiger, sondern bereits verstorbener Soldaten. Die athenischen Soldaten hätten sich jedoch aufgrund des aufziehenden Sturms und der erlittenen Strapazen geweigertdie Bergung vorzunehmen und der aufkommende Orkan hätte weitere Aktionen verhindert14. Nachdem die Athener von der nichterfolgten Bergung und Bestattung ihrer toten Mitbürger erfuhren, sei es zur Anklage gekommen, die Strategen vermuteten indes, dass Theramenes und Thrasybulos Anklage erhoben hätten, da beide vorzeitig nach Athen zurückkehrten15. Beide konnten sich jedoch vor dem Volk verteidigen und so wandte sich der Volkszorn gegen die Strategen16. Diodor skizziert im weiteren Verlauf nun deutlich kürzer als Xenophon einen Prozess, an dessen Ende ebenfalls die Verurteilung und die Vermögenkonfiskation des Strategenkollektivs stehen17.
Diodors Schlacht- und Prozessdarstellung dient oftmals aufgrund seiner knappen und verkürzten Darstellung lediglich als Ergänzung zu Xenophons Bericht. Dies ist vor allem auf Diodors Konzentration auf die Schlachtgeschehnisse und den zweiten, abschließenden Teil des Arginusenprozesses zurückzuführen. Allerdings wirkt Diodors Darstellung, im Gegensatz zu Xenophons, deutlich konsistenter. So erklärt sich beispielsweise die Flucht der zwei Strategen Protomachos und Aristogenes vor Beginn des Prozesses bei Diodor durch die vorherige Zurückberufung der Strategen durch die Athener18, während die Gründe bei Xenophon zunächst unklar bleiben. Auch die Dynamik von Flucht und Verfolgung19 nach Ende der Schlacht ergibt sich logischer aus dem Kampfals die abrupte Beendigung des Kampfes beziehungsweise der weiteren Verfolgungbei Xenophon20. Außerdem bleibt Diodors Darstellung in Hinblick auf die entstandenen Tumulte während der Verhandlung und dem entstandenen Volkszorn plausibler. Sollte der Tatbestand tatsächlich die unterlassene Bergung toter Soldaten gewesen sein, sah das Volk in der Verhinderung einer angemessenen Beerdigung vermutlich eine empfindliche Störung ihrer Sittengesetze. Dass auch nach Ende des Orkans keine Bergung erfolgte, erklärt so auch den Volkszorn und das Sympathisieren der Volksversammlung mit den Anklägern Theramenes und Thrasybulos. In diesem Sinne erweist sich die Quelle gerade im Vergleich zu Xenophon von großem Wert, weil sie vermeintliche Deutungsansätze hinterfragen lässt und eine glaubwürdige zweite Perspektive auf die Ereignisse bietet.
2.2 Moralische und unmoralische Charaktere im Arginusenprozess
Xenophons Darstellung des Strategenkollektivserfolgt bewusst moralisch stilisierend, um den Unschuldscharakter der Gruppe hervorzuheben. Bereits kurz nach Beginn der Verhandlung legen die Strategen einen Brief vor, den sie zuvor an Rat und Volksversammlung geschickt haben21 und ihre vermeintliche Unschuld an den unterlassenen Bergungsmaßnahmen beweisen soll. Xenophon greift im Grunde das moralische Urteil über die Strategen bereits hier vorweg: Sie sind unschuldig, haben ihre Unschuld bereits vor Beginn der Verhandlung bewiesen und müssen sie nun dennoch erneut beweisen. Die Strategen hingegen wollen „die Sache [nicht] umdrehen und behaupten, sie [Theramenes und Thrasybulos] ihrerseits seien schuld“22, sondern verweisen allein auf die Stärke des Sturmes, die eine Bergung nach Schlachtende verhindert hätte23.An beiden Stellen versucht Xenophon die Rolle der Strategen als positives moralisches Beispiel explizit herauszuarbeiten.Sie weisen alle Beschuldigungen durch den Brief von sich und beantwortenden Vorwurf nicht mit einem Gegenvorwurf an Theramenes und Thrasybulos, sondern erkennen sogar deren Schuld ab. Sie sind nicht nur von ihrer eigenen Unschuld überzeugt, sondern sogar bereit, ihre vermeintlichen Verräter zu schützen und handeln damit als moralische Vorbilder.
Auch Diodors Darstellung des Strategenkollektivs ist durchaus von einer positiven moralischen Überzeichnung geprägt. So ist seine Schilderung des Konfliktes der Befehlshaber nach Ende der Schlacht umso eindringlicher, weil die moralische Dimension des Streits deutlich hervortritt. Die Spannung innerhalb der Gruppe wird durch die Entweder-Oder-Entscheidung zwischen Bergung und Rettung der eingekesselten Flotte pointiert, die Strategen „mußten (…) vielmehr auf den Arginusen landen“24 und waren so durch wetterbedingte Ereignisse zum Abbruch gezwungen.Auch Diodor verweist, ähnlich wie Xenophon, auf die Selbstlosigkeit der Strategen und erwähnt die kurze Rede des Diomedon, eines „frommen und hochherzigen Mannes“25, nach seiner Verurteilung durch die Versammlung. Er habe großes Mitgefühl bei den Anwesenden erzeugt, weil er, statt an sein eigenes Schicksal zu denken, nur hoffte, dass die „Entscheidungen [der Verhandlung] (…) der Stadt zum Heile gereichen“26, ohne mit einem einzigen Wort sein persönliches Schicksal zu erwähnen27. Auch bei Diodor sind die Strategen nicht nur bereit ihr eigenes Schicksal und ihre vermeintliche Schuld anzuerkennen, sondern denken auch kurz vor ihrer eigenen Hinrichtung nur an das Wohl Athens. Dennoch scheint Diodors Bild der Strategen ansatzweise mehrdimensional zu sein, immerhin verweist er auch auf ihre Bestattungspflicht für die gefallenen Soldaten und die deutliche Empörung der Volksversammlung28, die als Kontrollelement der athenischen Gesellschaft streng auf die Einhaltung der Sittengesetze achten musste29.
Euryptolemos ist als positivemoralische Instanzimmer wieder, insbesondere in seiner langen Verteidigungsrede zugunsten der Angeklagten30, im Fokus von Xenophons Darstellung. Euryptolemos drängt im Verlauf der Verhandlung auf gesonderte Verfahren für die Strategen und erinnert Volksversammlung und Rat immer wieder an ihre sittlichen und moralischen Pflichten gegenüber den Angeklagten und der Stadt31. In der Figur des Euryptolemos konvergieren bürgerliches und religiöses Wohlverhalten, denn „korrektes Verhalten gegen die Götter und Menschen sind die beiden Seiten einer Vorgehensweise“32 – moralische Überzeugungen, welche Xenophon vermutlich durch seine Verbindung zum Sokrateskreis gewonnen hat33 und in denen Platon, in seiner „Apologie des Sokrates“, den Kern der Moralvorstellungen Sokrates‘ sieht34. Euryptolemos‘ Rolle als Moralvorbildtritt, ähnlich wie bei Diodors Verweis auf Diomedon, dadurch hervor, dass er, wie die Strategen, stetsdas Wohl der Stadt über das eigene stellt35. Auch seine Verweise auf das unmoralische Verhalten der Ankläger, welche den Rat überredeten, einen vermeintlich gesetzeswidrigen Antrag zu stellen, und der Verrat durch Theramenes und Thrasybulos an den Strategen, erzeugen ein stark positiv überzeichnetes Bild von Euryptolemos‘ eigener Tugendhaftigkeit und Moralität. So wird Euryptolemos bei Xenophon schlussendlich völlig zur moralischen Heilsfigur stilisiert, da seine moralischen Appelle und sittlichen Mahnungen letztendlich ohne Wirkung bleiben36 und die Volksversammlung sich für die Hinrichtung des gesamten Strategenkollektivs entscheidet.
Diodors Darstellung fehlt ein konkreter Verweis auf Euryptolemos und verstärkt dadurch die Vermutung, dass Xenophon die Wichtigkeit der Rede Euryptolemos‘ künstlich stilisiert und zur Darstellung seiner eigenen Sitten- und Moralvorstellungen genutzt hat. So berichtet Diodor lediglich, dass die Volksversammlung die Anklage anhörte und die Verteidigung durch lautes Geschrei nicht zu Wort habe kommen lassen37. Eine Erwähnung Euryptolemos‘ oder seiner Rede erfolgt hingegen nicht. Die vergleichsweise erhebliche Länge und Ausführlichkeit der Rede bei Xenophon steht im Gegensatz zur aufgeheizten Stimmung, die beide Autoren schildern38. Insbesondere in Hinblick auf Diodors fehlenden Verweis auf Euryptolemos rückt die Künstlichkeit und Stilisierung seiner Rede bei Xenophon und die Autorenabsicht einer Gegenüberstellung moralisch tugendhaften und untugendhaften Verhaltens in den Vordergrund.
Die Gruppe um Theramenes wird bei Xenophon im Verlauf des Prozesses als intriganter Kreis charakterisiert, welche die moralischen Werte des Euryptolemos durch ihren Verrat an den Strategen konterkariert. Sie diktieren das probouleuma des Rates durch Beeinflussung des Kallixenos39, eines Mitglied des Rates, und ebnen durch weitere Gegenanträge anderer Akteure den Weg für die Hinrichtung der Strategen. Besonders Theramenes tritt als Hauptdrahtzieher und Verschwörer in den Mittelpunkt der Darstellung Xenophons und steht durch seine mangelnde Tugend und Moral im Gegensatz zu Euryptolemos, der Theramenes und Thrasybulos als Verräter brandmarkt40. Dabei erscheint ihr Vorgehen vor allem wie der Versuch, sich selbst vor einer Verurteilung zu retten und die drohende Anklage durch eine Schuldumkehr abzuwenden. So muss Theramenes zwangsläufig wie ein politischer Intrigant wirken, welcher durch Verrat seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen versucht. Dieses scheinbar unmoralische Vorgehen widerspricht jedoch dem bürgerlichen und religiösen Wohlverhalten des Euryptolemos und erscheint dadurch nicht nur als Verrat an den Strategen, sondern auch an der Stadt Athen und ihren Bewohnern selbst.
Die Verurteilung der Gruppe um Theramenes erfolgt bei Diodor weitaus differenzierter und erklärt die Hinrichtung der Strategen zurFehlentscheidung der Volksversammlung. Zwar berichtet auch Diodor davon, dass die Volksversammlung die „Anklage [anhörte] und jene, die ihr nach dem Munde redeten“41, doch schließt seine Prozessdarstellung lediglich mit dem Verweis, dass sich die Freunde der Anverwandten der Toten und die Anhänger des Theramenes durchsetzten und die Strategen zum Tode verurteilt wurden42. Im Gegensatz zu Xenophons Charakterisierung der Gruppe um Theramenes, insbesondere der beiden Ankläger selbst, fehlt die moralische Verurteilung der angeblichen Verräter Theramenes und Thrasybulos. Diodors moralisches Urteil der beiden Trierarchen ist mehrdimensional: Sie sind sowohl redegewaltige „Männer mit großem Freundeskreis“als auch „Gegner und erbitterte Ankläger“43, Diodor übt jedoch kein moralisches Urteil über die Kläger, sondern weist die moralische Verantwortung der Volksversammlung zu.
Die Darstellung beider Autoren vereint schließlich die Gegenüberstellung moralischer und unmoralischer Charaktere. Xenophon wie auch Diodor überzeichnen das Verhalten der Strategengruppe gezielt und versuchen durch diese Stilisierung ihre Opferrolle herauszuarbeiten. Ebenso wird die Rolle von Einzelpersonen explizit übermoralisiert44, bei Xenophon im Charakter und der Verteidigungsrede des Euryptolemos, bei Diodor durch den Appell des Diomedon kurz vor dessen Hinrichtung. In beiden Fällen sehen sich tugendhafte Charaktere mit der politischen Ohnmacht des Einzelnen gegenüber einer verschwörerischen Gemeinschaft konfrontiert. Diese Gemeinschaft wird bei Xenophon durch Theramenes und Thrasybulos als den Initiatoren der Verurteilung und die Verschwörer in ihrem Umkreis vertreten, Diodor erklärt die Volksversammlungzu den Hauptverantwortlichen der Hinrichtung der Strategen. In beiden Fällen konterkarieren und missachten diese Gemeinschaften die sittlichen Werte und Überzeugungen der moralisch überlegenen Einzelpersonen, belegen die fatalen Folgen gemeinschaftlicher Willensbildung und unterstützen in diesem Sinne die demokratiekritische Deutungstendenz beider Autoren.
2.3Wille und Wankelmut des Volkes im Prozess
In Xenophons Darstellung des Prozesses trägt die Volksversammlung die Verantwortung für die Verurteilung der Strategen und drückt mit der Entscheidung letztendlich ihren kollektiven Willen aus. Volkswille und Volksentscheidung stellen dabei eine scheinbar untrennbare Einheit dar, Einwände zur Verfahrensweise wie durch Euryptolemos werden durch das Volk abgestraft: „Es sei doch unerhört, wenn man das Volk hindern wolle, zu tun, was ihm beliebe“45. Xenophons Charakterisierung der Volksversammlung als aufgebrachter „Pöbel“46 ist auf den ersten Blick stringent: Sie lässt sich zwar hin- und herreißen zwischen Anklage und Verteidigung, fällt schlussendlich aber eine eigenständige Entscheidung, welche den Volkswillen repräsentiert. Die Versammlung stimmt „bei einer zweiten Abstimmung (….) für den Antrag des Rates“47, die kollektive Hinrichtung der Strategen, im Sinne einer souveränen Volksentscheidung.Gerade die verkürzte Endsequenz in Xenophons Darstellung und die abrupte Herbeiführung eines Urteils unterstreichen den Eindruck, das Volk habe schlussendlich seinen eigenen Willen behaupten wollen. Lediglich ein kleiner Teil der Versammlung, insbesondere Euryptolemos und Sokrates48, versucht das drohende Unheil abzuwenden, der Großteil der Volksversammlung scheint gewillt, die kollektive Abstrafung der Strategen mit allen Mitteln durchzusetzen und ist bereit, Gegenstimmen zum Schweigen zu bringen49.
[...]
1 Vgl. Xen. Hell. I, 7, 4.
2 Vgl. Diod.XIII, 101, 1.
3 Xen. Hell. I, 6, 35.
4 Vgl. Xen. Hell. I, 6, 35.
5 Vgl. Xen. Hell. I, 7, 2-4.
6 Vgl. Xen. Hell. I, 7, 4.
7 Vgl. Xen.Hell. I, 7, 16-33.
8 Vgl. Xen. Hell. I, 7, 2.
9 Vgl. Xen. Hell. I, 7, 35.
10 Vgl. Xen. Hell. I, 7, 16-33.
11 Vgl. Lang, Mabel Louise: Theramenes and Arginousai, in: Hermes. Zeitschrift für Klassische Philologie 120 (1992), S.270f.
12 Vgl. Andrewes, Anthony: The Arginousai Trial, in: Phoenix 28/Nr. 1 (1974), S. 112.
13 Vgl. Diod.XIII, 100, 1.
14 Vgl. Diod.XIII, 100, 2.
15 Vgl. Diod. XIII, 101, 1-2.
16 Vgl. Diod. XIII, 101, 3-5.
17 Vgl. Diod. XIII, 101, 6 - XIII, 102, 1.
18 Vgl. Andrewes, S. 117f.
19 Vgl. Diod. XIII, 100, 1.
20 Vgl. Burckhardt, Leonhard: Eine Demokratie wohl, aber kein Rechtsstaat? Der Arginusenprozeß des Jahres 406 v. Chr., in: Burckhardt, Leonhard/von Ungern-Sternberg, Jürgen: Große Prozesse im antiken Athen. München 2000, S. 136.
21 Vgl. Xen. Hell. I, 7, 4-5.
22 Xen. Hell. I, 7, 7.
23 Vgl. Xen. Hell. I, 7, 7.
24 Diod.XIII, 100, 3.
25 Diod.XIII, 102, 3.
26 Diod.XIII, 102, 2.
27 Vgl. Diod.XIII, 102, 3.
28 Vgl. Diod. XIII, 101, 1.
29 Vgl. Stahl, Michael: Gesellschaft und Staat bei den Griechen. Klassische Zeit, Paderborn 2003, S. 106.
30 Vgl. Xen. Hell. I, 7, 16-33.
31 Vgl. Xen. Hell. I, 7, 19 und Xen. Hell. I, 7, 26.
32 Dietzfelbinger, Rudolf: Religiöse Kategorien in Xenophons Geschichtsverständnis, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaften 18 (1992), S. 136.
33 Vgl. Mehl, Andreas: Für eine neue Bewertung eines Justizskandals. Der Arginusenprozeß und seine Überlieferung vor dem Hintergrund von Recht und Weltanschauung im Athen des ausgehenden 5. Jh. v. Chr., in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte - Romanistische Abteilung 99 (1982), S. 41.
34 Vgl. Plat. Apol.36d-e.
35 Vgl. Xen. Hell. I, 7, 22.
36 Vgl. Xen. Hell. I, 7, 34-35.
37 Vgl. Diod. XIII, 101, 6.
38 Vgl. Mehl, S. 40.
39 Vgl. Xen. Hell. I, 7, 9.
40 Vgl. Xen. Hell. I, 7, 31.
41 Diod.XIII, 101, 6.
42 Vgl. Diod.XIII, 101, 7.
43 Diod.XIII, 101, 3.
44 Vgl. Pownall, Frances Skoczylas: Shifting Viewpoints in Xenophon’s Hellenica: The Arginusae Episode, in: Athenaeum. Studi di Letteratura e Storia dell’ Antichità 88 (2000), S. 508.
45 Xen. Hell. I, 7, 13.
46 Xen. Hell. I, 7, 14.
47 Xen. Hell. I, 7, 34-35.
48 Vgl. Sontheimer, Walther: s. v. Arginusai, in: Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike, Band 1 (1964), Sp. 535.
49 Vgl. Giovannini, Adalberto: Xenophon, der Arginusenprozeß und die athenische Demokratie. Mit einem Anhang: Die Zahl der athenischen Hopliten im Jahr 431 v. Chr., in: Chiron 32 (2002), S. 24.
-
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen.