Eine Beschäftigung mit dem Gregorius Hartmanns von Aue und dem Erwählten Thomas Manns, also eine Beschäftigung mit Werken, deren Entstehungszeiträume über 750 Jahre auseinander liegen, ist ohne Zweifel eine große Herausforderung und vermag in ihrer Gesamtheit und Vielschichtigkeit ganze Bücher zu füllen. Zunächst also eine wichtige Einschränkung: Der Schwerpunkt der folgenden Arbeit liegt auf dem Vergleich zweier kurzer Textauszüge, nämlich den Schlussworten der Erzählungen, wobei zur näheren Erläuterung auch vorangehende Passage Berücksichtigung finden werden. Ausgehend von diesen Betrachtungen werden dann, soweit möglich, Schlussfolgerungen für einen Gesamtvergleich gezogen.
Inhaltsverzeichnis
1. Vorbemerkung
2. Vergleich der Textstellen
2.1. Das Direktheitsproblem
2.2. Gebrochene Frömmigkeit
2.3. Was an Werten übrig bleibt
3. Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
1. Vorbemerkung
Eine Beschäftigung mit dem Gregorius Hartmanns von Aue und dem Erwählten Thomas Manns, also eine Beschäftigung mit Werken, deren Entstehungszeiträume über 750 Jahre aus- einander liegen, ist ohne Zweifel eine große Herausforderung und vermag in ihrer Gesamtheit und Vielschichtigkeit ganze Bücher zu füllen. Zunächst also eine wichtige Einschränkung: Der Schwerpunkt der folgenden Arbeit liegt auf dem Vergleich zweier kurzer Textauszüge, nämlich den Schlussworten der Erzählungen, wobei zur näheren Erläuterung auch vorange- hende Passage Berücksichtigung finden werden. Ausgehend von diesen Betrachtungen werden dann, soweit möglich, Schlussfolgerungen für einen Gesamtvergleich gezogen.
Eine Zuwendung zu Literatur, verstanden als „wertende Verständigung über Werte“,1 legt nahe, ins Zentrum dieser Betrachtung das Wertungsgeschehen zu rücken, auf das wir durch die Betrachtung der Schlussworte, wie zu zeigen sein wird, einen besonders direkten Zugriff haben. In diesem Zusammenhang wird die Frage gestellt, wo (bei aller Unterschiedlichkeit in Sprache, Entstehungszeit und Form) sich einerseits Gemeinsamkeiten herausarbeiten lassen und wo uns andererseits unhintergehbarer Wandel entgegenschlägt. Oder anders gefragt: Was ist gegangen und was ist geblieben an Werten über die Jahrhunderte und in welcher Form zeigt sich das in der Literatur derer, die heute Klassiker sind?A
2. Vergleich der Textstellen
Aus Gründen der Übersichtlichkeit habe ich beide Textpassagen in 4 Abschnitte gegliedert (I - IV). Während die Ausschnitte aus Der Erwählte dabei chronologisch angeordnet sind, wurden drei Verse Hartmanns aus ihrer eigentlichen Reihenfolge herausgenommen und an den Beginn gestellt, um die Parallelität der Passagen deutlicher werden zu lassen. Die sich anschließenden Ausführungen leiten sich aus dem Vergleich der sprachlichen Form, des Inhalts und literaturtheoretischen Betrachtungen (Willems) ab. Sprachliche Betrachtungen, die sich aus dem naheliegenden Vergleich der mittel- und neuhochdeutschen Sprachstufe ergeben, werden aufgrund der Beschäftigung in einem literaturwissenschaftlichen Rahmen weitestge- hend außer Acht gelassen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten2
Die Parallelität der Passagen ist erstaunlich und zeigt eindrücklich, wie stark Thomas Mann sich zum Teil an der Vorlage Hartmanns orientiert hat. Der namentlichen Nennung der jeweiligen Erzählerfigur und der Erwähnung der Mühe, welche die Arbeit gemacht hat (I), folgt die Ausführung, wie die Geschichte ausdrücklich nicht zu verstehen sei, nämlich als pau- schale Garantie für die Gnade Gottes (II), worauf die eigentliche Moral folgt (III). Den Abschluss bildet jeweils die Bitte an den Leser3, den Erzähler in die eigenen Gebete einzu- schließen, sowie die Aussicht auf ein Wiedersehen im Paradies bzw. dem himelr î che (IV).4
Der augenfälligste Unterschied, neben den verschiedenen Sprachstufen, liegt im Kontrast der Reimpaarverse Hartmanns mit den Prosazeilen Thomas Manns. Dass moderne Romane nicht mehr in Versen abgefasst werden, mag man bedauerlich finden, ist aber einem wohl unhintergehbaren ästhetischen Wandel geschuldet. Gleich im ersten Kapitel des Erwählten finden wir eine Anspielung darauf, die im direkten Vergleich mit Hartmann den humoristischneckenden Ton des Erzählers deutlich werden lässt:
Ich höre zwar sagen, daß erst Metrum und Reim eine strenge Form abgeben, aber ich möchte wohl wissen, warum das Gehüpf auf drei, vier jambischen Füßen, wobei es obendrein alle Augenblicke zu allerlei daktylischem Gestolper kommt, und ein bißchen spaßige Assonanz der Endwörter die strengere Form darstellen sollten gegen eine wohlgefügte Prosa mit ihren so viel feineren und geheimeren rhythmischen Verpflichtungen […]. (S. 423)
Die humoristische Haltung der Erzählerfigur Clemens wird jedoch dort problematisch, wo es uns um die Essenz, um das Wertungsgeschehen im Roman geht, da es die Interpretation deutlich verkompliziert. Dem werden sich die folgenden Überlegungen widmen.
2.1. Das Direktheitsproblem
Die beiden Passagen lassen sich unter dem Schlagwort Reflexion fassen; wir treten jeweils den Erzählern gegenüber, die sich aus der Geschichte heraus - meta-narrativ - direkt an den Leser wenden. Clemens auf der einen, Hartmann auf der anderen Seite, wobei sofort ins Auge fällt, dass wir es mit einem unterschiedlichen Grad der Direktheit zu tun haben: im Falle Hart- manns scheint es der Verfasser selbst zu sein, der spricht.5 Rückblickend entwirft Hartmann eine Art Moral von der Geschicht, wobei der Gestus des bescheidenen Dichters deutlich wird, als er auch für sein eigenes Schicksal bittet (IV) und den Leser mit einem jovialen wir in seine Ausführungen einschließt. Man weiß also unmittelbar, wie man die Legende nach dem Ver- ständnis des Erzählers zu deuten hat. Diese Eindeutigkeit ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass wir es mit der Darstellung einer Gestalt des Mythos zu tun haben, die als Tugendexempel dient.6 An der Aufrichtigkeit und Vorbildlichkeit des Helden besteht zu keinem Zeitpunkt ein Zweifel, vor allem weil der Erzähler sich so eindeutig zu seinem Helden positioniert und ihn gleich zu Anfang als den guten Sünder bezeichnet (vgl. Prolog, V. 176). Wolfgang Dittmann formuliert: „Gregorius ist auf jeder Stufe vorbildlich und Hartmann gibt jeder seiner Daseinsform ihr relatives Recht.“7
Bei Thomas Mann gestaltet sich die Sache, milde gesagt, etwas schwieriger: Zwar gleicht sich das Gesagte in den vorliegenden Abschnitten nahezu vollständig, doch ist eine ähnliche Verhandlung durch den Leser beinahe ausgeschlossen. Es spricht Clemens der Ire, eine fiktive Erzählinstanz, der seinerseits wiederum angibt, einen „Geist der Erzählung“8 zu verkörpern.
[...]
1 Willems, Gottfried: [Art.] Literatur. In: Fischer Lexikon Literatur. Hg. v. Ulfert Ricklefs. Frankfurt a.M.: Fischer 2002. S. 1006-1029.
A Anmerkung: Ich möchte die Aktualität der im Gregorius und Erwählten verhandelten Problematik nicht auf Biegen und Brechen beschwören, im Angesicht der Schlagzeilen dieser Tage kann ein Verweis jedoch nicht ausbleiben. Zeit-Online titelt am 2. März 2011: „Hoffen auf ein Guttenberg-Comeback. Vertreter von CDU und CSU hoffen auf baldige Rückkehr Guttenbergs. Dem "Bußgang" könne ein neues "Hochamt" folgen, heißt es.“ (Quelle: <http://www.zeit.de/politik/deutschland/2011-03/guttenberg-comeback-ruecktritt>; Zugriff am 2. März 2011, 14.13. Hervorhebung durch mich, F.H.) Zugegeben: Die Erwählung zum Papst im Falle des ehemaligen Bundesverteidigungsministers muss als unwahrscheinlich gewertet werden.
2 Zitiert werden folgende Ausgaben: Hartmann von Aue. Gregorius. Hrsg. von Herrmann Paul. 15., durchgese- hene und erweiterte Auflage. Tübingen: Niemeyer 2004, sowie Thomas Mann. Romane und Erzählungen. Bd. 8. Berlin [u.a.]: Aufbau-Verl. 1975. Hier: S. 673.
3 Im Falle Hartmanns wäre es womöglich sinnvoll, von einem Leser oder Hörer zu sprechen, da ausdrücklich jene, die ez h œ ren oder lesen, angesprochen werden. Aus pragmatischen Gründen soll darauf verzichtet werden.
4 Mit dem Blick auf die schon angesprochene politische Affäre um den ehemaligen Bundesverteidigungsmi - nister muss man Thomas Manns Äußerungen zu seiner Arbeit mit Montagen dieser Art, denen er gegenüber Theodor W. Adorno einen „unverfrorenen Diebstahl-Charakter“ zugestanden hat, wiederum mit großem Schmunzeln zur Kenntnis nehmen (Thomas Mann. Briefe. Hrsg. von Erika Mann. Berlin [u.a.]: Aufbau-Verl. 1968. S. 502).
5 Ich will den Erzähler Hartmann nicht mit dem realen Autor Hartmann von Aue gleichsetzen, allein um der Stilisierung, die vom Autor vorgenommen wird, Rechnung zu tragen. Ich kennzeichne diese Unterscheidung durch die Schreibweise: Hartmann meint den Erzähler, Hartmann den Autor. Das Konzept des impliziten Autors (nach Tom Kindt und Hans-Harald Müller, The Implied Author, De Gruyter 2006) soll dabei unberücksichtigt bleiben. Natürlich entsprechen alle Aussagen über Hartmann, die aufgrund von Werkinterpretation vorgenommen werden, immer nur einem bestimmten Bild von ihm. Diese Selbstverständlichkeit braucht in meinen Augen keinen eigenständigen Terminus.
6 Vgl. Willems, G.: Literatur. S. 1019: „Charakteristisch für die Art und Weise, wie die ältere Literatur Werte als Normen verhandelt, ist die Darstellung von Gestalten des Mythos oder der Historie als Tugend- oder Lasterexempel.“ Der guote sünd æ re Gregorius ist natürlich insofern ein Sonderfall, als dass er trotz seiner herausragenden Tugendhaftigkeit in Sünde fällt. Allerdings nicht absichtlich, weshalb die Funktion als Tugendexempel sicherlich im Vordergrund steht.
7 Dittmann, Wolfgang: Hartmanns Gregorius. Untersuchungen zur Überlieferung, zum Aufbau und Gehalt. Berlin: Schmidt 1966. S. 239.
Häufig gestellte Fragen
Worum geht es in diesem Text über Hartmanns "Gregorius" und Thomas Manns "Der Erwählte"?
Der Text ist eine vergleichende Analyse zweier Textstellen aus Hartmanns "Gregorius" und Thomas Manns "Der Erwählte", insbesondere der Schlussworte der Erzählungen. Der Fokus liegt auf dem Vergleich des Wertungsgeschehens und der Frage, welche Werte sich über die Jahrhunderte verändert haben und welche geblieben sind.
Welche Textstellen werden konkret verglichen?
Verglichen werden die Schlussworte der Erzählungen, wobei auch vorangehende Passagen zur Erläuterung berücksichtigt werden. Die Textpassagen werden in vier Abschnitte (I-IV) gegliedert, um die Parallelität zwischen den Werken zu verdeutlichen.
Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden zwischen den Texten festgestellt?
Der Text stellt fest, dass Thomas Mann sich stark an Hartmanns Vorlage orientiert hat. Gemeinsamkeiten finden sich in der namentlichen Nennung der Erzählerfigur, der Erwähnung der Mühe der Arbeit, der Klarstellung, wie die Geschichte nicht zu verstehen ist, der Moral der Geschichte und der Bitte an den Leser, den Erzähler in die Gebete einzuschließen. Der auffälligste Unterschied liegt im Kontrast der Reimpaarverse Hartmanns mit den Prosazeilen Thomas Manns.
Was ist das "Direktheitsproblem" im Kontext des Vergleichs?
Das "Direktheitsproblem" bezieht sich auf den unterschiedlichen Grad der Direktheit, mit dem die Erzähler (Hartmann und Clemens) sich an den Leser wenden. Während Hartmann direkt zu sprechen scheint, ist Clemens eine fiktive Erzählinstanz, was die Interpretation erschwert.
Wie wird die humoristische Haltung der Erzählerfigur Clemens bewertet?
Die humoristische Haltung von Clemens wird als problematisch angesehen, da sie die Interpretation des Wertungsgeschehens im Roman verkompliziert.
Welche Rolle spielt das Wertungsgeschehen in der Analyse?
Das Wertungsgeschehen steht im Zentrum der Betrachtung. Der Text untersucht, wie die Schlussworte einen direkten Zugriff auf das Wertungsgeschehen ermöglichen und welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Hinblick auf die vermittelten Werte festgestellt werden können.
Gibt es einen Bezug zur aktuellen Politik in dem Text?
Ja, es gibt eine Anmerkung, die einen Bezug zur politischen Affäre um den ehemaligen Bundesverteidigungsminister Guttenberg herstellt, um die Aktualität der im "Gregorius" und "Erwählten" verhandelten Problematik anzudeuten.
- Quote paper
- Friedrich Herrmann (Author), 2010, Was geht und was bleibt?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/176960