Sprachentwicklung im Kindesalter ist so komplex wie faszinierend. In den letzten Jahrzehnten wurden diesbezüglich viele Untersuchungen durchgeführt und in verschiedenen Ansätzen erklärt. Forscher sind sich jedoch heute darüber einig, dass nicht nur eine Komponente berücksichtigt werden darf. Der Sprachprozess ist ein Zusammenspiel vieler unterschiedlicher Faktoren. Eine verzögerte oder gestörte Sprache hat bereits in frühen Jahren Einfluss auf die Bildungsmöglichkeiten des Kindes, auf die Persönlichkeit des Kindes, aber auch auf sein soziales Umfeld. Es gibt Hinweise darauf, dass sich Sprachstörungen bei Kindern mit Migrationshintergrund mit höherer Wahrscheinlichkeit ausbilden als bei Kindern mit nur einer Sprache.
Die vorliegende Arbeit hat sich das Ziel gesetzt, die Sprachentwicklung bei Kindern zu beschreiben und darauf basierend Schlüsse auf den Zweitspracherwerb zu ziehen. Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt doch bei Kindern mit Migrationshintergrund, deren Spracherwerb gestört ist. Die Arbeit soll dazu anregen, sich mit den Themen Sprachentwicklung, Sprachstörung und Sprachförderung ausführlicher zu beschäftigen.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 Wie Kinder sprechen lernen
1.1 Der Prozess des Spracherwerbs nach Erkenntnis der Entwicklungspsychologie
1.2 Einfluss der elterlichen Sprache auf den kindlichen Spracherwerb
1.3 Wie man denkt, so spricht man
1.4 Die Bedeutung der Sprache für Kinder
1.5 Spracherwerb und Kindergarten
2 Sprachstörungen bei Kindern
2.1 Ursachen für Sprachstörungen im Kindesalter
2.2 Hilfen bei Sprachstörungen im Kindesalter
3 Sprachstanderhebung vor Schuleintritt
4 Zweisprachigkeit bei Kindern im Vorschulalter
4.1 Statistischer Überblick der Migration in Deutschland
4.2 Zweisprachigkeit aufgrund von Migration
5 Die Bedeutung der Muttersprache für das Kind und den Prozess des Zweitspracherwerbs
5.1 Kognitive Aspekte der Muttersprache
5.2 Emotionale Aspekte der Muttersprache
5.3 Persönliche Aspekte der Muttersprache
6 Beeinträchtigungen und Auswirkungen von Zweisprachigkeit
6.1 Kognitive Auswirkungen
6.2 Sprachliche Auswirkungen
6.2.1 Sprechverweigerung
6.2.2 Sprachmischungen
6.3 Soziale Auswirkungen
6.3.1 Gesellschaft
6.3.2 Familie
7 Sprachförderung bei Kindern mit Migrationshintergrund
7.1 Politische und gesellschaftliche Ansätze zur Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund
7.2 Pädagogische Verfahren zur Spracherfassung bei Kindern mit Migrationshintergrund (vorwiegend im Kindergarten)
7.2.1 Cito-Sprachtest
7.2.2 SFD
7.2.3 SISMIK
7.3 Projekte zur pädagogischen Unterstützung und Förderung bei Kindern mit Migrationshintergrund
7.3.1 Eckpunkte für die Umsetzung in Kindergärten
7.3.2 Projekt KIKUS
7.3.3 Sprache macht stark!
8 Handlungsmöglichkeiten und Grenzen Sozialer Arbeit
9 Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang I -
Einleitung
Mit dem Thema Sprachförderung bei Kindern mit Migrationshintergrund bin ich zum ersten Mal im vierten Semester, während des Projektes Spielen Zuhause, konfrontiert worden. In Unterhaltungen mit meiner Projektfamilie bin ich auf die Problematik der Migration gestoßen. Im Rahmen des Projektes habe ich mich dann auch mit Sprachfördermethoden allgemein und im Kontext Migration beschäftigt. Der Umfang und die Komplexität des Themas haben mich dazu inspiriert, Näheres in Erfahrung zu bringen. Um fachlich und verständlich Zweisprachigkeit bei Kindern darstellen zu können, musste ich mich zuvor mit den Voraussetzungen des Spracherwerbs auseinandersetzen. Des Weiteren fielen mir Zusammenhänge zur Politik, Kindereinrichtungen, Bildung und anderen Professionen auf.
Bildung und Erziehung sind zwei sehr häufig diskutierte Themen und lassen sich nicht voneinander trennen. Bei der Sozialisation, dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Familie, Kindergarten oder Peergroup handelt, wird der Grundstein für das Leben gelegt. In der Schule erfahren Kinder zum ersten Mal Selbstständigkeit und müssen sich anderen gegenüber beweisen. Nur mit den mitgegebenen Voraussetzungen aus der frühen Kindheit lassen sich die schulischen Anforderungen bewältigen. Erziehung sollte somit ein bildungspolitisches Ziel verfolgen. Sprache steht in Verbindung mit Erziehung, schon allein deswegen, weil Säuglinge ihre ersten Interaktionen mit den Eltern führen und von ihnen lernen. Damit sind Sprachstörungen genauso Teil der Erziehung wie die Sprache selbst. Im Erziehungsprozess können auch Eltern, die gemäß ihrer Möglichkeiten gut erziehen, unerfahren und kritisch oder unwissend sein, was das (frühe) Erkennen anormaler Sprachentwicklung anbelangt. Ebenso können bildungsferne Eltern mit schweren Agrammatismus liebevoll und zielstrebig erziehen, obwohl sie aufgrund ihrer Behinderung eine Sprachstörung, bedingt durch fehlende Sprachmodelle, bei ihrem Kind nicht erkennen können.
In der heutigen Gesellschaft lassen sich, trotz regelmäßiger ärztlicher Untersuchungen, immer mehr Sprachauffälligkeiten und -störungen bei Kindern feststellen. Dabei ist es förderlich, wenn sie in frühen Jahren erkannt werden. Die folgende Arbeit befasst sich deshalb zum Einstieg mit der entwicklungspsychologischen Sicht des Spracherwerbs im Vorschulalter. Die Frage Wie lernen Kinder sprechen? beschäftigt aber nicht nur Psychologen, sondern auch Linguisten, Soziologen und Pädagogen. Entscheidend bei der Beantwortung der Frage, wie Kinder sprechen lernen, ist jedoch aus welcher Sicht die Problematik des Sprechens gesehen wird. Aufgrund dessen herrscht teils Uneinigkeit darüber, welche Bereiche wichtiger und relevanter für die Sprachentwicklung sind. Darauf kann die folgende Arbeit zwar keine Antworten liefern, jedoch wird zu einigen Ansätzen Stellung genommen. Im ersten Teil werden verschiedene Sichtweisen geschildert und Standpunkte begründet. Die Wichtigkeit einer intakten Sprache wird in den Abschnitten 1.3 bis 1.6 beschrieben. Dabei wird genauer auf die Sprachentwicklung mit Unterstützung pädagogischer Fachkräfte eingegangen. Kindern werden z. B. im Kindergarten Möglichkeiten geboten, ihre Sprache auszuprobieren. Andere Kinder fungieren dabei als Vorbild. Erzieher haben die nötigen Kompetenzen, eine Sprachauffälligkeit festzustellen und können frühzeitig intervenieren.
Frühzeitig erkannte Störungen der Sprache, die auf kognitiver, sensomotorischer oder auch sozialer Ebene auftreten, kann rechtzeitig entgegengewirkt werden. Die Ursachen für unterschiedliche Varianten und Ausprägungen einer Sprachstörung sind vielfältig. Damit Fördermaßnahmen erfolgreich sein können, muss die Ursache ermittelt werden. Im Kapitel 2 werden zum besseren Verständnis Erläuterungen zu den verschiedenen Begriffen einer Sprachstörung geboten. Weiterhin wird auf Einflussfaktoren, Ursachen, Auswirkungen und Fördermaßnahmen eingegangen. Mit Hilfe von Sprachstandserhebungen vor dem Schuleintritt können eventuelle Förderbedarfe festgestellt werden. Der im Kindesalter gelegte Grundstein bleibt auch im Erwachsenenalter bestehen. Werden Fördermaßnahmen versäumt, beginnt das Fundament zu bröckeln und zieht sich wie ein langer Faden durch das ganze Leben. Fördermaßnahmen sollten so früh wie möglich einsetzen, damit Chancengleichheit für das Kind gewährleistet werden kann.
Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt bei Kindern mit Migrationshintergrund. Auch wenn nicht davon ausgegangen werden darf, dass mit Mehrsprachigkeit immer eine Sprachstörung einhergeht, sind Migrantenkinder doch in besonderem Maße gefährdet. Im Kapitel 3 werden verschiedene Aspekte angesprochen, die bei zweisprachig aufwachsenden Kindern berücksichtigt werden müssen. Einer der Gründe für Sprachstörungen bei Kindern mit Migrationshintergrund ist der Erwerb der Erstsprache. Gerade dann, wenn versucht wird, die Muttersprache zu ignorieren, kann sich eine Störung einstellen. Im Kapitel 5 wird daher genauer auf die Bedeutung der Muttersprache und die Auswirkung bei dessen Nichtbeachtung eingegangen. Erst wenn man die Wichtigkeit der Muttersprache erkannt hat, lassen sich Auswirkungen der Zweisprachigkeit und deren Begründung nachvollziehen.
Die Anzahl der Familien und Kinder mit Migrationshintergrund nimmt stetig zu. Wenn man sich Großstädte wie Berlin genauer betrachtet, bemerkt man, dass immer weniger betroffene Kinder Deutsch sprechen können. Daher muss gerade bei Kindern mit Migrationshintergrund der Sprachstand noch vor der Schule erfasst und der eventuelle Förderbedarf ermittelt werden. Da Migration in Zusammenhang mit Bildung mittlerweile zu einem Thema der Gesellschaft geworden ist, beschäftigt sich verstärkt auch die Politik mit der Problematik. Durch initiierte Maßnahmen und Projekte wird aus bildungspolitischer Sicht versucht, dem Bildungsdefizit von Migrantenkindern entgegenzuwirken und ihnen Chancengleichheit zu ermöglichen (vgl. Kapitel 7).
Die vorliegende Arbeit setzt sich nicht mit der Sprachentwicklung im Schulalter auseinander, da im Vorschulalter die Grundsteine für die Schule gelegt werden. Dafür wird genauer darauf eingegangen, mit welchen Maßnahmen die Sprachentwicklung im Erst- und Zweitspracherwerb gefördert werden und welche Aufgaben dabei der Sozialen Arbeit zukommen können. Insbesondere wird auf Handlungsmöglichkeiten, aber auch Grenzen der Sozialen Arbeit hingewiesen.
1 Wie Kinder sprechen lernen
Mehrsprachigkeit ist in der heutigen Gesellschaft ein viel besprochenes und aktuelles Thema. Viele Fachleute wie Soziologen, Pädagogen, Linguisten und Psychologen haben sich mit diesem Thema beschäftigt und darüber geschrieben. Um dieses Thema verständlich darstellen zu können, ist es hilfreich, sich zunächst mit der Sprachentwicklung bei Kindern zu beschäftigen. Dieses Thema allein ist schon vielschichtig und von den verschiedensten Fachleuten literarisch verfasst worden.
Die ersten und grundlegenden Vertreter, die diese Thematik untersucht haben, sind Bruner, Chomsky, Piaget, Vygotskij und Skinner. Aufgrund der Tatsache, dass jeder Einzelne die Sprachentwicklung aus einer anderen Sicht betrachtet hat, kommen alle auf unterschiedliche Erklärungsansätze. Beispielsweise war Skinner ein Verfechter des Behaviorismus, bei dem davon ausgegangen wird, dass der Spracherwerb einzig und allein gelernt und imitiert wird. Das Kind bringt keinerlei Fähigkeiten mit, Sprache zu entwickeln. Bruner hingegen vertritt den Interaktionismus. Dabei wird behauptet, dass Spracherwerb auf zwischenmenschliche Interaktionen, zwischen Mutter und Kind, basiert. Der Nativismus wird von Chomsky vertreten und besagt, dass ein Vorwissen das Kind dazu befähigt, Sprache zu lernen. Piaget, der meiner Auffassung nach die Entwicklungsstufen des Kindes prädestiniert hat, bekennt sich zum Kognitivismus. Die aufeinander aufbauenden Stadien, bei denen sich auch die Intelligenz immer weiter entwickelt, sind eng mit dem Spracherwerb verbunden. Demnach ist der Mensch, ohne die Fähigkeit zu denken, nicht in der Lage zu sprechen. Die eben genannten Ansätze werden von Zimmer (2008, S. 85 ff.) in seinem Buch „So kommt der Mensch zur Sprache“ ausführlicher erläutert. Darauf basierend kommt Zimmer (2008, S. 96) zu der Erkenntnis, dass keine eindeutige Definition, die die Sprachentwicklung beschreibt, erfassbar ist. Es ist vielmehr eine Mischung aus allem.
Für Forscher ist das Zusammenspiel der suprasegmentalen (z. B. Tonhöhe, Länge der Sprachlaute, Lautstärke), linguistischen und pragmatischen Komponenten der Ursprung der Sprache (Grimm 1999, S. 15). In Anhang I werden die benötigten Kompetenzen, dargestellt. Genauere Ausführungen zum Anhang I werden im Rahmen dieser Arbeit nicht gegeben, sind aber im Buch „Störungen der Sprachentwicklung“ von Hannelore Grimm (1999, S. 14 ff.) nachzulesen.
Während wir, die Erwachsenen, Sprachen lernen müssen, nehmen Kinder dies spielerisch auf. Chilla et al. (2010, S. 34) beschreiben dies als eine unbewusste Aufnahme der Wörter, deren Aussprache und den dahinterstehenden Sinn. Dieses Phänomen des Lernens oder Aneignens können Eltern jeden Tag bei ihren Kindern feststellen. Im Gegensatz zu früheren Annahmen gehen Forscher heute davon aus, dass sich Sprachentwicklung anders verhält als Sprache lernen (Zimmer 2008, S. 27).
Wendlandt (2000, S. 10 ff.) beschreibt Sprache als die Fähigkeit der Artikulation, den Aufbau des Wortschatzes und der Grammatik. Er hat dies sehr anschaulich in einem Sprachbaum dargestellt (siehe Anhang II). Dabei werden einzelne einflussreiche Faktoren in den jeweiligen Bereichen der Sprachentwicklung aufgeführt.
1.1 Der Prozess des Spracherwerbs nach Erkenntnis der Entwicklungspsychologie
Der Prozess der Sprachentwicklung beginnt nach Grimm (1999), genau wie nach Bruner (1985), bereits im Mutterleib. Der kompetente Säugling wird demnach mit der Fähigkeit, Sprache zu erlernen, geboren. Grimm nennt diese „Vorausläuferfähigkeiten“ (Grimm 1999, S. 20). Darunter versteht sie „(…) sprachrelevante Operationen von viel generelleren Fähigkeiten der Wahrnehmung und der Kognition (…)“ (ebd.), die sich schon beim Fötus entwickeln und als Voraussetzung u. a. für die Sprachentwicklung entscheidend sind. Weiterhin betont sie, dass in den ersten Wochen des Neugeborenen der Prozess in Richtung Sprachentwicklung weitergeführt wird. In diesem frühen Stadium ist der Säugling in der Lage zu interagieren und sich mitzuteilen. Er schreit auf eine andere Weise, wenn er hungrig ist, als wenn er eine volle Windel hat und sich unwohl fühlt. Bei Gesprächen von Erwachsenen reagieren Säuglinge sensibel auf deren Gesichter und Stimmen und bringen sich in Form von Lallen in ein Gespräch mit ein. Sie verfolgen mittels Blickkontakt das Gesprochene der jeweiligen Person. Wer glaubt, dass es keinen Sinn macht, sich mit Neugeborenen zu unterhalten, unterliegt demnach einem Irrtum. Babys sind sogar auf Kommunikation ihrer Umwelt angewiesen und beginnen, anfangs Mimik und später Stimmlaute nachzuahmen (Grimm 1999, S. 20). Wie sonst sollen Babys Stimmlaute und -melodien erlernen, wenn nicht durch Vorbilder? Voraussetzungen für einen normalen Verlauf der Sprachentwicklung bei einem funktional gesunden Kind sind dementsprechend Aufmerksamkeit, Akzeptanz und Zuwendungen der Bezugspersonen, immer in Begleitung von Kommunikation (Wendlandt 2000, S. 10 f.).
In der psychologischen Sprachentwicklung des Kindes kommt es nach Grimm (1999) zu komplexen Abläufen, welche in Sprachproduktion und Sprachverständnis unterschieden werden. Die Sprachproduktion umfasst alle Laut-, Wort- sowie Satzbildungen und beginnt mit lallen im ersten Monat. Im Alter von vier bis sechs Jahren entwickelt sich dies zu grammatikalisch richtigen Sätzen weiter. Eine Übersicht über die Entwicklung der Sprachproduktion bis zum 28. Lebensmonat wird in Anhang III dargestellt (vgl. Grimm 1999, für eine ausführlichere Darstellung).
In kleinen Schritten lernt das Kind, Anderen seine Gefühlslagen mitzuteilen und Geschichten zu erzählen. Das lernt es wiederum nur durch das Sprachverständnis, welches erkennbar wird durch die Reaktion auf Geräusche bereits im ersten Monat und Befolgen von Aufforderungen mit ca. einem Jahr (Resch et al. 1999, S. 120).
In der Forschung zur frühkindlichen Entwicklung wurde bewiesen, dass die Muttersprache als Modell und methodisches Mittel für den Spracherwerb und die Kommunikation dient (Snow & Ferguson 1977, zit. n. Papousek & Papousek 2003, S. 928 f.; Wendland 2000, S. 10 ff.). Die Sprachentwicklung ist demzufolge kein in sich geschlossener Prozess, sondern abhängig von der kognitiven und motorischen Entwicklung. Erforscht wurde dies u. a. von Piaget, der die Phasen der Sprachentwicklung in Form von Schemata beschrieben hat. Seiner Auffassung nach bauen die vom Kind zu durchlaufenden Stadien aufeinander auf. Das Zusammenwirken verschiedener Verhaltensweisen in Piaget sechster sensomotorischer Phase des Kindes (siehe Anhang IV) führen zu einer Repräsentation, die bewirkt, dass sich das „Denken von der Handlung“ ablöst (Piaget & Inhelder 1966, zit. n. Zollingen 1994, S. 26). „Nach Piaget vollzieht sich die Sprachentwicklung im Rahmen dieses Prozesses und ist folglich als Teil der kognitiven Entwicklung zu betrachten“ (Piaget & Inhelder 1966, zit. n. Zollinger 1994, S. 26). Bestätigende Untersuchungen führten, fast ein Jahrzehnt später, Bates, Camaioni & Volterra (1975, zit. n. Zollinger 1994, S. 27) durch und kamen zur Erkenntnis, dass „eine Analyse der kognitiven Voraussetzungen (…) ergab, dass das fünfte sensomotorische Stadium, d. h. die Fähigkeit, neue Mittel für bekannte Ziele erfinden zu können, für das Erreichen illokutiver [sprachlichkommunikative] Handlungen verantwortlich war. Der Gebrauch von Wörtern im Rahmen performativer [sprachlichkonstruktive] Handlungen schien hingegen mit den typischen Verhaltensweisen des sechsten sensomotorischen Stadiums in Beziehung zu stehen.“
In späteren Arbeiten wurde diese Hypothese von Bates et al. (1977) geändert bzw. ergänzt, indem sie einen Zusammenhang von kognitiver, sozialer und sprachlicher Entwicklung beschrieben (Zollinger 1994, S. 28). Bekannt ist jedoch, dem stimmen Thomas & Feldmann (1992) sowie Zollinger (1994) in ihren Werken zu, dass zum Zeitpunkt, an dem die Sprache bei einem Kind noch nicht entwickelt ist, sich das Kind mit motorischen Verhaltensweisen (Handlungen) äußert. Die parallel laufende Entwicklung von Fähigkeiten im kognitiven und motorischen sowie Entwicklungen im neurobiologischen Bereich sind für den Spracherwerb von großer Bedeutung. Darauf basierend findet eine Umweltanpassung (Adaption) der Sinneswahrnehmung und Körperbewegung durch koordiniertes Handeln bei dem Säugling statt (Thomas & Feldmann 1992, S. 127 f.; Zollinger 1994, S. 25 f.). Piaget beschreibt diese Zeitspanne auch mit dem „Anfang der praktischen Intelligenz, welche besagt, daß die bestehenden Schemata oder andere Mittel zu voraussehbaren Zwecken oder Ergebnissen eingesetzt werden“ (Piaget & Inhelder 1973, zit. n. Thomas & Feldmann 1992, S. 129). Dabei wird das motorische Verhalten mehr und mehr verbal begleitet. Resch et al. (1999, S. 120) sehen nach Bruner (1973) die „(…) Sprache (…) als Erweiterung kooperativen Handelns (…).“ Piagets Studien zur Entwicklungspsychologie sowie sein strukturgenetischer Ansatz, bei dem er die kognitiven und die sprachlichen Fähigkeiten auf Interaktionen des Kindes mit seiner Umwelt zurückführt (Thomas & Feldmann 1992, S. 126), liegen mittlerweile einige Jahrzehnte zurück, sind aber im Detail nach wie vor aktuell und bieten eine Grundlage für neuere Forschungen. Dabei wird unter anderem auf die Individualität des Säuglings geachtet, was meiner Meinung nach bei Piaget vernachlässigt wurde.
1.2 Einfluss der elterlichen Sprache auf den kindlichen Spracherwerb
Die Sozialisation in der Familie spielt heutzutage bei der frühkindlichen Säuglingsforschung vermehrt eine Rolle. Somit ist „der erfolgreiche Ablauf seiner Erfahrungsintegration von kritischen Voraussetzungen abhängig: Optimal sind z. B. ein Zustand aktiver Aufmerksamkeit, einfache und kontrastreiche Stimuli als kontingente Antworten auf kindliches Verhalten und häufige Wiederholungen in langsamem Tempo mit einfachen Variationen“ (Papousek & Papousek 2003, S. 931).
Wie zu Beginn des Kapitels bereits erwähnt, entstehen die ersten zwischenmenschlichen Interaktionen vorrangig mit den Eltern (ebd., S. 932). Grimm (1999) hat dazu eine Tabelle aufgestellt, die den zeitlichen Verlauf widerspiegelt, indem die Eltern einen bestimmten Sprechstil verwenden (siehe Anhang V). Eltern, deren Kommunikationsfähigkeit (oder -bereitschaft) eingeschränkt ist, wirken trotzdem interaktiv durch Körpersprache, Nähe, etc. auf ihr Kind ein. Auch wenn es eine durchschnittliche Verzögerung des Spracherwerbs aufweisen kann, holt es diese in späteren Phasen wieder auf (Szagun 2006, S. 206 f.; Grimm 1999, S. 124 f.). Das
Kommunikationsverhalten der Eltern, welches auf das Kind wirkt, steht in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Denkfähigkeit, Sprache, Kultur sowie zum Alter, Geschlecht und Reifungsprozess. Vermutet wird daher, dass die psychobiologische Prädisposition, d. h. Eigenschaften, die von den Eltern wie auch von den Kindern mitgebracht werden, Einfluss auf den Spracherwerb und auf das Kommunikationsverhalten haben (Papousek & Papousek 2003, S. 933; Grimm 1999, S. 124 f.). Hoff-Ginsberg (1993, zit. n. Weinert & Grimm 2008, S. 505) hat die Problematik des Spracherwerbs vereinfacht folgendermaßen ausgedrückt:
„Das Kind wird in eine sprechende Umwelt hineingeboren. Aus dem Strom der gehörten Sprache muss es Wörter isolieren und mit Bedeutungen verknüpfen, es muss erkennen, in welcher Weise (…) Sätze (…) verbunden sind (…). Es muss die Struktur von Texten lernen und über die Situationsabhängigkeit des Sprachgebrauchs erfahren.“
Hoff-Ginsberg (1993, S. 520 f.) erklärt den Weg von der Kommunikation zur Sprache in drei Phasen. Die ersten Phase beinhaltet Interaktion vorwiegend in Form von Blickkontakt und Gestik (achten bis zehnten Lebensmonat). In der zweiten Phase kombiniert das Kind Sprache und Gestik (ab ca. 16. Lebensmonat) und in der letzten Phase verwendet es aussagekräftige Sätze, die zwar grammatikalisch noch nicht einwandfrei sind, aber der Verständigung dienen (ab ca. dem zweiten Lebensjahr).
Demnach kommt Hoff-Ginsberg (1993) zu dem Schluss, dass Kinder fähig sind zu sprechen (samt Grammatik- und Ausdrucksregeln), weil sie auch ohne Sprache kommunizieren können. Der Weg zur Sprache ist somit die Kommunikation, welche auch schon Neugeborene in Form von Gestik und Blickkontakt anwenden. Dies ist die Voraussetzung für darauffolgende Phasen, welche ab ca. sechs Jahren beginnen. In diesen wird weiterhin gelernt und bereits vorhandenes Sprachkönnen verfeinert (ebd., S. 520 f.). In dieser Arbeit wird nicht weiter auf Phasenmodelle der Entwicklung eingegangen, kann aber bei Oerter & Montada (2008) im Kapitel von Weinert & Grimm ausführlicher recherchiert werden.
1.3 Wie man denkt, so spricht man
Für eine ungestörte Sprachentwicklung ist es wichtig, dass alle Entwicklungsprozesse im kognitiven, motorischen und neurobiologischen, aber auch im soziologischen Kontext zusammenwirken und sich gegenseitig begünstigen. In Anhang VI sind diese Bereiche in ihrer Abhängigkeit zueinander und als Einflussfaktoren auf die Sprachentwicklung dargestellt.
Jeder einzelne Bereich trägt in seiner Funktion zur Entwicklung der Sprache bei. Schon eine Störung in diesem Ablauf kann zur Problematik der Sprache führen. Beispielsweise ist ohne Hören keine Nachahmung des Gesprochenen möglich. Piaget, Bühler und weitere Psychologen, die sich mit der Sprache beschäftigt haben, kommen zu der Erkenntnis, dass die kognitiven Fähigkeiten bei der Sprachentwicklung eine entscheidende Rolle spielen, sogar ausschlaggebend dafür sind.
Im vorangegangenen Kapitel wurden bereits der Einfluss und die Notwendigkeit der Umweltreize auf die Sprachentwicklung dargestellt.
Daraus schlussfolgernd müsste es zu Schwierigkeiten beim Spracherwerb kommen, wenn die Wahrnehmung des Kindes nicht altersangemessen bzw. gestört ist.
Kinder können auf unterschiedliche Weise ihre Umwelt wahrnehmen. Richter (2001) vertritt die Auffassung, dass die visuelle Wahrnehmung angesprochen wird, indem das Kind Personen, Gegenstände oder Interaktionen sieht. Es werden Bewegungen beim Sprechen, wie z. B. Körper- oder Mundbewegungen, wahrgenommen und als Modell genutzt. Dies verbinden sie mit der auditiven Wahrnehmung und hören das, was gesagt wird. Kinder lernen Gegenstände schon im Säuglingsalter über den Tastsinn kennen. Sobald sie greifen können, wird alles, was sie in die Finger bekommen, mit dem Mund und den Händen ertastet. Diese taktil-kinästhetische Wahrnehmung erweitert sich später auch auf die Artikulationsorgane, wobei die Kinder ihre Sprechwerkzeuge wie Zunge oder Gaumen erforschen und ausprobieren. Sie erfahren dadurch verschiedene Möglichkeiten, Laute und Worte zu bilden und fügen entsprechende Tonlagen hinzu. Eine weitere Wahrnehmung erfolgt über den Körper (vestibuläres und propriozeptives System), wobei der Gleichgewichtssinn sowie Beschleunigung, Stellung und Bewegung der Muskeln und Gelenke angesprochen werden (Richter 2001, S. 16).
Oksaar (1977) hat in seinem Buch „Spracherwerb im Vorschulalter“ speziell die Thematik Denken und Sprechen aufgegriffen und die Ansichten verschiedener Vorreiter, wie Piaget oder Vygotskij dargelegt. Ich werde hierbei nicht auf die einzelnen Aussagen der verschiedenen Autoren eingehen, sondern nur auf die Kernaussage. Kognition und Sprache sind miteinander verbunden und befinden sich in wechselseitiger Abhängigkeit zueinander. Für eine ungestörte Sprache ist die Denkfähigkeit wichtigste Voraussetzung, gleichermaßen wird durch die Sprache die Denkfähigkeit ausgebaut und gefördert (Oskaar 1977, S. 79). Somit haben die Aussagen von Aristoteles „Wie man denkt, so spricht man“ (ebd.) und Humboldt „Wie man spricht, so denkt man“ (ebd.) gleiche Gewichtung bei der heutigen Säuglingsforschung.
1.4 Die Bedeutung der Sprache für Kinder
In erster Linie hat Sprache die Funktion der Verständigung. Wenn man mit einem anderen Menschen Informationen oder Wissen austauschen, Gefühle oder Wünsche vermitteln möchte, benutzt man die Sprache. Dies gilt für Erwachsene und Kinder. Bei diesem Austausch gibt es immer einen Sender, der Informationen weitergibt und mindestens einen Empfänger, der die Informationen erhält (Oskaar 2003, S. 32). Neumann (2001, S. 14 f.) präzisiert diese Aussage und erklärt, dass Kinder auch Informationen an Objekte, wie bspw. ihre Puppen, abgeben, indem sie ihr Spiel sprachlich begleiten. Sie vermenschlichen ihr Spielzeug und sehen dieses als gleichwertige Gesprächspartner an. Wie schon erwähnt, werden Kinder auch schon im Säuglingsalter mit Sprache konfrontiert. Über die Sprache wird eine Beziehung, anfangs zu den Eltern und später zu anderen Bezugspersonen, hergestellt. Sie lernen über die Sprache Gegenstände, Emotionen und deren Bedeutungen kennen. Sprache ist ein allgegenwärtiger Bestandteil ihres Lebens und gewinnt mit zunehmendem Alter immer mehr an Bedeutung. Gerade der Umgang mit der eigenen Sprache nimmt einen immer wichtigeren Stellenwert ein. In einem Alter, in dem Sprache noch nicht ausgebildet ist, ist es für die Kinder wichtig, ihr Umfeld interaktiv wahrzunehmen und selbst als kleine handelnde Person anerkannt zu werden. Auch wenn sich die Sprache nur auf Gestik, Blickkontakt und lallende Laute beschränkt, verlangen und benötigen die Kinder Reaktionen auf ihre Interaktionsversuche.
Sobald sich die eigene Sprache entwickelt hat, ist es wichtig, dem Kind dem Gesagten gegenüber ernsthaftet Verständnis entgegenzubringen. Ständige Korrekturen der Grammatik oder des Ausdrucks können zu einem Rückzug des Kindes im sprachlichen Kontext führen (Neumann 2001, S. 15). Kurz gesagt, dem Kind sind seine Fehler peinlich und es traut sich nichts mehr zu sagen. Für die weitere Entwicklung der Sprache, aber auch der Persönlichkeit, sind Kinder auf das Vertrauen der Eltern angewiesen.
1.5 Spracherwerb und Kindergarten
In diesem Abschnitt möchte ich spezifisch auf den Spracherwerb mit Unterstützung von Erziehern im Kindergarten bzw. Tageseinrichtungen eingehen. Dabei muss als erstes unterschieden werden, mit welchem Alter die Kinder eine Einrichtung besuchen. Um an den vorherigen Teil anknüpfen zu können, werde ich mich auf Kinder, die zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr in den Kindergarten gehen, beziehen. Nach List (2009, S. 4) beginnen Kinder in diesem Alter oftmals, Gegenstände ihrem Inhalt oder ihrer Funktion entsprechend zu benennen und diese Wörter zu kombinieren. Sie können auch schon Stimmmelodien koordinieren, z. B. wenn sie eine Frage stellen heben sie ihre Stimme zum Ende hin an oder wenn sie wütend sind, wird das Gesagte ausdrucksstark betont. In dem Gesagten der Kinder werden inhaltliche Verbindungen zu gemachten Erfahrungen gezogen und mit ca. drei Jahren bereits geurteilt. Wenn z. B. das Kind behauptet, dass die Puppe etwas kaputt gemacht hat oder der Papa ihm einen gefährlichen Gegenstand weggenommen hat, äußert das Kind dies mit dem Wort Böse (der Papa ist böse oder die Puppe hat etwas Böses getan) (List 2009, S. 4). Nach List (2009, S. 4) betritt das Kind mit diesen Erkenntnissen den Weg der gebundenen Sprache. Darunter versteht die Autorin Aussagen, welche vom Kind im Zusammenhang begründet werden, z. B. „der weint, wegen der gefallen ist“ (List 2009, S. 4.). Während sie versuchen Sätze zu bilden und auch schon Nebensätze zu konstruieren, halten sich Kinder üblicherweise nicht an grammatikalische Regeln. Bei den Erwachsenen muss beachtet werden, dass sie sich nicht die fehlerhafte Sprache der Kinder aneignen. Oft lassen sich Eltern aber auch Erzieher dazu verleiten, so zu sprechen wie die Kinder, z. B. indem sie bestimmte oder unbestimmte Artikel weglassen oder falsch verwenden (gib mit Stifte; ein schönen Tag). List (2009, S. 4) sieht dabei als Aufgabe der Erzieher, diese Fehler aufzugreifen und grammatikalische Regeln zu erweitern, nicht einfach zu korrigieren.
Dabei ist das sprachliche Vorbild auch wieder eine wichtige Voraussetzung. Je mehr mit einem Kind gesprochen wird, desto mehr wird es mit der richtigen Ausdrucksweise und Grammatik konfrontiert und ahmt sie Schritt für Schritt nach. Gerade im Kindergarten gibt es verschiedene Möglichkeiten, Sprache mit einzubeziehen. Jede Aktivität oder jedes Spiel lässt sich verbal begleiten und bietet Ansätze zur Interaktion. Kinder verinnerlichen die Sprache, merken sich angewandte Regeln aber auch Ausnahmen und probieren sie aus. Dies alles passiert bei Kindern unbewusst, da sie keine Grammatik oder Wörter auswendig lernen. Sie sind wie ein Schwamm, und saugen vermittelte Informationen auf und lernen im nächsten Schritt, diese anzuwenden. Neben der richtigen Sprache lernen Kinder auch mit Hilfe von Interaktion Beziehungen aufzubauen und sich situationsabhängig auszudrücken. List (2009, S.4) drückt dies sehr trefflich so aus: „(…) sie lernen dabei vielmehr als nur Wörter und Strukturen kennen, denn sie erfahren auch, was man mit Sprache alles ausrichten kann, wie man Stimmungen mit ihr transportiert und wie man sich der Muster des Hin und Her in der zwischenmenschlichen Kommunikation bedient.“ Mit dieser Sprachvermittlung sollte der erste Baustein für den Schuleintritt gelegt worden sein.
2 Sprachstörungen bei Kindern
Im Absatz „Wie man denkt, so spricht man“ (Abschnitt 1.2.1) wurde aufgezeigt, dass kognitive, motorische, soziale, neurobiologische und sensorische Aspekte bei der Sprachentwicklung von großer Bedeutung sind und Voraussetzungen für eine ungestörte Entwicklung darstellen. Ebenso wichtig sind diese Faktoren, wenn eine Sprachentwicklungsverzögerung oder -störung bei einem Kind auftritt. In diesem Fall muss die Ursache in den oben genannten Bereichen gesucht werden. Da das Kind in den ersten vier Lebensjahren seine Sprachstruktur erworben hat und diese auch beherrscht, kann davon ausgegangen werden, dass Störungen der Sprache oder des Sprechens in diesem Zeitraum auftreten bzw. sich bemerkbar machen (Grimm 1999, S. 14; Zollinger 1994, S. 22). Zur Vollständigkeit muss erwähnt werden, dass es eine Unterscheidung von Sprachverzögerung und Sprachstörung gibt. Neumann (2001, S. 11) vertritt die Auffassung, dass eine beobachtete Beeinträchtigung der Sprache nach dem vierten Lebensjahr als Sprachstörung bezeichnet werden sollte. Diese Unterscheidung wird in der vorliegenden Arbeit aufgrund der differenzierten Literaturen nicht weiter berücksichtigt, Sprachstörungen sind als diagnostizierte Sprachauffälligkeiten zu verstehen.
Sprachstörung, Sprachbehinderung oder auch Sprachverzögerung können allein durch die Benennung zu einer Aussenseiterposition (Stigma) des Betroffenen führen. Diese Begriffe sollten daher nach Braun (2002, S. 32) vermieden werden. Jeder einzelne dieser Begriffe hat, je nach Theoretiker, seine eigene Sammlung an Definitionen. Eine Auflistung derer ist in Anhang VII festgehalten.
Für Braun (2002, S. 33) „stellt eine Sprachstörung prinzipiell eine Sozialstörung dar.“ Er stimmt damit der Aussage von Becker & Sovak (1971) zu, die sagen, dass der „Begriff [Sprachstörung] als das ‚totale oder partielle Unvermögen …, die normale Umgangssprache laut- oder schriftsprachlich nach Inhalt und Form zu gebrauchen (…)‘“ ist (Becker & Sovak 1971, 1975, zit. n. Braun 2002, S. 33). Knura (1980) hingegen formuliert ihr Verständnis über Sprachstörung präziser, indem sie sagt, dass es sich dabei um eine „individuell unterschiedlich verursachte und ausgeprägte Unfähigkeit zum regelhaften, alters- und entwicklungsgerechten Gebrauch der Muttersprache“ handelt und „die sich auf eine, mehrere oder alle Strukturebenen und Teilfunktionen des Sprachsystems erstrecken und vorübergehend, langandauernd oder bleibend sein kann“ (Knura 1980, zit. n. Braun 2002, S. 34). Weiterhin unterscheidet sich Knura von anderen Autoren, da sie Sprachbehinderung von einer Störung trennt und darunter eher eine „durch Sprachstörung bewirkte Gefährdung oder Beeinträchtigung der Persönlichkeits- und Sozialentwicklung sowie der seelisch-geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit versteht“ (Knura 1980, zit. n. Braun 2002, S. 34). Eine einheitliche Definition über die Sprachstörung, -behinderung oder auch -verzögerung gibt es nicht, daher wird sich hier auch auf keine direkt bezogen. Eine Übersicht des Wandels der Grundbegriffe wird in Anhang VIII zum besseren Verständnis dargestellt.
Zu sagen bleibt aber, dass „grundsätzlich (…) weniger die Sprachstörungen an sich, sondern die Folgen der Störung für auszulösende pädagogische Maßnahmen determinierend werden“ (Orthmann 1969, zit. n. Braun 2002, S. 33). Im Rahmen dieser Arbeit wird sich, in Anlehnung an Neumann (2001, S. 11), auf die Begriffe Sprachstörung (bei Kindern ab dem vierten Lebensjahr), Sprachauff ä lligkeit (Kinder vor dem vierten Lebensjahr) und Sprachverzögerung (verspäteter Spracherwerb anhand der entwicklungspsychologischen Meilensteine) beschränkt und wird für die verschiedensten Formen, wie bspw. Stottern, Stammeln, Poltern, Aphasie oder Dysarthrie, verwendet.
Nach Neumann (2001, S. 11) sind die häufigsten Störungen der Sprache im Kindesalter das Verdrehen von Satzelementen oder Erstellen unvollständiger Sätze (Dysgrammatismus), Ersetzen und Auslassen von Lauten (Dyslalie - Stammeln), aber auch das Lispeln (Sigmatismus). Daneben gibt es Störungen, welche seltener auftreten, worunter Stottern und Stimmstörungen gehören. Eine ausführlichere Darstellung möglicher Sprachstörungen finden sich im Anhang IX wieder. Um eine Sprachstörung zu diagnostizieren und ihr entgegen wirken zu können, muss vordergründig die Ursache, welche biologisch, sozial oder kognitiv sein kann, ermittelt werden. Des Weiteren muss festgestellt werden, ob eine Sprachverzögerung allein oder zusammen mit einer Sprachabweichung vorliegt. In der Sprachentwicklungsforschung, wozu auch die Forschung der Sprachstörungen gehört, gibt es viele Begriffe und Variationen, die eine Störung der Sprache beschreiben (vgl. Grimm 1999 S. 101 f., für eine ausführlichere Darstellung).
2.1 Ursachen für Sprachstörungen im Kindesalter
Spezifische Sprachstörungen sind keineswegs durch sensorische, schwerwiegende neurologische oder emotionale Schädigungen und schon gar nicht durch geistige Behinderungen geprägt. Markant dafür sind vielmehr ein verspäteter Sprachbeginn, verlangsamter Spracherwerb, besseres Sprachverständnis als Sprachproduktion, gestörte Syntax und Morphologie sowie Störungen der Aussprache (Grimm 1999, 102).
Während sich Fachwissenschaften über die eigentliche Ursache einer Sprachstörung nach wie vor uneinig sind, vertritt Wendlandt (2000) die Meinung, dass das Zusammenwirken verschiedener Ursachen ausschlaggebend für die Ausbildung einer Störung ist. Er führt dabei organische (z. B. Fehlbildungen der Sprechwerkzeuge), vererbte (z. B. Bereitschaft zur Sprachstörung), soziokulturelle (z. B. ein kommunikationsarmes Umfeld) und psychische Ursachen (z. B. seelische Belastungen) auf (Wendlandt 2000, S. 58 f).
In erster Linie wird bei der Suche nach der Ursache einer Sprachstörung auf kognitive und neurobiologische Defizite geachtet. Dies können Behinderungen des Hörens oder Sehens sowie geistige und körperliche Behinderungen sein. Bei solchen doch sehr offensichtlichen Merkmalen ist die Ursache für Sprachstörungen, -auffälligkeiten oder auch -verzögerungen schnell gefunden. Psychische oder soziale Ursachen hingegen sind schwerer auszumachen, da sich der Blick des Professionellen, sei es der Sozialarbeiter oder der Logopäde, erweitern muss. Wie im Abschnitt 1.2 bereits angesprochen, ist eine kommunikative Umwelt für das Kind von großer Bedeutung und kann bei Vernachlässigung zu einer Verzögerung des Sprechens und der Sprache führen. An dieser Stelle wird nochmals auf den in Anhang II dargestellten Sprachbaum von Wendlandt (2000) verwiesen, welcher die wichtigsten Einflussfaktoren auf das Kind zeigt und bei dem die liebevolle Zuwendung der Eltern an oberster Stelle steht. Die Weltgesundheitsorganisation WHO von 1980 hat in der ICIDH 1 ein Klassifizierungsschema mit der Unterscheidung zwischen „Schädigung (impairment), funktionelle Beeinträchtigung oder Störung (disability) und soziale Benachteiligungen oder Behinderungen (handicap) gegliedert“ (Braun 2002, S. 36). Um eine Struktur erkennen zu können, wurde anhand dieses Klassifikationsschemas ein „Definitionsmodell für Sprachschädigung, Sprachstörung und Sprachbehinderung“ von Braun (2002, S. 37) erstellt (siehe Anhang VII).
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- Sabrina Müller (Author), 2011, Entwicklung und Förderung des Erst- und Zweitspracherwerbs bei Kindern mit Migrationshintergrund, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/175304
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