Niklas Luhmanns Kritik an der traditionellen Subjektphilosophie ist einmal wegen der Fülle seiner eigenen Werke weitreichend, aber auch dank der philosophiegeschichtlichen Betrachtungen im Rahmen seiner Gesellschaftstheorie. So hat Luhmann deutlich machen können, dass eine Kritik des Subjekts sich ebenfalls gegen die Fundierung in Ontologie und Metaphysik richtet, und die kritische Auseinandersetzung in dieser Arbeit folgt in diesem Sinne seiner gesamtgesellschaftlichen Betrachtung.
Die Einleitungen in die Geschichte der Philosophie und in die Systemtheorie der ersten beiden Kapitel sollen verdeutlichen, weshalb gerade eine soziologische Theorie in der Lage sein soll, die Philosophie auf „blinde Flecken“ ihrer Beobachtung aufmerksam zu machen. Der Versuch einer Darstellung der wichtigsten Punkte der Kritik Luhmanns an Ontologie und Subjekt folgt. Wegen der Fülle subjekttheoretischer, aber eben auch metaphysischer und ontologischer Theorien der Philosophie soll im Anschluss – zur detaillierteren Analyse der „Treffsicherheit“ systemtheoretischer Vorwürfe – am Beispiel eines Philosophen - Edmund Husserls - die Erörterung der Kritik stattfinden, einmal, weil Luhmann sich in seiner Kritik mehrfach direkt gegen die phänomenologische Methode wendet, andererseits aber auch ein Reihe von Parallelen im Theoriegerüst aufzufinden sind.
Aus eben diesem Grund schließt sich die Frage an, ob Luhmann die von ihm kritisierten Probleme mit den Modifikationen und begrifflichen Verlagerungen selbst überwunden hat. Es handelt sich vor allem um das Problem der Intersubjektivität, die seiner Ansicht nach nicht aus dem Subjekt hervorgehen kann und begrifflich eine Paradoxie darstellt. In die Sprache der Theorie autopoietischer Systeme übersetzt, geht es um die Kopplung des Bewusstseinssystems mit dem Kommunikations-bzw. sozialen System. Auch bei Luhmann ist der Ausgangspunkt das geschlossen operierende System und der Übergang zur Sozialität scheint angesichts der von anderer Seite schon unterstellten monologischen Konstitution der Systeme ebenfalls problematisch. Es wird sich zeigen, dass Luhmann es nicht schafft, den Übergang vom selbstreferenziellen, psychischen System zu einem an Kommunikation teilnehmenden System zu konstruieren, ohne dass nicht das psychische System immer schon teilnehmend bzw. kommunizierend gewesen sein muss. Mit einer Erörterung dieses Sachverhalts und einem Ausblick auf einen möglichen Ausweg aus dem circulum vitiosus endet die Arbeit.
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort
Einleitung
Die Ordnung des Kosmos
Leib und Seele in Athen
Die hellenistischen Naturwissenschaften
Grenzen der Erkenntnis
Der Zweifel
Das Subjekt in humanistischer Tradition
Das moralische Subjekt
Subjektivität und Individualität
Der Begriff der Ontologie
Differenzen
Zeit und Unordnung
Das ökonomische Subjekt und seine Auflösung
Das Subjekt wird pluralisiert und formalisiert
Das biologische Selbst der Evolution
Das Subjekt heute
Das Selbst in systemtheoretischer Wandlung
Selbstdarstellung in der Moderne
Das Subjekt wird durch eine Differenz ersetzt«
«und vom Gesellschaftsbegriff getrennt
Die Reflexion
Kognition
Das Individuum und die autonome Gesellschaft
Konsequenzen des verallgemeinerten Kognitionsbegriffs
Die Individualisierung des Individuums
Der Mensch als Objekt seiner Subjektivität
Das Problem identischer Individuen
Fazit
Aspekte der Systemtheorie
System und Umwelt
Selbstreferenz und Autopoiese
Selbstreferenz und Fremdreferenz
Unterscheidung und Beobachtung
Operationen und Selektionen
Freiheit und Handlung
Gedächtnis
Prozesse und Strukturen
Erwartungsstrukturen
Reflexivität oder prozessuale Selbstreferenz
Zeit
Sinn und Information
Handlung
Konsequenzen der Radikalisierung des Sinnbegriffs
Interpenetration statt Intersubjektivität
Interaktionssysteme als Grundstein für Sozialität
Kommunikation
Reflexion
Fazit
Niklas Luhmanns Kritik an der traditionellen Subjektphilosophie
Einführung
Bewusstsein, Ich und Subjekt
Symbolische Probleme des Subjekts
Semantische Probleme des Subjekts
Das Problem der Reflexion
Der logisch unmögliche Begriff der Intersubjektivität
Ontologie
Operative Geschlossenheit statt ontologischer Paradoxien
Luhmanns Einwände gegen Husserls Phänomenologie
Evidenz und Bewusstsein
Wahrnehmung und Kinästhesen
Das Problem der Monadengemeinschaft
Schlussfolgerungen
Der Weg
Selbstreferenz
Alter Ego
Doppelte Kontingenzen
Systeme in der Umwelt des Systems
Sinn als verbindende Form
Die Erwartung als kontingente Lösung
Sozialität lernen
Ein möglicher Ausweg: Husserls Kinästhesen und Bråtens Dyade
Die Annahme eines prä-kommunikativen Verstehens
Das Problem der Kommunikation
Fazit
Schluss
Literaturverzeichnis
VORWORT
„Von Wahrheit spricht man nur, wenn die
Selektion der Information keinem der Beteiligten
zugerechnet wird.“
Niklas Luhmann
Niklas Luhmanns Kritik an der traditionellen Subjektphilosophie ist einmal wegen der Fülle seiner eigenen Werke weitreichend, aber auch dank der philosophiegeschichtlichen Betrachtungen im Rahmen seiner Gesellschaftstheorie recht umfassend. So hat Luhmann deutlich machen können, dass eine Kritik des Subjekts sich ebenfalls gegen die Fundierung in Ontologie und Metaphysik richtet, und die kritische Auseinandersetzung in dieser Arbeit folgt in diesem Sinne seiner gesamtgesellschaftlichen Betrachtung. Dabei verzichte ich auf eine vollständige Darstellung der Positionen der autopoietischen Systeme, sofern es sich um rein soziologisch von Belang seiende Aspekte handelt, die sich eher vom Thema der Komplementarität von Subjekt und System entfernen, als dass sie zur Klärung beitragen.
Die Einleitungen in die Geschichte der Philosophie und in die Systemtheorie der ersten beiden Kapitel sollen verdeutlichen, weshalb gerade eine soziologische Theorie in der Lage sein soll, die Philosophie auf Äblinde Flecken“ ihrer Beobachtung aufmerksam zu machen. Der Versuch einer Darstellung der wichtigsten Punkte der Kritik Luhmanns an Ontologie und Subjekt folgt im Anschluss. Wegen der Fülle subjekttheoretischer, aber eben auch metaphysischer und ontologischer Theorien der Philosophie soll im Anschluss - zur detaillierteren Analyse der ÄTreffsicherheit“ systemtheoretischer Vorwürfe - am Beispiel eines Philosophen die Erörterung der Kritik stattfinden. Ich habe zu diesem Zweck Edmund Husserls Phänomenologie gewählt, einmal, weil Luhmann sich in seiner Kritik mehrfach direkt gegen die phänomenologische Methode wendet, andererseits aber auch - im systemischen Vokabular, versteht sich - ein Reihe von Parallelen im Theoriegerüst aufzufinden sind.
Aus eben diesem Grund schließt sich ein Kapitel an, in dem ich der Frage nachgehe, ob Luhmann die von ihm kritisierten Probleme mit den Modifikationen und begrifflichen Verlagerungen eigentlich selbst überwunden hat. Es handelt sich dabei vor allem um das Problem der Intersubjektivität, die seiner Ansicht nach nicht aus dem Subjekt hervorgehen kann und begrifflich eine Paradoxie darstellt.
In die Sprache der Theorie autopoietischer Systeme übersetzt, geht es um die Kopplung des Bewusstseinssystems mit dem Kommunikations-bzw. sozialen System. Auch bei Luhmann ist der Ausgangspunkt - in Analogie zum Husserlschen Subjekt - das geschlossen operierende System und der Übergang zur Sozialität scheint angesichts der von anderer Seite schon unterstellten monologischen Konstitution der Systeme (es sollte dabei die Frage gestellt werden: welcher Systeme eigentlich?) ebenfalls problematisch. Es wird sich zeigen, dass Luhmann es nicht schafft, den Übergang vom selbstreferenziellen, psychischen System zu einem an Kommunikation teilnehmenden System zu konstruieren, ohne dass nicht das psychische System immer schon teilnehmend bzw. kommunizierend gewesen sein muss. Mit einer Erörterung dieses Sachverhalts und einem Ausblick auf einen möglichen Ausweg aus dem circulum vitiosus schließe ich die Arbeit schließlich.
Francesca Dukagjini Berlin, den 27.11.2007
EINLEITUNG
„Wähnen nur
ist uns beschieden.“
Xenophanes, Eleat
DIE ORDNUNG DES KOSMOS
Die Beziehung zwischen Objekt und Subjekt, Gehirn und Geist bildet für das philosophische Selbstverständnis eine Art ÄWeltknoten“, wie Schopenhauer die Triebfeder der Philosophie seit 2500 Jahren einmal nannte. Stand für die griechische Mythologie das Chaos (griech. Gähnen) am Anfang allen Seins, so bildete Thales darauf eine Theorie des Urelementes Wasser ab. Anaximander, mit Thales einer der ersten Naturphilosophen, erklärte daraufhin, die ersten Lebewesen seien aus der Feuchte entstanden und entwickelte eine Evolutionstheorie, nach der Mensch tierische Vorfahren besessen habe. Phytagoras entwickelte aus seiner Vorstellung der Harmonie der Zahlen eine Ordnung der Mathematik, Heraklit den ‚logos‘ als geistiges Prinzip der Welt. Der Kosmos wurde als geordnet erkannt und das ohne Bezug auf Göttermythen, wenn auch in Einklang mit ihnen.
LEIB UND SEELE IN ATHEN
Im Gefolge der Perserkriege entstand in Athen das Zentrum einer Philosophie, die den Menschen unmittelbar und ohne den Umweg über die Natur betrachtete: Sokrates, Platon und Aristoteles beschäftigte der Weltknoten der Beziehung von Leib und Seele ebenso wie das Verhältnis von Subjekt und Objekt. Aristoteles begründete dabei eine erste Form der Biologie, indem er das Leben als in Fortpflanzung und Ernährung begründet sah1- seien Beobachtungen bezogen sich dabei aber ebenfalls auf Pflanzen. Die enge Beziehung zwischen dem Geistigen und Materiellen, die seine Betrachtungen des Leib-Seele-Problems beherrschten, dehnten sich auch auf seine Teleologie aus. Doch trotz seines Einflusses kam es kurz später zur Entwicklung der Ventrikellehre, die ihre Wiederentdeckung in Descartes‘ Annahmen über die Funktion der Zirbeldrüse erhielten. Aber die wichtigste Annahme im Anschluss an Aristoteles blieb für lange Zeit die Unterscheidung vom Ganzen und den Teilen, deren unreflektierte Einheit, wie später Niklas Luhmann kritisiert, nicht expliziert, sondern nur Äverdeckt“ worden wäre durch die Aussage: ÄDas Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“. Das mysteriöse ÄMehr“ zeige einen nie eingelösten Explikationsbedarf an.2
DIE HELLENISTISCHEN NATURWISSENSCHAFTEN
In der hellenistischen Folgezeit stechen vor allem naturwissenschaftliche Entdeckungen hervor: Aristarch von Samos lehrt die Kreisbewegungen von Erde und Planeten um di Sonne, Erosthenes von Alexandria ermittelt mit Winkelbeziehungen und dem Stand der Sonne einen durchaus genauen Erdumfang und Heron von Alexandria entwickelt dampfgetriebene Turbinen und Maschinen, die den Impuls des Wassers nach dem Jet-Prinzip nutzen. In der Spätantike kommt es mit der großen religiösen Erlöserbewegung jedoch zu einem Einbruch der wissenschaftlichen Erkenntnis: angesichts der Vergänglichkeit von Welt und Leben und im Hinblick auf die Erlösung im Jenseits erscheinen wissenschaftliche Bemühungen des Diesseits wie Salomos' ÄEitelkeit und ein Haschen nach Wind“3.
GRENZEN DER ERKENNTNIS
Um 1400 gibt es mit Nikolaus von Kues und seiner Ädocta ignorantia“ bahnbrechende Einsichten, deren Bedeutung jedoch erst später und mit weiteren Entdeckungen zu ihrer vollen Tragweite gelangen: von Kues gelang die Einsicht in unüberwindliche Grenzen der Erkenntnis bezüglich wissenschaftlicher Genauigkeit wie auch theoretischer Zusammenhänge. ÄZum einen stößt jede messende Bestimmung auf unvermeidliche Grenzen der Genauigkeit: „Wir finden Gleichheit in gradweiser Näherung … Deshalb wird Maß und Gemessenes trotz aller Angleichung immer verschieden bleiben.“ Zum anderen ist es grundsätzlich unmöglich voraussetzungslos zu denken. Vielmehr ist Erkenntnis jeweils auf etwas bezogen, das stillschweigend oder ausdrücklich schon als bekannt vorausgesetzt wird.“4Erst in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gewinnt die Einsicht in die ÄUnbestimmtheit“ der modernen Physik (in einem Wort: Unschärferelation) auch in philosophischer Sicht an Bedeutung - dann aber in der vollen Wucht einer alles mit sich reißenden Lawine. Etwa zur gleichen Zeit können Gödels Sätze über die Grenzen mathematischer Entscheidbarkeit zeigen, dass sich die Voraussetzungen formalen Denkens nicht vollständig durch formales Denken fassen lassen, was in der Konsequenz einmal auf die notwendig vorhandenen Voraussetzungen jeder (immanenten, evidenten usw.) Erkenntnis verweist und weiterhin die Vermutung stärkt, das Bewusstsein lasse sich nicht in mechanistisch-reduktionaler Weise naturwissenschaftlicher Betrachtung erklären.
DER ZWEIFEL
Zuvor bedingte eine Abkehr von der religiösen Fundierung der Wissenschaften jedoch eine Verlagerung des Göttlichen als Letztbegründung und Möglichkeit absoluter Erkenntnis in das Bewusstsein, das nun als ein Äüber Empirizitäten hinausgehender ‚transzendentaler‘ Sachverhalt, als ‚Subjekt‘ der Welt“5begriffen werden musste. So konnte das Subjekt als Quelle der Erkenntnis gelten und gleichzeitig die Voraussetzungen seiner selbst als Bedingung der Quelle der Erkenntnis bilden: ÄAn die Stelle der (‚religiös interpretierbaren) Ewigkeit tritt die unendliche Sukzession des Endlichen“.6Descartes hatte als erster den Zweifel so weit ausgedehnt, bis nur dieser übrig blieb: aus seinem dubito ergo sum ließ sich nur noch folgern cogito ergo sum. Diese Selbstgewissheit hatte jedoch die Verabsolutierung der Rationalität zur Folge. Die Abkehr von aristotelischer, ganzheitlicher Denkweise zeigt sich auch in dem Bestreben Descartes‘ ein Organ auszumachen. An dem der Geist, die Res cogitans, auf die von ihm getrennt existierende Materie, die Res extensa, einwirkte - er entdeckte die Ventrikeln wieder und zog die Zirbeldrüse für diese Funktion in Betracht.
DAS SUBJEKT IN HUMANISTISCHER TRADITION
In der humanistischen Tradition ist das Subjekt immer in Begriffen des Bewusstseins gefasst: das Subjekt denkt, nimmt wahr, fühlt usw. Dabei wird - in Differenz zum Tier (oder früher auch anderen Wesen) - der Mensch als rational verstanden, vernunftbegabt, mit einer Vernunft ausgestattet, die nur der ÄEnt-Wickelung“7bedarf. Während bei Kant die Freiheit des Selbst der praktischen Vernunft unterworfen ist, setzt es sich bei Fichte und Hegel absolut. Allerdings kann das rationale Selbst auch in Form eines Ordnungsprinzips gedeutet werden. Die Differenz von Subjekt und Objekt lenkt das Augenmerk auf die Differenz von Schein und Wirklichkeit, in der der Mensch die Fähigkeit zur Schau des wahren Seins erlernen kann und, so etwa in der hegelschen Dialektik, zu einer Einheit von ÄSubjektivem“ und Objektivem“ gelangen kann.
DAS MORALISCHE SUBJEKT
Mit dem Zerfall der alten Welt und der Auflösung stratifikatorischen Gesellschaftsordnung verliert die Selbst-Vorstellung ihre Rückgebundenheit an die Natur, die ihre Perfektion oder die Entwicklung dazu garantierte. Das liberale Naturrecht des späten 17. Und 18. Jahrhunderts Ähält mit seiner Doppelemphase von Vernunft und Individualität zwar am Postulat einer moralischen Integration der Gesellschaft fest, aber es entzieht zugleich der aus hauspflichten und Stratifikation gestützten alten Ordnung die moralische Legitimation, nämlich die Möglichkeit sich auf die Natur des Menschen zu berufen.“8Eine Ironie, dass gerade die Moral in ihrer Binärschematisierung des Verhaltens in gut oder schlecht die Freiheit des Individuums konstatiert: ÄNur frei gewähltes Verhalten könne moralisch beurteilt werden“9, so begründet sich fortan die Verantwortlichkeit des autonomen Subjekts.
SUBJEKTIVITÄT UND INDIVIDUALITÄT
Mit der Verabschiedung der Äalteuropäischen Semantik“ entwickelte sich das Subjekt von der Mensch-Tier-Unterscheidung zum in-Differenz-zur-Welt stehenden Subjekt. Erst um 1800 verschmelzen aber Subjektivität und Individualität: ÄDer Mensch wird als ein Wesen bestimmt, das sich selbst individualisiert: als selbstbezügliches Subjekt, das sich selbsttätig so viel Welt als möglich aneignet und sich dadurch selbst bestimmt.“10Diese Selbststeigerung wurde als das Allgemeine im Menschen identifiziert, als die Aufgabe, Äsich seines transzendentalen Selbst zu bemächtigen, das ich seines Ich zugleich zu sein.“11
DER BEGRIFF DER ONTOLOGIE
Um 1800 entwickelten sich aber auch naturphilosophisch neue Leitgedanken. Bei Schelling finden sich um 1800 Gedanken zur Selbstbezüglichkeit wie auch zur Äkreisproduktionalen Geschlossenheit organismischer Systeme, wie sie für [«] die Autopoiesistheorie typisch sind“12, und Darwin verfasst sein Werk über die Evolution durch natürliche Auslese. Die dominierende Welteinstellung Alteuropas kann man zu dieser Zeit schon als Ontologie bezeichnen, die Entwicklung nötigte jedoch erst jetzt dazu, dieses Paradigma auch zur Kenntnis zu nehmen: Im 17. Jahrhundert entwickelte sich deshalb der Begriff der Ontologie. Der Naurbegriff hatte bis dahin alles abgedeckt, was nicht hergestellt war und er enthielt ÄNaturdinge, die ihre eigene Natur kennen - eben Menschen und andere höhere Wesen.“13 Alles Erkennen hatte in aristotelischer Tradition sein telos in der Feststellung des Seins. ÄSelbst eine noch so weit getriebene Auflösung des Seins ins einzeln Seiende, etwa in der Monadologie von Leipniz“14verließ sich noch auf die ontologische Rückversicherung in der Äprä-stabilierten Harmonie“ der Natur.
DIFFERENZEN
Mit der evolutionären Kosmologie leitete sich das Seiende nun nicht mehr aus einem transzendenten Prinzip ab, sondern aus der Evolution und Selektion, aus der Geschichte, aus dem Gewesenen. In der Neuzeit relativiert sich das ‚Dingschema‘ in mehreren Disziplinen - und mit ihm das Subjekt, Selbst, Bewusstsein usw. Die Differenz von Subjekt und Objekt zerrt an ihrem Zweifel am ontologischen Objekt ebenso wie an der Vorstellung von der Identität des ‚Ich‘. In der Linguistik entwickelt sich das Interesse an der Differenz von Wort und Bedeutung, das Wort wird als Zeichen oder Stellvertreter identifiziert und der Sinn schiebt sich, etwa bei Saussure, zwischen die Worte. Sprache wird als ein System von Differenz beobachtet. Rimbaud bezeichnet das ‚Ich‘ als einen Anderen.15 Die Psychoanalyse subsumiert mit Freud Bewusstsein als einen Sonderfall unter das Unterbewusstsein, Nietzsche feiert den Sieg des Dionysischen über das Apollinische im Leben. Lacan entwickelt die Thesen Freuds weiter und entdeckt das Subjekt als sich ewig ver-kennend zwischen Spiegelung (imago) und Realität gefangen.
ZEIT UND UNORDNUNG
Derweil entwickeln sich Ansätze für ein neues Verständnis des Menschen in der Naturwissenschaft. Bertalanffy entwickelt erste Vorstellungen zu einer Systemtheorie, basierend auf dem Begriff des Fließgleichgewichts. Der Fluss der Dinge war schon bei Heraklit von grundlegender Bedeutung gewesen (man denke an sein Äpanta rhei“ - Äalles fließt“), und auch aktuell ist der Fluss noch im Gespräch16(oder auch: das Gespräch noch im Fluss). Die Zeit erlebt mithin in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Symmetriebruch in der Entdeckung der Entropie durch Clausius und Boltzmann: Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagt, das Universum (genauer: abgeschlossene Systeme) ginge mit wachsender ÄUnordnung“ dem sicheren Wärmetod entgegen17. Aber auch die Quantenmechanik hatte, wie schon angesprochen, ihre Wirkung. Neben der Kopenhagener Deutung wurden die Parallelwelttheorie, vor allem aber die Verantwortung des Wissenschaftlers diskutiert. Heisenberg schreibt dazu: ÄAls man denken konnte, die Physik werde weite Teile der Philosophie über den Haufen werfen, war die Philosophie in ihren ersten Repräsentanten schon Phänomenologie, war sie wieder Ethik, praktische Philosophie, war sie endlich analytische und Sprachphilosophie geworden, erhob sie nicht mehr den Anspruch, Ganzheitsmodelle zu begründen, weder für die wirkliche Welt, noch für irgendeine denkbare.“18
DAS ÖKONOMISCHE SUBJEKT UND SEINE AUFLÖSUNG
Das Rationalitätsschema als gesellschaftliches Ordnungsprinzip versucht sich mit der Einführung einer Äinvisible hand“ vorerst noch zu retten, mit der Evolutionstheorie und der Relativierung des Handlungsbegriffs auf subjektive Präferenzen gewinnt der Zweifel jedoch letztlich die Oberhand, ob die Beziehung zwischen Individuum und Rationalität so weiter haltbar ist. In Gesellschafts- und Wirtschaftstheorien werden Ärational choice“ und der homo oeconomicus mit der Spieltheorie konträr diskutiert. Wittgenstein bezweifelt schließlich kommunikative Verständigung überhaupt, Derrida bescheinigt dem Subjekt, sich in seiner Präsenz selbst aufzulösen.19In Kommunikationstheorien versucht man sich schließlich aus dem intellektuellen ÄTod des Subjekts“20, das so alt in dieser Form noch gar nicht geworden war, durch eine intersubjektivische Konstitution des Selbst unter Vermeidung des Begriffs ‚Subjekt‘ zu retten, ohne schließlich das Licht am Ende des Tunnels zu erreichen.
DAS SUBJEKT WIRD PLURALISIERT UND FORMALISIERT
In den 1920ern Entwickelt sich schließlich der Begriff des ÄIndividualismus“, um das Subjekt nicht mehr nur von der Welt der Objekte sondern auch von anderen Subjekten zu unterscheiden.21Die allgemeine Psychologie in ihrem Bestreben nach Ganzheitlichkeit findet ihren Anschluss an Aristoteles und die Theorie der Neuronennetze an Demokrits reduktionistisch-mechanistische Philosophie.22Leitidee der Hirnforschung wird das Prinzip der Formalisierbarkeit: Was formalisierbar ist, ist mechanisierbar.
DAS BIOLOGISCHE SELBST DER EVOLUTION
Evolutionsbiologisch kann das Selbst in seiner Ordnung wieder als Äder Ordnung der Welt entsprechend“ oder sogar Äihr zugrunde liegend“ reformuliert werden: Die Biologie entdeckt das Autopoiese-Konzept und im Konstruktivismus entwickelt sich schließlich eine radikale Subjektivierung der Weltkonstitution. Und so wird das Selbst schließlich als eine prozessuale, zirkuläre Vernetzung, auf eine Substanz im Sinne Espinozas rückführbarer causa sui rekonstruiert.23Aber es bleibt der zweifel in Bezug auf selbstbezogene Fähigkeiten des Bewusstseins als prinzipieller Grenzen der Selbsterkenntnis.
DAS SUBJEKT HEUTE
Heute ist Subjektivität Äen vogue“.24Der ÄKult ums Ich“25findet seinen Niederschlag heute in gesamtgesellschaftlicher Thematisierung - das Selbst und der Körper geraten zu einem Wettkampf des Bewusstseins über die eigene Materie, Liebessemantiken kämpfen mit der Differenz von Selbstverwirklichung und Gemeinsamkeit, der Arbeitsmarkt fordert Selbstbehauptung, die Werbung imaginiert Individualität im Konsum usw. Goffman thematisiert die Selbstinszenierung, die das an Individualitätszwang leidende Individuum immer häufiger in schwere Depressionen stürzt und Luhmann findet das Individuelle allgemeinhin Äcopiert“26. Stefan Krempel fragt in einem Essay zum Subjekt zwischen Verschwinden und Selbstinszenierung, ob unsere Selbstdarstellung vielleicht nicht nur ein ÄNichts“ kaschiere27, ein Äsimulacrum“28, und Alfred Gierer bescheinigt der Erkenntniskritik der modernen Wissenschaften in ÄSelbstbegrenzung und -bescheidung Revolutionspotential: ÄDiese Öffnung wissenschaftlichen Denkens gehört zu den großen geistigen Revolutionen des zwanzigsten Jahrhunderts“.29Der ÄWeltknoten“ Schopenhauers beschäftigt die Menschheit wie nie zuvor.
DAS SELBST IN SYSTEMTHEORETISCHER WANDLUNG
SELBSTDARSTELLUNG IN DER MODERNE
„So wie man Individuen zu suggerieren versucht, sie Seien nicht nur wirklich, sondern bedürften auch noch einer Selbstverwirklichung.“ Niklas Luhmann
Die moderne Gesellschaft fordert dem Selbst eine Menge ab. Das zeigt sich zum einen im modernen Körperkult, aber auch in der Forderung nach Selbstmanagement, Imagepflege und dem ÄZwang zur ständigen Selbstbespiegelung durch Konsum“30, der in der Werbekommunikation seinen Niederschlag findet und im Anstieg der in Wohlstandsgesellschaften zur ÄVolkskrankheit“ erklärten Depression als Resultat der Fülle einander widersprechender Vorbilder und Verhaltensmöglichkeiten. Die alteuropäische Tradition der Subjektphilosophie entstand aus einer Gesellschaftsform, wie sie heute nicht mehr existiert, und zwar weder im Hinblick auf Kommunikationsweisen, noch im Hinblick auf Differenzierungsformen; ÄDennoch bleibt diese Tradition Bestandteil unserer geschichtlichen Überlieferung und in diesem Sinne orientierungsrelevantes Kulturgut“31, stell Luhmann fest.
DAS SUBJEKT WIRD DURCH EINE DIFFERENZ ERSETZT«
Luhmann verfolgt in seinen gesellschaftstheoretischen Überlegungen die These, dass sich die Änderungen der Subjektsemantik und damit verbunden des Bildes vom Menschen anhand sozialstruktureller Änderungen nachzeichnen und auch darin begründen lasse: ÄMan kann mithin wissenssoziologisch der Hypothese eines solchen Zusammenhangs von Semantik und Sozialstruktur aufgrund gewisser Anfangsplausibilitäten [«] nachgehen. Aber das überzeugendste Argument ist vielleicht, dass die Änderung der Sozialstruktur in Richtung auf funktionale Differenzierung erst Risse in, dann den vollständigen Zusammenbruch der ontologischen Metaphysik ausgelöst hat“32. Für die Formulierung seiner Gesellschaftstheorie fügt er die theoretischen Ressourcen für den zweifachen Paradigmenwechsel von außen in die Soziologie ein, orientiert sich an der Systemtheorie, der Kybernetik, cognitive sciences, Kommunikationstheorie und an Evolutionstheorien. Er unterläuft damit die Dichotomie von Natur- und Geisteswissenschaften und erstellt einen interdisziplinären Ansatz, in dem nicht mehr Objekte (und damit Subjekte) im Zentrum stehen, sondern Unterscheidungen als Aufforderung, sie zu vollziehen. Unterscheidungen bilden dabei die Formen, die gleichsam als Grenzlinien und Markierungen einer Differenz fungieren, deren Überschreiten Zeit beansprucht und in diesem Sinne Selbstreferenz zeitlich entfaltet - die Systeme werden temporalisiert. Angelehnt an die Laws of Form von George Spencer Brown33bildet das mehrfache Kreuzen derselben Grenze (im Sinne von Selbstreferenz und Fremdreferenz) dabei keine Wiederholung: in der Theorie autopoietischer Systeme reichert sich die Referenz dabei mit Zusatzsinn an, das Paradox der Einführung der Identität in das Identische wird vermieden.
«UND VOM GESELLSCHAFTSBEGRIFF GETRENNT
Den wichtigsten Differenzpunkt zur humanistischen Theorie bildet die Verortung des Menschen außerhalb der Gesellschaft - bisher stand er als Mensch, Subjekt oder Person innerhalb der sozialen Ordnung. Doch trotz der gesellschaftlichen Externalisierung des Menschen muss die funktionale Differenzierung der Gesellschaft in Systeme immer auf den Menschen zurückbezogen bleiben34, der Mensch als die Einheit des biologischen und psychischen Systems und in der Teilnahme an sozialen Systemen wird nicht vergessen, sondern die Zusammenhänge der operational unterschiedenen Wirkungszentren des Menschen erreicht einen wissenstheoretisch analysierbaren Status. Dazu zieht Luhmann sich nicht auf eine erkenntnistheoretische oder semiotische Position zurück, wie er sagt, sondern er beginnt mit der Beobachtung des Gegenstandes und lässt die Differenz von Erkenntnis und Gegenstand zunächst ungenutzt. Seiner Meinung nach ist diese Vorgehensweise deshalb gerechtfertigt, weil die Erkenntnis als Gegenstand der Theorie bei Erreichen eines notwendigen Abstraktionsniveaus wieder auftauchen wird.35Als Resultat des zweifachen Paradigmenwechsels vom Ganzen und seinen Teilen zur differenztheoretischen Analyse der Gesellschaft und zu einer Theorie geschlossen operierender, autopoietischer Systeme, rückt die Figur der Selbstreferenz ins Zentrum der Diskussion. Das Phänomen der Selbstbegegnung beruht bei Luhmann nun auf einer Differenzierung von Erkenntnis und Gegenstand und markiert andererseits im Gegenstandsbereich den Punkt der ReIdentifikation.
DIE REFLEXION
Die Theorie selbstreferenzieller Systeme hatte dabei durch Luhmann mit dem Begriff der Autopoiese in Hinsicht auf subjektphilosophische Tradition eine wichtige Ergänzung erfahren.36 War vorher nur von reflexionsbegabten Subjekten die Rede gewesen, Reflexion somit auf Bewusstsein bezogen, vollzog sich in den 50er Jahren ein erster Schritt der Erweiterung mit dem Begriff der Selbstorganisation, mit dem aber Selbstreferenz nur noch auf die Strukturen der Systeme bezogen blieb. Mit Luhmanns Version der Autopoiese ließ sich der Fokus auf die Letztelemente der Systeme, im Falle dynamischer Systeme auf deren Operationen verschieben. Der Schwerpunkt lagert nun deutlich in der Zeitdimension der Autopoiese als Selbsterhalt unter dem ständigen Vergehen der momenthaften Elemente, die Grundfrage lautet: ÄGeht es weiter oder hört es auf?“37. Dank des differenztheoretischen Paradigmas wird aber auch die Grundparadoxie aller Reflexion, die Einheit sucht und Differenz erzeugt, herausgestellt. Reflexion erhält den Status eines beobachterkontingenten Aspekts der Selbstreferenz, der die Differenz von System und Umwelt zugrunde liegt. Luhmann knüpft mit diesem Begriff eng an die organismische Theorie autopoietischer Systeme an, die mit Ausbildung einer Grenze (Membran o. ä.) die Differenz von System und Umwelt herstellen. Im Falle des Bewusstseins führt der Mangel an offensichtlicher (räumlicher) Begrenzung offensichtlich zu Unschärfen, die dann einen kartesischen Zweifel ebenso begründen wie die phänomenologische Suche nach Methoden zum Auffinden letzter Wahrheiten. Auch Roths Überlegungen, das Nervensystem sei eben deshalb nicht als autopoietisch anzusehen, finden hier ihren Anknüpfungspunkt.38
KOGNITION
In der Tradition hatte das Bewusstsein einen prominenten Platz in der Erkenntnistheorie. Erkennen verstand sich als Leistung des Bewusstseins und Erkenntnis als deren Resultat. Unausweichlich stellt sich die Frage: wessen Bewusstsein? Der Antwort wurde mit dem Verweis auf ein transzendentes Bewusstsein ausgewichen oder aber es wurde jedem Bewusstsein selbst zugetraut, die Bedingungen intersubjektiver Gültigkeit zu entscheiden. Der Äempirische Gehalt dieser Zusatztheorien“39wurde dabei im Transzendentalismus negiert, im Intersubjektivismus in einen methodologischen Pragmatismus aufgelöst, und die Frage nach dem Beobachter blieb unbeantwortet.
Mit dem Übergang zur Theorie autopoietischer Systeme meint Luhmann nicht etwa Vorläufertheorien zu negieren, sondern den Traditionsbruch in Form einer allgemeineren Theorie der Kognition vollzogen zu haben: ÄDiese lässt sich mit zwei zusammenhängenden Thesen formulieren: 1. Jedes autopoietische System löst Probleme der Kognition im Vollzug seiner Autopoiesis; und 2. Autopoietische Systeme jeder Art (der Begriff ist dadurch definiert) sind geschlossene Systeme insofern, als sie auf der Ebene elementarer Operationen ihre Reproduktion ausschließlich selbst vollziehen und in dieser Hinsicht keine Operationen der Umwelt aufnehmen und mitwirken lassen können“.40Geschlossenheit und Kognition ermöglichen sich und bedingen sich auf diese Weise wechselseitig und wie im Falle der Reflexion ermöglicht der Rückbezug auf die biologische Theorie autopoietischer Systeme eine umfassende Verallgemeinerung des Begriffs, mit der auch Kognition keineswegs mehr eine Leistung eines Subjekts oder Bewusstseins darstellt, sondern allein einen Mechanismus des Selbsterhalts der Systeme.
DAS INDIVIDUUM UND DIE AUTONOME GESELLSCHAFT
Mit dem Wort Gesellschaft verbindet sich laut Luhmann keine eindeutige Vorstellung. Auch das Soziale besitze keine eindeutige Referenz. Aus erkenntnistheoretischen Gründen an die Unterscheidung Subjekt/Objekt gebunden, konnten traditionelle Theorien nur zwischen ÄSzientistisch- naiven“ oder Ätranszendentaltheoretisch-reflektierten“ Position wählen.41Mit der Aufgabe des auf Wirtschaft konzentrierten soziologischen Begriffs der Gesellschaft entbrannte eine Kontroverse zwischen Positionen der materiellen und der geistiger Determination der Gesellschaft. Das Individuum und seine Stellung geriet in ein Bezugsproblem zur Gesellschaft, wie die begrifflichen Hilfskonstruktionen ÄSozialisation“ und ÄRolle“ markieren. Die Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft entwickelte sich zum Problem, während gleichzeitig das Problem der Einheit der Differenz von Individuum und Gesellschaft nicht erkannt wurde: basierend auf der Ganzes-Teile- Dichotomie bestand die Gesellschaft aus Individuen und bildete doch mehr als nur die Einheit ihrer Teile. ÄDie Gesellschaft wiegt nicht genauso viel wie alle Menschen zusammen und ändert auch nicht mit jeder Geburt und jedem Tod ihr Gewicht“42, beschreibt Luhmann die Ungereimtheit. Indem er einen subjektunabhängigen Gesellschaftsbegriff konstruiert, ermöglicht er, die Gesellschaft nicht als Summe der beteiligten Individuen zu sehen, sondern ermöglicht ihnen mittels struktureller Kopplungen Teilnehmerperspektiven einzunehmen. Die Gesellschaft wird als umfassendes Kommunikationssystem autonom begriffen.
KONSEQUENZEN DES VERALLGEMEINERTEN KOGNITIONSBEGRIFFS
Aber nicht nur theoriebautechnisch, auch empirisch entfernt sich Luhmann von traditionell soziologischen Methoden, die ihre Forscher anweise, Äsich so zu verhalten, als ob sie ein einziges ÄSubjekt“ seien“.43 Dabei führte die die soziologische Methode den ontologisch relevanten Unterschied von Denken und Sein fort, den Luhmann aus seiner konstruktivistischen Position heraus nicht mehr vertreten kann. Seiner Vermutung nach Äkönnte das Festhalten an derart unbrauchbaren Konzepten damit zusammenhängen, dass man die Gesellschaft als etwas denken möchte, das man von außen beobachten kann. Dabei muss man sich jedoch auf die Erkenntnistheorie stützen, die längst überholt ist - auf eine Erkenntnistheorie, die von der Unterscheidung Denken/Sein, Erkenntnis/Gegenstand, Subjekt/Objekt ausgeht und den Realvorgang des Erkennens aus der einen Seite dieser Unterscheidung dann nur noch als Reflexion erfassen kann.44Somit hinterlasse die gegenwärtige soziologische Theorie einen Äzwiespältigen, janusköpfigen Eindruck: Sie benutzt Konzepte, die den Anschluss an die Tradition noch nicht aufgeben, aber schon Fragen ermöglichen [will], die ihren Rahmen sprengen könnten“45.Davon sei man zwar spätestens seit dem linguistic turn in der Philosophie abgekommen, vermutlich sei aber die Problematik der autologischen Konzepte und die Erkenntnis um die Differenz in den Identitäten, denen man sich stellen müsse, wenn man den Übergang von Was-Fragen zu Wie-Fragen im Zuge der Entsubstanzialisierung, Deontologisierung und Detranszendentalisierung vollziehe46, Grund für das Festhalten an überholten philosophischen Konzepten. Desweiteren müsse man aber eine noch sehr viel weiter reichende Prämisse akzeptieren, nämlich die, dass Ädie Wissenschaft es durchweg mit selbsterzeugten Ungewissheiten zu tun hat. Denn Gewissheit ist eine Form, die man nur verwenden kann, wenn man ihre andere Seite, die Ungewissheit, mit akzeptiert“.47Die Systemtheorie behauptet nun nicht, die Gewissheit der Erkenntnis liege im fundamentum in re, also im System, sozusagen als Ergebnis seiner Leistungen, und die Ungewissheit sei entsprechend Ädraußen“ zu verorten, als übermäßige Komplexität der Welt. Sie sagt vielmehr, dass das Schema gewiss/ungewiss eine Eigenleistung der Kognition ist, solange ihre Autopoiese läuft. Dabei sei Information zu verstehen im Sinne einer selektiven Behandlung von Differenzen und nicht im einfachen Input-Output-Schema traditionellen Kognitionsverständnisses. Information bestehe vielmehr darin, dass Äder Erlebende Ereignisse gegen einen Horizont anderer Möglichkeiten projiziert und den eigenen Systemzustand durch die Erfahrung »dies und nichts anderes«, »dies und nicht das« festlegt.“48
DIE INDIVIDUALISIERUNG DES INDIVIDUUMS
Die Tradition hatte den Menschen im Unterschied zum Tier beschrieben und unter Verwendung von Begriffen wie Vernunft, Verstand, Wille, Sittlichkeit usw. Luhmann rekonstruiert die begriffsgeschichtliche Entwicklung anhand der Entwicklung sozialstruktureller Änderungen. Demnach hatte die industrielle Revolution eine Verlagerung der Beziehungsgefüge, in denen der Mensch seine Bedürfnisse verwirklichte, hin zu einem Typus unpersönlicher Beziehung angeregt. An der Differenzerfahrung persönlicher Beziehungen in Liebe und Familie und dem unpersönlichen Geschehen des Arbeitsmarktes konstituiert sich das Selbst fortan in seinem Bedarf einer eigenen Identität entlang der eigenen Geschichte. Gleichzeitig verdichten sich in persönlichen Verhältnissen die Kommunikationen anhand einer Absenkung ihrer wechselseitigen Relevanzschwelle49. Bereits um die Mitte des 17. Jahrhunderts hatte sich ein neuer Person-Begriff gezeigt: ÄPerson ist jetzt klug kontrollierte Erscheinung, nicht mehr Repräsentation eines Seins, sondern Präsentation eines Selbst, das sich für Zwecke des sozialen Verkehrs festlegt. Sie ist Seiendes mit Gedächtnis“50. Basierend auf dem Naturbegriff, der auch stratifikatorische Herrschaftsverhältnisse als naturgegeben betrachtete, umfasste dieser Person-Begriff jedoch nicht den in seinen Freiheitsgraden in der funktional sich ausdifferenzierenden modernen Gesellschaft erweiterten Begriff der Individualität. Erst als die religiös fundierte Welt/Gott-Unterscheidung nicht mehr ausreicht, um das Gefüge des Ganzen und seiner Teile zu erklären, verlagert sich das Problem in einer Doppelung in den Menschen. Ihm wird nun zugemutet, als Teil der Gesellschaft Ganzes und Teil zugleich zu sein, einerseits als ÄHommes universel“51und andererseits als das transzendentale Subjekt gleichzeitig das allgemein Menschliche zu verkörpern und andererseits Äin Höchstmaße individuell und damit einzigartig“52zu sein.
DER MENSCH ALS OBJEKT SEINER SUBJEKTIVITÄT
Dabei wird der Mensch aber weiterhin dinganalog begriffen. Das Dingschema begründet auch die Vorstellung der Selbstbeschreibung als Kognition. Diese setzt voraus, dass Ädas erkennende Subjekt und das erkannte Objekt sich unterscheiden und trennen lassen, dass die Kognition besonderen Regeln unterworfen wird, die verhindern, dass die Eigenarten und Vorurteile der einzelnen Subjekte sich auswirken, und dass das Objekt [«] sich nicht dadurch ändert, dass es einem Verfahren des Erkanntwerdens ausgesetzt wird.“53 Jene letzte Voraussetzung war aber spätestens seit den Entdeckungen der Quantenphysik nicht mehr unbedingt gegeben und die beiden anderen Prämissen stellen sich in einer näheren Betrachtung als Zirkel dar: Das Kognitionsschema wird als ein Aspekt des Objekts aufgefasst, infolgedessen eine Erkenntnis vermöge seiner Eigenschaften im Objekt selbst gründet, und gleichzeitig wird mithilfe dieses Schemas der Versuch unternommen, das Objekt als Objekt der Erkenntnis zu erklären. Mit der Entgegensetzung von Subjekt und Objekt und Subjektbegriff war aber gleichzeitig der Mensch auch aus der Realität der Dinge Äwegmetaphysiziert“54worden, was in der Konsequenz heißt, dass er selbst für die objektivierende Beobachtung invisibilisiert worden war. So kommt es zur Doppelung des Selbst, das, sich als Subjekt zugrunde liegend, eine zweite Existenz als Objekt des Dingschemas der Beobachtung pflegen muss.
DAS PROBLEM IDENTISCHER INDIVIDUEN
Erst in der Neuzeit verschiebt sich der Sinn von ÄIndividuum“ schließlich von seiner wörtlichen Bedeutung Unteilbarkeit auf Einzigartigkeit. Der Einfall, das menschliche Individuum als Subjekt zu bezeichnen, war allerdings nicht ganz neu. Die Vorbereitungen darauf finden sich bis in die Antike, vor allem mit dem Begriff der Seele und ihres Ädenkenden (und dabei das Denken denkenden) Teiles“55. Nach Luhmann kam es im 16. Und 17. Jahrhundert zu einer Spaltung von taktischer und innerer Individualität. Entsprechend schob sich die Unterscheidung innen/außen an die Stelle, die vordem die Unterscheidung oben/unten eingenommen hatte.56Im Kartesischen Zweifel zeigte sich dann auch die ontologische Fundierung dieser Unterscheidung, wenn das denkende Individuum sich zumindest seines Denkens gewiss sein könne - ob es nun falsch oder richtig denke: ÄEinige Zeit später wird das Individuum auch noch den Anspruch auf richtiges Denken aufgeben, es wird auf jeden sozialen Rang und selbst auf moralische Rechtfertigung verzichten und nur noch anders sein wollen als die anderen. [«] Aber genau darin sind sich, fatalerweise, dann alle Individuen gleich.“57Wenn alle Individuen einzigartig sind, muss die Besonderung des Allgemeinen erklärt werden. Wenn dagegen Individuen als Zentren ihrer je eigenen Welt, als Leibnizsche Monaden oder als Subjekte gedacht werden, muss man erklären, wie trotzdem soziale Ordnung entstehen kann. Im transzendenten Sinne garantiert Subjekt-Sein Einheit, im empirischen Sinne stand sie für Pluralität.
Indem das ‚Ich‘ in den Fokus des Erlebens rückt und ‚Umwelt‘ entsprechend konturloser wird, gerinnen Systeme als Personen zu Erwartungskollagen, die im System als Anknüpfungspunkte für weitere Selektionen fungieren. Die Ausgliederung des Subjekts aus der Natur, systemtheoretisch gesprochen die Differenz von System und Umwelt, ermöglicht aber intern nicht nur Freiheitsspielräume, sondern erzeugt eine Unbestimmtheit, die nur durch Strukturbildung reduziert werden kann.
[...]
1 Heute würde man sagen: Autopoiese oder auch Reproduktion und Stoffwechsel
2Niklas Luhmann 1998, 413.
3Die Bibel, Altes Testament, Prediger 1: Der Prediger Salomo - Alles irdische ist eitel
4N. v. Kues in Alfred Gierer 1998, 35f. Nach A. Gierer 1998 schloss Cusanus daraus auf eine durchaus positive Einsicht: „Die Grenzen der Erkenntnis, ergründet durch Reflexion des Denkens über sich selbst, geben die „Schau“ auf intuitive Zusammenhänge frei“ (ebd.) Vgl. auch N. Luhmann 1998, 406.
5Stefan Krempel 1995
6Niklas Luhmann 1998, 452
7 Vgl. Kant 1999
8Luhmann 1998, 428
9Ebd.
10Luhmann 2005, 123
11 Ebd. Auf die Problematik eines allgemeinen Individuums komme ich in Kap. 4 zurück.
12Zülicke 2000, 18f
13Luhmann 1998, 411
14Ebd.
15 „Je est un autre“: Ich ist ein Anderer. Vgl. Henning Boëtius 1997
16Vgl. Luhmann 1987, 395f
17Diese Theorie besagt, dass abgeschlossene (isolierte) Systeme, die weder Energie noch Materie mit ihrer Umwelt austauschen, die Tendenz haben, in den thermodynamischen Gleichgewichtszustand zu fallen, der durch ein Maximum an Entropie gekennzeichnet ist. In diesem Zustand, der irreversibel ist, kann das System keine weitere Arbeit leisten oder Entwicklung durchmachen. Er bedeutet gewissermaßen den Tod des Systems.
18 Werner Heisenberg 1979, 122
19Vgl. Stefan Krempel 1995
20Ebd.
21Niklas Luhmann 2005, 123f
22Vgl. Alfred Gierer 1998, 164
23Vgl. Zülicke 2000
24Alfred Gierer 1998, 176
25 Stefan Krempel 1995
26Vgl. vor allem Luhmann 1994
27Stefan Krempel 1995
28Ebd.
29 Alfred Gierer 1998, 244
30Stefan Krempel 1995
31Luhmann 1998, 404
32 Luhmann 1998, 413
33George Spencer Brown 1997
34Vgl. Luhmann 1987, 381
35 Vgl. Luhmann 1987, 380f
36Die kontroverse Diskussion darum, ob der von Maturana und Varela geschaffene Begriff der Autopoiese von Luhmann sozusagen zweckentfremdet und damit verfälscht würde, werde ich hier nicht führen. Es sei angemerkt, dass sich sowohl Maturana und Varela u. a. in Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus dazu äußern, als auch Luhmann an verschiedenen Stellen seines Werkes seine Verteidigungsschrift dazu führt.
37Luhmann 2005, 13
38 Vgl. Roth 1987
39Luhmann 2005, 99f
40Ebd.
41 Luhmann 1998, 7f
42Ebd., 11
43Ebd., 16
44 Ebd. 14
45Ebd.
46Vgl. Luhmann 1998, 14, 21
47Luhmann 1998, 57
48 Luhmann 1994, 28
49Vgl. Luhmann 1994, 194ff
50Luhmann 1998, 410
51Luhmann 1998, 419
52Ebd. Vergleiche dazu auch den Archimedischen Punkt der Neuzeit nach Hannah Ahrendt 2002: „Anstatt mit objektiven Eigenschaften […] finden wir uns mit den von uns selbst erschaffenen Apparaten konfrontiert, und anstatt der Natur oder einem Universum begegnen wir gewissermaßen immer nur uns selbst.“ (Ahrendt, vita activa, 333). Der Punkt, an dem „die Welt aus den Angeln“ gehoben werden konnte, verlagerte sich mit der Entstehung der modernen Gesellschaft in das Selbst des Menschen (Ahrend, vita activa, 334).
53 Luhmann 1998, 392
54Luhmann 2005, 150
55Luhmann 1998, 461
56Ebd.
57 Luhmann 1998, 462
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