Kommentar eines Zeitgenossen:
Giambologna hätte beschlossen, "der Welt zu zeigen, daß er nicht nur gewöhnliche Marmorstatuen anzufertigen wußte, sondern auch mehrfigürige der schwierigsten Art, in denen einem die ganze Kunst nackter Figuren demonstriert würde...
1. "Verfallserscheinung" der Hochrenaissance
...Der Vorwurf, die Akteure hätten an semantischer Prägnanz eingebüßt - es fehle Leidenschaft, Motivation, Ausdrucksbewegung -, gründet auf der Verbundenheit mit dem Schönheitsideal der Renaissance...
2. Drehbare Postamente und das Vielansichtigkeitsideal
... Der "Linienbewegungsstil" folgt einer dekorativ-ornamentalen Logik. Der Linienrhythmus strömt durch den Körper und findet eine Art dritte Bewegung. Die Gewinnung der flüssigen Linie zielt auf...
3. Ornamentale Seelenlosigkeit
..."Ein Mann trägt eine sich wehrende Frau wie ein Federkissen": Eines ikonographischen Sinnes bar ist die "serpentinata"-Melodik ein Ondulieren in sich selber, es ist ein Selbstgespräch der Körperrhetorik, ein ornamental-dekorativer Rhythmus ohne narrative, zeitliche oder räumliche Entwicklung...
4. "L´art pour l´art"
...Thema, Format und sogar Bildträger waren diesem "eleganten Stil" nebensächlich. Geradezu konsequent wurde die Werkinterpretation selbst als Kunstform zelebriert...
5. Der ästhetisch inszenierte Schrecken als Herrschaftsstrategie
...Während Cellinis Pendant den Moment nach der Tat im geradezu grotesken Blutstrahl aus dem Strunk der Geköpften als dramatischen Höhepunkt akzentuiert, inszeniert Giambologna den Schrecken mittels einer Stillegung von Zeit: Er zeigt nicht den Moment vor oder nach einer intendierten Handlung, sondern den eingefrorenen, versteinerten Moment der Handlung im Handlungsvollzug eines gewaltsamen Raubes selbst. Durch diesen Kunstgriff entsteht eine gesteigerte Erzählung ...
6. Prototypen eines neuen Kunstverständnisses
...Ein Thema von seltener Unverbindlichkeit ließ dem heterogenen Rezipientenkreis den nötigen Spielraum zur ikonographischen "Verwendbarkeit" der vervielfältigten Werke...
7. "Konzeptkunst"
... Das Verhältnis Modell-Ausführung hatte sich weitgehend umgekehrt. Das Material - im Cinquecento dem michelangelesken Dogma der monolithischen Steinskulptur zufolge Ausgangspunkt und Ziel aller bildhauerischen Arbeit - wurde ebenso austauschbar wie die Gehilfen bei der letztendlichen Ausführung. Die geforderte Eigenhändigkeit war kein Diskussionsthema mehr...
Inhaltsverzeichnis
- 1. "Verfallserscheinung" der Hochrenaissance
Die Serpentinierung als umstrittener Ästhetizismus - 2. Drehbare Postamente
Der "Linienbewegungsstil " und das Vielansichtigkeitsideal - 3. Ornamentale Seelenlosigkeit
Körperrhetorik als ornamental-dekorativer Rhythmus ohne narrative, zeitliche oder räumliche Entwicklung - 4. "L'art pour l'art". Das Kunstwerk und die Werkinterpretation als reine Kunstform
Der Hiatus von Inhalt und Form als gewollte "difficulta" des "eleganten Stils" - 5. Stillgelegte Zeit. Der ästhetisch inszenierte Schrecken als Herrschaftsstrategie
Die "historia" im pathetischen Modus des dramatisch zugespitzten Momentes - 6. Prototypen eines neuen Kunstverständnisses
Das neue Mäzenatentum, die Replizierung, die Beliebigkeit von Format und Material, sowie das Entwurfskriterium universeller Verwendbarkeit - 7. "Konzeptkunst"
Die Umkehrung des Verhältnisses von Modell und Ausführung
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Dieser Text analysiert die Raptusgruppe von Giovanni da Bologna, eine überlebensgroße Skulptur aus weißem Marmor, die als “Figura serpentinata” bezeichnet wird. Die Analyse konzentriert sich darauf, die Bedeutung der “Figura serpentinata” als manieristisches Figurenideal zu untersuchen, die stilistischen Besonderheiten des “Linienbewegungsstils” aufzuzeigen und den Zusammenhang zwischen formaler Gestaltung und dem Wandel des Kunstverständnisses im 16. Jahrhundert aufzudecken.
- Die “Figura serpentinata” und ihre Bedeutung im Kontext des Manierismus
- Der “Linienbewegungsstil” und die Prinzipien der Vielansichtigkeit
- Das Kunstwerk als “L’art pour l’art” und die Abkehr vom narrativen Inhalt
- Der ästhetisch inszenierte Schrecken als Herrschaftsstrategie
- Das neue Kunstverständnis: Replizierung, Beliebigkeit von Format und Material, Konzeptkunst
Zusammenfassung der Kapitel
1. "Verfallserscheinung" der Hochrenaissance
Dieses Kapitel stellt die “Figura serpentinata” als umstrittenes ästhetisches Konzept vor und diskutiert die Kritik am Manierismus, der als “Verfallserscheinung” der Hochrenaissance wahrgenommen wurde. Es wird argumentiert, dass die “Figura serpentinata” eine übertriebene Virtuosität und ein stilistisches Selbstverständnis des Künstlers repräsentiert. Die Assoziation der Bewegung mit einer “züngelnden Flamme” verdeutlicht die Betonung des ästhetischen Moments über den narrativen Inhalt.
2. Drehbare Postamente
Dieses Kapitel beleuchtet den “Linienbewegungsstil” als Prinzip der Komposition, der sich von der klassischen Gegenständlichkeit der Renaissance löst. Die Skulptur wird als räumlich offene Form betrachtet, die durch die Bewegung des Betrachters um das Objekt herum verschiedene Perspektiven und Ansichten erschließt. Die Verwendung drehbarer Postamente unterstreicht die Wichtigkeit der Vielansichtigkeit als künstlerisches Prinzip.
3. Ornamentale Seelenlosigkeit
Dieses Kapitel argumentiert, dass die “serpentinata”-Melodik in Giambolognas Raptusgruppe eine rein ornamentale Bewegung darstellt, die nicht von einem narrativen, zeitlichen oder räumlichen Handlungsablauf geprägt ist. Die Körperrhetorik wird als “Bewegtheit als bewegte Form” beschrieben, die sich von der “statisch potentiellen Zeitgehalt” der Renaissance und dem “Transistorischen” des Barock abhebt.
4. "L'art pour l'art". Das Kunstwerk und die Werkinterpretation als reine Kunstform
Dieses Kapitel untersucht die Umkehrung des Verhältnisses von Inhalt und Form im Manierismus. Die “difficulta”, die Herausforderung des künstlerischen Problems, steht im Vordergrund. Die Kunstwerke werden als selbständige Entitäten betrachtet, die unabhängig von narrativen Inhalten oder ikonographischen Programmen interpretiert werden. Die Interpretation selbst wird als Kunstform zelebriert.
5. Stillgelegte Zeit. Der ästhetisch inszenierte Schrecken als Herrschaftsstrategie
Dieses Kapitel analysiert die Darstellung des Frauenraubes als “historia” im pathetischen Modus. Der “eingefrorene” Moment des gewalttätigen Aktes soll die gesteigerte Lebendigkeit des Ereignisses transportieren. Die “Stillegung der Zeit” im Handlungsvollzug dient als Mittel, um den Schrecken zu inszenieren und dem Betrachter eine intensive emotionale Erfahrung zu vermitteln.
6. Prototypen eines neuen Kunstverständnisses
Dieses Kapitel untersucht die Bedeutung der Replizierung, der Beliebigkeit von Format und Material sowie des Entwurfskriteriums universeller Verwendbarkeit für das Kunstverständnis im 16. Jahrhundert. Das Mäzenatentum entwickelt sich hin zu einer neuen, flexibleren Praxis, die auch Repliken und Prototypen umfasst. Die “Verwendbarkeit” der Werke wird durch die Anpassung von Format und Material an verschiedene Bedürfnisse hervorgehoben.
Schlüsselwörter
Die zentralen Schlüsselwörter, die im Text behandelt werden, sind “Figura serpentinata”, “Manierismus”, “Linienbewegungsstil”, “Vielansichtigkeit”, “L’art pour l’art”, “Schrecken”, “Replizierung”, “Prototypen”, “Konzeptkunst”, sowie “Bozetto” als Entwurfskriterium.
- Quote paper
- Sonja Lüke (Author), 2011, Giambolognas Frauenraub. Ornamantale Seelenlosigkeit oder "die ganze Kunst nackter Figuren", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/172081