Während eines Studienganges kommen Menschen mit vielen komplexen und schwer zu definierbaren Begriffen literarisch, hermeneutisch und praktisch in Berührung. Ebenso zählen Wissenschafts- und Quellenkritik zu essentiellen Bestandteilen wissenschaftlichen Denkens und Handelns. Das bedeutet Reflexion und kritisches Lesen sind bedingende Prozesse für die Herausbildung einer wissenschaftlichen Urteilskraft. Der Begriff der Nation ist ein komplexer und schwer zu definierbarer. Und das kritische Lesen beeinflusst „Sprache, Denken, Wirklichkeit“ (vgl. Sapir, Whorf; zit. n. Lukas, 2009: S. 160). Im Rahmen unserer Lehrveranstaltung „Internationale Entwicklung im historischen Kontext“ soll dieser, von mir geschriebene Text, beides verbinden. Dazu beschäftige ich mich mit einigen Kapiteln des Buches „Imagined Communities“ von Benedict Anderson.
Benedict Anderson. 1996. Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines Erfolgreichen Konzeptes. Frankfurt am Main. Rezension.
Während eines Studienganges kommen Menschen mit vielen komplexen und schwer zu definierbaren Begriffen literarisch, hermeneutisch und praktisch in Berührung. Ebenso zählen Wissenschafts- und Quellenkritik zu essentiellen Bestandteilen wissenschaftlichen Denkens und Handelns. Das bedeutet Reflexion und kritisches Lesen sind bedingende Prozesse für die Herausbildung einer wissenschaftlichen Urteilskraft. Der Begriff der Nation ist ein komplexer und schwer zu definierbarer. Und das kritische Lesen beeinflusst „Sprache, Denken, Wirklichkeit“ (vgl. Sapir, Whorf; zit. n. Lukas, 2009: S. 160). Im Rahmen unserer Lehrveranstaltung „Internationale Entwicklung im historischen Kontext“ soll dieser, von mir geschriebene Text, beides verbinden. Dazu beschäftige ich mich mit einigen Kapiteln des Buches „Imagined Communities“ von Benedict Anderson.
Ich gebe Anthony Reid völlig Recht wenn er behauptet das Anderson als ein, in China geborener Ire, der seine Ausbildung in England hatte und in den U.S.A. lehrte, zudem drei Asiatische Länder beforscht hat, dazu qualifiziert ist sich diesem Thema zu widmen (vgl. Reid, 1985: S. 497).
Die Idee der Nation, so von Anderson vertreten, hängt stark mit der Entstehung des Kapitalismus zusammen. Dieser wiederum fand im Buchdruck seinen ersten Vorläufer. Denn der Buchdruck war der erste Markt mit kapitalistischem Charakter. Die Buchhändler stellten eigene Klassenfraktionen dar. D.h. „Frühform kapitalistischen Unternehmertums“ war das verlegen von Büchern (vgl. ebd.: S. 44). Neue märkte wurden erschlossen, indem diese nationalen grenzen überschritten. Die Verleger bildeten eine frühe inter- und intra- nationale Klassenfraktion. Anderson fährt fort mit einer Analyse der linguistischen Entwicklung, vor allem in Europa und später in den Kolonien. Wurde am Anfang in Latein geschrieben so wurde spätestens in der Mitte des 17. Jahrhunderts in der hiesigen – später dann nationalen – Sprache verlegt.
Für den Autor waren zwei Impulse des Kapitalismus wesentlich, die zur Entstehung einer Idee vom Nationalbewusstsein beitrugen:
Erstens bediente sich die Reformation des Buchdrucks und des Druckmarktes. Luthers Bibeln wurden in Deutsch veröffentlicht. D.h. in der Sprache großer Teile der Bevölkerung. Laut Anderson wäre die Reformation ohne das kapitalistische Verlagswesen nicht möglich gewesen. Diese Koalition schuf neue Lesekreise. Aber nicht nur die katholische Kirche musste sich neu positionieren. Das Britische Commonwealth und die Holländischen Republik sind die ersten nationalstaatlichen Sprösslinge des gleichen „Erdbebens.“ (vgl. ebd.: S. 47).
Zweitens: Durch die Möglichkeit des gedruckten Wortes wurde es leichter die bürokratische Verwaltung in der jeweiligen Landessprache voranzutreiben. Wobei die Entstehung der lokalen Landessprachen dem Buchdruck vorausging. Folglich galt ganz besonders im Kontext der Reformation, dass das kirchliche Latein dessen Universalität religiöser natur war, nie die politische Analogie hatte. D.h. es gab eine sakrale Sprache aber viele profanen Landessprachen.[1]
Anderson fügt hinzu dass die Ideengeschichte der Nation alles in allem eine explosive Mischung aus einem Produktionssystem (Kapitalismus), einem Kommunikationsmittel (Buchdruck) und „dem unausweichlichen Faktum […], dass die Menschen verschiedene Sprachen haben“, war (vgl. ebd.: S. 50). Seiner Meinung nach setzte sich schließlich Hegels Weltgeist, und mit ihm eine neue (d.h. absolutistische) Organisationsform, und ein spezifischer Habitus durch.
Hier serviert Anderson dem Leser/ der Leserin ein weiteres seiner zentralen Thesen über die Entstehung der Nation. In Anlehnung an den Anthropologen Victor Turner übernimmt er seine Ritualtheorie und betont die Relevanz von „Zeit, Status und Raum“ als „Sinnstiftende Erfahrung“ (vgl. ebd.: S. 60). Auf diese Weise entstand im 17. und 18. Jahrhundert, das vereinheitlichende Verwaltungsparadigma des absolutistischen Souverän, welches aber von den betroffenen mitgestaltet wurde.
Dies war für Ihn entscheidend für die Emanzipation der Kolonien von den Metropolen. D.h. weder die ökonomische Struktur, noch die Ideen der Aufklärung waren maßgeblich dafür, dass sich beispielsweise die USA, Mexiko u. a. amerikanische Länder, von Ihren Metropolen lösten. Dieser Prozess war nur wegen der kreolischen Elite, d.h. den Beamten und Funktionären, als auch den lokalen Druckereien, möglich (vgl. ebd.: S. 71).
Die zentralen Bausteine des „offiziellen Nationalismus“ sind für Anderson „die Volksschulpflicht“ (zur sprachlichen Vereinheitlichung und damit auch Identifikation), „eine staatlich organisierte Propaganda, das Umschreiben der offiziellen Geschichte, […] Militarismus, und endlose Bestätigungen der Identität von Dynastie und Nation.“ (vgl. ebd.: S. 106).
Benedict Anderson beweist sehr detailliertes Geschichtswissen. Dieses ist auch bei dem behandelten Thema von Nöten. Seine literarischen Exkursionen zu den verschiedenen Teilen der Welt können aber manchmal vor den Kopf stoßen, da der unmittelbare Bezug, meiner Meinung nach, nicht immer offensichtlich ist. Verschiedene Phänomene werden an Hand verschiedener Regionen dargestellt. Dieser exemplarische Zugang erweist sich aber trotzdem als Sinnvoll und macht im laufe der Zeit die Struktur des Forschungsfeldes annähernd zugänglich. Einige weniger wissenschaftliche Quellen wie z. B. Wikipedia, bezeichnen Anderson als Konstruktivisten. Dem widerspreche ich vehement!
Gerade wenn es um die Entstehung der, aus platonisch-hegelianischer Sichtweise wichtige, Idee von einer Nation geht, verweist er auf die enorme Relevanz der strukturellen und materiellen Bedingungen. D.h. für mich lässt sich Benedict Anderson nicht einfach in die klassischen Denkschulen einordnen. Mal ist er Strukturalist, Marxist, und ein anderes Mal bezieht er sich auf die Diskurstheorie aber auch auf die hermeneutische Dimension von Sprache und Schrift – nicht umsonst habe ich anfänglich Sapir und Whorf zitiert.
Trotz allen Lobes gibt es aber auch genug Anlass zur Kritik. Ich kann Anderson nicht zustimmen wenn er behauptet dass die Nation vom Großteil einer gleichsprachigen Bevölkerung mitgetragen und mitentwickelt wurde. Gerade bei der Beschreibung der Entwicklungen in Lateinamerika blendet er die indigene Bevölkerung größtenteils aus. Auch wenn es stimmt das die Kreolen die ausschlaggebende Kraft waren, so waren sie nicht der größte Teil der Bevölkerung. Hier werfe ich ihm einen teilweise zu elitenzentrierten Zugang vor. Des Weiteren legt er den Fokus von Entwicklung auf technologische Innovationen, Interessensfraktionen, und sozioökonomische Strukturen. Weniger Gewichtung erfährt der Konflikt als Katalysator sozialer Transformation. These und Antithese sind nur im Sinne Platos als widerstreitende Ideen von Bedeutung. Aber der größte Kritikpunkt den ich ihm vorwerfe lehnt sich an Immanuel Wallerstein an. Ausgerechnet im fünften Kapitel, in welchem er die Entstehung des offiziellen Nationalismus behandelt, lässt er die Geschichte der Wissenschaftlichen Disziplinen völlig außen vor. Ich bin in diesem Punkt völlig bei Wallerstein der meint dass die Gründung von Nationen eng mit der Gründung von Disziplinen wie der Soziologie oder auch der Geschichtswissenschaften, zusammenhängt. Insofern plädiert er in seinem Werk „The Capitalist World Economy“ dafür die Trennung zwischen historischer Wissenschaft und Sozialwissenschaft aufzuheben und beides in eine historische Sozialwissenschaft zu synthetisieren (vgl. ebd.: passim).
Gerade in diesem Punkt hätte es sich meiner Meinung nach als analytisch Fruchtbar erwiesen der Diskurstheorie – aber auch den „Gramscianischen Konstellationen“ – mehr Platz einzuräumen und die Frage der Macht lauter zu stellen (vgl. Candeias, 2007: o. S.).
[...]
[1] Andre Gingrich verweist darauf dass die Entstehung von Nationen eng mit der Kritik an der Kirche an sich (vor allem im 18. und 19. Jahrhundert) d.h. mit der Entstehung der Idee der Säkularität verknüpft ist. Anlässlich der amerikanischen, französischen und der bürgerlichen Revolution gab es einen starken Bedarf nach einer Ersatzreligion. D.h. die Entstehung von Nationen stellt insofern auch einen emanzipatorischen Prozess dar. Nationen sind konstruierte kollektive Identitäten und haben immer einen repressiven Beigeschmack. Denn die Aufwertung der eigenen (kollektiven) Mehrheitsidentität schließt a priori die Abwertung übriger Minderheiten mit ein. Dies ist klarerweise eine Form von Exklusion und ihr morbidestes historisches Beispiel ist das nationalsozialistische Regime. (vgl. Gingrich, 2007: o. S.).
- Quote paper
- Bojan Kustura (Author), 2011, Benedict Anderson. 1996. Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines Erfolgreichen Konzeptes. Frankfurt am Main. Rezension., Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/171435
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