Die Entwicklung neuer Informationstechnologien und der Wandel von der Industrie- zur Netzwerkgesellschaft brachten auch eine Transformation der US-amerikanischen Fernsehserie mit sich. Ende der 1990er Jahre entstand eine neue Seriengeneration, der erfolgreiche Serien wie die Fernsehserie "Lost" zugeordnet werden können. "Lost" grenzt sich in Hinblick auf Dramaturgie und Distribution von den konventionellen Serien ab und kann als eine der innovativsten Serien der letzten Jahrzehnte betrachtet werden. Insbesondere das Internet hat einen großen Einfluss auf die Distribution von "Lost", da die
Serie immer mehr als „Online-Streaming“ anstatt im Fernsehen angesehen wird. "Lost" zeichnet sich außerdem durch eine narrative Komplexität und eine nicht-lineare, nichtchronologische
Erzählstruktur aus, die die Distribution im Internet oder auf DVD
unterstützen, da der Rezipient eine Episode vor- und zurückspielen und somit narrative Zusammenhänge besser verstehen kann.
Die Erzählung von "Lost" beschränkt sich allerdings nicht nur auf die Serie selbst, sondern verteilt sich auf unterschiedliche
Medienkanäle, welche die Story weiter erzählen. Diese transmedialen Erzählungen sind zum Beispiel „Alternative Reality Games“, die primär im Internet verbreitet werden. Bei diesen weiterführenden Erzählungen hat der Rezipient häufig die Möglichkeit selbst
aktiv in die Geschichte einzugreifen und sich im Internet mit anderen Fans auszutauschen. Aufgrund des Engagements der Fans hat sich im Laufe der Jahre eine große Fangemeinde gebildet, die als virtuelle Gemeinschaft im Internet agiert.
In der vorliegenden Arbeit wird aus medienwissenschaftlicher Perspektive der Einfluss der Netzwerkgesellschaft und der neuen Informationstechnologien auf die TV-Serie "Lost" untersucht. Dabei wird vor allem auf die Besonderheiten in Dramaturgie, Distribution und Rezeption eingegangen. Die Grundlage für diese Arbeit bilden
Theorien zur Seriendramaturgie und Manuel Castells Theorie über die
Netzwerkgesellschaft.
INHALTSVERZEICHNIS
1. EINLEITUNG
2. FORSCHUNGSSTAND
3. METHODISCHE VERFAHRENSWEISE
4. SERIENTHEORIE
4.1. DIE SERIE
4.2. SERIENFORMATE
5. DRAMATURGISCHE BESONDERHEITEN IN TV-SERIEN
5.1. DIE AKTSTRUKTUR
5.2. DIE SUKZESSIVE EXPOSITION
5.3. DIE „ZOPFDRAMATURGIE“
5.4. CHARAKTERE UND KONFLIKTE
6. DIE NEUE SERIENGENERATION
7. DIE NETZWERKGESELLSCHAFT
7.1. DIE GENESE EINER NEUEN GESELLSCHAFT
7.2. DAS INFORMATIONSTECHNOLOGISCHE PARADIGMA
7.3. DIE NETZWERK-STRUKTUR
7.4. DIE INTERAKTIVE GESELLSCHAFT
7.4.1. DIE ENTWICKLUNG DES INTERNETS
7.4.2. INTERNETSPEZIFISCHE MERKMALE
7.4.3. INFORMATION - VERNETZUNG - PARTIZIPATION
7.5. DER WANDEL DER FERNSEHINDUSTRIE IN DEN USA
8. LOST
8.1. ENTSTEHUNG UND PRODUKTION VON LOST
8.2. LOST - DER INHALT
8.3. FORMAT UND GENRE
8.4. DISTRIBUTION DER TV-SERIE LOST
8.5. DIE ERZÄHLSTRUKTUR
8.6. DIE HANDLUNGSSTRÄNGE
8.7. DIE CHARAKTERE
8.8. DIE KONFLIKTE
8.9. DAS FIGURENNETZWERK
8.10. DIE HIERARCHIE DER RÄTSEL
8.11. ZWISCHENFAZIT: DIE NARRATIVE KOMPLEXITÄT IN LOST
9. TRANSMEDIA STORYTELLING IN LOST
9.1. DAS „TRANSMEDIA STORYTELLING“- KONZEPT
9.2. TRANSMEDIALE ERZÄHLSTRATEGIEN IN LOST
10. FAZIT
11. LITERATURVERZEICHNIS
12. ANHANG
12.1. TABELLE 1: ÜBERBLICK ÜBER EPISODEN SOWIE RÜCK-, VORAUS- UND SEITWÄRTSBLENDEN, STAFFEL 1
12.2. TABELLE 2: ÜBERBLICK ÜBER EPISODEN SOWIE RÜCK-, VORAUS- UND SEITWÄRTSBLENDEN, STAFFEL 2
12.3. TABELLE 3: ÜBERBLICK ÜBER EPISODEN SOWIE RÜCK-, VORAUS- UND SEITWÄRTSBLENDEN, STAFFEL 3
12.4. TABELLE 4: ÜBERBLICK ÜBER EPISODEN SOWIE RÜCK-, VORAUS- UND SEITWÄRTSBLENDEN, STAFFEL 4
12.5. TABELLE 5: ÜBERBLICK ÜBER EPISODEN SOWIE RÜCK-, VORAUS- UND SEITWÄRTSBLENDEN, STAFFEL 5
12.6. TABELLE 6: ÜBERBLICK ÜBER EPISODEN SOWIE RÜCK-, VORAUS- UND SEITWÄRTSBLENDEN, STAFFEL 6
12.7. TABELLE 7: FIGURENVERBINDUNGEN
12.8. SEQUENZPROTOKOLL: „HEARTS AND MINDS“ (STAFFEL 1, FOLGE 13)
12.9. SEQUENZPROTOKOLL: „OUTLAWS“ (STAFFEL 1, FOLGE 16)
12.10. SEQUENZPROTOKOLL: „NUMBERS“ (STAFFEL 1, FOLGE 18)
12.11. SEQUENZPROTOKOLL: „THE LONG CON“ (STAFFEL 2, FOLGE 13)
12.12. SEQUENZPROTOKOLL: „TWO FOR THE ROAD“ (STAFFEL 2, FOLGE 20)
12.13. SEQUENZPROTOKOLL: „LEFT BEHIND“ (STAFFEL 3, FOLGE 15)
12.14. SEQUENZPROTOKOLL: „EVERYBODY LOVES HUGO“ (STAFFEL 6, FOLGE 12)
ABSTRACT
ABSTRACT (ENGLISH VERSION)
1. EINLEITUNG
Die westliche Gesellschaft vollzog in den letzten Jahrzehnten einen Wandel, dessen Auswirkungen seit der Jahrtausendwende immer deutlicher Form annehmen. Die Etablierung der Netzwerkgesellschaft hat Neuerungen, wie die Entwicklung von „Neuen Medien“ und die damit zusammenhängende Transformation des Fernsehens und der TV-Serie, mit sich gebracht. Seit den 1990er Jahren ist eine „neue Seriengeneration“ entstanden, die sich hinsichtlich Dramaturgie und Stil wesentlich von „konventionellen“ Serien unterscheidet. Eine der erfolgreichsten und innovativsten TV-Serien dieser neuen Generation ist die Serie Lost.
Der Inhalt ist schnell erzählt: Nach einem Flugzeugabsturz finden sich einige Überlebende auf einer geheimnisvollen Insel wieder, die eine Vielzahl von Gefahren birgt und denen sich die Protagonisten in jeder Folge aufs Neue stellen müssen. Der Plot, der zunächst recht einfallslos wirkt, entpuppt sich nach einigen Episoden als eine der komplexesten und anspruchsvollsten Erzählungen in der TV-Geschichte. Die vernetzten Handlungsstränge spannen sich oft über mehrere Folgen - ja in manchen Fällen sogar über mehrere Staffeln. Die Erzählstruktur ist von einer nicht-linearen, nicht-chronologischen Erzählform geprägt und die Protagonisten, die allesamt von inneren Konflikten geplagt werden, reisen durch Raum und Zeit und versuchen am Ende „nur“ die Welt zu retten.
Die Entwicklung neuer Informationstechnologien, wie dem Internet, hat auch die Distribution von Fernsehserien beeinflusst. Viele Serien werden immer häufiger per „Online-Streaming“ angesehen. Auch Lost bedient sich dieser neuen Technologien und wird somit nicht mehr ausschließlich im Fernsehen oder auf DVD rezipiert.
Lost orientiert sich außerdem an dem Konzept des „Transmedia Storytelling“, das heißt, die Story von Lost ist nicht mehr auf die Serie selbst beschränkt, sondern wird durch andere Medienkanäle weitergeführt. Die Etablierung des Internets in der westlichen Gesellschaft hat auch auf diesen Bereich Einfluss, denn das transmediale Erzählen von Lost endet nicht bei Büchern und Videospielen, sondern es erstreckt sich auch auf das Internet in Form von „Alternative Reality Games“. Lost ist demnach mehr als nur eine
Fernsehserie, es ist ein großes fiktionales „Universum“, das sich auf die unterschiedlichsten Medien ausbreitet.
Diese Arbeit soll eine Verbindung zwischen dem gesellschaftlichen Wandel und der Entwicklung der Fernsehserie aufzeigen. Im Fokus liegt das Phänomen Lost, da die Serie viele innovative Ideen der TV-Branche umgesetzt hat und somit ein gutes Beispiel für die neue Seriengeneration darstellt.
Meine Forschungsfragen thematisieren den Einfluss der Netzwerkgesellschaft und der neuen Informationstechnologien auf die Dramaturgie und Distribution der Fernsehserie Lost. Es soll untersucht werden, inwiefern die technologischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte den narrativen Aufbau der Serie und die Art der Distribution beeinflusst haben. Zunächst wird in meiner Arbeit auf die technologischen Innovationen im Medienbereich eingegangen, die häufig als Auslöser für den gesellschaftlichen Wandel betrachtet werden. Im Zentrum dieser neuen Informationstechnologien steht das Internet, das auch bei der Distribution von Lost eine große Rolle spielt. Es soll herausgefunden werden, durch welche Medienkanäle die Distribution der Serie Lost stattfindet. Des Weiteren werde ich auf die dramaturgischen Besonderheiten der Serie Lost eingehen.
Meine konkreten Forschungsfragen zu dieser Problemstellung lauten:
- Welche Innovationen im Medienbereich hat der Wandel von der Industrie- zur Netzwerkgesellschaft mit sich gebracht?
- Durch welche Medienkanäle findet die Distribution der TV-Serie Lost statt?
- Welche dramaturgischen Besonderheiten weist die Serie Lost auf?
- Durch welche Aspekte drückt sich die narrative Komplexität von Lost aus?
- Welchen Einfluss hat die Netzwerkgesellschaft auf die Dramaturgie von Lost ?
- Welchen Einfluss hat die Netzwerkgesellschaft auf die Distribution von Lost ?
Zunächst werde ich in meiner Arbeit auf die Grundlagen der Serientheorie und der serienspezifischen Dramaturgie eingehen. Diese sind notwendig, um die Analyse von Lost durchführen zu können. Außerdem werden dadurch die Unterschiede zwischen konventionellen Serien und Serien der „neuen Seriengeneration“ deutlich.
Diesem Kapitel folgt eine Einführung in die Thematik der „Netzwerkgesellschaft“. Dieser Themenbereich ist sehr umfassend und es gibt eine Vielzahl von Forschungen und Theorien zu diesem Gebiet. Ich möchte aus diesem Grund nur einen Überblick über einige Aspekte der Netzwerkgesellschaft bieten, die wichtig für das Verständnis und den weiteren Verlauf meiner Untersuchung sind. Ich werde vor allem auf den Wandel des Kommunikationssystems durch die Einführung neuer Informationstechnologien eingehen, da diese Neuen Medien auch eine wichtige Rolle bei der Distribution von Lost spielen.
Nachdem ich einen Überblick über den Wandel des Mediensystems und die damit verbundene Transformation des Fernsehens und der Fernsehserie verschafft habe, werde ich mich der Analyse von Lost und den transmedialen Erzählstrategien widmen. Anschließend werde ich versuchen, die Innovationen der TV-Serie Lost zusammenzufassen und vor dem Hintergrund der Netzwerkgesellschaft zu reflektieren.
2. FORSCHUNGSSTAND
Zu dem Bereich der Netzwerkgesellschaft gibt es einige Forschungsarbeiten, eine der wichtigsten ist das dreiteilige Werk Das Informationszeitalter 1 von Manuel Castells, der den Begriff „Netzwerkgesellschaft“ maßgeblich geprägt hat. Es gibt unterschiedliche Theorien und Forschungen zu diesem Thema, diese Arbeit rückt aber die Forschungsergebnisse und theoretischen Ansätze von Castells in den Vordergrund, da sie zum einen sehr umfangreich sind und es sich zum anderen dabei um eine der Pionierarbeiten zu der Thematik handelt.
Zu Lost gibt es, vor allem im deutschsprachigen Raum, bisher nur wenige Arbeiten. Sandra Ziegenhagen beschäftigt sich in ihrem Buch Zuschauer-Engagement 2 mit dem Fan-Phänomen der Serie. Markus Reinecke untersucht in seiner Diplomarbeit TV-Serien als Megamovies 3 die Unterschiede zwischen konventionellen und aktuellen, innovativen Serien, die er als „Megamovie“-Serien bezeichnet. Die Serie Lost spielt in seiner Analyse eine wichtige Rolle, wobei sich Reinecke allerdings nur auf die erste Staffel von Lost konzentriert, weswegen viele wichtige Aspekte nicht berücksichtigt werden. Das Buch Was bisher geschah 4 untersucht verschiedene US-amerikanische Serien in Hinblick auf ihre jeweiligen Innovationen. Lost wird darin in Bezug auf das transmediale Erzählkonzept analysiert.
Aaron Smith hat seine Studie über transmediale Erzähltechniken im Fernsehen auf seinem Blog online veröffentlicht. Er beschäftigt sich in seiner Arbeit Transmedia Storytelling in Television 2.0 5 mit verschiedenen Strategien des „Transmedia Storytelling“ und geht dabei auch näher auf die Erzählstrategien von Lost ein.
3. METHODISCHE VERFAHRENSWEISE
Diese Arbeit ist in zwei Teile gegliedert. Der theoretische Teil setzt sich aus der Aufarbeitung von Fachliteratur zusammen, die die Basis für meine Analyse bilden soll. Der empirische Teil besteht aus Sequenzprotokollen von ausgewählten Lost -Episoden. Die Sequenzprotokolle sollen die Komplexität des dramaturgischen Konzepts von Lost veranschaulichen und damit den theoretischen Teil ergänzen.
Ich habe mich für ein Sequenzprotokoll entschieden, da ich den narrativen und dramaturgischen Aufbau erfassen möchte und daher die Gesamtheit wichtiger ist als einzelne Einstellungen.
„Die Sequenzliste (auch Sequenzprotokoll) erfasst den gesamten Film in seiner Zusammensetzung aus einzelnen Sequenzen. Als Sequenz wird dabei eine Handlungseinheit verstanden, die zumeist mehrere Einstellungen umfasst und sich durch ein Handlungskontinuum von anderen Handlungseinheiten unterscheidet. In der Regel werden Handlungseinheiten durch einen Ortswechsel, eine Veränderung der Figurenkonstellation und durch einen Wechsel der erzählten Zeit bzw. der Erzählzeit markiert. In der Sequenzliste werden für die einzelnen Sequenzen Handlungsort sowie auftretende Personen festgehalten und in wenigen Sätzen das Geschehen beschrieben.“6
Die narrative Komplexität von Lost zeigt sich unter anderem durch die verzweigten Figurenverbindungen in den Rückblenden, die in fast jeder Episode vorkommen. Ich habe mich in meiner Analyse auf die Figur Sawyer konzentriert, da dieser Charakter mit Abstand die meisten Verbindungen zu anderen Figuren in den Rückblenden aufweist. Ich habe die analysierten Episoden nach diesem Prinzip ausgesucht, das heißt, ich habe nur Folgen analysiert, in denen Sawyer in den Rückblenden eine Verbindung zu anderen Figuren aufweist. Eine Ausnahme bildet die Episode „Everybody Loves Hugo“7, die analysiert wurde, um die Struktur einer Seitwärtsblende zu veranschaulichen. In den Sequenzprotokollen sind die Figurenverbindungen durch die Farbe Gelb markiert. Abgeschlossene Handlungsstränge sind blau markiert und somit leicht von offenen Erzählsträngen zu unterscheiden.
4. SERIENTHEORIE
4.1. DIE SERIE
„Unmittelbarer Vorläufer der Fernsehserie ist die Radioserie, bei uns ebenso wie in den USA, ihre Vorgänger sind der Comic-Streifen ebenso wie der Zeitungsroman und die Kolportageliteratur, die frühe Serienliteratur wie das Unterhaltungstheater und die Kinoserie. Und wenn man weiter zurückgeht, sind die ältesten Beispiele serieller Unterhaltung die rhapsodischen Gesänge Homers und natürlich die Erzählungen Scheherazades in den 1001 Nächten. Das Erzählen in Fortsetzungen oder auch in wiederkehrenden Episoden kommt offenbar einem Grundbedürfnis menschlicher Unterhaltung nach und hat in der Fernsehserie nur ihre TV-bezogene massenmediale Form gefunden.“8
Demnach hat das serielle Erzählen eine lange Tradition und kann bis zu den Erzählungen aus 1001 Nacht zurück verfolgt werden. Aus dieser Erzähltradition hat sich die Fernsehserie entwickelt, die Mitte der vierziger Jahre in den USA ihren Durchbruch hatte. Während in den USA die Entwicklung der TV-Serie sehr gut dokumentiert ist, gibt es für den deutschsprachigen Raum keine umfangreiche Dokumentation hinsichtlich der Entwicklung der Fernsehserie.9
Knut Hickethier definiert die Fernsehserie als „eine fiktionale Produktion, die auf Fortsetzung konzipiert und produziert wird, die aber zwischen ihren einzelnen Teilen Verknüpfungsformen aufweist. […] Zur Seriengeschichte gehören ebenso Serien mit abgeschlossener Folgehandlung wie Fortsetzungsgeschichten, deren Folgen aufeinander aufbauen.“10 Hickethier unterscheidet Fernsehserien demnach in Bezug auf die Dauer der Handlungsstränge. Wenn die Handlungsstränge die in einer Episode eingeführt werden auch in derselben Episode beendet werden, spricht man von einer episodischen Serie. Wenn sich die Erzählstränge allerdings über mehre Episoden spannen und miteinander verwoben sind, handelt es sich um ein „Serial“.11
4.1.1. DIE EPISODISCHE SERIE (SERIES)
Die „Serie mit abgeschlossener Folgehandlung“12 führt in jeder Episode neue Handlungsstränge ein, die aber innerhalb der jeweiligen Episode abgeschlossen werden. Bei dieser Serienform sind die einzelnen Episoden nicht Teil einer übergeordneten linearen Erzählung. Die Handlungen einer Episode haben keine Konsequenzen auf die nachfolgenden Episoden. Oft handelt es sich bei der episodischen Serie um eine Krimioder Abenteuerserie, in der in jeder Folge ein neuer Fall die Handlung bestimmt. Die Folgen der episodischen Serie können in beliebiger Reihenfolge konsumiert werden, da weder der Erzählfluss noch die Dramaturgie gestört werden.13
Der Ausgangszustand, in dem sich ein Protagonist befindet, wird dabei meistens am Anfang einer Folge aus dem Gleichgewicht gebracht. Innerhalb einer Episode wird dann von den Figuren alles unternommen, um diesen Ausgangszustand wieder herzustellen. Die Figuren durchlaufen in der episodischen Serie keine persönliche Entwicklung, da sie in den meisten Fällen nur mit äußeren Konflikten und nicht mit privaten Konflikten konfrontiert werden und dadurch kein persönliches Engagement von ihnen gefordert wird, das zu einer Weiterentwicklung ihres Charakters beitragen würde.14 Erst wenn sich ein Charakter seinen persönlichen Konflikten stellt, kann es zu einer Entwicklung der Figur kommen.
Als Beispiel für eine aktuelle konventionelle „Series“ nennt Reinecke in seiner Diplomarbeit TV-Serien als Megamovies die Serie C.S.I. NY, da zwischen den Episoden kein narrativer Zusammenhang besteht und somit die einzelnen Episoden nicht aufeinander aufbauen. Das Figurenensemble besteht aus nur wenigen Charakteren, deren Emotionen dem Zuschauer primär durch Dialoge vermittelt werden. Die Haupthandlung einer Episode beschäftigt sich meistens mit dem aktuellen Fall. Über die Protagonisten selbst erfährt der Zuschauer nur wenig. Die stilisierte Handlung, die sich durch schnelle „Flashbacks“, schnelle Schnitte und lange Sequenzen von forensischen Untersuchungen auszeichnet, soll, laut Reinecke, von den Lücken in der Geschichte ablenken.15 Da am Ende einer Folge immer die Auflösung der zu Beginn gestellten Aufgabe präsentiert wird, kann diese Serienform endlos produziert werden.16 Diese Endlosigkeit der episodischen Serie ist ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zum „Serial“.
4.1.2. DIE FORTSETZUNGSSERIE (SERIAL)
In der Fortsetzungsserie ist ein abgeschlossener Handlungsbogen innerhalb einer Episode nicht zwingend. Die Erzählstränge spannen sich meist über mehrere Folgen, in manchen Fällen sogar über eine oder mehrere Staffeln. Der Zuschauer erwartet am Ende einer Episode keine Konfliktlösung. Die Handlungsstränge werden oft parallel erzählt und werden beliebig unterbrochen und fortgesetzt.17
Die Protagonisten sind in der Regel aufgrund von sozialen oder räumlichen Faktoren miteinander verbunden und durchlaufen eine persönliche Entwicklung. Die Organisation der Zeit ist in der Fortsetzungsserie häufig an das Leben der Zuschauer angepasst, das heißt, es vergeht auch außerhalb der gezeigten Episoden Zeit für die Protagonisten.18 Dadurch wird dem Zuschauer vermittelt, dass das Leben der Protagonisten parallel zu dem des Zuschauers verläuft. Die einzelnen Episoden schließen aus diesem Grund meist nicht genau an dem Ende der vorhergehenden Folge an, da das Leben der Protagonisten weitergegangen ist.19
Da nicht alle Erzählstränge innerhalb einer Episode abgeschlossen werden, kommt oftmals ein „Cliffhanger“ zum Einsatz. Am Spannungshöhepunkt wird die Handlung plötzlich unterbrochen und der Zuschauer wird mit einem ungelösten Spannungsmoment konfrontiert. Diese unbefriedigende Situation veranlasst den Zuschauer, sich die nächste Folge anzusehen.20 Dieses dramaturgische Mittel wird häufig in seriellen Erzählungen angewandt. Ein Beispiel für eine Fortsetzungsserie ist die Serie Gilmore Girls.
4.2. SERIENFORMATE
Diese beiden Grundstrukturen der TV-Serie, die „Series“ und das „Serial“, bilden die Basis für unterschiedliche Serienformate. Diese Serienformate unterscheiden sich sowohl bezüglich ihrer Struktur als auch in Hinblick auf ihren Inhalt. Ein bekanntes Serienformat ist zum Beispiel der Mehrteiler. Bei diesem Serientyp ist die Anzahl der Episoden von Anfang an beschränkt. Die Handlung wird am Ende der Staffel abgeschlossen, bleibt in den einzelnen Folgen aber offen. Es handelt sich beim Mehrteiler demnach um eine abgeschlossene Geschichte, die in mehrere Teile gegliedert ist.21 Der Mehrteiler basiert somit auf der Struktur einer Fortsetzungsserie. Ein weiteres bekanntes Format ist die Reihe. Eine Reihe ist eine Serie, die unter einem Titel, aber mit wechselnder Besetzung produziert wird. Ein Beispiel für eine Reihe ist die deutsche Serie Tatort.22 Die Handlung wird innerhalb einer Episode abgeschlossen. Somit basiert die Reihe auf der Grundstruktur der „Series“.23
In den USA ist das Serienformat der Sitcom sehr beliebt. Der Begriff „Sit-Com“ ist eine Abkürzung für „situation comedy“ und bezeichnet 20- bis 30-minütige Serienformate, in denen sich die Protagonisten komischen Situationen stellen müssen. Im Mittelpunkt stehen die Protagonisten und deren Umfeld. Häufig tragen die Protagonisten im realen Leben den gleichen Vornamen wie in der Serie, beispielsweise in der Sitcom Roseanne. Damit wird der Bekanntheitsgrad der Schauspieler als Werbemaßnahme benutzt. Die dramatische Grundstruktur entspricht der der „Series“, das heißt, die Handlungen werden innerhalb einer Episode abgeschlossen.24
Das wohl bekannteste Serienformat ist die „Soap Opera“. Die Soap Opera hat ihren Ursprung in den US-amerikanischen Radiosendungen der 1930er Jahre. Damals wurden gezielt Programme für Hausfrauen entwickelt, um den Absatzmarkt für Haushaltswaren und Waschmittel zu vergrößern. Das Programm sollte neben der Hausarbeit leicht zu konsumieren sein. Später wurde dieses Format auf das Fernsehen übertragen.25
Im Mittelpunkt der Soap Opera stehen die intimen und persönlichen Geschichten eines festen Ensembles von Charakteren. Die Handlungen finden immer an denselben Örtlichkeiten statt und werden linear erzählt. In der Soap Opera spielt der Dialog eine wichtige Rolle, da Probleme durch ihn und nicht durch Taten gelöst werden. Dadurch wird der Dialog zum primären Informationsträger.26 Bei der Soap Opera werden die meisten Szenen im Studio gedreht, die Spielorte bleiben konstant und sind dem Zuschauer bekannt. Bei den wenigen Außenaufnahmen, die in der Soap Opera vorkommen, handelt es sich meistens um „Establishment-Shots“, die eingesetzt werden, um einen neuen Spielort einzuführen. Sie dienen nur selten als tatsächlicher Spielort, sondern sollen vielmehr zur Orientierung beitragen.27
Die Handlungsstränge sind in der Soap Opera meist verschachtelt und spannen sich über mehrere Episoden. Somit entspricht sie der Grundstruktur des „Serials“. Die Verschachtelung der Geschichten erfolgt, indem ein narrativer Höhepunkt erzählt wird, während der nächste bereits vorbereitet wird. Diese Verschachtelung wird auch „recurrent catastasis“ genannt, wobei unter dem Begriff „Catastasis“ auch eine Verkomplizierung der Situation kurz vor dem Höhepunkt der Erzählung verstanden wird.28 Kurz vor der Konfliktlösung wird der Erzählung ein Element hinzugefügt, das das Problem noch schwerwiegender erscheinen lässt. Die Spannungskurve zum Höhepunkt wird dadurch noch effektiver und die Soap bleibt auf einem gleichbleibenden Spannungsniveau, da jede Episode über narrative Höhepunkte verfügt.29 Der Zuschauer weiß über die etablierten Handlungsstränge und deren Stadien meistens Bescheid und rechnet in jeder Folge mit einer Eskalation oder einer Auflösung von mindestens einem Konflikt. Aus diesem Grund wird das dramaturgische Mittel des „Hook“, der dramatische Einstieg in eine Folge, nur selten benutzt.30 Viel wichtiger ist die Wiederholung der bereits existierenden Handlungsstränge und Konflikte am Anfang einer Episode.31
Soaps werden mindestens einmal pro Woche („Weekly Soap“) und ohne Sendepause über das ganze Jahr ausgestrahlt.32 Die erzählte Zeit, also die Dauer der erzählten Geschichte33, passt sich dem Leben des Zuschauers an, das heißt, vergeht ein Tag im Leben des Zuschauers, dann vergeht auch etwa ein Tag für die Protagonisten der Soap Opera. Durch diese Erzählstrategie findet eine Synchronisation der Serien mit den Lebensrhythmen der Zuschauer statt.34 Die Geschichten der „Weekly Soaps“ verlaufen meist linear und behandeln immer die Gegenwart. Es gibt keine Zeitsprünge oder Erzählstränge, die Geschehnisse aus der Vergangenheit rückblickend erzählen. Das bewusst langsame Erzähltempo und die Wiederholung von Informationen ermöglichen dem Zuschauer einige Folgen zu verpassen, ohne dadurch den Anschluss zu verlieren.35 Dadurch wird neuen Zuschauern auch der Einstieg erleichtert. Eine Sonderform der Soap ist die „Prime Time Soap“36. Diese erzählt zwar auch vom alltäglichen Leben eines festen Figurenensembles, die Schauplätze sind aber viel exklusiver und exotischer. In der „Prime Time Soap“ sind auch Außenaufnahmen möglich, wobei Dreharbeiten im Studio trotz allem die Regel bleiben.37 Ein Beispiel für eine Prime Time Soap wäre die Serie Dallas.
5. DRAMATURGISCHE BESONDERHEITEN IN TV- SERIEN
5.1. DIE AKTSTRUKTUR
Die Aktstruktur ist ein wichtiger Bestandteil der Dramaturgie, denn sie gliedert eine Erzählung in verschiedene Abschnitte, die für den Aufbau einer Erzählung von Bedeutung sind. Der Begriff „Aktstruktur“ geht auf die Poetik von Aristoteles zurück.38 Die klassische 3-Akt-Struktur eröffnet mit einer Exposition, die den momentanen Zustand zeigt, woraufhin eine Wendung im Mittelteil erfolgt, die die Handlung verkompliziert und die Klimax einleitet. Im Schlussteil erfolgt dann durch eine Lösung der Konflikte die Etablierung eines neuen Zustands.39 Diese Struktur findet auch häufig in TV-Serien ihre Anwendung, allerdings nur in Serien mit abgeschlossener Folgehandlung, da in Fortsetzungsserien eine Auflösung des Konflikts am Ende einer Episode nicht erforderlich ist.
Fernsehserien orientieren sich allerdings nicht nur an der dramaturgischen Aktstruktur, sondern sind durch zeitliche Vorgaben und strenge Rahmenbedingungen beeinflusst. Vor allem die Werbepausen determinieren den Aufbau der Akte, wodurch auch die Erzählstruktur und der Handlungsverlauf beeinflusst werden.40 Dadurch unterscheiden sich insbesondere die in den USA produzierten Fernsehserien sehr stark voneinander.
Während Fernsehserien, die von Pay-TV-Sendern produziert werden und die nicht aufgrund von Werbeeinschaltungen bei ihrer Ausstrahlung unterbrochen werden, sich vorwiegend an der 3-Akt-Struktur orientieren, weisen TV-Serien, die von Sender- Netzwerken produziert werden, vor allem eine 4-Akt-Struktur auf.41 Pamela Douglas schreibt in ihrem Buch TV-Serien. Schreiben f ü rs Fernsehen über Network- Produktionen:
„Bei Network-Produktionen arbeitet man seit Jahrzehnten mit vier Akten, wobei man mehr und mehr zu Fünfaktern übergeht; 2006 gab ABC zum ersten Mal Einstundenserien mit sechs Akten in Auftrag, und gelegentlich trifft man sogar schon auf Siebenakter. (…) Die Reklamenpausen sind keine willkürlichen Einschnitte, sondern gliedern die Episode in gleich große Segmente, deren Handlung auf einen Cliffhanger oder eine überraschende Wendung zusteuert. Jedes der vier Segmente ist ein ‚Akt‘ […].“42
Die Akteinteilung einer TV-Serie ist demzufolge sehr stark durch die Werbeunterbrechungen determiniert. Einstündige Serien-Formate, die für Netzwerk- Sender produziert werden, sind meistens in vier Akte geteilt, die in Hinblick auf die Werbeunterbrechungen gestaltet werden. Jeder dieser vier Akte hat in etwa die gleiche Länge.43 Das Ende eines Aktes muss aufgrund der vielen Werbeunterbrechungen besonders spannend sein, um den Zuschauer an die Serie zu binden. Diese Aufrechterhaltung der Spannung wird meistens durch Einsatz eines Cliffhangers herbeigeführt, der innerhalb einer Episode kurz vor einer Werbeunterbrechung platziert wird.44
Im Gegensatz zum Film wird in der Serie dem Vorspann sowie dem Abspann nur wenig Platz zugesprochen. Der Vorspann bildet zusammen mit dem Abspann eine Art Klammer um eine Geschichte. In beiden Formen werden der Titel, der Regisseur, die Namen der Mitwirkenden und die Produktionsfirma genannt.45 Der Vorspann soll den Zuschauer in den Film einführen und ihm zeigen, was er erwarten kann, ohne zu viel vom Plot zu verraten.46
„Ein Vorspann ist somit gekennzeichnet durch seine inhaltliche Eigenständigkeit bei gleichzeitiger größtmöglicher konzeptioneller bzw. atmosphärischer Anbindung an das Nachfolgende. Er steht also vor dem Spagat, dem Zuschauer einerseits anzuzeigen, was dieser thematisch bzw. inhaltlich zu erwarten hat, ihm aber gleichzeitig von der eigentlichen Story möglichst wenig zu verraten, zu dieser auf Distanz zu bleiben, jedoch den Zuschauer in seinen Bann zu schlagen‘.47
Aufgrund der zeitlichen Restriktionen für die TV-Serie wird dem Vorspann nur wenig Zeit gewidmet. Während der Kinovorspann sich inhaltlich und konzeptionell auf die Story einstellt, bleibt der Serienvorspann immer gleich und bezieht sich nicht auf die jeweilige Episode. Auch wenn die Bilder im Serienvorspann oft nicht immer exakt dieselben sind, enthalten sie meistens ein gleichbleibendes Element zur Wiedererkennung.48 Dadurch ergeben sich ein einfacher Einstieg für neue Zuschauer und eine Erfüllung der Erwartungshaltung für bereits etablierte Zuschauer. Viele Serien verzichten mittlerweile auf den Vorspann und steigen direkt in die Geschichte ein.49 Für TV-Serien ist der Vorspann tatsächlich nicht unbedingt notwendig, da das Stammpublikum mit den Hauptfiguren bereits vertraut ist.
Der Abspann wird bei TV-Serien oft von den Sendern weggeschnitten, um die Zeit für Werbung zu nutzen. Aus diesem Grund verzichten die Produzenten oft auf einen von der Handlung separaten Abspann und integrieren die „Credits“ stattdessen in einer Epilogsequenz.50
Ein weiteres dramaturgisches Merkmal der Fernsehserie ist der „Teaser“. Dieser Begriff bezeichnet die Sequenz, die vor oder nach dem Vorspann gezeigt wird. Der Teaser ist ein typisches Serienelement und soll den Zuschauer neugierig auf den Rest der Serienhandlung machen.51 Inhaltlich kann der Teaser wichtige Konflikte und Handlungsstränge aus vorhergehenden Episoden zusammenfassen oder Lücken, die bereits in der Geschichte vorhanden sind, schließen. Eine häufige Form des Teasers ist die Rückblende:
„Because serials progress from week to week, they face special dilemmas. First, they must bring up to date viewers who do not usually watch the show or have missed an episode. […] many begin by offering a flashback recap of ongoing storylines („Previously, on...“).”52
In manchen Serien wird der Teaser auch eingesetzt, um vor dem Vorspann eine kleine Geschichte zu erzählen, wie in der Serie Six Feet Under, wo der Zuschauer mit Hilfe des Teasers immer wieder aufs Neue in die Welt der Serie eingeführt wird.53 Die Dauer des Teasers ist vom Serienformat abhängig, beträgt aber im Durchschnitt zwischen zwei und vier Minuten.54
Der „Tag“ ist ebenfalls ein serientypisches Element. Er soll dem Zuschauer eine Vorschau auf die Ereignisse in der darauffolgenden Episode bieten und wird direkt nach dem Abspann ausgestrahlt. Der „Tag“ enthält meistens keine Informationen, die für die Lösung eines Konflikts von Bedeutung sind.55 Der „Tag“ hat demnach eine ähnliche Funktion wie der Cliffhanger, da er den Zuschauer neugierig machen und an die Serie binden soll.
5.2. DIE SUKZESSIVE EXPOSITION
Der Begriff „Exposition“ steht sowohl für den ersten Akt als auch für die Vergabe von Information an den Rezipienten. Im Bereich des Films sind damit die Einführung der Protagonisten und deren Ausgangssituation gemeint. Über die zeitliche Platzierung der Exposition gibt es verschiedene Auffassungen. Entgegen der oft vertretenen Meinung, dass eine Exposition nur bis zum ersten dramatischen Moment andauern darf, meint der Dramentheoretiker Manfred Pfister, dass eine Exposition nicht zwingend am Anfang stehen muss.56 Pfister beschreibt dazu zwei unterschiedliche Arten von Exposition, einerseits die „initial-isolierte“ Exposition, die am Anfang eines Films steht, andererseits die „sukzessiv-integrierte“ Exposition, die in die fortschreitende Handlung integriert ist und „in zahlreiche kleine Teilmengen aufgelöst wird.“57 Diese sukzessive Informationsvergabe soll den Zuschauer neugierig machen und gleichzeitig Wissenslücken schließen.58
Die TV-Serie hat das Konzept der verstreuten Exposition übernommen und vergibt Information sowohl am Anfang als auch innerhalb einer Episode. Information wird somit zu Beginn einer Folge im Teaser oder Vorspann und danach sukzessiv in allen Akten vergeben.59 Auch Informationen aus bereits ausgestrahlten Episoden werden immer wieder wiederholt. Dadurch können Zuschauer, die eine Episode verpasst haben, jederzeit in die Handlungen einsteigen.60
5.3. DIE „ZOPFDRAMATURGIE“
Bis Mitte der 1990er Jahre war es in TV-Serien üblich, dass pro Episode nur zwei Handlungsstränge vorkamen. Erzählstrang A setzte am Beginn der Serien ein, während Erzählstrang B erst in der Mitte des ersten Akts eingeführt wurde und fortan den Rest der Story beeinflusste.61 In den letzten zwanzig Jahren veränderte sich die Erzählstruktur insofern, als in aktuellen Serien oft bis zu zehn Handlungsstränge in einer Episode vorhanden sind.62
Diese Verknüpfung von mehreren parallelen Erzählsträngen hat ihren Ursprung in der Soap Opera. Laut Georg Feil kann eine Anhäufung von Handlungssträngen in einer Episode auch problematisch sein, da die dramatischen Ereignisse auf mehrere Protagonisten und Handlungen aufgeteilt sind, wodurch keine großen Szenen mehr möglich sind. Das bedeutet, dass man es mit einer „reduzierten Form von Dramatik“63 zu tun hat, da nur mehr kurze Spannungsbögen abgehandelt werden.64 Um trotzdem genügend Spannung zu erzeugen, wird häufig in sehr kurzen Intervallen zwischen den Szenen hin und her gewechselt. Diese Abwechslung soll Dynamik vermitteln, wobei in diesen Kurzszenen meistens nur soviel Information vorkommt, wie der Zuschauer für die jeweilige Szene braucht.65
Jede dieser kurzen Szenen ist demnach Teil einer übergeordneten größeren Szene und endet immer mit einem „hang-over“, der bis zur nächsten Kurzszene dem Zuschauer im Gedächtnis bleiben soll.66 Der Begriff „hang-over“ bezieht sich auf das Ende einer Teilszene, in dem sich die Handlung etablieren muss, um die Spannung aufrechtzuerhalten und den Anschluss an die nächste Teilszene zu ermöglichen.67
Feil vergleicht diese Art von Erzählmuster mit einem Zopf, da die Handlungsstränge miteinander verflochten sind. Eine Szene steht dabei immer im Vordergrund, während die restlichen Szenen im Bewusstsein des Zuschauers weitergeführt werden. Feil meint, dass den Zuschauern die an andere Erzählstrukturen gewöhnt sind, die Geschichte anfangs als ein in Einzelheiten zerlegtes Drama erscheint. Andererseits glaubt Feil, dass für Zuschauer der heutigen Medienwirklichkeit die „Zopfdramaturgie“ kein Problem darstellt:
„Er [der Zuschauer] hat nicht das Gefühl, etwas Unfertiges und Zerstückeltes zu sehen - er erlebt die dramatische Form der zopfartigen Erzählung einzelner Teile als ein Ganzes, das große Ähnlichkeit mit seinem Wirklichkeitserlebnis hat. Deswegen ‚lernt‘ der normale Zuschauer das dramatische Muster der Soap, die zopfartige Erzählung, sehr viel schneller und kommt mit ihr besser zurecht (er decodiert sie mühelos) als mit der großen - sprich klassischen - dramatischen Form, der drei Akten der Tragödie, der Führung großer Szenen und der ‚anstrengenden‘ monologischen Entfaltung eines Protagonisten.“68
Feil stellt hier also die Vermutung an, dass die verschachtelte Erzählstruktur der Wirklichkeitswahrnehmung des Zuschauers näher kommt als die klassische, lineare Erzählstruktur und dass aus diesem Grund der moderne Zuschauer mit dieser Erzählform besser zurecht kommt. Feils Vorstellung, dass die Wirklichkeitswahrnehmung die Rezeption von Fernsehinhalten beeinflusst ist insofern nachvollziehbar, da der Zuschauer in der westlichen Gesellschaft auch im alltäglichen Leben mit einem Überangebot von Information konfrontiert ist und er daher mit der Selektion und Organisation von Inhalten vertraut ist. Trotzdem ist es wahrscheinlich, dass der Zuschauer einfach an eine bestimmte Art des Erzählens gewöhnt ist und diese bestimmte Erzählform bevorzugt. Folglich bevorzugen immer mehr Rezipienten komplexe Erzählstrukturen, je mehr komplexe und verschachtelte Erzählformen sie kennenlernen und konsumieren. Die Rezeption von komplexen Erzählungen ist, aus diesem Blickwinkel betrachtet, mehr oder weniger erlernbar.
Die inhaltliche Gewichtung der einzelnen Handlungsstränge variiert von Serie zu Serie. Pamela Douglas teilt Handlungsstränge nicht in Haupt- und Nebenhandlung ein, sondern für sie sind es nebeneinanderstehende Haupthandlungen, die bestimmte Protagonisten zentrieren und miteinander verwoben sein können. Hierbei können zum Beispiel Erzählstrang A und Erzählstrang B eine ähnliche Relevanz besitzen, während Erzählstrang C die Basis für einen neuen Handlungsbogen in der nachfolgenden Episode bildet.69 Jurgen Wolff meint im Gegensatz zu Douglas, dass es neben den Haupthandlungen auch Nebenhandlungen gibt. Diese Subplots orientieren sich an dem Inhalt und der Struktur der Haupthandlung. Die Nebenhandlungen können verschiedene Funktionen haben:
„A subplot serves a number of functions. For one thing, it gives you a bit of variety; if the main plot is an ‚issue‘ story, the subplot probably will be much lighter (and vice versa). It also serves the stars of the show. Since ‚Friends‘ is an ensemble show, various subplots are used this way, and they often word into the main plot, or into another subplot. (…) Finally, a subplot gives us the opportunity to sense that time has gone by; if the main story takes place over a week, for example, cutting away to the subplot helps us to accept that other things are going on and that time is passing.“70
Ob es in einer Serie nur Haupt- oder auch Nebenhandlungen gibt, ist von Serie zu Serie verschieden. In den meisten Fällen gibt es allerdings ein bis zwei Haupthandlungen und zusätzlich ein paar Nebenhandlungen, die die Haupthandlungen ergänzen.
5.4. CHARAKTERE UND KONFLIKTE
Die Charakterisierung der Figuren ist sowohl im Film als auch in der TV-Serie von großer Bedeutung, da die Charaktere nur dann Authentizität und Tiefe erreichen, wenn sie detailreich gezeichnet sind.71 Eine Figur muss demnach eine Vergangenheit und eine Zukunft haben, die ihre Handlungen plausibel erscheinen lassen. Die „Dreidimensionalität der Figuren“72 ist folglich besonders wichtig für das Verständnis der Story.
„Die kausale Aneinanderreihung von Ereignissen bestimmt die Dynamik und dafür bedarf es logisch handelnder Charaktere. Der Zuseher soll mitempfinden können und muss verstehen können, warum Figuren handeln, wie sie handeln. Es ist erklärtes Ziel, den Zuseher dazu zu bewegen, mit den Figuren zu fühlen und ihre Handlungsweisen als logisch zu empfinden. Ob es sich nun um Sympathie oder Antipathie handelt ist in diesem Fall allerdings nicht relevant.“73
Um eine Figur komplex erscheinen zu lassen, braucht sie eine „backstory“. Die Vorgeschichte umfasst oft die gesamte Lebensgeschichte von der Geburt der Figur bis zum Anfang der Erzählung. In der Serie wird oft nicht die gesamte „backstory“ gezeigt, sondern es werden nur Details preisgegeben, die es dem Zuschauer erleichtern, die Handlungen der Figur nachzuvollziehen.74
Der Beginn der „backstory“ kann auch an dem am weitesten zurückliegenden Ereignis, das dem Zuschauer vom Protagonisten bekannt ist, markiert werden. Dabei ist es nicht unbedingt notwendig, dass die „backstory“ in Bildern gezeigt wird, sondern es kann auch nur darüber gesprochen werden.75 Die „backstory“ endet zu dem Zeitpunkt, an dem die dominant erzählte Geschichte beginnt. Bei den Ereignissen in den „backstories“ handelt es sich meistens um ungelöste innere Konflikte, die zur Charakterisierung der Figur beitragen. Die erlebten Verletzungen in der Vergangenheit stehen somit in kausalem Zusammenhang mit dem Charakter einer Figur.76
Die Zielsetzung der Protagonisten bildet die Grundlage für ihre Handlungen. Das Ziel ist meistens genau definiert und das Erreichen dieses Ziels wird den Protagonisten so schwer wie möglich gemacht, wodurch unterschiedliche Formen von Konflikten entstehen können.77 In den „Serials“ gibt es oft kein festgesetztes Ziel, sondern es steht die Charakterentwicklung in einem geschlossenen sozialen System im Vordergrund. Die zu lösenden Konflikte kommen dabei nicht von außen, sondern es sind innere Konflikte, mit denen sich die Protagonisten auseinandersetzen müssen.78 „Series“ haben dagegen häufig ein festgesetztes Ziel, das die Protagonisten verfolgen. Die Antagonisten sind oft nicht Bestandteil eines fixen Figurenensembles, was die Zielfestlegung von außen hervorhebt. Diese Ziele können zum Beispiel die Aufklärung eines Mordes sein, wie beispielsweise in der Serie C.S.I. - Den Tätern auf der Spur.79
Im Gegensatz zu Kinofilmen und „Serials“ durchlaufen die Figuren in Serien mit abgeschlossener Folgehandlung kaum eine Entwicklung. Aus diesem Grund werden häufig Gastfiguren eingeführt, die als Ausgleich eine sehr schnelle Charakterentwicklung durchleben.80 In „Serials“ durchleben die Hauptfiguren eine starke Entwicklung, die oft auf sehr subtilen, inneren Konflikten beruht. Die Entwicklung wird in den meisten Fällen durch viele Wendungen lange hinausgezögert.81
Konflikte sind das zentrale Moment im Drama, da sie die Handlung vorantreiben. Vivien Bronner beschreibt drei Arten von Konflikten: einen äußeren Konflikt, einen inneren Konflikt und ein emotionales Beziehungsgeflecht.82 Die äußeren Konflikte sind die, die gegen tatsächliche Antagonisten ausgetragen werden. Die inneren Konflikte müssen die Figuren mit sich selbst lösen. Sie spielen in „Serials“ eine große Rolle und werden häufig zum Hauptkonflikt der Protagonisten. Sie werden entweder in jeder Episode aufs Neue gelöst oder bleiben ungelöst. Ein emotionales Beziehungsgeflecht findet zwischen mehreren Figuren statt, dabei kann es sich zum Beispiel um Partnerschafts- oder Generationskonflikte handeln.83
Bronner stellt fest, dass es in Filmen sowie in Serien wichtig ist, zwischen den Konfliktebenen zu wechseln oder mehrere Konfliktebenen in eine Szene zu integrieren. Im ersten Akt erfolgt meistens die Etablierung des inneren Konfliktes und des Beziehungsgeflechtes. Vor dem Einsetzen des ersten Wendepunktes dominiert dann häufig der äußere Konflikt die Handlung, wobei laut Bronner alle Wendepunkte mit dem äußeren Konflikt zusammenhängen. Der zweite Akt ist wiederum vom emotionalen Beziehungsgeflecht geprägt, während der dritte Akt wieder dem äußeren Konflikt gewidmet ist und die beiden anderen Konflikte meistens bereits gelöst sind.84 Der Protagonist hat demnach seine Entwicklung schon vor der Lösung des äußeren Konflikts abgeschlossen.
Neben diesen drei Konfliktebenen existiert noch ein Hauptkonflikt, der sich durch die gesamte Serie zieht und oft nie gelöst wird.85 Die beste Möglichkeit einen Hauptkonflikt zu erschaffen ist, laut Bronner, einen Gegensatz zwischen Charakter und Lebenssituation herzustellen. Diese grundlegenden Differenzen erschaffen einen nahezu unlösbaren Konflikt, der sich über eine Vielzahl von Folgen hinziehen kann.86 Bei dem Hauptkonflikt handelt es sich meistens um einen universellen Konflikt, das heißt, er behandelt ein Grundbedürfnis des Menschen.87 Solche Basiskonflikte können zum Beispiel eine lebensbedrohliche Situation für den Protagonisten wie in Ärzteserien oder eine Bedrohung des Fortbestandes vorhandener Familienstrukturen wie in Soaps sein.88
Diese Konfliktanalyse von Bronner trifft auf viele TV-Serien zu. Auch bei der Serie Lost kommen sowohl die drei Konfliktarten als auch der universelle Konflikt vor.89 Wie bereits erwähnt, gibt es in episodischen Serien oft keine persönliche Entwicklung der Charaktere, was zum größten Teil daran liegt, dass sie nicht mit ihren inneren Konflikten konfrontiert werden, sondern sich vor allem mit äußeren Konflikten auseinandersetzen müssen. Die Konfliktarten in Serien variieren demnach von Serie zu Serie. Die Anzahl der Konflikte ist außerdem von der narrativen Komplexität einer Serie abhängig, denn je mehr Handlungsstränge es gibt, desto mehr Kombinationsmöglichkeiten der Erzählstränge sind vorhanden und desto mehr Konfliktpotential ergibt sich daraus.
6. DIE NEUE SERIENGENERATION
Bis in die 1990er Jahre waren die Regeln für TV-Serien streng festgelegt. Mitte der 1990er Jahre brach die Mystery-Serien The X Files (1993-2002) mit diesen Konventionen. Neben den abgeschlossenen Episoden, die auch als „Monster of the Week“ bekannt wurden, wurde ein komplizierter Handlungsbogen präsentiert, der immer wieder aufgegriffen und über mehrere Episoden hinweg erzählt wurde.90 Durch diese übergreifenden Handlungsbögen musste der Zuschauer die Serie von Anfang an gesehen haben, um den gesamten Plot zu verstehen. The X Files hat dadurch „das Prinzip des Handlungsbogens bzw. der staffelübergreifenden Mythologie weitgehend etabliert.“91
Das Prinzip der weiterführenden Handlungsbögen ist zwar im Bereich der TV-Serie nicht wirklich neu, denn bei der Soap Opera verfolgt der Zuschauer oft täglich die Schicksale der Protagonisten, die über parallel laufende Erzählstränge erzählt werden. Der Unterschied besteht aber darin, dass der Plot in der Soap Opera meistens so einfach gestrickt ist und sich mehrmals wiederholt, dass ein Quereinstieg für den Zuschauer kein Problem darstellt.92
Das Aufkommen von Pay-TV führte zu einer einschneidenden Veränderung in den narrativen Möglichkeiten der TV-Serien. Der US-amerikanische Fernsehanbieter HBO begann ab den 1990er Jahren eigene Fernsehserien ohne Werbeunterbrechungen für ein zahlendes Publikum zu produzieren. Serien wie die Gefängnisserie Oz (1997-2003) oder die Mafiaserie The Sopranos (1999-2007) konnten somit 60 Minuten ohne Werbeunterbrechung gesendet werden.93 Dies wirkte sich auch auf die narrative Komponente der TV-Serien aus, die bis zu diesem Zeitpunkt von den Werbeeinschaltungen in ihrer Struktur determiniert war.
Die Pay-TV-Sender konnten sich außerdem zunehmend von den strengen sprachlichen und thematischen Restriktionen der Network-Sender loslösen, da sie sich primär durch Abonnements, Sportübertragungen und schnelle Zweitverwertungen von Kinofilmen finanzierten und somit unabhängiger von Quotenerfolgen waren als die Network- Sender.94
Die Network-Sender übernahmen bald das dramaturgische Konzept der Pay-TV-Sender und integrierten anspruchsvollere Handlungsbögen in den späteren Staffeln bei bereits laufenden Serien. Auch Kabelsender, wie Showtime, begannen immer aufwendigere und komplexere TV-Serien zu produzieren und sich von alten Konventionen zu befreien.95
Seiler spricht in diesem Zusammenhang von einer „televisionären Zweiklassengesellschaft“:
„Auf der einen Seite das 'böse' Fernsehen, angeführt von der erfolgreichsten aller Serien CSI: Crime Scene Investigation (seit 2000), auf der anderen Seite das 'gute' Fernsehen mit hochkomplexen HBO-Produktionen wie The Sopranos oder The Wire, aber auch mit einigen anspruchsvollen und groß angelegten Network-Shows wie Lost. [...] Es war plötzlich, als habe die Kunst den Kommerz mit den eigenen Waffen besiegt: Die Avantgarde drang hemmungslos in den Mainstream ein, und der Mainstream sah sich gezwungen, dies nicht nur zuzulassen, sondern sich darauf einzulassen.“96
Seit dem Streik der Drehbuchautoren in Hollywood im Jahr 2007 wurden Fernsehserien mit komplexer Handlung vermehrt abgesetzt und die Produktion wurde wieder in Richtung konservative konsumorientierte Fernsehserien gelenkt.97 HBO hat seine beiden anspruchsvollsten Serien, Vanished (2006) und Kidnapped (2006), aufgrund von Finanzierungsproblemen und Quotentiefs wieder aus seinem Programm genommen und auch erfolgreiche Serien wie The Sopranos (1999 - 2007) oder Six Feet Under (2001 - 2005) liefen aus.98
Trotz allem wird häufig von der Entstehung einer „neuen Seriengeneration“ Anfang der 1990er Jahre gesprochen. Serien wie Twin Peaks (1990-1991) oder The X-Files (1993- 2002) haben damit begonnen „verschachtelte“ Handlungsstränge, die sich über mehrere Folgen oder über eine ganze Staffel ziehen, in die Erzählung einzubauen und grenzten sich dadurch von „konventionellen“ Serien ab. Aufgrund der wachsenden Anzahl von Erzählsträngen und den damit verbundenen erhöhten Kombinationsmöglichkeiten, nahm auch die narrative Komplexität der Serien zu.99
Reinecke hat einige Unterscheidungsmerkmale zwischen konventionellen Serien und Serien der „neuen Seriengeneration“ herausgearbeitet. Demnach ist ein Merkmal der neuen Seriengeneration, dass die Serien nicht mehr nur einem oder zwei Genres zugeordnet werden können, sondern eine große „Genrevielfalt“ aufweisen.100 Ein weiteres Merkmal ist das Vorhandensein eines großen Figurenensembles und die aktive Rolle der Figuren, die die „treibende Kraft der Narration“101 ist. Reinecke spricht außerdem von einer „vertikalen Erzählstruktur“102, die die „neuen“ Serien aufweisen. Aufgrund der hohen Erzähldichte werden, laut Reinecke, die Handlungsstränge nicht mehr hintereinander erzählt, sondern sind vielmehr in einer Szene miteinander verwoben. Die Serien der neuen Seriengeneration zeichnen sich somit durch ein hohes Erzähltempo und eine komplexe Erzählstruktur aus.103
Von technischer Seite betrachtet ist der Stil der „Megamovie“-Serien im Gegensatz zu konventionellen Serien äußerst aufwendig. Die Kamera ist sehr beweglich und es wird vor allem der Lichtstil „Low Key“104 verwendet, es herrschen folglich vorwiegend dunkle Farbtöne vor. Bei den Kameraeinstellungen werden auch Nahaufnahmen verwendet und die Schnittfrequenz ist eher niedrig.105 Der Stil der „Megamovie“-Serien erinnert demnach mehr an einen Kinofilm als an eine Fernsehserie.
In Bezug auf die Story und die Charaktere sind die „Megamovie“-Serien, im Gegensatz zu den konventionellen Serien, facettenreicher gestaltet. Eine klare Trennung zwischen „Gut“ und „Böse“ ist häufig nicht gegeben, da die Helden auch eine dunkle Seite haben und oft von inneren Konflikten geplagt werden.106 Die Konflikte der Protagonisten sind meistens existentiell und der Tod ist präsenter als in konventionellen Serien. Thema dieser Serien ist häufig das Übernatürliche.107
Die Merkmale dieser neuen Serienform weisen Parallelen zum postmodernen Film der 1980er und 1990er Jahre auf. Filme wie Pulp Fiction (1994) oder Blue Velvet (1986), zeichnen sich ebenso durch eine „eigene Bildästhetik, ein aufwendiges Set-Design, eine dramatisierende Kamera und ungewöhnliche Tonspuren und Lichtkonzepte“108 aus. Auch im postmodernen Film wurden Tabus gebrochen und Grenzen überschritten.109 Auf die Frage, ob das postmoderne Kino tatsächlich die Fernsehserie beeinflusst hat, kann in dieser Arbeit keine umfassende Antwort gegeben werden, da dies den Rahmen der Arbeit sprengen würde. Es ist aber vorstellbar, da zum Beispiel David Lynch sowohl Regie für Filme wie Blue Velvet (1986) als auch für die Serie Twin Peaks geführt hat und es somit möglich ist, dass er einige Erzähltechniken vom Film auf die Fernsehserie übertragen hat.
Einen weiteren großen Einfluss auf die Entwicklung der TV-Serie hatten die neuen Informationstechnologien, die auch den Anstoß zum Wandel der westlichen Gesellschaft gaben. Die Einführung neuer Technologien hatte auch einen erheblichen Einfluss auf die Fernsehindustrie, die sich neuen Herausforderungen, wie etwa der Verbreitung von Fernsehserien im Internet, stellen musste. Im folgenden Kapitel sollen nun die wichtigsten Aspekte der Netzwerkgesellschaft untersucht werden, wobei die neuen informationstechnologischen Entwicklungen eine besonders wichtige Rolle einnehmen.
7. DIE NETZWERKGESELLSCHAFT
7.1. DIE GENESE EINER NEUEN GESELLSCHAFT
Der Soziologe Manuel Castells hat in seinem dreiteiligen Werk Das Informationszeitalter eine Theorie über den Wandel von der Industrie- zur Netzwerkgesellschaft, der vor allem durch die informationstechnologische Revolution ausgelöst wurde, entwickelt und knüpft somit an klassische Arbeiten über den „PostIndustrialismus“ von Alain Touraine110 und Daniel Bell111 an.
Laut Bell kann die „Menschheitsgeschichte“112 mit Hilfe von drei Stufen der gesellschaftlichen Evolution nachgezeichnet werden. In jeder Evolutionsstufe dominieren ein zentrales Problem und eine dementsprechende Problemlösung die Entwicklung der Gesellschaft.113 Das Hauptproblem der vorindustriellen Gesellschaft war der „Transport von Materie“114, worauf als Problemlösung die Errichtung von Verkehrsnetzen folgte. Das zentrale Problem der industriellen Gesellschaft war der Transport von Energie, die Problemlösung dafür war die Schaffung von Verbundnetzen. Als Hauptproblem der postindustriellen Gesellschaft wird der Transport von Information betrachtet, woraufhin eine Errichtung von Informations- und Kommunikationsnetzwerken erfolgte.115
Castells schließt an Bells Theorie einer „nachindustriellen“ Gesellschaft an, indem er die Entwicklung neuer Informationstechnologien als Ursache für einen Wandel der westlichen Gesellschaft betrachtet. Der Begriff „Netzwerkgesellschaft“ bezieht sich in dieser Theorie auf die Struktur der globalen Gesellschaft, die aus einem Beziehungsgeflecht von Macht, Technik, Information und Kapital besteht und in Form von Netzwerken strukturiert ist.116
Macht ist in diesem Konzept „jene Beziehung zwischen menschlichen Subjekten, durch die auf der Basis von Produktion und Erfahrung der Wille einiger Subjekte anderen durch den potenziellen oder tatsächlichen Einsatz von psychischer oder symbolischer Gewalt aufgezwungen wird.“117 Gesellschaftliche Institutionen sind, laut Castells, so angelegt, „dass sie den in den jeweiligen historischen Perioden bestehenden Machtverhältnissen Geltung verschaffen.“118 Damit sind unter anderem gesellschaftliche Kontrollmechanismen und Gesellschaftsverträge gemeint.119
Unter dem Begriff „Produktion“ versteht Castells „das Handeln der Menschheit gegenüber der Materie (Natur), um sie anzueignen und zum eigenen Wohl umzuwandeln, indem ein Produkt erzielt wird, wovon ein Teil (ungleich verteilt) konsumiert und der Überschuss für Investitionen akkumuliert wird […].“120 In dieser Definition betont Castells bereits die unausgewogene Verteilung von Produkten, die in Zusammenhang mit den bestehenden Machtverhältnissen steht. Der Begriff „Erfahrung“ bezieht sich in diesem Kontext auf „das Handeln von Menschen sich selbst gegenüber. Sie ist bestimmt durch das Wechselspiel zwischen biologischen und kulturellen Identitäten und steht in Beziehung zur gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt.“121 Erfahrung entsteht aus dem Wunsch nach der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, der Menschen zum Handeln anregt.122 Unter dem Begriff „Kapital“ meint Castells den „Überschuss in Warenform“123 in einer Gesellschaft. Kapitalismus ist demnach „auf Profitmaximierung orientiert, also auf die Steigerung des Überschussbetrages, der vom Kapital auf der Basis der privaten Kontrolle über die Produktions- und Zirkulationsmittel angeeignet wird.“124
[...]
1 Castells, Manuel (2003): Das Informationszeitalter. Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Opladen: Leske + Budrich.
2 Ziegenhagen, Sandra (2009): Zuschauer-Engagement: die neue Währung der Fernsehindustrie am Beispiel der Serie "Lost". Konstanz: UVK-Verl.-Ges..
3 Reinecke, Markus (2007): TV-Serien als Megamovies: die US-Serie Lost als Beispiel einer neuen
Seriengeneration. Veröffentlichte Diplomarbeit. Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ Potsdam-Babelsberg. Hamburg: Diplomica-Verlag.
4 Seiler, Sascha [Hrsg.] (2008): Was bisher geschah: serielles Erzählen im zeitgenössischen amerikanischen Fernsehen. Köln: Schnitt - der Filmverlag.
5 Smith, Aaron (2009): Transmedia Storytelling in Televion 2.0 (senior undergraduate thesis), Middlebury College, Vermont, USA. URL: http://blogs.middlebury.edu/mediacp/2009/07/05/chapter-4-lost-in-a- transmedia-universe/, [Zugriff: 21.06.2010].
6 Hickethier, Knut (2001): Film- und Fernsehanalyse. 3. Überarb. Aufl., Stuttgart [u.a.]: Metzler, S. 38f.
7 Lost, Staffel 6, Episode 12, „Everybody loves Hugo“
8 Hickethier, Knut (1992), zitiert nach Schöfmann, Erna (2005): Narration und Dramaturgie in TV-Serien anhand des Beispiels „ Desperate Housewives “ . Unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Wien, S.
10.
9 Vgl. Freimund, Petra (2009): Zur Dramaturgie von fiktionalen Fernsehserien: eine vergleichende
Zusammenfassung ausgewählter Drehbuchliteratur. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Wien, S. 24f.
10 Hickethier, Knut (1991): Die Fernsehserie und das Serielle des Fernsehens. Lüneburg: Kultur Medien Kommunikation; Lüneburger Beiträge zur Kulturwissenschaft 2, S. 8.
11 Vgl. Reinecke (2007), S. 7f.
12 Hickethier (1991), S. 8.
13 Vgl. Reinecke (2007), S. 10.
14 Vgl. Freimund (2009), S. 7.
15 Vgl. ebd., S. 9f.
16 Vgl. ebd., S. 8f.
17 Vgl. Reinecke (2007), S. 9.
18 Vgl. Freimund (2009), S. 10.
19 Vgl. ebd., S. 10.
20 Vgl. ebd., S. 54.
21 Vgl. Schöfmann, Erna (2005): Narration und Dramaturgie in TV-Serien anhand des Beispiels "Desperate housewives". Unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Wien, S. 18.
22 Vgl. Freimund (2009), S. 12.
23 Vgl. ebd., S. 12.
24 Vgl. ebd., S. 13.
25 Vgl. Reinecke (2007), S. 14.
26 Vgl. ebd., S. 14.
27 Vgl. ebd., S. 14f.
28 Vgl. ebd., S. 15.
29 Vgl. ebd., S. 15.
30 Vgl. ebd., S. 15.
31 Vgl. ebd., S. 15.
32 Vgl. ebd., S. 15.
33 Vgl. Mikos, Lothar (2008): Film- und Fernsehanalyse. 2. Auflage. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft mbH, S. 131.
34 Vgl. ebd., S. 131.
35 Vgl. Reinecke (2007), S. 16.
36 Vgl. ebd., S. 16.
37 Vgl. ebd., S. 16.
38 Vgl. Freimund (2009), S. 34.
39 Vgl. ebd., S. 34.
40 Vgl. ebd., S. 35.
41 Vgl. ebd., S. 35.
42 Douglas, Pamela (2008): TV-Serien: Schreiben f ü rs Fernsehen. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Zweitausendeins, S. 28f.
43 Vgl. Freimund (2009), S. 37.
44 Vgl. ebd., S. 54.
45 Vgl. ebd., S. 52.
46 Mengel, Norbert: Den Anfang macht die Ouvertüre. In: Schneider, Irmela [Hrsg.] (1995): Serien-
Welten. Strukturen US-amerikanischer Serien aus vier Jahrzehnten. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 19.
47 Ebd., S. 23.
48 Vgl. ebd., S. 22ff.
49 Vgl. Freimund (2009), S. 41.
50 Vgl. ebd., S. 52.
51 Vgl. ebd., S. 42.
52 Kozloff, Sarah (1992), zitiert nach Freimund (2009), S. 43.
53 Vgl. Freimund (2009), S. 44.
54 Vgl. ebd., S. 44.
55 Vgl. ebd., S. 52f.
56 Vgl. ebd., S. 45.
57 Pfister, Manfred (2001): Das Drama. 11. Auflage. München: Fink, S. 125.
58 Vgl. Freimund (2009), S. 45.
59 Vgl. ebd., S. 46.
60 Vgl. ebd., S. 46.
61 Vgl. ebd., S. 49.
62 Vgl. ebd., S. 49.
63 Feil, Georg (2006): Fortsetzung folgt: Schreiben f ü r die Serie. Konstanz: UVK-Verl., S. 95. 24
64 Vgl. ebd., S. 95.
65 Vgl. ebd., S. 95.
66 Vgl. ebd., S. 95.
67 Vgl. ebd., S. 95.
68 Ebd., S. 95.
69 Douglas (2008), S. 84f.
70 Wolff, Jurgen (1996), zitiert nach Freimund (2009), S. 51. 26
71 Vgl. Freimund (2009), S. 56.
72 Ebd., S. 56.
73 Ebd., S. 56.
74 Vgl. ebd., S. 59.
75 Vgl. ebd., S. 59.
76 Vgl. ebd., S. 59.
77 Vgl. ebd., S. 57.
78 Vgl. ebd., S. 57
79 Vgl. ebd., S. 58.
80 Vgl. ebd., S. 61.
81 Vgl. ebd., S. 62.
82 Vgl. Bronner, Vivien (2004): Schreiben f ü rs Fernsehen: Drehbuch-Dramaturgie f ü r TV-Film und TV- Serie. Berlin: Autorenhaus-Verl., S. 93.
83 Vgl. ebd., S. 93.
84 Vgl. ebd., S. 97f.
85 Vgl. ebd., S. 119ff.
86 Vgl. ebd., S. 136.
87 Vgl. ebd., S. 136.
88 Vgl. ebd., S. 136.
89 Vgl. dazu Kapitel „Konflikte“
90 Vgl. Seiler, Sascha: Vorwort. In: Seiler Sascha [Hrsg.] (2008): Was bisher geschah: serielles Erzählen im zeitgenössischen amerikanischen Fernsehen. Köln: Schnitt - der Filmverlag, S. 6.
91 Vgl. ebd., S. 6.
92 Vgl. ebd., S. 7.
93 Vgl. ebd., S. 7.
94 Vgl. ebd., S. 7.
95 Vgl. ebd., S. 8.
96 Ebd., S. 8.
97 Vgl. ebd., S, 9
98 Vgl. ebd., S, 9
99 Vgl. Reinecke (2007), S. 107.
100 Vgl. ebd. S. 93.
101 Ebd., S. 93.
102 Ebd., S. 108.
103 Vgl. ebd., S. 86.
104 Vgl. ebd., S. 86.
105 Vgl. ebd., S. 86.
106 Vgl. ebd., S. 108.
107 Vgl. ebd., S. 86.
108 Ebd., S. 111.
109 Vgl. ebd., S. 111.
110 Touraine, Alain (1972): Die postindustrielle Gesellschaft. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
111 Bell, Daniel (1975): Die nachindustrielle Gesellschaft. 2. Aufl. Frankfurt/Main [u.a.]: Campus-Verlag.112 Burkart, Roland (2002): Kommunikationswissenschaft: Grundlagen und Problemfelder. 4., überarbeitete und aktualisierte Auflage. Wien [u.a.]: Böhlau, S. 183.
113 Ebd., S. 183.
114 Ebd., S. 183.
115 Vgl. ebd., S. 183.
116 Vgl. Castells (2003), S. 15.
117 Ebd., S. 15.
118 Ebd., S. 15.
119 Vgl. ebd., S. 15.
120 Ebd., S. 15.
121 Ebd., S. 15.
122 Vgl. ebd., S. 15.
123 Ebd., S. 16.
124 Ebd., S. 16.
- Arbeit zitieren
- Michaela Pachler (Autor:in), 2010, "Lost" im Netz - Der Einfluss der Netzwerkgesellschaft auf Dramaturgie und Distribution der TV-Serie "Lost", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/169360
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