Ein Erklärungsversuch von jugendlicher Gewalt aus der Sicht der Sozialisationstheorien. Die Basis ist polizeilichen Kriminalitätsstatistik.
Gliederung
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
1. Einleitung
2. Grundlagen der Sozialisation Jugendlicher
Sozialisationsbedingungen
Lebensphasen
Fazit
3. Die Struktur der Jugendgewalt
Der Gewaltbegriff
Polizeiliche Kriminalitätsstatistik
Jugendliche als Opfer von Gewalt
Jugendliche als Täter
Geschlechtsspezifische Betrachtung der Jugendkriminalität
Kriminalität jugendlicher Migranten
Fazit
4. Sozialisationstheoretische Ansätze zur Erklärung von Jugendgewalt
4.1 Die moralische Sozialisation
Die stufenweise moralische Sozialisation
Der Wertewandel
Fazit
4.2 Sozialisation durch Massenmedien
Gewaltdarstellungen in Massenmedien
Fazit
4.3 Familiäre Sozialisation Jugendlicher
Die Struktur familiärer Sozialisationsbedingungen
Erziehungsstile
Die Auswirkungen innerfamiliärer Gewalt
Armut in Familien
Fazit
4.4 Individualisierung und Jugendgewalt
Risikogesellschaft
Individualisierung
Das Desintegrations-Verunsicherungs-Gewalt-Konzept
Die Herauslösung aus familiären Bindungen
Die Bedeutung des Freundeskreises und von Gleichaltrigengruppen
Fazit
5. Schlußbetrachtung
6. Literaturverzeichnis
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abb. 1: Komponenten und Ebenen eines Strukturmodells der Sozialisationsbedingungen
Abb.2: Lebensphasen während der Lebensspannen im historischen Vergleich
Abb. 3: Wegen Verbrechen und Vergehen Verurteilte nach Altersgruppen
Tab. 1: Polizeilich registrierte Opfer ausgewählter Delikte nach Altersstufen 1999
Abb. 4: Tatverdächtige und Verurteilte pro 100.000 Jugendliche, Heranwachsende und Erwachsene (ohne Straßenverkehrsdelikte), alte Länder, 1984-1998
Abb. 5: Strukturmodell familialer Sozialisationsbedingungen
1. Einleitung
2. Grundlagen der Sozialisation Jugendlicher
Die Untersuchung der Sozialisation Jugendlicher ist ein Schwerpunkt der Sozialisationsforschung, in welchem die Persönlichkeitsentwicklung während eines bestimmten Abschnittes des Lebens betrachtet wird. Ich möchte mich in diesem Teil meiner Arbeit mit den theoretischen Grundlagen des Sozialisationsprozesses beschäftigen. Dadurch soll die Basis für eine weiterführende und vertiefende Betrachtung dieses Themengebietes geschaffen werden. Die Sozialisations- und die Jugendforschung sind von Theorien aus der Psychologie, der Soziologie und der Pädagogik beeinflußt. Auch wenn die unterschiedlichsten Ansätze in vielen Bereichen nicht voneinander zu trennen sind, werde ich den Fokus auf eine soziologische Betrachtung legen.
Hurrelmann beschreibt Sozialisation als „kategorialen Oberbegriff“ eines bestimmten Bereiches der sozialen Realität, es wird hiermit aber „keine Theorie im Sinne eines strukturierten Gefüges von Annahmen und Aussagen über diesen Gegenstandsbereich“[1] dargestellt. Aus diesem Grund sind abgrenzende Formulierungen und Präzisierungen nötig.
„Sozialisation bezeichnet den Prozeß der Entstehung und Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und dinglichen Umwelt.“[2] Damit wird der Gegenstandsbereich klar formuliert. Es geht um die Betrachtung der Umweltbedingungen, die auf die Sozialisation Einfluß haben. Dazu zählen alle Einzelfaktoren, die auf die Persönlichkeitsentwicklung einwirken. Diese werde ich später anhand des Strukturmodells der Sozialisationsbedingungen näher erläutern. Hurrelmann trifft eine wichtige Einschränkung, indem er von einem „bestimmten Zeitpunkt der historischen Entwicklung einer Gesellschaft“[3] ausgeht, an dem diese Lebensbedingungen existieren. Ich schließe mich dieser Betrachtungsweise an, da die Veränderungen von Sozialisationsbedingungen vorstellbar werden.
Das Ziel des Sozialisationsprozesses ist die Bildung einer gesellschaftlich handlungsfähigen Persönlichkeit, in einer lebenslangen Auseinandersetzung mit den Umweltbedingungen[4]. Dieser Prozeß erfolgt im Rahmen einer aktiven Aneignung von Umweltbedingungen, auf die das Individuum einen gestaltenden Einfluß nimmt.
So steht die Entwicklung und Veränderung der menschlichen Persönlichkeit, die sich als spezifisches Gefüge von Merkmalen, Eigenschaften, Einstellungen und Handlungskompetenzen darstellt, im Zentrum der Sozialisationsforschung[5]. Die soziologische Betrachtung umfaßt vor allem den Einfluß der Umweltbedingungen auf den Prozeß der Persönlichkeitsbildung.
Die sich auf diese Basis stützenden Theorien sind sehr unterschiedlich und stehen vielfach in Konkurrenz zueinander. Es werden aber „elementare Grundannahmen“ zum Sozialisationsprozeß akzeptiert, „...ohne die eine Verwendung des Begriffes überflüssig oder unsinnig wären“[6]. Gemeinsam an allen Theorien ist eine Ablehnung der Vorstellung, daß die Persönlichkeitsentwicklung einen linearen Verlauf aufweist und durch nur einen Faktor bestimmt ist. Dies bedeutet auch, daß man nicht mehr von einer passiv-hinnehmenden Prägung des Individuums entweder durch gesellschaftliche oder körperlich-geistige Faktoren sprechen kann. Der Mensch kann nicht nur das Produkt der Gesellschaft oder nur seiner Gene sein. Aus diesem Grund werde ich die biologischen und die sozial deterministischen Ansätze aus meiner Betrachtung ausschließen.
Eine weitere Gemeinsamkeit ist die Ansicht, daß der Prozeß der Sozialisation eine Auseinandersetzung mit der inneren und der äußeren Realität darstellt. Die zuerst genannte Realität entspricht den organismusinternen psychischen und physischen Prozeßstrukturen und den körperlichen Grundmerkmalen, die zweite die dem Organismus externen Gegebenheiten der materiellen und sozialen Umgebung. Jedes Individuum besitzt Fähigkeiten der Realitätsaneignung, -verarbeitung, -bewältigung und -veränderung, setzt diese ein und entwickelt sie weiter.[7]
Es wird davon ausgegangen, daß eine Beziehung zwischen Gesellschaftsentwicklung und Persönlichkeitsentwicklung existiert, da die menschliche Persönlichkeit sich in keiner ihrer Dimensionen gesellschaftsfrei herausbildet. Die Auseinandersetzung des Menschen mit der Umwelt findet über gesellschaftliche Vermittlung statt, wobei auch hier von einer gegenseitigen Einflußnahme ausgegangen wird.[8] Diese Vorraussetzung betont einen historischen Wandel der Gesamtgesellschaft und damit auch eine stetige Veränderung der Sozialisationsbedingungen.
Sozialisationsbedingungen
Bisher wurde nur die Persönlichkeitsentwicklung in einer generalisierten Gesellschaft betrachtet. Da sich aber ein Individuum immer in konkreten sozialen Umwelten bewegt, die wiederum in größere Zusammenhänge eingebunden sind, kann von einer Struktur des Sozialisationsprozesses ausgegangen werden. In diesem Modell werden die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Faktoren und ihrer direkten, wie auch indirekten Wirkung auf die Sozialisation dargestellt. Wie Tillmann betont, soll es als Orientierung gesehen werden, in dem keine Präferenz für einen bestimmten theoretischen Ansatz ausgesprochen wird.[9]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Komponenten und Ebenen eines Strukturmodells der Sozialisationsbedingungen[10]
Die erste Ebene umfaßt das Individuum, seine in der Grundstruktur verankerten Erfahrungsmuster, Einstellungen, das Wissen und auch die emotionale Strukturen. In dieser Ebene spielen aber auch Veranlagungen und kognitive Fähigkeiten eine entscheidende Rolle. Hier wird die Basis für die weitere Persönlichkeitsentwicklungen dargestellt, denn die Handlungsfähigkeit des Individuums wird über die Grundstruktur seiner Fähigkeiten beeinflußt. Ein weiterer Ausbau der Persönlichkeit findet über die Interaktion mit anderen Individuen und dem Austausch mit der Umwelt statt.
In der Interaktionsebene sind die näheren sozialen Umwelten dargestellt, die in den meisten Fällen einen erfahrbaren Einfluß auf die Sozialisation besitzen. Da ich mich in meiner Arbeit mit der Persönlichkeitsbildung Jugendlicher beschäftige, möchte ich auf einige der wichtigsten Sozialisationsinstanzen in diesem Lebensabschnitt eingehen. In der unmittelbaren sozialen Umgebung ist das gesamte familiäre und bekanntschaftliche Netzwerk verortet. Bei Jugendlichen spielen hier beispielsweise die Interaktion mit der Gleichaltrigengruppe und dem Freundeskreis eine große Rolle. Wichtig ist die Einbindung des Individuums in seine unmittelbare räumliche Umgebung. Dazu zählt unter anderem auch das Wohnumfeld.
Tillmann beschreibt die gesamte Ebene mit den Begriffen „Interaktionen und Tätigkeiten“. Einen wichtigen Einfluß besitzen vor allem Schulen und Hochschulen, die mit ihrem „Bildungsauftrag“ ausschließlich zum Zweck der Persönlichkeitsentwicklung Jugendlicher eingerichtet worden sind. Diese organisierten Sozialisationsinstanzen interagieren mit den sozialen Netzwerken, der unmittelbaren Umgebung und sind in die nächsthöhere Organisations- und Institutionsebene integriert. Die sich in der nächsten, höheren Ebene befindenden sozialen Organisationen besitzen andere Aufgaben als die der Sozialisation. Betriebe, Massenmedien und öffentlichen Einrichtungen konzentrieren sich auf wirtschaftliche und verwaltungstechnische Ziele, eine Persönlichkeitsentwicklung findet eher „nebenbei“[11] statt.
Alle Ebenen sind wiederum Teil eines gesamtgesellschaftlichen Systems. In dieser Gesellschaftsebene möchte ich das Modell von Hurrelmann um einen wichtigen Punkt ergänzen. Ich gehe davon aus, daß es zwischen der Gesellschaftsebene und der Organisations- und Institutionsebene keinen einseitigen Wirkungszusammenhang gibt. Aus diesem Grund muß das ursprüngliche Modell insofern ergänzt werden, daß eine gegenseitige Beeinflussung der Ebenen, zum Beispiel über Doppelpfeile, sichtbar wird. Dies möchte ich anhand eines einfachen Beispieles erläutern:
Das Wählerverhalten hat eine beträchtliche Wirkung auf die politische Struktur der Gesamtgesellschaft. Die in zeitlichem Abständen gewählten politischen Organisationen nehmen z. B. durch den Prozeß der Gesetzgebung wieder Einfluß auf alle anderen Ebenen. Dies betrifft unter anderem die wirtschaftlichen, wie auch die soziale Regulierung. So hat die steuerliche Gesetzgebung wieder eine Wirkung auf die Wählerzufriedenheit und damit das Wahlverhalten, aber auch auf die gesamtgesellschaftliche Wirtschaftslage.
Dieses Beispiel ist nur eines von vielen, die die Konstituierung des gesellschaftlichen Systems aufzeigen, welches nur mittels Kommunikation und Interaktion mit den darunterliegenden Ebenen existieren kann.
Eine Anmerkung zu diesem Thema trifft Tillmann, der dieses Modell in einen weiteren, höheren Zusammenhang einbindet. Denn diese Gesamtgesellschaft, Tillmann nennt sie in seinem Beispiel Bundesrepublik Deutschland, ist wiederum in komplexe internationale politische und ökonomische Prozesse, und somit in die Ebene der „Weltgesellschaft“[12] eingebunden. Der Autor belegt dies am Beispiel der internationale Migrationsbewegung, hinzufügen kann man noch die Einbindung jeder Gesamtgesellschaft in bestimmte international agierende politische, wirtschaftliche oder militärische Organisationen. So ist die Bundesrepublik Deutschland im globalen Rahmen zum Beispiel in die UNO und die Welthandelsorganisation integriert.
Somit ist sichtbar, das alle Ebenen miteinander direkt und indirekt verknüpft sind und in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen. Die jeweils höher verorteten setzen Rahmenbedingungen für die darunter liegenden. Die doppelten Pfeile deuten auf dieses Wirkungsverhältnis innerhalb des gesamten Modells hin. Dies ist insofern wichtig, da der einzelne Mensch sich zu einem bestimmten Zeitpunkt immer nur in bestimmten sozialen Räumen, beziehungsweise in einer Ebene, und niemals in der gesamten gesellschaftlichen Struktur bewegt. Die Aufgabe der Sozialisationsforschung besteht darin, die Verknüpfungen zwischen den Ebenen und ihre Wirkung auf die Persönlichkeitsbildung in „gesellschaftlich umfassender Weise“ zu untersuchen. Vom soziologische Standpunkt aus sollen die Zusammenhänge zwischen Umwelt-bedingungen und den umfassenden gesamtgesellschaftlichen Strukturen erklärt werden. Wie ich schon erwähnte, präferiert dieses Modell keine bestimmte Theorie, sondern ist eine Basis, die theoretischer Erklärung bedarf.[13]
Lebensphasen
Die Strukturierung von Sozialisationsbedingungen erfolgt nicht nur in Ebenen sondern auch in lebenszeitliche Phasen. Nach Tillmann[14] wird von der Vorstellung der Ontogenese ausgegangen, also der Entwicklung des Einzelnen im Zuge des Alterns. Dies umfaßt die Vorstellung, daß die Erfahrungen aus den vergangenen Lebensphasen den Rahmen für das Erlangen neuer Erfahrungen bilden. Auch in diesem Modell muß die Feststellung getroffen, daß die Struktur der Lebensphasen immer nur zu einem bestimmten Zeitpunkt in der historischen Entwicklung einer Gesellschaft in einer abgrenzbaren Form existiert. Durch sozialen Wandel verändern sich die Strukturen der Gesamtgesellschaft stetig, dies hat auch einen Einfluß auf die Altersstruktur. So verlängert sich das Lebensalter zum Beispiel durch den medizinischen Fortschritt und durch eine veränderte Bildungs- und Lebensstruktur wird der Eintritt in das Berufsleben, damit auch der Übergang in das Erwachsenenalter, auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Wie bei dem Strukturmodell der Sozialisationsebenen muß auch hier auf wechselseitige Beeinflussungen und Abhängigkeiten der Lebensphasen verwiesen werden.
Dies zeigt die folgende Abbildung, die auf einem historischen Vergleich der Lebensphasen basiert.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb.2: Lebensphasen während der Lebensspannen im historischen Vergleich[15]
Eine grobe Unterteilung der Sozialisation in primäre, frühe Persönlichkeitsentwicklung in der Familie, und sekundäre, den nachfolgenden Sozialisation in Schule, Familie und Altersgruppe, kann hier erfolgen. In einigen Fällen wird auch der Begriff tertiäre Sozialisation angeführt, der sich auf Entwicklungen im Erwachsenenalter bezieht.[16]
Da eine stetige Ausdifferenzierung der Lebensphasen stattfindet, ist diese Unterteilung nicht mehr ausreichend. Ich möchte an dieser Stelle nur das für mich relevante Jugendalter in der heutigen Entwicklung betrachten. Dieser Lebensabschnitt ist durch schnelle und stetige Veränderungen der physischen und psychischen Grundstruktur der Heranwachsenden gekennzeichnet, die in einer bestimmten Zeitspanne bewältigt werden müssen.
Es ist klar ersichtlich, daß die einzelnen Lebensphasen nicht eindeutig einem Alter zuzuordnen sind. Aus diesem Grund kann man den Beginn des Jugendphase nur ungenau in einem Alter zwischen 12 und 14 Jahren angeben. Abgrenzen lassen sich die einzelnen Abschnitte der Persönlichkeitsentwicklung nur durch jeweils spezifische Entwicklungsaufgaben. Im Jugendalter ist vorrangig der Auf- und Ausbau der intellektuellen und sozialen Kompetenz, vor allem durch schulische und später auch berufliche Qualifikation, von Bedeutung. Hier liegt das vorrangige Ziel im Aufbau einer eigenen Existenz im Erwachsenenalter. In diesen Bereich der Kompetenzentwicklung fällt vor allem der individuelle Aufbau eines Normen- und Wertesystems. Eine weitere Entwicklungsaufgabe liegt im Ausbau der Geschlechtsrolle und des sozialen Bindungsverhaltens, das sich vorrangig auf Gleichaltrige bezieht ist. So erfolgt die schrittweise Loslösung von der Herkunftsfamilie und den Eltern. Spezifisch an dieser Phase ist die schrittweise Erweiterung der Handlungsspielräume, die Erweiterung der Rollenvielfalt und damit auch das Anwachsen der gestellten Anforderungen.[17] Am Ende der Jugendphase sollte die wirtschaftliche, politische und soziale Handlungsfähigkeit entstanden sein. Der Übergang in das Erwachsenenalter vollzieht sich durch die Annahme von Teilrollen. Damit ist sowohl die partnerschaftliche Rolle durch die Gründung einer eigenen Familie, wie auch die berufliche, die kulturelle und die Rolle als politisch partizipierender Bürger gemeint.[18] Durch den späteren Eintritt in die Berufstätigkeit durch die Verlängerung des Ausbildungsweges an Schulen und Hochschulen und das steigende Heiratsalters in der heutigen Gesellschaft ist eine altersmäßige Zuordnung noch weniger möglich als beim Übergang von der Kindheit in die Jugend. Man kann davon ausgehen, daß mit einem Alter von 30 Jahren dieser Wechsel vollzogen ist.
Fazit
Die Darstellung der Lebensphasen und der Struktur der Sozialisationsebenen bildet die Basis für die theoretische Betrachtung der Persönlichkeitsentwicklung. Erst anhand dieser Grundlagen ist es möglich, die auftretenden Wirkungszusammenhänge zu erklären. Aus dem Strukturmodell der Sozialisationsbedingungen ist die hierarchische Einflußnahme der Ebenen der Persönlichkeitsbildung abzulesen. Eine Orientierung an diesem Modell und den spezifischen Anforderungen an die Lebensphase Jugend ist für die Betrachtung derjenigen Faktoren wichtig, die für die Entstehung von Jugendgewalt den größten Erklärungsgehalt liefern. Dies umfaßt für mich eine soziologische Betrachtung und damit die Darstellung der Umwelteinflüsse, welche über die Sozialisationsinstanzen vermittelt werden, auf die Persönlichkeitsbildung.
3. Die Struktur der Jugendgewalt
Vor einer Erklärung der Jugendgewalt durch sozialisationstheoretische Ansätze ist es nötig, weitere Definitionen zu treffen. Der Gewaltbegriff ist ohne eine nähere Erläuterung nicht nutzbar. Dies beruht auf den differierenden Verwendungen sowohl im alltäglichen als auch im wissenschaftlichen Diskurs. Aus den zum Teil sehr widersprüchlichen Auslegungen resultieren auch die unterschiedlichen Erklärungsansätze. Dazu Grund möchte ich zuerst den Gewaltbegriff näher erläutern und damit eine sichtbare Struktur der Jugendgewalt in Deutschland aufzeigen. Ich werde mich hier auf eine deutungsfreie Darstellung jugendlicher Devianz beschränken, da die möglichen Erklärungsansätze erst aufgrund dieser Basis gefunden werden können.
Der Gewaltbegriff
Die für mich verwertbarste Klärung des Konstruktes Gewalt liefert Sturzbecher[19], der zuerst auf die unterschiedlichen konstituierenden Merkmale eingeht. Er nennt an erster Stelle die Intentionalität, also ein aggressives Verhalten, daß auf eine Person gerichtetes ist, um diese zu verletzen. Das zweite Merkmal betrachtet die Folgen dieses Verhaltens, die in der Schädigung einer Person liegen. Eine weitere Rolle spielt die soziomoralische Bewertung bestimmter Verhaltensmuster durch einen Beobachter, der auf kulturelle festgelegte Beurteilungskriterien zurückgreifen kann. So war die Züchtigung von Kindern durch die Eltern oder auch Lehrer nicht immer verboten, sondern als Mittel zur Erziehung sogar erwünscht. Selbst gegenwärtig wird die Legitimität eines autoritären und strafenden Erziehungsstiles im gesamtgesellschaftlichen Diskurs kontrovers betrachtet. Mit Rückgriff auf das zuletzt genannte Merkmal kann eine weitfassende Definition der Gewalt erfolgen, die auf der Basis historisch veränderbarer Auslegungen erfolgt.
Neben den konstituierenden Bedingungen sind aber auch qualitative Abgrenzungen des Gewaltverständnisses nötig. An dieser Stelle ist es wichtig, auf eine meßbare und damit der theoretischen Betrachtung zugängliche Definition zurückgreifen zu können.
In einer ersten Abgrenzung wird von einem restriktiven Gewaltbegriff ausgegangen, der sich auf beabsichtigte physische Einwirkungen auf andere Personen bezieht. Es handelt sich also um einen gerichteten aggressiven Akt, dessen Ziel die Zufügung körperlicher Verletzungen oder Schmerzen durch den Täter ist. In diese Definition fallen auch Drohungen mit physischen Zwang. Ein wichtiger Punkt dieser Auslegung ist die vom Opfer nicht gebilligte Verletzung des Rechtes auf körperliche Unversehrtheit, dieses Verhalten äußert sind in einer „Vermeidungsabsicht“.[20] Wenn dieser Gewaltbegriff auf beobachtbare aggressive Handlungen angewandt wird, so sind die Erscheinungsformen in ausreichendem Maß der wissenschaftlichen Analyse zugänglich.
In einer weiteren Abgrenzung wird zu diesem Gewaltbegriff auch die psychische Gewalt gezählt, darunter fallen Beleidigungen, Mobbing oder auch Drohungen ohne physische Aggression. Psychische Gewalt ist nur schwer zu beobachten, da sie von individuellen Auffassungen abhängig ist. Jede Person nimmt Beleidigungen unterschiedlich auf und sieht diese in Abhängigkeit vom Kontext. Es ist demzufolge schwierig, diese Gewaltformen zu erfassen und damit auch wissenschaftlich zu untersuchen.
In einer anderen Festlegung wird der Gewaltbegriff um die strukturelle Gewalt erweitert. Darunter fallen alle gesellschaftlichen Bedingungen, die Menschen an physischer und psychischer Verwirklichung behindern. Mit dieser Definition werden sowohl Formen sozialer Ungleichheit, der Herrschaftsbegriff und Erscheinungen wie Armut als Gewalt betrachtet. Diese Gewaltformen ist noch schwerer statistisch zu erfassen und zu analysieren als die physische Gewalt.[21] Aus diesem Grund werde ich mich auf den restriktiven Gewaltbegriff in meinen Darstellungen beschränken.
Polizeiliche Kriminalitätsstatistik
Von der Festlegung des restriktiven Gewaltbegriff ausgehend, werde ich auf die Struktur der Jugendgewalt eingehen. Um diese Gewalt sichtbar zu machen, werde ich die polizeilichen Kriminalitätsstatistiken nutzen. Diese Betrachtung bezieht sich sowohl auf die Opfer als auch auf die Täter von kriminellen Handlungen. Da in den vorliegenden Statistiken ein Überblick über jugendliche Devianz vorliegt, möchte ich einige eingrenzende Festlegungen treffen. Der von mir genutzte Gewaltbegriff bezieht sich nur auf eine Facette der erfaßten Kriminalität Jugendlicher. Im folgenden möchte ich die Fälle von physischer Gewalt, wie Körperverletzung, Mord, Totschlag und räuberischer Erpressung betrachten. Alle kriminellen Akte außerhalb dieser Definition werden nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Dies bezieht sich vor allem auf Diebstähle, die untrennbar in einigen Statistiken aufgeführt sind. Die aktuellsten Daten stammen aus dem Jahr 1999.
Eine weitere Schwierigkeit stellt die unterschiedliche Verwendung des Begriffes „Jugendliche“ dar, denn die juristische Auslegung ist in einigen Punkten nicht mit der von mir verwendeten soziologischen Definition vereinbar. Im vorangegangenen Kapitel erfolgte eine altersmäßige Abgrenzung auf einen Zeitraum zwischen ca. 12 bis 30 Jahren. Die genutzten Statistiken basieren auf der Strafmündigkeit der erfaßten Personen. Kinder bis 14 Jahre sind strafunmündig und werden anders als Jugendliche im Alter zwischen 14 und 18 Jahren, die bedingt zur Verantwortung gezogen werden, betrachtet. Eine weitere Einteilung erfolgt bei den 18- bis 21-jährigen, den Heranwachsenden, und den Erwachsenen, Personen ab 21 Jahren, die in vollem Maße für begangene Straftaten belangt werden können.[22] Soweit es möglich ist, werde ich auf die von mir gesetzten Altersgrenzen zurückgreifen und sowohl Kinder als auch Erwachsene aus der Betrachtung ausschließen. Mit einer eingegrenzten Sicht auf Jugendliche und Heranwachsende im juristischen Sinn, kann ich nicht mehr von repräsentativen Daten zur Jugendgewalt ausgehen. Denn aus soziologischer Sicht ist die Betrachtung Jugendlicher ab 21 Jahren ebenso bedeutend, da die juristische Volljährigkeit einen wichtigen Abschnitt im Übergang zum Erwachsenenalter darstellt.
Eine weiteres Problem liegt darin, daß in den Kriminalitätsstatistiken nur die angezeigten Straftaten relevant sind. Die in diesem so genannten „Hellfeld“ erfaßte Kriminalität ist der Auswertung zugänglich. Es wird aber davon ausgegangen, daß ein Teil krimineller Handlungen in das „Dunkelfeld“ fallen, da sie nicht angezeigt werden.[23] Der Anteil der registrierten an der gesamten Kriminalität schwankt nach den zugrunde liegenden Sachverhalten. Bei schweren Gewaltdelikten wird von einer hohen Anzeige- und auch von einer hohen Aufklärungsquote ausgegangen, die im Bereich der Bagatelldelikte sinkt. Die Erlangung aussagefähiger Daten ist in diesem Fall über Dunkelfeldforschungen, in denen Opferbefragungen stattfinden, möglich. In einem anderen Forschungsdesign werden Schlußfolgerungen durch Erhebungen zur selbstberichteten Delinquenz erlangt.[24] Ich werde auf die zuletzt genannten Statistiken nur beschränkt zugreifen, da hier auf subjektive Interpretationen und Beobachtungen zurückgegriffen wird. Vor allem die individuelle Auffassung wird durch die öffentliche Diskussion um die Gewalt beeinflußt. Dadurch ist eine zu- oder auch abnehmende Sensibilisierung des Gewaltverständnisses möglich. Die Medien spielen mit ihrer Berichterstattung eine große Rolle, wie Hurrelmann und Mansel[25] in ihrer Darstellung betonen. Je häufiger über Gewalt berichtet wird, desto mehr ist die Bevölkerung von der Zunahme der Gewalttaten überzeugt.[26] Darüber hinaus gibt es keine repräsentativen Panelbefragungen in der Dunkelfeldforschung der Bundesrepublik Deutschland, auf die sich eine Analyse stützen könnte.[27]
Im folgenden möchte ich auf die prägnantesten Befunde der Kriminalitätsstatistiken zur jugendlichen Gewalt eingehen. Einer der wichtigsten Kernpunkte ist in der folgenden Graphik dargestellt, die einen Überblick über die Verurteiltenzahlen nach Altersgruppen liefert.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3: Wegen Verbrechen und Vergehen Verurteilte nach Altersgruppen[28]
Anhand dieser Abbildung lassen sich zwei Hauptaussagen treffen. Die Zahl der wegen kriminellen Handlungen polizeilich registrierten und verurteilten Personen liegt im Jugendalter am höchsten. So sind junge Menschen unter 21 Jahren im Vergleich zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung in den Tatverdächtigenstatistiken um circa das doppelte überrepräsentiert. Diese Entwicklung nimmt im jungen Erwachsenenalter ab ca. 25 Jahren wieder ab und fällt dann weiter auf das Ausgangsniveau zurück. Die folgende Feststellung soll dies verdeutlichen: „Nichts ist in der Kriminologie so gut gesichert wie der Zusammenhang von Alter und Kriminalität.“[29]
In einer zweiten Aussage kann auf eine Steigerung der Verurteiltenzahlen im Jugendalter über den Zeitraum von über 100 Jahren hingewiesen werden. Diese Steigerung weist aber keinen stetigen Verlauf auf, eine Prognose kann anhand der Abbildung 3 nicht getroffen werden. An dieser Stelle ist es meines Erachtens nach wichtig, auf ein verändertes Anzeigeverhalten hinzuweisen. Wie Pfeiffer und Wetzels es darstellen, fallen immer mehr Fälle in die Strafverfolgung, die früher noch intern zwischen den Beteiligten geregelt wurden. Vor allem bei Konflikten zwischen verschieden ethnischen Gruppen oder Personen werden verstärkt die Behörden eingeschaltet. Dies führt zu einer „Überrepräsentation“ von Jugendlichen aus Migrantenfamilien in der Tatverdächtigenstatistik. Selbst nach der Betrachtung dieser Zusammenhänge stellen die Autoren fest, eine „Zunahme der polizeilich registrierten Gewaltkriminalität junger Menschen geht weit über das hinaus, was durch eine Erhöhung der Anzeigebereitschaft erklärt werden könnte.“[30]
Jugendliche als Opfer von Gewalt
Auf die vorgefundene Beziehung zwischen Delinquenz und Alter möchte ich etwas näher eingehen. Jugendkriminalität hat unterschiedliche Erscheinungsformen, es kann zwischen jugendtypischer und episodischer Delinquenz auf der einen und langfristiger, schwerwiegender Delinquenz auf der anderen Seite differenziert werden. Eine eindeutige Zuordnung zu der einen oder anderen Kategorie ist jedoch nicht möglich, da die Übergänge fließend sein können. Die große Mehrheit junger Täter fällt in die erste Kategorie, hier ist das Auftreten krimineller Handlungen auf das Jugendalter beschränkt und endet im frühen Erwachsenenalter. „Diese Form ist jugendtypisch, sehr weit verbreitet und tritt in allen sozialen Schichten auf.“[31]
Der hier vorgefundene Zusammenhang betrifft sowohl die Täter als auch die Opfer von Straftaten. Ich werde im folgenden auf beide Gruppen eingehen. Zuerst möchte ich nur die Betroffenen von Gewalttaten betrachten. Die in der ursprünglichen Opferstatistik ausgewerteten Gewaltdelikte habe ich zum besseren Verständnis zusammengefaßt. Dies betrifft die Tötungsdelikte, die vormals nach versuchter, vollendeter und fahrlässiger Tötung differenziert wurden. Die ebenfalls aufgezählten Kinder unter 14 Jahren fielen ganz aus der Betrachtung heraus. Mein Hauptaugenmerk liegt auf der Darstellung der
Gewalttaten, denen Jugendliche mit der höchsten Wahrscheinlichkeit im Jahr 1999 zum Opfer fielen. Da in den Quellen keine Angaben über die Art und Weise der statistischen Auswertung zu finden sind, sind die dargestellten Zahlen nur als Anhaltspunkt zu sehen. So ist nicht deutlich, ob die Zusammenhänge durch Mehrfachnennungen verfälscht sind. Darüber hinaus kann von einem vorhandenen „Dunkelfeld“ nicht polizeilich gemeldeter Taten ausgegangen werden, über dessen Größe keine Angaben vorliegen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tab. 1: Polizeilich registrierte Opfer ausgewählter Delikte nach Altersstufen 1999[32]
[...]
[1] ebd. 2001, S.14f
[2] Geulen/Hurrelmann 1980, S.51
[3] ebd. 2001, S.14
[4] ebd.
[5] Tillmann 2000, S.12
[6] Hurrelmann 2001, S.15
[7] ebd., S.63f
[8] ebd., S.15f
[9] ebd. 2000, S.18
[10] Hurrelmann 2001, S.105: Bei Tillmann 2000, S18 findet sich eine vereinfachte Darstellung, die aber
interdependente Strukturen zwischen den einzelnen Ebenen vernachlässigt .
[11] Tillmann 2000, S.18
[12] ebd., S.288
[13] ebd., S.18
[14] ebd., S.18f
[15] Hurrelmann 1999, S.23
[16] Tillmann 2000, S.19
[17] Hurrelmann 1999, S.31f
[18] ebd., S.42f
[19] Sturzbecher 1997, S.18f
[20] Landeszentrale für politische Bildung 2000, S. 35
[21] ebd., S.19 aus Willems, H.: Fremdenfeindliche Gewalt, Opladen: Leske + Budrich, 1993
[22] Hurrelmann 1999, S.44f
[23] Bundesministerium des Innern 2001, S.550f
[24] Hurrelmann; Mansel 1998, S.84f
[25] ebd., S.79f
[26] ebd., S.79
[27] Pfeiffer; Wetzels 2000, S.7
[28] Bundesministerium des Innern 2001, S.478
[29] ebd., S.591
[30] ebd., S.8
[31] Bundesministerium des Innern 2001, S.475f
[32] ebd., S.486
- Quote paper
- Jörn Moch (Author), 2002, Jugend und Gewalt - Sozialisationstheoretische Ansätze, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/168373
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