Die Novelle erregte bei ihrem Erscheinen großes Erstaunen. Es war wohl für unmöglich gehalten worden, eine als überkommen angesehene Form für die Darstellung eines modernen Konflikts zu verwenden. Allerdings wäre es zu kurz gegriffen, wenn man die Problemkreise Identitätssuche, Selbstentfremdung, Kommunikationslosigkeit, Altern, Sexualität und Ehe schlicht auf den Nenner „Krise der Lebensmitte“ oder „Midlife-Crisis“ zusammenfasste. Die Novelle kann vielmehr auch als Spiegelbild der bundesdeutschen Verhältnisse der siebziger Jahre gelten.
Die Verwendung des Bildes vom fliehenden Pferd schien nicht allen Kritikern zweifellos überzeugend. Die Frage nach seiner Bedeutung ist also angebracht und soll für die beiden Hauptprotagonisten getrennt voneinander betrachtet werden. Die Analyse soll auf den Bereich der Motivik klar begrenzt bleiben, wodurch Fragestellungen nach der Rezeption von Kierkegaard und Nietzsche nur am Rande oder gar nicht behandelt werden können. Auch auf die Entstehung der Novelle sowie auf formale, erzählerische oder sprachliche Merkmale sollen im folgenden nicht eingegangen werden.
Anhand der allgemeinen Deutungsmöglichkeiten des Pferdes soll eine Motivkette rekonstruiert werden, welche entsprechende Äußerungen der Protagonisten miteinander verknüpft. Es wird die Frage zu stellen sein, wer warum wohin flieht, und ob sich nicht vielleicht mehrere Personen auf der Flucht befinden. Aus den Analysen des Fluchtmotivs wird dann zu zeigen sein, ob und inwiefern auch die Protagonisten das Leitmotiv verkörpern.
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung
2. Der Novellentitel und seine Implikationen
3. Abgrenzung von Leitmotiv und Dingsymbol mit Novellencharakter
4. Das Pferd und seine verschiedenen Symbolcharaktere
5. Die Motivkette
6. Die Flucht des Helmut Halm
7. Die Flucht des Klaus Buch
8. Helmut Halm, Klaus Buch und ihr Bezug zur Gesellschaft
9. Klaus Buchs als fliehender Reiter und das Rodeo auf See
10. Halms neue Lebenseinstellung und Buchs ´Demaskierung`
11. Zusammenfassung
12. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die Novelle erregte bei ihrem Erscheinen großes Erstaunen. Es war wohl für unmöglich gehalten worden, eine als überkommen angesehene Form für die Darstellung eines modernen Konflikts zu verwenden. Allerdings wäre es zu kurz gegriffen, wenn man die Problemkreise Identitätssuche, Selbstentfremdung, Kommunikationslosigkeit, Altern, Sexualität und Ehe schlicht auf den Nenner „Krise der Lebensmitte“ oder „Midlife-Crisis“ zusammenfasste. Die Novelle kann vielmehr auch als Spiegelbild der bundesdeutschen Verhältnisse der siebziger Jahre gelten.
Die Verwendung des Bildes vom fliehenden Pferd schien nicht allen Kritikern zweifellos überzeugend. Die Frage nach seiner Bedeutung ist also angebracht und soll für die beiden Hauptprotagonisten getrennt voneinander betrachtet werden. Die Analyse soll auf den Bereich der Motivik klar begrenzt bleiben, wodurch Fragestellungen nach der Rezeption von Kierkegaard und Nietzsche nur am Rande oder gar nicht behandelt werden können. Auch auf die Entstehung der Novelle sowie auf formale, erzählerische oder sprachliche Merkmale sollen im folgenden nicht eingegangen werden.
Anhand der allgemeinen Deutungsmöglichkeiten des Pferdes soll eine Motivkette rekonstruiert werden, welche entsprechende Äußerungen der Protagonisten miteinander verknüpft. Es wird die Frage zu stellen sein, wer warum wohin flieht, und ob sich nicht vielleicht mehrere Personen auf der Flucht befinden. Aus den Analysen des Fluchtmotivs wird dann zu zeigen sein, ob und inwiefern auch die Protagonisten das Leitmotiv verkörpern.
2. Der Novellentitel und seine Implikationen
Der Titel „Ein fliehendes Pferd“ verleitet zunächst dazu die zentrale Episode mit dem entlaufenen Pferd als die ausschlaggebende anzunehmen. Die Szene in welcher Klaus Buch das scheuende Pferd bändigt (88-91), dominiert aber tatsächlich die Auslegung. „Also, wenn ich mich in etwas hineindenken kann, dann ist es ein fliehendes Pferd. Der Bauer hier hat den Fehler gemacht, von vorne auf das Pferd zuzugehen und auf es einzureden. Einem fliehenden Pferd kannst du dich nicht in den Weg stellen. Es muß das Gefühl haben, sein Weg bleibt frei. Und: ein fliehendes Pferd läßt nicht mit sich reden.“ (90) Klaus beweist sich hier als der Männliche und Naturverbundene, Helmut hingegen erfährt seine Unterlegenheit. Allerdings identifiziert sich Klaus mit einem fliehenden Pferd und lässt so seinerseits eine gewisse Fluchttendenz erkennen. Das vor Menschen scheuende und dennoch zu ihnen zurückgeführte Tier kann auf einen vergeblichen Ausbruch aus der Gesellschaft übertragen werden. In dieser Szene findet sich bereits ein Vorverweis zum achten Kapitel, in dem Klaus und Helmut trotz eines Sturms auf dem Bodensee segeln. Die Implikation des Titels, dass es sich um nur ein fliehendes Pferd handelt, regt zur weiteren Deutung an. Es scheint hier vielmehr um zwei[1] verschiedene Verhaltensmöglichkeiten in der Gegenwart des Erzählers zu gehen, um ein Duell zwischen den Repräsentanten zweier gegensätzlicher Fluchtmöglichkeiten in eine scheinhafte Lebensform, zwei Formen eskapistischer Lebensbewältigung.[2] Halm flieht in die Innerlichkeit einer Incognitorolle, Buch, seine Probleme überspielend, in unreflektierte Aktivitäten. Der eine zieht sich aus der Gesellschaft zurück, der andere glaubt, mit ihr ins Reine zu kommen, wenn er ihre Strukturen erfüllt und öffentlich überbietet.
3. Abgrenzung von Leitmotiv und Dingsymbol mit Novellencharakter
Unter einem Leitmotiv wird in der Musikwissenschaft ein Melodieteil in größeren Musikwerken mit symbolischer Bedeutung verstanden, der durch Wiederkehr inhaltlich wesensverwandter Stellen (Gedanken, Gefühle) oder das Thema einer Person wiederaufnimmt. Das daher in die Literaturwissenschaft entlehnte Motiv wird als formelhaft wörtlich oder ähnlich wiederkehrende einprägsam Bild- oder Wortfolge mit gliedernder und verbindender Funktion verstanden, die auf Zusammenhänge und auf gleiche Figuren, Situationen, Gefühle und Ideen voraus- oder zurückweist. Das Leitmotiv kann in Form von Redewendungen bestimmter Personen, wiederholten Handlungsteilen oder sprachlichen Bildern auftreten.[3]
Durch Benno von Wiese auch als „Dingsymbol“ bezeichnet, meint es eine Zusammenfassung des Sinngehalts in einem sinnträchtigen Zeichen. Er sieht die Bedeutung des „Dingsymbols“ darin, dass es „eine ganze Geschichte kompositorisch zusammenzuhalten vermag, ja ihr darüber hinaus noch einen höheren Gehalt verleihen kann“[4]. Auch das zu thematisierende fliehende Pferd kann ohne weiteres mit der dingsymbolischen Funktion des Falken im Decamerone (1349-1353) des Giovanni Bocaccio verglichen werden. Es verbildlicht die Flucht vor der Wirklichkeit, vor den Anforderungen des täglichen Lebens und der Leistungsgesellschaft. Das zentrale Symbol hat so die Funktion der Vorausdeutung zum einen auf die Absicht dem bisherigen Leben zu entfliehen, zum anderen auf die späteren Entlarvungen der Scheinexistenzen.[5] Am sinnvollsten erscheint es mir im Bezug auf das fliehende Pferd von einem Dingsymbol mit leitmotivischer Verwendung zu sprechen.
Neben formalen Merkmalen wie ein Umfang von mittlerer Länge, Begrenzungen von Ort, Zeit und Anzahl der Personen, ist ein Novellencharakter im Sinne des Gesprächs Goethes mit Eckermann vom 27. Januar 1827, durch die „sich ereignete, unerhörte Begebenheit“ vorhanden. Diese könnte zunächst in der Bändigung des durchgegangenen Pferdes durch Klaus Buch, zum anderen in dem affektierten Mordversuch Helmut Halms auf dem Segelboot gesehen werden. Zweiteres stellt außerdem den von Ludwig Tieck geforderten Wendepunkt dar, an dem sich die Geschichte „unerwartet völlig umkehrt.“
4. Das Pferd und seine verschiedenen Symbolcharaktere
Das Symbol ist seiner Bedeutung nach an sinnlich wahrnehmbaren Ge-stalten fixiert. Es entsteht eine Durchdringung von Sinn und Bild; als „Sinnbild“ weist es vermittelnd über sich hinaus.[6]
Das Pferd wurde ursprünglich als unheimlich empfunden und bei indogermanischen Völkern vielfach mit dem Totenreich in Verbindung gebracht. Es erscheint deshalb auch häufig als Psychopompos, also als Seelenführer, der auch zur Begleitung Verstorbener mit bestattet wurde. Rössern ähnliche Gottheiten versinnbildlichen den ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen.[7]
Auch bei weiterer Betrachtung fällt der Bezug des Pferdes zu elementaren und kosmischen Dingen ins Auge. In der antiken Mythologie beispielsweise, werden weiße Pferde der Lichtgöttin, schwarze wiederum der Nachtgöttin zugeordnet. Sie werden zum Sonnensymbol oder zu feurigen Rössern die den Himmelswagen des Sonnengottes Helios ziehen. Das Sinnbild des Sieges und des Hoheitsgedanken, welcher sich bei der Vorstellung von einem Feldherrn, der in der Lage ist auch ein feuriges Pferd zu lenken einstellt, zeigt eine deutliche Reflektion des antiken Mythos.[8]
Neben dieser Lichtsymbolik gibt es auch den Ansatz das Pferd aufgrund seiner Schnelligkeit als Geschöpf des Windes[9] anzusehen und es zusätzlich mit dem Element Wasser in Verbindung zu bringen. In den schäumenden, sich bäumenden Meereswogen erkannte man die Rosse des Meeresgottes Neptun bzw. Poseidon. Pegasus wird außerdem als Zeus` Gewitter- und Regenbringer gesehen und so der erweiterte Begriff des Wetterrosses[10] geschaffen.
Daneben gilt es im christlichen Mythos zusätzlich als Sinnbild der Wollust, des Hochmutes, der animalischen Kräfte und des fleischlichen Lebens schlechthin.[11] Als Libidosymbol spiegelt das Pferd das vitale Prinzip und die erotische Seite der Mensch- Pferd- Beziehung wieder. Es versinnbildlicht das bezwungene Unbewusste und steigert die Libido des Reiters.[12]
[...]
[1] Es können auch vier Fluchtsituationen erkannt werden. Vgl. hierzu WEBER, Martin Walser. „Ein fliehendes Pferd“, S. 292. Ich hingegen würde den beiden Frauengestalten eher eine passive Rolle beimessen.
[2] Vgl. WAGENER, Die Sekunde durchschauten Scheins, S. 279.
[3] Vgl. WILPERT, Sachwörterbuch, S. 507.
[4] VON WIESE, Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka, S. 27.
[5] Vgl. ZIMMERMANN, Deutsche Prosadichtungen, S. 116.
[6] Vgl. BAUM, Das Pferd als Symbol, S. 16f.
[7] Vgl. BAUM, Das Pferd als Symbol, S. 32.
[8] Vgl. FORSTNER, Die Welt der christlichen Symbole, S. 282f.; BIEDERMANN, Knaurs Lexikon der Symbole, S. 336f.
[9] Vgl. BAUM, Das Pferd als Symbol, S. 29f.
[10] BAUM, Das Pferd als Symbol, S. 46f.
[11] Vgl. LURKER, Wörterbuch der Symbolik, S. 556f.
[12] Vgl. BAUM, Das Pferd als Symbol, S. 20.
- Quote paper
- M.A. Saskia Dams (Author), 2003, Martin Walser "Ein fliehendes Pferd" (1977) Das Leitmotiv des Pferdes und seine Textbezüge zur Flucht, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/16824
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