Heutige Quellen über den Alltag der Bürger in der DDR setzen sich überwiegend aus Propagandafilmen der SED zusammen. Es gibt „nur wenige umfangreiche Studien, die das DDR-Bild der Deutschen in umfassender Weise analysiert haben.“ Diese Filme liefern uns nur begrenzte Einblicke in das damalige Leben, weil sich die Regierung des Arbeiter- und Bauernstaats politisch auf eben jene Bevölkerungsgruppe beschränkte und kaschierte, dass in ihrem Land auch andere Menschen existierten. Menschen, welche ihre exponierten Stellungen, die ihre Familien über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg
aufgebaut hatten, nicht dem Allgemeinwohl opfern wollten; die Wissen und Kultur auch jenseits der Mauer suchten. Der Roman „Der Turm“ von Uwe Tellkamp setzt sich als erster Wenderoman mit genau solchen Menschen auseinander.
Die Protagonisten Tellkamps leben in einem Dresdner Villenviertel, das als der „Turm“ bezeichnet wird. Sie scheinen in diesem Viertel über der restlichen Bevölkerung Dresdens und der gesamten DDR zu schweben.
Die Bewohner des Turms, im Buch „Türmer“ genannt, bilden einem homogene Enklave inmitten des Sozialismus. Sie unterhalten Abendgesellschaften mit Hausmusik, laden zu Diskussionsrunden über alte Sagen ein und frönen so der Hochkultur. Ihre Verehrung der Bildung geht so weit, dass die Gesellschaftsordnung in diesem Viertel mit den Worten: „Wer nichts w[eiß], sch[eint] nichts zu gelten.“ (S.150) beschrieben wird. Die Bezeichnung „Türmer“ spielt nicht nur
auf die Turmgesellschaft in Goethes „Wilhelm Meister“, sondern vor allem auf das Verb „türmen“ an. Die Bewohner fliehen also aus der Gesellschaft des Arbeiter- und Bauernstaates, indem sie innerhalb der Grenzen der DDR bürgerliche Werte leben.
Doch die Konfrontation mit dem konträr eingestellten, real existierenden Sozialismus ist auch innerhalb ihrer selbst errichteten Scheinwelt nicht zu vermeiden. Gerade deshalb sehen die Türmer nicht den Staat, in dem sie leben, sondern nur ihr Viertel als ihre wahre
Heimat an.
So schließt der Autor eine Passage zu Beginn des Werkes, die von einer Bahnfahrt des Türmers Christian Hoffmann berichtet, mit den Worten: „Er war zu Hause,
im Turm.“ (S.23)
Inhaltsverzeichnis (Table of Contents)
- Der Turm und seine Bewohner
- Grundsätzliche Einstellung der Türmer und politische Ausgangslage
- Die Protagonisten und ihr Umfeld
- Die Protagonisten
- Richard Hoffmann
- Werdegang
- Charaktereigenschaften und Einstellung gegenüber dem System
- Doppelleben und Erpressung durch die Stasi
- Umgang mit und Reaktion auf die Erpressungsversuche
- Depression und Niedergang
- Meno Rohde
- Kindheit und Autorentum
- Umgang mit der Nomenklatura
- Arbeit und Kritik an der Zensur
- Verhalten gegenüber Staatsorganen
- Der Niedergang Judith Schevolas
- Letzte Prüfung und Untergang des Staats
- Christian Hoffmann
- Kindheit und Erziehung
- Charakterzüge
- Verhalten und Probleme im Wehrlager
- Restliche Schulzeit und wachsende Nonkonformität
- Die NVA
- Änderung des Verhaltens durch Charakterschwäche
- Endgültiger Bruch mit dem Regime
- Rückkehr zum Militär und erneute Schwierigkeiten
- Richard Hoffmann
- Problematik der Systemkritik in totalitären Staaten
Zielsetzung und Themenschwerpunkte (Objectives and Key Themes)
Der Text analysiert den Umgang mit totalitären Systemen am Beispiel der Protagonisten des Romans „Der Turm“ von Uwe Tellkamp. Er befasst sich mit dem Leben und den Erfahrungen der Bewohner des Turms, einem Dresdner Villenviertel, die sich von der sozialistischen Gesellschaft distanzieren. Der Text zeigt die verschiedenen Herausforderungen und Schwierigkeiten auf, denen die Türmer in ihrem Kampf für Individualität und Freiheit in einem totalitären Staat gegenüberstehen.
- Die Problematik der Systemkritik in der DDR
- Der Einfluss der totalitären Ideologie auf das Leben der Bürger
- Die Rolle der Stasi und der Unterdrückung von Andersdenkenden
- Die Ambivalenz des Lebens in der DDR: zwischen Privilegien und Benachteiligung
- Die Suche nach Freiheit und Individualität in einem repressiven System
Zusammenfassung der Kapitel (Chapter Summaries)
- Der Turm und seine Bewohner: Die Bewohner des Turms, einem Dresdner Villenviertel, bilden eine homogene Enklave inmitten des Sozialismus. Sie distanzieren sich von der Gesellschaft des Arbeiter- und Bauernstaates und leben bürgerliche Werte innerhalb der Grenzen der DDR. Ihre „Flucht“ in die eigene Scheinwelt konfrontiert sie jedoch unweigerlich mit den realen Bedingungen des Sozialismus.
- Grundsätzliche Einstellung der Türmer und politische Ausgangslage: Die Türmer, die dem Bildungsbürgertum angehören, betrachten die DDR kritisch und werden durch ihre Aversion gegenüber dem Staat zum Sprachrohr für die Mängel und Widersprüche des Systems. Der Text zeichnet ein Bild der DDR als einer diktatorischen und keinesfalls sozialen Gesellschaft, die in den späten 1980er Jahren ihren Schrecken allmählich verliert.
- Die Protagonisten und ihr Umfeld: Der Text konzentriert sich auf drei Protagonisten: Richard Hoffmann, Meno Rohde und Christian Hoffmann. Sie repräsentieren die typischen Türmer und ihr gutbürgerliches Leben, das in der DDR eigentlich nicht existieren dürfte. Die Protagonisten werden als Kontrast zu denjenigen dargestellt, die die Ideologie des Staates unterstützen, obwohl sie nicht den Führungsetagen angehören.
- Richard Hoffmann: Der Roman beginnt mit Richard Hoffmanns 50. Geburtstag. Er ist Unfallchirurg und steht dem Staat kritisch gegenüber. Er kritisiert die Zensur der Medien und die Repressionen der Stasi. Obwohl er von seiner Frau gewarnt wird, seine Meinung zurückzuhalten, äußert er offen seine Kritik und geht damit das Risiko von Repressalien ein.
Schlüsselwörter (Keywords)
Der Text beschäftigt sich mit den Themen totalitäre Systeme, Systemkritik, DDR-Alltag, Bildungsbürgertum, Stasi, Erpressung, Lebensumstände, Freiheit und Individualität in einem repressiven System, „Der Turm“ von Uwe Tellkamp.
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- Tobias Pascher (Author), 2010, Am schlimmsten sind die, die daran glauben, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/167715