Brauchen Migranten eine andere Pflege?
Migration und seelische Auswirkungen auf die Gesundheit -
Belastungspotenzial und Lösungsstrategien
1.1. Grundlegende Überlegungen zu dem Thema
„Kulturschock“ bei Migrantinnen
Laut der Ottawa- Charta der WHO gelten MigrantInnen als „verletzliche
Gruppe“, denen eine besondere Priorität in Public Health- Strategien
einzuräumen ist.(1)
Woher kommt diese besondere „Verletzlichkeit“, wie können wir als
Pflegende damit umgehen und wie können wir mit Empathie auf die
jeweiligen Situationen im interkulturellen Kommunikationskontext
eingehen? Innerhalb dieser ohnehin als vulnerabel eingestuften Gruppe,
nehmen die Frauen eine traurige Vormachtstellung ein, denn
Untersuchungen zeigen, dass Frauen im Migrationsprozess ein noch
schwerwiegenderes Erkrankungsrisiko zeigen als Männer, vor allem im
psychischen und im psychosomatischen Bereich.
Die migrantensensible Gesundheitsforschung steckt noch in den Anfängen
daher gibt es über die Bevölkerungsgruppe der Migrantinnen noch nicht sehr viel aussagekräftiges Datenmaterial. Die Lebenswelten von MigrantInnen und die gesundheitliche Lage sind dabei wesentlich auch immer durch die Kategorie Geschlecht bestimmt.
Die sich aus den Vorbedingungen ergebende zentrale erste Frage lautet:
„Brauchen Migrantinnen eine andere Pflege?“
MigrantInnen sind oft nicht ausreichend über das deutsche
Gesundheitssystem und seine Angebote informiert. Durch etliche
Rückzugstrategien oder eine insgesamt schlechtere Integration in die
Aufnahmekultur, bleiben die Frauen – insbesondere von traditionell
orientierten Gesellschaften außen vor und sind nicht ausreichend über
unser Gesundheitssystem informiert. Aufgrund sprachlicher und kultureller Barrieren nehmen sie Gesundheitsangebote weniger in Anspruch, mit der Folge, dass es zu Fehl- oder Unterversorgung kommen kann.
Wissenschaftliche Untersuchungen zur Gesundheit, zur Sicherheit und zur
allgemeinen Lebenssituation von Frauen in Deutschland zeigen, dass ein
hoher Prozentsatz von Migrantinnen ihren allgemeinen Gesundheitszustand
als eher negativ beurteilt. (2).
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(1) vgl. Salman , in Domenig, D. : Professionelle Transkulturelle Pflege 2007, S. 88),
(2) vgl. Bundesweiter Arbeitskreis Migration und öffentliche Gesundheit, 2010
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1.1. Grundlegende Überlegungen zu dem Thema „Kulturschock“ bei Migrantinnen
Laut der Ottawa- Charta der WHO gelten MigrantInnen als „verletzliche Gruppe“, denen eine besondere Priorität in Public Health- Strategien einzuräumen ist.*
Woher kommt diese besondere „Verletzlichkeit“, wie können wir als Pflegende damit umgehen und wie können wir mit Empathie auf die jeweiligen Situationen im interkulturellen Kommunikationskontext eingehen? Innerhalb dieser ohnehin als vulnerabel eingestuften Gruppe, nehmen die Frauen eine traurige Vormachtstellung ein, denn Untersuchungen zeigen, dass Frauen im Migrationsprozess ein noch schwerwiegenderes Erkrankungsrisiko zeigen als Männer, vor allem im psychischen und im psychosomatischen Bereich.
Die migrantensensible Gesundheitsforschung steckt noch in den Anfängen daher gibt es über die Bevölkerungsgruppe der Migrantinnen noch nicht sehr viel aussagekräftiges Datenmaterial. Die Lebenswelten von MigrantInnen und die gesundheitliche Lage sind dabei wesentlich auch immer durch die Kategorie Geschlecht bestimmt.
Die sich aus den Vorbedingungen ergebende zentrale erste Frage lautet:
„Brauchen Migrantinnen eine andere Pflege?“
MigrantInnen sind oft nicht ausreichend über das deutsche Gesundheitssystem und seine Angebote informiert. Durch etliche Rückzugstrategien oder eine insgesamt schlechtere Integration in die Aufnahmekultur, bleiben die Frauen – insbesondere von traditionell orientierten Gesellschaften außen vor und sind nicht ausreichend über unser Gesundheitssystem informiert. Aufgrund sprachlicher und kultureller Barrieren nehmen sie Gesundheitsangebote weniger in Anspruch, mit der Folge, dass es zu Fehl- oder Unterversorgung kommen kann.
Wissenschaftliche Untersuchungen zur Gesundheit, zur Sicherheit und zur allgemeinen Lebenssituation von Frauen in Deutschland zeigen, dass ein hoher Prozentsatz von Migrantinnen ihren allgemeinen Gesundheitszustand als eher negativ beurteilt. **.
* vgl. Salman , in Domenig, D. : Professionelle Transkulturelle Pflege 2007, S. 88),
** vgl. Bundesweiter Arbeitskreis Migration und öffentliche Gesundheit, 2010
Auch einzelne körperliche Beschwerden, wie Schmerzen, Magen-Darm-Störungen oder gynäkologische Probleme, wurden häufiger genannt als von einheimischen Frauen. Psychische Gesundheitsprobleme wie Essstörungen, Selbstwertprobleme, Erschöpfungszustände und Lebensmüdigkeit sind ebenfalls überrepräsentiert. Gleichzeitig ist der Kenntnisstand von Migrantinnen über Versorgungsangebote relativ gering, mit abfallender Tendenz in den höheren Altersgruppen, bei niedrigerem und bei kürzerer Aufenthaltsdauer in Deutschland. Außerdem wurde ein signifikanter Zusammenhang zwischen Gewalterfahrungen in der Biographie und dem Gesundheitsstatus der befragten Frauen festgestellt.
Vor dem besonderen Hintergrund der Situation der Migrantinnengesundheit, erfährt das von Kulturwissenschaftlern ausgiebig empirisch untersuchte Phänomen des Kulturschocks eine besondere Beachtung. Im Gesundheitszusammenhang ist die Rede in diesem Zusammenhang auch über: „Kulturspezifische Krisen“, „multiplen Akkulturationsstress“ oder einfach über „Stadien des Migrationsprozesses“.
Im Zusammenhang mit der aktuellen Forschungslage aus der Psychotherapie wird den hochsensiblen Stadien des Migrationsprozesses ein besonderer Stellenwert in der Individualentwicklung beigemessen. Es wird eine Analogie zwischen den Entwicklungsleistungen der MigrantInnen bei der Integration in die Aufnahmekultur und den Entwicklungsleistungen, die Adoleszenten einbringen müssen um sich in die Gesellschaft zu integrieren hergestellt.*
In dem Moment – wo der einzelne Mensch nicht mehr auf seine gewohnte Problemlösung zurückgreifen kann- in diesem Falle unsere gewohnte medizinische Versorgung- und etwas für ihn völlig unverständliches angeboten bekommt, setzen drei sehr lähmendes Gefühle ein:
Hilflosigkeit, Ohnmacht und Angst
Zahlreiche Untersuchungen und Erfahrungsberichte belegen dies:
Das Verhalten von Patienten mit Migrationshintergrund – ist sehr oft von genau diesen Gefühlen geprägt!
*vgl. Machleidt und Heinz, 2008
Woher kommt dies, wo doch nachweislich die Gesundheitsversorgung hier in Deutschland im weltweiten Vergleich sehr gut abschneidet? Hier erfährt meines Erachtens der Faktor Kulturschock zu wenig Beachtung. Lassen Sie mich kurz aus der kulturwissenschaftlichen Sicht das Phänomen des Kulturschocks beleuchten:
Kultur ist in ihrem weitesten Sinn das, was das Gefühl des Fremdseins auslöst, wenn man sich in einer anderen Kultur aufhält. Sie umfasst alle jene Überzeugungen und Erwartungen, wie Menschen zu sprechen und sich zu verhalten haben. Diese sind als Resultat sozialen Lernens eine Art zweiter Natur für den Einzelnen geworden.
Wenn man mit Mitgliedern einer Gruppe zusammen ist, die die eigene Kultur teilen, musst man nicht andauernd sein Verhalten und seine Überzeugungen in Frage stellen, denn viele Grundüberzeugungen stimmen auch mit denen von vielen anderen Mitgliedern der eigenen Kultur überein. Zumindest folgt jede Kultur ihren eigenen kulturellen Regeln, die tradiert und individuell erworben wurden.
Alle Mitglieder einer Kultur sehen die Welt in ähnlicher Weise und alle wissen im Großen und Ganzen, was von jedem Einzelnen in der Gesellschaft erwartet wird. Jedoch, einer fremden Gesellschaft direkt ausgesetzt zu sein und auf völlig neue kulturelle Muster zu stoßen, die lange nicht erklärbar sind, verursacht im allgemeinen ein störendes Gefühl der Desorientierung und Hilflosigkeit, das "Kulturschock" genannt wird.
Der Kulturschock ist eine Konfliktsituation. Er löst die Suche nach einer Konfliktlösung aus. Dies kann man sich am besten am Beispiel der Einwanderer in ein fremdes Land verdeutlichen. Indem sie ihre gewohnte räumliche Umwelt verlassen, verlassen sie zugleich eine Mitwelt, in der sie sich auskannten und von der sie "verstanden" wurden. Man hatte nicht nur die gleiche Sprache, sondern auch das gleiche Verhalten im Alltagsleben, gleiche Wertorientierungen und Erwartungen. Kurz: Man war auf die gleiche Wirklichkeit bezogen und wusste, was man von seiner Mitwelt erwarten konnte. In der fremden Umwelt nun gilt dieses Wissen und Vermögen nichts mehr. Die Kommunikationsmöglichkeiten sind abgebrochen, die reziproken Verhaltenserwartungen bleiben ohne Resonanz oder führen zu Missverständnissen.
Der Einwanderer erkennt, dass sein "richtiges" Verhalten hier falsch ist und das für ihn "falsche" Verhalten der neuen Mitwelt nun offensichtlich das richtige ist.
Die aus diesem Kulturschock für den Einwanderer erwachsene Konfliktsituation kann er auf verschieden Weise zu lösen versuchen:
1. Mit anderen Mitgliedern seiner Kultur bildet er eine Enklave (Ghetto) in der fremden Umwelt, in der das alte Verhalten beibehalten werden kann
2. Er versucht die völlige Anpassung an die neue Kultur, legt aber die Verhaltensmuster seiner Ausgangskultur konstant ab.
3. Kommunikation und Interaktion mit den Mitgliedern der fremden Kultur, um in einem wechselseitigen Prozess kulturelle Erfahrungen und Verhaltensweisen auszutauschen.
4. Partielle Anpassung: Er spaltet sich in zwei Lebensbereiche: Er versucht zum Beispiel im Arbeitsbereich die Verhaltensweisen der neuen Kultur anzunehmen, lebt aber in seiner Freizeit und in seiner unmittelbaren Umgebung nach den traditionellen, gewohnten Verhaltensmustern (Beispiel des türkischen Arbeitskollegen, der an der Arbeit aufgeschlossen und modern ist, seiner Tochter aber nicht erlaubt in ein öffentliches Schwimmbad zu gehen. Dieses Verhaltensmuster ist typisch für ausländische Arbeitnehmer als Zeitwanderer mit dem Ziel der endgültigen Rückkehr in die Heimat.
5. Klassisches Kolonisationskonzept. Der Fremde versucht seine Kulturverhaltensmuster gegenüber den Einheimischen durchzusetzen. Eine Prämisse für diese Handlungsmodelle ist, dass der Zustand der Fremdheit als störend, verunsichernd oder gar als bedrohlich empfunden wird und man die kulturelle Desorientiertheit aufheben will.
1.2. Kulturschock vor dem Hintergrund migrations-spezifischer Stressoren und seine psychosozialen Auswirkungen bei Patientinnen mit Migrationshintergrund
Ein im Zusammenhang mit Klinikalltag ganz wesentlicher Punkt, der so aber meines Wissens bisher noch nicht ausgiebig untersucht wurde, ist das Auftreten von Kulturschock-Syndromen bei den Patientinnen mit Migrationshintergrund. In den Kulturwissenschaften gehen wir fest davon aus, dass das Phänomen des Kulturschocks jeden Menschen betrifft, der auf eine neue Kultur stößt. Der Kulturschock verläuft phasenförmig und umfasst mehrere durchlebte Gefühlsphasen, die jeden Menschen, unabhängig von seiner Herkunftskultur betreffen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Grafik: Folie des Fachvortrages v. Bose, 9.2.2011
Anfänglich typisch für das fremdkulturelle Erleben des Kulturschocks ist die Euphorie. Man begegnet der fremden Kultur zunächst mit Neugier, Spannung, Freude. Man empfindet das Neue als bereichernd und interessant. Die eigene Kultur wird nicht in Frage gestellt. Dies betrifft wohlgemerkt den Verlauf bei Personen, die aus persönlichen Gründen ihr Land verlassen (z. B. Expatriates, die sich zu einem Auslandseinsatz entscheiden.) Ich komme in diesem Zusammenhang noch auf das
Phasenmodell des Migrationsprozesses zu sprechen, der ganz andere Grundbedingungen aufweist, etwa bei Kriegsflüchtlingen, Asylbewerbern und Migranten, die aus wirtschaftlichen Gründen ihr Land verlassen.
Bei diesen Gruppen ist schon von Beginn der Verlauf eines Kulturschocks anders, da die Phase der „Euphorie“ wohl kaum der Realität entsprechen dürfte.
Nach einer Phase von mehreren Wochen folgt dann das Bewusstwerden der
Fremdheit der neuen Kultur. Man springt immer öfter in kulturelle „Fettnäpfchen“, fühlt sich verunsichert, weiß plötzlich nicht mehr ganz sicher, wie man sich nun verhalten soll. Es folgt also die „Entfremdung“ und es entstehen erste Kontaktschwierigkeiten. Oft geben sich die Betroffenen selber die Schuld an den Missverständnissen.
Man beginnt, sich wieder nach Hause zurückzusehnen und es kommt zu erstem Heimweh. Die eigene Kultur wird verherrlicht, da der Betroffene anerkennt, welche Sicherheit er in seinem kulturellen System hatte.
Kommt es nach dieser Phase zu einer Eskalation der Konflikte, wird es ernst. Nun wird der oder die Betroffene entscheiden, ob heimgekehrt wird oder nicht und ob der Aufenthalt in der fremden Kultur abgebrochen wird.
Dies gelingt aber natürlich nur, wenn auch abgebrochen werden kann! Im Falle von Flucht, Migration oder Asyl ist dies nicht mehr möglich!!!! Das Problem verschärft sich besonders dann, wenn keine Rückkehrmöglichkeit mehr besteht. Jetzt fühlt sich der Mensch in der fremden Kultur stark verunsichert, hilflos, die eigene Kultur wird verherrlicht.
Im Zusammenhang mit Migration sprechen wir hier von der Phase der Dekompensation – Sie bezeichnet das auch für Migranten typische Eintreten des Kulturschocks, der oft mit körperlichen und psychischen Krisen und Konflikten einhergeht. In dieser Phase wird abgewogen, was von der Herkunftsgesellschaft beibehalten wird und was von der Aufnahmegesellschaft angenommen oder absolut abgelehnt wird!
Es ist von enormer Wichtigkeit sich über diese Phase im Migrationsverlauf klar zu sein und diese zu beachten. Wenn in dieser Phase der oder die Patientin eine integrationsförderliche Haltung durch die Aufnahmegesellschaft erfährt, besteht Aussicht auf Erfolg im Integrationsbemühen. Mehr noch- diese Phase legt den Grundstein zu dem weiteren Verhalten- wird es von Rückzug und Marginalisierung geprägt oder von einer Überwindung der Dekompensationsphase, einhergehend mit einer verstärkten Integrationswilligkeit in die neue Kultur.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Grafik: Folie des Fachvortrages v. Bose 9.2.2011
All diese Phänomene beobachten wir bei Patienten und Patientinnen mit Migrationshintergrund, die sich in Deutschland nicht gut integrieren können und/oder wollen. Der Rückzug aus der deutschen Kultur erfolgt beinahe vollständig – von der Verweigerung der deutschen Sprache angefangen bis hin zu der Verweigerung von deutschen Kontakten für die Kinder. Die Diskussion zu diesen Themen ist hinreichend bekannt. Auch das vermehrte Tragen von kulturtypischer Kleidung kann als identitätsstiftendes Symbol gesehen werden.
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- M.A. Alexandra von Bose (Author), 2011, Brauchen Migranten eine andere Pflege?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/167144
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