In den letzten Jahren erreichen uns durch die Medien immer häufiger Bilder von aggressiven Verhaltensweisen, die uns den Eindruck vermitteln, dass viele Kinder und Jugendliche bevorzugt Gewalt anwenden, um Konflikte zu lösen. An dieser Stelle sei beispielhaft an die Tragödie in Erfurt erinnert, die sich vor sechs Jahren im April 2002 ereignete, sowie an die zwei jungen U-Bahn-Schläger, welche im Dezember 2007 in München einen Rentner fast zu Tode prügelten.
Nicht nur im außerschulischen Bereich, sondern auch in der Schule und im (Schul-) Sport erleben viele Lehrer und Trainer in ihrem Alltag aggressive Verhaltensweisen von den Kindern und Jugendlichen.
Ich möchte in dieser Arbeit der Frage nachgehen, ob der (Schul-)Sport diesen aggressiven Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen entgegenwirken kann. Der (Schul-)Sport hat in der Gesellschaft vielerlei Funktionen. Sie reichen von der politischen (z. B. Völkerverständigung), über die wirtschaftliche (z. B. Sportindustrie), hin zu der gesundheitlichen Funktion (Bewegungsmangelausgleich). Nicht zu vergessen sind die beiden Funktionen, die hinsichtlich ihres Inhaltes einen wünschenswerten Beitrag bezüglich der aggressiven Verhaltensweisen bei Kindern und Jugendlichen leisten können. Gemeint sind die soziale Komponente, wie z. B. Teamfähigkeit, Kooperationsfähigkeit oder Leistungsbereitschaft, wie auch die pädagogisch-psychologische Funktion des (Schul-)Sports, u. a. die Steigerung des Selbstwertgefühls, das Erlernen des positiven Umgangs mit Erfolg und Misserfolg oder die Stressbewältigung. Der sportlichen Betätigung werden im Alltagswissen und auch in der Literatur eine Reihe von angestrebten Sozialisationseffekten zugeschrieben. Die Wirkungen sportlicher Aktivitäten haben allerdings nicht nur einen positiven Charakter, sondern können auch Konflikte und Spannungen hervorrufen. Betrachten wir hier beispielhaft die Aggressionen im und beim (Schul-)Sport. Gerade der (Schul-)Sport ist ein Spannungsfeld zwischen Friedfertigkeit und Aggressionen. Mit diesem Begriffspaar wird ein weiter Spannungsbogen angesprochen. Macht (Schul-)Sport zufrieden oder angriffslustig? Ist (Schul-)Sport ein Konfliktlöser oder löst er diese selbst aus?
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Grundlagen der Aggressionsforschung
2.1 Definition Aggression
2.2 Aggression und Gewalt
2.3 Theorien der Aggressionsforschung
2.3.1 Trieb- bzw. Instinkttheorien
2.3.2 Frustrations-Aggressions-Theorie
2.3.3 Lerntheorien
2.3.3.1 Klassische Konditionierung
2.3.3.2 Operante Konditionierung
2.3.3.3 Modellernen
3 Erscheinungsformen und Ausmaß der Aggression
3.1 Ausdruckformen und Bedingungen aggressiven Verhaltens
3.2 Arten von Aggressionen
3.3 Auftreten von aggressiven Handlungen
3.3.1 Aggressionen in der Gesellschaft
3.3.2 Aggressionen in der Schule
3.3.3 Aggressionen im (Schul-)Sport
4 Bedeutung des (Schul-)Sports bei aggressiven Kindern und Jugendlichen
4.1 Gesellschaftliche Ansprüche vs. sportpädagogische Position
4.1.1 Überblick über gesellschaftliche Meinungen
4.1.2 Darstellung der sportpädagogischen Position
4.2 Abreagieren bzw. Abbau von Aggressionen – geht das?
4.3 Auswirkungen des (Schul-)Sports
4.3.1 Psychosoziale Wirkungen des (Schul-)Sports
4.3.2 Aspekte des Kampfsports
4.3.3 Jugendliches Engagement in Sportvereinen
4.4 Zusammenhang von Sport, Wohlbefinden und Gewalt
5 Möglichkeiten der Prävention und Intervention von Aggression durch den (Schul-) Sport
5.1 Korrektive und präventive Maßnahmen durch den Schulsport
5.1.1 Pädagogische Konsequenzen der klassischen Aggressionstheorien für denSportunterricht
5.1.2 Zum Umgang mit aggressivem Verhalten im Sportunterricht
5.1.2.1 Korrektive Intervention
5.1.2.2 Präventive Intervention
5.1.3 „Aggression kultivieren“
5.2 Projekte und Maßnahmen des außerschulischen Sports
5.2.1 Offene Angebote
5.2.2 Geschlossene Angebote
5.2.3 Möglichkeiten und Perspektiven der Trainer und Betreuer
5.3 Präventionsprojekte
5.3.1 „KICK – Sport gegen Jugenddelinquenz“
5.3.2 „Durchboxen im Leben“
5.3.3 „Wir im Verein mit Dir“
6 Fazit
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
In den letzten Jahren erreichen uns durch die Medien immer häufiger Bilder von aggressiven Verhaltensweisen, die uns den Eindruck vermitteln, dass viele Kinder und Jugendliche bevorzugt Gewalt anwenden, um Konflikte zu lösen. An dieser Stelle sei beispielhaft an die Tragödie in Erfurt erinnert, die sich vor sechs Jahren im April 2002 ereignete, sowie an die zwei jungen U-Bahn-Schläger, welche im Dezember 2007 in München einen Rentner fast zu Tode prügelten. Diese, sicherlich sehr extremen Formen von Aggression, lösten in ganz Deutschland Betroffenheit und ein Gefühl von Ohnmacht aus. Sie beherrschten tagelang die Medien und entfachten in diesem Zusammenhang wiederholt eine öffentliche Diskussion zu dem Thema „Aggressions- und Gewaltbereitschaft bei Kindern und Jugendlichen“. In einer Fülle von Zeitungsartikeln, Radio- und Fernsehbereichten wird zumeist von spektakulären Einzelfällen berichtet, so dass der Eindruck einer dramatischen Zunahme des Ausmaßes und der Intensität aggressiver Verhaltensweisen unter Kinder und Jugendliche besteht. In einem aktuellen Zeitungsartikel der Nordwest Zeitung wird auf die steigende Aggressionsbereitschaft unter Kindern und Jugendlichen aufmerksam gemacht, mit dem dringenden Hinweis hier entgegenwirken zu müssen.
Immer mehr Jugendgewalt
Die Jugendgewalt in Niedersachsen nimmt dramatisch zu. Polizei und Staatsanwälte schlagen Alarm. Im Bereich der Staatsanwaltschaft Hannover stieg die Zahl der Verfahren wegen vorsätzlicher Körperverletzung von Jugendlichen in den vergangenen vier Jahren um fast 30 Prozent. Gewaltbereite Jugendliche verabreden sich immer öfter um Zufalls - Opfer zu verprügeln. „Man trifft sich und prügelt zusammen“, sagte Behördenchef Manfred Wendt am Mittwoch in Hannover. Die Gesamtzahl der Ermittlungsverfahren im Bereich der Staatsanwaltschaft Hannover stieg im vergangenen Jahr auf fast 99.000 an. 2006 waren es etwa 95.500. Oft spiele auch Alkohol bei den Gewalttaten eine Rolle, erklärte Wendt. Im Bereich der Polizeidirektion Oldenburg sind Jugendliche mit einem Anteil von rund 14 Prozent an der Zahl aller Straftaten beteiligt, bei den Körperverletzungsdelikten sind es mehr als 20 Prozent. Jeder siebte Jugendliche und jeder dritte heranwachsende Täter wird unter Alkoholeinfluss straffällig. Die Zahl Minderjähriger sei bei Fällen von Körperverletzung seit zehn Jahren kontinuierlich angestiegen, sagte Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) der NWZ. „Exzessiver Alkoholgenuss führt offensichtlich zu einem erhöhten Risiko, gewalttätig zu werden.“ Die Polizei in Niedersachsen geht inzwischen mit gezielten Kontrollen gegen Saufgelage von Jugendlichen vor. Auch die Polizeidirektion reagiert mit speziellen Maßnahmen: Delikte minderjähriger Täter werden in speziellen Kommissariaten bearbeitet, und besonders auffällige Jugendliche werden nach dem Patenprinzip betreut. Darüber hinaus gibt es Präventionsteams und regelmäßige Schülersprechstunden.
(Seng/Drunkenmölle NWZ 10. April 2008)
Nicht nur im außerschulischen Bereich, sondern auch in der Schule und im (Schul-) Sport erleben viele Lehrer und Trainer in ihrem Alltag aggressive Verhaltensweisen von den Kindern und Jugendlichen. „Der Prozeß der Tabuisierung der direkten Gewalt – und auch in der Schule ist z. B. die Prügelstrafe inzwischen verboten – hat dazu geführt, dass sich das Bedürfnis, Konflikte gewalttätig zu lösen, zum einen in weniger kontrollierte Räume verlagert hat und zum anderen in sublimierten Formen, vor allem im Sinne psychischer Gewalttätigkeit, zum Ausdruck kommt.“ (Gabler 1996, 461f). Zwar sind körperlich und brutal ausgetragene Schlägereien, Raufereien und eklatante Sachbeschädigungen zumeist besonders aufsehen erregend, aber überwiegen doch bei weitem die vielen verbalen und nonverbalen Aggressionen wie z. B. übles Beschimpfen mit Wörtern aus dem Fäkalsprachbereich, Verspotten, Diffamieren oder das „Mobben“.
Ich möchte in dieser Arbeit der Frage nachgehen, ob der (Schul-)Sport diesen aggressiven Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen entgegenwirken kann. Der (Schul-)Sport hat in der Gesellschaft vielerlei Funktionen. Sie reichen von der politischen (z. B. Völkerverständigung), über die wirtschaftliche (z. B. Sportindustrie), hin zu der gesundheitlichen Funktion (Bewegungsmangelausgleich). Nicht zu vergessen sind die beiden Funktionen, die hinsichtlich ihres Inhaltes einen wünschenswerten Beitrag bezüglich der aggressiven Verhaltensweisen bei Kindern und Jugendlichen leisten können. Gemeint sind die soziale Komponente, wie z. B. Teamfähigkeit, Kooperationsfähigkeit oder Leistungsbereitschaft, wie auch die pädagogisch-psychologische Funktion des (Schul-)Sports, u. a. die Steigerung des Selbstwertgefühls, das Erlernen des positiven Umgangs mit Erfolg und Misserfolg oder die Stressbewältigung. Der sportlichen Betätigung werden im Alltagswissen und auch in der Literatur eine Reihe von angestrebten Sozialisationseffekten zugeschrieben. Die Wirkungen sportlicher Aktivitäten haben allerdings nicht nur einen positiven Charakter, sondern können auch Konflikte und Spannungen hervorrufen. Betrachten wir hier beispielhaft die Aggressionen im und beim (Schul-)Sport. Gerade der (Schul-)Sport ist ein Spannungsfeld zwischen Friedfertigkeit und Aggressionen. Mit diesem Begriffspaar wird ein weiter Spannungsbogen angesprochen. Macht (Schul-)Sport zufrieden oder angriffslustig? Ist (Schul-)Sport ein Konfliktlöser oder löst er diese selbst aus?
In den vergangenen Jahren sind vermehrt sportpädagogische Intentionen zu registrieren, bei denen Sport nicht nur als therapeutisches Medium bei körperlicher Krankheit (z. B. Rückenschule, Krankengymnastik), sondern auch als Intervention in der Verhaltensmodifikation von auffälligen, aggressiven oder gewalttätigen Kindern und Jugendlichen eingesetzt wird. An dieser Stelle sei kurz die aktuelle Fernsehreihe „Teenager außer Kontrolle“ genannt, hier sollen verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche in einem „Wildniscamp“ unter vielerlei sportlicher Betätigung (insbesondere Wandern) zur Verhaltensmodifikation erzogen werden. Kann der (Schul-)Sport diesen hohen, erwünschten Potenzialen gerecht werden und einen Beitrag zur Aggressionsverminderung leisten? In der Literatur stehen sich vielerlei Hypothesen gegenüber. Die Gesellschaft steckt in den (Schul-)Sport sehr hohe Erwartungen, wenn es um den Bereich der Aggressionsminderung und -bewältigung geht, sieht aber gleichermaßen, wie sich Konflikte entwickeln und eskalieren (z. B. Zuschaueraggressionen). In der wissenschaftlichen Literatur hingegen lassen sich kaum Befunde und Studien eines Zusammenhangs von Sport und gewalttätigem Verhalten finden. Sie versuchen eher die Gründe gesellschaftlicher Aggressionen zu finden, ohne den sportlichen Bereich dabei zu untersuchen. Als Ausnahme kann hier die Studie Brettschneiders (2005) genannt werden, welche das Verhältnis von sportlicher Betätigung und dem Gewaltverhalten bei Jugendlichen mehrdimensional zu untersuchen versucht und mit ernüchternden Ergebnissen die Erwartungen der Gesellschaft beeinflusst.
Die vorliegende Arbeit ist gegliedert in verschiedene Kapiteln, wobei die Grundlagen der Aggressionsforschung den Anfang machen. Wenn wir von aggressiven Kindern und Jugendlichen sprechen, muss zuerst geklärt werden, was unter dem Begriff der Aggression verstanden wird. Dazu gehört auch die kritische Aufarbeitung verschiedener Modellannahmen und ermittelter Ursachen, insbesondere die klassischen Theorien der Aggressionsforschung.
Da Aggressionen in unterschiedlichster Art und Weise auftreten, wird auf eine mögliche Differenzierung der Aggression im nachfolgenden Kapitel eingegangen. Ebenso wichtig ist hier ein kurzer Einblick in das Entwicklungsgeschehen aggressiver Verhaltensweisen in der Gesellschaft. Stimmen Daten und Statistiken mit den medialen Berichterstattungen der zunehmenden Gewalt- und Aggressionsbereitschaft Kinder und Jugendlicher überein?
Durch einen Überblick über einige gesellschaftliche Meinungen sowie sportpädagogische Positionen und den Vergleich mehrerer Studien und Theorien wird im darauf folgenden Kapitel „Bedeutung des (Schul-)Sports bei aggressiven Kindern und Jugendlichen“ versucht, eine mögliche Antwort auf die Problemfrage zu finden. Dabei werden die viel besagten Möglichkeiten der Abreagierung und Abbauung von Aggressionen im Mittelpunkt stehen, sowie mit den Auswirkungen des (Schul-)Sports auf aggressive Kinder und Jugendliche.
Bevor ich im letzten Kapitel auf eine Zusammenfassung und Abschlussbetrachtung komme, womit auch hoffentlich eine Antwort der gestellten Problemfrage gefunden wird, werde ich zuvor Präventions- und Interventionsmöglichkeiten durch den (Schul-) Sport auf aggressive Verhaltensweisen bei Kindern und Jugendlichen aufzeigen. Einige der dargestellten Möglichkeiten haben sich in ihren Zielen und Absichten durchgesetzt, andere hingegen beruhen auf reine Fiktionen.
Abschließend noch einige formale Hinweise:
Querverweise, wie z. B. (vgl. Kap. 1, S. 8), verweisen auf Textstellen innerhalb dieser Arbeit.
Um den Lesefluss nicht zu beeinträchtigen, werde ich auf die explizite Nennung beider Geschlechtsformen in meiner Arbeit verzichten. Wenn ich im Folgenden von Schülern, Lehrern oder anderen Gruppen spreche, schließe ich selbstverständlich auch die weibliche Form wie Schülerinnen und Lehrerinnen mit ein.
2 Grundlagen der Aggressionsforschung
Der Terminus „Aggression“ ist wohl einer der Begriffe, den jeder von uns zu seinem Wortschatz zählen kann. Doch was genau meint eigentlich dieser doch sehr abstrakte Begriff? In diesem Kapitel soll, nach der Definition des Begriffes „Aggression“, die Aggression mit dem Termini „Gewalt“ in Verbindung gebracht bzw. nach Unterscheidungsmerkmalen untersucht werden. Abschließend werden die „klassischen“ Aggressionstheorien der Psychologie mit den Kernbegriffen Trieb, Frustration und Lernen vorgestellt.
2.1 Definition Aggression
Unter dem Begriff der „Aggression“, ebenso wie unter „aggressivem Verhalten“ und „Aggressivität“, kann sich jeder von uns etwas vorstellen. Jedoch scheint es so, als stellt sich jeder unter diesen Begriffen etwas anderes vor. Für manche Menschen besteht Aggression nur aus massivem Verhalten wie körperliche Gewalt oder Beschimpfungen, andere hingegen denken auch an subtilere Formen wie Missachtung und Ausgrenzung. Affektive Erregungen gehören für einige Personen auch zur Aggression (vgl. Nolting 2005, 14). Wieder andere verstehen selbst offensives, energisches und tatkräftiges Handeln als aggressives Verhalten. Es stellt sich als äußerst schwierig heraus, eine eindeutige Definition für den Begriff der Aggression zu finden. Um diese Problematik, die der Begriff der „Aggression“ in sich trägt, darzustellen, werden einige Definitionen vorgestellt, die alle vom gleichen Begriff handeln, aber trotzdem zum Teil sehr unterschiedlich sind.
Hacker:
„Aggression ist jene dem Menschen innewohnende Disposition und Energie, die sich ursprünglich in Aktivität und später in den verschiedensten individuellen und kollektiven, sozial gelernten und sozial vermittelten Formen von Selbstbehauptung bis zur Grausamkeit ausdrückt.“ (Hacker 1971, 80).
Dollard u. a.:
„Jede Verhaltenssequenz, deren Zielreaktion die Verletzung der Person ist, auf der sie gerichtet ist, wird als Aggression bezeichnet.“ (Dollard/Doob/Miller/Mowrer/Sears 1972, 17f).
Selg u. a.:
„Als Aggression soll solches Verhalten bezeichnet werden, bei dem schädigende Reize gegen einen Organismus (oder ein Organismussurrogat) ausgeteilt werden. Dieses Verhalten muß als gerichtet interpretiert werden.“ (Selg/Mees/Berg 1997, 7).
Ebenso wie im alltäglichen Sprachgebrauch wird der Begriff der Aggression auch in der wissenschaftlichen Literatur unterschiedlich und vielfältig verwendet. Bei Hacker z. B. wird die Aggression mit jeder Form von Aktivität gleichgesetzt, wobei der Definitionsbegriff von der ursprünglichen Bedeutung des Begriffes ausgeht.[1] Im Gegensatz dazu versuchen weitere Definitionen den Begriff von anderen Verhaltensweisen klar abzugrenzen und durch relativ wenige Merkmale einzugrenzen. Nach Nolting (2005, 14) scheint es trotz dieser Unterschiede einen gemeinsamen Kern der Aggressionsaussagen zu geben. Er umfasst drei Merkmale: Schaden, Intention und Normabweichung.
In dieser Arbeit wird der Aggressionsbegriff nach Petermann u. a. verwendet, der als wesentliches Definitionsmerkmal besagt: „Aggression beschreibt zunächst ein Verhalten, das darauf gerichtet ist, jemand anderen direkt oder indirekt zu schädigen. Im weiteren Sinne ist jegliche Form von Schädigungsabsicht inbegriffen. Sie kann sich sowohl auf Objekte – Gegenstände wie Tiere – erstrecken.“ (Petermann/Jugert/Tänzer/Verbeek 1997, 12).
Aggression und aggressives Verhalten werden, entsprechend obiger Definition, synonym verwendet, während sich der Begriff der Aggressivität nicht auf eine bestimmte Verhaltensweise bezieht, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal darstellt. Nach Nolting (2004, 15) ist die Aggressivität eine „… individuelle Ausprägung der Häufigkeit und Intensität aggressiven Verhaltens (‹‹Eigenschaft›› einer Person)“.
In der Öffentlichkeit werden die Begriffe Aggression und Gewalt synonym verwendet. Auf eine Differenzierung und den Zusammenhang dieser beiden Begriffe werde ich im nachfolgenden Punkt eingehen.
2.2 Aggression und Gewalt
Für den Terminus „Gewalt“ gilt laut Selg u. a. das Gleiche wie für den Terminus „Aggression“: Es gibt keinen einheitlichen Wortgebrauch dieser beiden Begriffe (vgl. Selg u. a. 1997, 7). Das könnte ein Grund dafür sein, dass in der öffentlichen Diskussion die Begriffe Aggression und Gewalt zwar teilweise unterschiedlich definiert, aber im allgemeinen Sprachgebrauch synonym verwendet werden.
Obwohl der Begriff der Gewalt heute meist parallel zu dem Begriff Aggression verwendet wird, sollen hier mögliche Abgrenzungen dargestellt werden. Nicht jede Aggression ist Gewalt, aber jede Gewalt ist Aggression. Gewalt bezeichnet in der Regel schwerwiegende Formen der Aggression und weniger verbale oder indirekte Formen aggressiven Verhaltens wie z. B. böse Blicke.
Nach Selg u. a. wird unter Gewalt in erster Linie psychische Gewalt verstanden, d. h. psychische Aggression, die mit relativer Macht einhergeht: Wenn ein kleiner Junge wütend nach seinem Vater schlägt, werden wir kaum von Gewalt sprechen, wohl aber im umgekehrten Fall (ebd., 8).
Üblich ist es, vor allem in der älteren Fachliteratur, körperliche Angriffe und psychische Aggressionen als Gewalt zu bezeichnen. Nach Martin/Martin (2003, 9) wird der Begriff „Gewalt“ immer häufiger als Oberbegriff gebraucht und spezifiziert, z. B. in psychische und physische Gewalt, verbale, sexuelle, frauenfeindliche, rassistische … Gewalt.
Eine neuere Studie über Gewalt an Schulen legt nach Fuchs, Lamnek und Luedtke (1996) folgende Definition zugrunde: „Gewalt ist demnach eine zielgerichtete, direkte physische, psychische oder soziale Schädigung, deren Illegalität in der gesellschaftlichen Beurteilung Merkmalen des Täters, des Opfers und der sozialen Kontrollinstanzen unterliegt“ (Fuchs/Lamneck/Luedtke 1996; zit. nach: Martin/Martin 2003, 9).
Als Differenzierungen werden zum einen „personale Gewalt“ als Schädigung zwischen Personen (aufgrund einer ungleichen Machtverteilung) oder als Schädigung von Sachen vs. „strukturelle Gewalt“ als Schädigung von Personen aufgrund institutioneller oder gesellschaftlicher Bedingungen (z. B. durch ungleiche Bildungs- und Berufschancen) angeboten und zum anderen die „expressive Gewalt“ als Ausdruck von negativen Gefühlen, als Selbstdarstellung, „zum Spaß“ (oft gegenüber beliebigen Gegnern oder Gegenständen) vs. die „instrumentelle Gewalt“ als Mittel zur Lösung von Problemen, zur Durchsetzung eigener Absichten (Martin/Martin 2003, 9).
Ein wesentlicher Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen liegt darin, dass der Begriff der Gewalt negativ besetzt ist und den Aggressionsbegriff sowohl positiv als auch negativ bewertende Assoziationen zugeschrieben werden können. So ist z. B. die im kindlichen Raufspiel gezeigte „spielerische Aggression“ keinesfalls negativ besetzt.
Hingewiesen werden soll noch auf den häufig gebrauchten Begriff „mobben“. Nach Olweus bedeutet er folgendes: „Ein Schüler oder eine Schülerin ist Gewalt ausgesetzt oder wird gemobbt, wenn er oder sie wiederholt und über eine längere Zeit den negativen Handlungen eines oder mehrerer anderer Schüler oder Schülerinnen ausgesetzt ist“ (Olweus 2006, 22).
Auch wenn sich die Termini „Aggression“ und „Gewalt“ aufgrund ihrer Definition unterscheiden, wird in der folgenden Arbeit der Einfachheit halber von aggressivem Verhalten, gewalttätigem Verhalten oder Aggression gesprochen. Diese Begriffe werden synonym verwendet.
Sowohl Aggressionen als auch Gewalt können, wie die vorgenannten Aufzeichnungen zeigen, sehr unterschiedliche Formen annehmen und sind bezüglich der Wahl ihrer Intention sehr differenziert. Zur Erklärung der verschiedenen Formen und Merkmale aggressiven Verhaltens werden zahlreiche Aggressionstheorien herangezogen, die jeweils auf ihre Art versuchen Aggressionen zu erklären. Auf eine Auswahl verschiedener Theorien wird im nächsten Kapitel eingegangen.
2.3 Theorien der Aggressionsforschung
Der folgende Abschnitt befasst sich mit der Frage, wie Aggressionen erklärt werden können. Erklärungen zu geben bzw. zu ermöglichen ist eine der Hauptaufgaben von Theorien, die von verschiedenen Wissenschaftlern aufgestellt werden. Wie kaum ein anderes Thema wurde und wird das Problem der Aggression und Gewalt in der Wissenschaft diskutiert und erforscht. Es gibt eine fast unüberschaubare Menge an Aufsätzen und Monographien zu diesen Themenkomplex. Diese stehen, laut Pilz (1981, 6), in keinem Verhältnis zu den erarbeiteten Fakten, da bei den einzelnen Untersuchungsansätzen, je nach wissenschaftlicher Herkunft der Forscher, nur Teilaspekte ohne Berücksichtigung der Multikausalität und ohne Verflechtung des Problemfeldes Aggression untersucht und oft vorschnell verallgemeinert werden.
Aus der Mannigfaltigkeit der überwiegend soziologischen, pädagogischen und psychologischen Theorien wurde die Debatte über lange Zeit von den „klassischen“ Aggressionstheorien bestimmt: „Nach der Triebtheorie gibt es im Organismus eine angeborene Quelle, die fortwährend aggressive Impulse produziert. Nach der Frustrationstheorie entstehen aggressive Impulse nicht spontan, sondern als Reaktion auf störende, unangenehme Ereignisse. […] Gemäß der Lerntheorie beruht aggressives Verhalten hingegen gar nicht auf spezielle Impulse, sondern es wird wie jedes andere Verhalten von Lerngesetzen bestimmt, vom Lernen am Erfolg, vom Lernen am Modell, von kognitivem Lernen.“ (Nolting 2005, 39).
Die drei Kernbegriffe „Trieb“, „Frustration“ und „Lernen“ beeinflussen auch heute noch die Aggressionsforschung. Die „klassischen“ Forscher zu diesen Kernbegriffen haben in ihren Theorien versucht, die Ursache aggressiven Handelns aufgrund der menschlichen Triebsteuerung, der Frustration und des Lernens zu erklären. In der heutigen Aggressionsforschung versucht jedoch niemand mehr, lediglich mit nur einem der drei Kernbegriffe auszukommen, um die Vielfalt aggressiver Erscheinungen zu erklären. Die Gegenüberstellung dieser drei Positionen als Erklärungsmodelle hat insofern nur noch eine historische Bedeutung (vgl. ebd., 39f).
Zu den einzelnen Erklärungsansätzen haben sich eine Reihe von kleinen psychologischen Zusatztheorien entwickelt, sodass von einer monokausalen Betrachtung der Ursachen kaum noch die Rede sein kann. Der Trend der Aggressionspsychologie geht demnach weg von einer eindimensionalen Betrachtung hin zu multikausalen Erklärungsmodellen. Einheitliche Erklärungen zu suchen erscheinen demnach für die Vielfalt aggressiver Erscheinungen nicht sinnvoll.
Auch die sozial-kognitive Lerntheorie Banduras, an der sich viele Forscher orientieren, besitzt nach Nolting (2005, 40f) nur dann umfassende Erklärungskraft, wenn sie Aspekte mit einbezieht, die nicht direkt unter den Begriff des Lernens fallen:
- die angeborenen Grundlagen eines jeden Menschen (nichts entwickelt sich ohne sie, auch Lernen ist ohne sie nicht möglich),
- aggressives Verhalten ist stets im interpersonalen Bezug zu sehen (es wird häufig erst verständlich, wenn man das Bedingungsgefüge begreift),
- es ist immer nach der Motivation aggressiven Verhalten zu fragen (in allen klassischen Positionen stellt sich die Frage, was ist das eigentliche Bestreben, worin liegt die Befriedigung, die durch aggressives Verhalten erreicht wird?)
„Für die Erklärung eines konkreten Aggressionsphänomens braucht man stets eine Synthese verschiedener Faktoren, allerdings nicht stets dieselbe, sondern eine differenzierte. […] Das bedeutet auch, dass die zuvor erwähnten Rahmenaspekte ‚innere Aspekte’, ‚Situation’, ‚Person’ und ihre ‚Entwicklung’ sowie ‚interpersonale Bezüge’ von Fall zu Fall unterschiedlich auszufüllen sind.“ (ebd., 41).
Bei der Vielfalt der vorliegenden Aggressionstheorien, deren Abwandlungen und deren Erweiterungen würde es den Rahmen dieser Arbeit sprengen, wenn ich versuchen würde, allen gerecht zu werden. Von daher beschränke ich mich auf die kritische Betrachtung der „klassischen“ Aggressionstheorien, d. h. auf den trieb- und lerntheoretischen Ansatz sowie auf die Frustrations-Aggressions-Theorie. Diese beanspruchen zunächst einmal jede für sich das Phänomen Aggression als Ganzes erklären zu können.
2.3.1 Trieb- bzw. Instinkttheorien
Trieb- oder Instinkttheorien dominierten in den ersten Jahrzehnten sozialwissenschaftlicher Forschung fast allen Bereichen. Jegliche Verhaltensweisen wurden irgendwann auf einen Trieb oder einen Instinkt zurückgeführt. Aggressives Verhalten wird von den Triebtheoretikern erklärt als das Ergebnis virulenter Aktivitäten in Abhängigkeit von fundamentalen Trieben oder angeborenen Instinkten. Der Organismus enthält nach den Triebtheoretikern eine Quelle, welche fortlaufend aggressive Impulse produziert. Diese Impulse müssen sich in irgendeiner Art und Weise in dem Verhalten eines Individuums ausdrücken, da sie sonst zu seelischen Störungen führen können. „Zurückhaltung von Aggressionen ist […] ungesund, wirkt krankmachend“ (Freud 1938; zit. nach: Selg u. a. 1997, 19). Die Triebe bzw. Instinkte sind ein dem Menschen angeborenes körperlich oder auch psychisch begründetes Bedürfnis, das auf Abreaktion drängt. Vergleichbar ist dies mit einem „hydraulischen Modell“ oder der Einfachheit halber mit einem „Dampfkesselmodell“. Ausgehend von dem sog. „Dampfkesselmodell“ wird ein Mensch aggressiv, da er seinen Trieb „entladen“ muss. Nach dieser „Entladung“ kommt der Mensch zur Ruhe, bis sich erneut ein gewisser „Druck“ aufgebaut hat, der wiederum entladen werden muss. Dieser Vorgang wiederholt sich ständig (vgl. Pilz 1982, 9a).
Als bekanntester Vertreter der psychoanalytischen Theorie gilt Sigmund Freud[2], der in den 20er/30er Jahren in seinem Werk „Das Unbehagen in der Kultur“ (1930) das dualistische Triebmodell vorstellt.
Freuds Theorie zufolge wird die Psyche durch biologische Mechanismen, z. B. Triebe beeinflusst und personelles Handeln somit von unbewussten Motiven gelenkt. Das dualistische Triebmodell Freuds geht davon aus, dass es in jedem Menschen zwei Triebe gibt, die miteinander „konkurrieren“. Demnach geht es um den Konflikt zwischen Leben und Tod. Freud unterscheidet zum einen den Lebenstrieb, den „Eros“, wobei er ursprünglich davon ausging, dass Aggression als eine spezielle Ausdrucksform des Sexualtriebs auftritt. In späteren Veröffentlichungen begriff er hingegen das aggressive Verhalten als die Reaktion auf Versagungen. Als Gegensatz zu dem Lebenstrieb stellt Freud, wahrscheinlich geprägt von den Ereignissen des Ersten Weltkrieges, den Todestrieb dar. „Das Ziel des Todestriebs besteht darin, das Lebendige zum Tode zu führen“ (Selg u. a. 1997, 19). Dieses würde die Selbstvernichtung des Menschen bedeuten. Der Todestrieb lässt einem jeden Menschen eine Auswahl aus zwei Alternativen:
1. die Zerstörung des eigenen Selbst, oder
2. die Zerstörung anderer, in Form von aggressiver Destruktivität (vgl. Bürger 2006, 16).
Da es das Ziel eines jeden Menschen ist, seinen Organismus am Leben zu halten, außer in pathologischen Ausnahmefällen wie Selbstmord, muss geklärt werden, wie der Mensch mit diesem Todestrieb leben kann, ohne dass er zur Selbstzerstörung führt. Die beiden Alternativen des Todestriebs werden von ihrem Gegenspieler, dem Eros beeinflusst und abgeschwächt. Um einer Selbstvernichtung zu entgehen, müsse demnach das Individuum seine Aggression nicht gegen sich selbst, sondern nach außen, gegen ein anderes Objekt richten. Der Eros übernimmt diese Aufgabe und leitet die innerlichen Aggressionen in die Außenwelt, wodurch er das einzelne Individuum beschützt. Nolting fügt dem hinzu, dass – nach der Sicht Freuds – der Eros die Energie des Todestriebs über das Muskelsystem nach außen treten lasse, welches als Aggression in Erscheinung tritt. Der Todestrieb ist demnach, nach außen gerichtet, als Aggressions- oder Destruktionstrieb zu sehen (Nolting 2005, 50).
Ein weiterer Vertreter der klassischen Triebtheorie ist Konrad Lorenz[3]. Lorenz hat sich ebenfalls mit dem Gebiet der Aggression befasst. Der Verhaltensforscher stellt seine ethologische Triebtheorie in seinem 1963 erschienenen Werk „Das sogenannte Böse“ dar. Nach Bürger (2006, 23) vertritt Lorenz die Auffassung, dass es sich bei dem Phänomen der Aggression um einen Instinkt handelt.
Nach dieser Theorie gibt es, laut dem als Tierforscher bekannt gewordenen Lorenz, vier große Triebe bzw. Instinkte[4] in jedem Organismus, darunter auch den „Aggressionstrieb“, welcher mehrere biologisch sinnvolle Funktionen übernimmt. Bei diesem Aggressionstrieb geht es nicht um Beute-Aggression gegen andere Tiere, sondern um den Sinn von Aggression gegen Artgenossen. Hierin unterscheidet sich Lorenz’ Auffassung von Freuds selbstvernichtendem Todestrieb. Der angeborene Instinkt muss einen arterhaltenden Zweck erfüllen (vgl. Nolting 2006, 52), z. B. zwingt er die Tiere einer Art dazu, sich so in ihrem zur Verfügung stehenden Raum zu verteilen, dass die Ernährungsmöglichkeiten optimal genutzt werden können.
Lorenz bezog seine Aussagen nicht nur auf die von ihm beobachteten Tiere, sondern er generalisierte sie auf den Menschen. Er war der Annahme, dass der Aggressionstrieb beim Menschen besonders ausgeprägt sei und vertrat den Standpunkt, dass die Zivilisation ihm nicht genügend sinnvolle Entladung zulasse, sodass es zu Störungen der psychischen und physischen Gesundheit komme.
Zudem nahm er an, dass die mit Waffen ausgeübten Aggressionen der Menschen weit über ein biologisch zweckvolles Maß hinaus reichen würden (vgl. Selg u. a. 1997, 20). Im Gegensatz zu den Tieren, bei denen Hemmungen ihrer Aggressionsneigungen angeboren sind (es kommt im Tierreich z. B. kaum zu tödlichen Auseinandersetzungen zwischen Tieren gleicher Art), versagen diese Hemmungen beim Menschen, da sie sich verständlicherweise nicht auf moderne Waffensysteme übertragen lassen. Eventuelle Demuts- oder Befriedigungsgebären des Opfers können durch die modernen Waffen nicht wahrgenommen werden (vgl. ebd.). Das Aggressionspotential bildet sich nach Lorenz ständig neu und muss dementsprechend, zumeist durch einen auslösenden Reiz, abgeführt werden (vgl. „Dampfkesselmodell“). Bleibt dieser auslösende Reiz jedoch aus, kommt es zu sog. Leerlaufhandlungen und die Aggressionen laufen ohne erkennbaren äußeren Reiz ab.
In einem Lösungsvorschlag nach Lorenz zur Regulierung des Aggressionstriebs schlägt er vor, ansteigende Aggressionen auf gesellschaftlich und sozial akzeptierten Ersatzhandlungen umzuleiten, wie z. B. sportlichen, wissenschaftlichen und künstlichen Wettstreit (vgl. ebd.). Die fundamentale Idee dieser „Umleitung“ liegt darin, dass durch das Ausüben vieler „kleiner“ Aggressionen die aggressive Energie verzehrt werde und es somit nicht zu einer Aggressionsanhäufung kommt, welches andernfalls eventuell zu schwerwiegenderen Manifestationen von Aggression führen würde.
Zur Bewertung der Trieb- bzw. Instinkttheorie ist zu sagen, dass sie heute, aufgrund von theoretischen Widersprüchlichkeiten, geringer Konsequenzen zur Aggressionsminderung und fehlender empirischer Belege, für die Erklärung menschlichen aggressiven Verhaltens kaum noch Bedeutung haben.
Die Freud’sche Lehre eines Todestriebes erscheint biologisch unverständlich und sehr spekulativ. Zu akzeptieren, dass in jedem Individuum ein Aggressionstrieb steckt, bedeutet ebenfalls zu akzeptieren, dass Aggressionen bzw. aggressives Verhalten ein angeborener und unveränderbarer Bestandteil des Menschen ist. Empirische Befunde hierzu stützen diese Aussage in keiner Weise. Demnach würde der Mensch mit einer Marionette verglichen werden können, dessen Verhalten in die Hand einer unbekannten Quelle gelegt werden würde. Es fragt sich nur, wo dabei die Eigenverantwortlichkeit eines jeden Menschen bleibt, wenn er doch von den Trieben bzw. Instinkten geleitet werde. Die Theorie Freuds scheint allzu leicht eine Entschuldbarkeit aggressiven Verhaltens darzubieten.
Dies könnte einer der Gründe dafür sein, dass gerade die Triebtheorien in der Öffentlichkeit auf so große Popularität stoßen. Sie liefern schnell und für jedermann eine handliche psychologische Erklärung aggressiven Verhaltens. Es wird von „Aggressivität“, von „anstauen“ und „Dampf ablassen“ gesprochen, dieses sind Begrifflichkeiten, die für jedes Individuum zugänglich sind und - zumindest oberflächlich - eine Reihe von Verhaltensweisen erklären. Besonders angesehen war die ethologische Triebtheorie Lorenz nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie lieferte eine Begründung für die unvergesslichen Taten, die während der Nazi-Diktatur begangen wurden. Man brauchte keine Schuldgefühle haben, da der Aggressionstrieb angeboren sei und man ihn ausleben müsse.
Nur wenige Psychoanalytiker folgten der Lehre von Freud und dem Tierforscher Lorenz. Lorenz erschloss seine Theorien aus der Beobachtung von Tieren. Er beobachtete animalisches Verhalten, interpretierte diese und transferierte sie auf menschliches Verhalten, welches seiner Meinung nach äußerlich dem Tierischen entspricht. Anschließend postuliert er für beide (äußerlich beobachtbaren) Verhaltensweisen die gleiche (innere) Ursache – den Instinkt (vgl. Bürger 2006, 42). Die Generalisierung tierischen Verhaltens auf den Menschen ist sehr umstritten. Es gibt nach den Vertretern der Triebtheorie nicht nur keine Belege für einen Aggressionstrieb, sondern es sprechen verschiedene Argumente dagegen. Nach Nolting (2005, 53) haben andere Ethologen eingewandt, dass der biologische Sinn einer spontanen gesuchten Aggressivität schwer einzusehen sind, da sich die Tiere damit unnötig in Gefahr brächten. Nach Lorenz ist gerade die Arterhaltung einer Tiergruppe der Sinn eines Instinktes. Durch Widersprüchlichkeiten wie diese werden die Trieb- bzw. Instinkttheorien in Frage gestellt. Nach m. E. haben die Triebtheorien heute keine wesentliche Bedeutung für die Aggressionsforschung. Sie bieten zwar einfache, unbewiesene Erklärungsansätze aggressiven Verhaltens, können aber keinen Beitrag zur Aggressionsverminderung leisten. Lorenz Lösungsvorschlag zur „Umleitung“ der Aggressionen auf viele „kleinere“ Triebimpulse, durch den Ausgleich in sportliche, künstlerische oder wissenschaftliche Wettkämpfe, hat sich in wissenschaftlichen Studien am Menschen als nutzlos in Bezug auf Aggressionsminderungen erwiesen.
2.3.2 Frustrations-Aggressions-Theorie
In Anlehnung an das Gedankengut von Freud und Marx hat die sog. Yale – Gruppe[5] im Jahr 1939 die zweite große Gruppe der Aggressionstheorien, die Frustrations-Aggressions-Theorie, entwickelt. Sie gehen nicht, wie die Trieb- bzw. Instinkttheorien, von einer spontanen Aggressionsentstehung aus, sondern sehen diese als Reaktion auf störende, unangenehme Reize. Dollard u. a. untersuchten, ob es einen gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen Aggression und Frustration gäbe.
Ihre ursprüngliche Theorie beruhte im Wesentlichen auf zwei Annahmen:
1. Aggression ist immer eine Folge von Frustration und
2. Frustration führt immer zu einer Form von Aggression.
Spezifischer: „… das Auftreten von aggressivem Verhalten setzt immer die Existenz einer Frustration voraus, und umgekehrt führt die Existenz einer Frustration immer zu irgendeiner Form von Aggression.“ (Dollard u. a. 1972, 9). Den Frustrationsbegriff haben Dollard u. a. eng definiert. Er wird dabei als die Störung einer, zumindest gedanklich, bestehenden zielgerichteten Aktivität verstanden. Als „Aggression“ wird jene Verhaltenssequenz bezeichnet, deren Zielreaktion die Verletzung der Person ist, auf die sie gerichtet ist (vgl. ebd., 15ff.).
In Folge dieser Theorieveröffentlichung wurden zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen bezüglich eines Zusammenhangs von Aggression und Frustration getätigt. Zwar wurde die Frustrations-Aggressions-Theorie, im Gegensatz zu den Triebtheorien, empirisch belegt, aber eine Übereinstimmung mit den zwei Grundannahmen nach Dollard u. a. konnte nicht bestätigt werden, da sie sich als zu eng gefasst erwiesen. Aggressionen gehen zwar häufig auf eine Frustration zurück, aber eben nicht immer (z. B. Auftragsmörder oder Räuber) und nicht jede Frustration löst automatisch eine Aggression aus (es kann stattdessen zu Reaktion wie Resignation kommen). Auch ist es durchaus möglich z. B. Kinder so zu trainieren, dass sie auf Frustrationen hin konstruktiv reagieren (vgl. Davitz 1952; zit. nach: Selg u.a. 1997, 24).
Basierend auf diesen und anderen Einwänden wurde die ursprüngliche Aussage der Frustrations-Aggressions-Theorie von Dollard u. a. relativiert. Frustration wurde nunmehr lediglich als aggressionsförderlicher Reiz definiert. „Frustrationen … rufen die Tendenz zu einer Reihe von Reaktionen hervor, eine davon ist die Tendenz zu irgendeiner Form von Aggression.“ (Miller u. a. 1941; zit. nach: Nolting 2005, 61). Die Aggression behielt zwar die primäre Stellung als dominante Reaktionstendenz auf Frustration, sei aber nicht mehr die einzige. Frustrationen erhöhen demnach nur die Bereitschaft zur Aggression, wie und in welcher Art und Weise sie sich im menschlichen Verhalten widerspiegelt, hängt von vielen zusätzlichen Bedingungen[6] ab.
Wie die Triebtheorie ist auch die Frustrations-Aggressions-Theorie noch recht populär. Sie sind einfach und leicht verständlich. Trotz der Popularität haben sich jedoch ihre Annahmen nicht halten lassen. „Weder geht jede Aggression auf eine Frustration zurück, noch führt jede Frustration zu einer Aggression.“ (Selg u. a. 1997, 24). Frustrationsfolgen werden demnach von vielen Faktoren beeinflusst. Laut Selg u. a. entschuldigen diese beiden Theorieansätze eher aggressives Verhalten. Im Falle des hier beschriebenen Ansatzes gilt: Wir sind aggressiv, weil wir frustriert werden oder in der Kindheit frustriert worden sind. Fraglich und offen bleibt jedoch, wie die Frustration aus der Kindheit bis ins Erwachsenenalter nachwirken soll (vgl. ebd., 25). Soll unser aggressives Verhalten vermieden werden, müssten wir, nach den Anhängern dieser Theorie, Frustrationen reduzieren. Dies sei allerdings, besonders im Hinblick auf die Erziehung von Kindern, weder möglich noch wünschenswert (vgl. ebd.).
Dass Frustrationen bei der Entstehung von aggressivem Verhalten eine Rolle spielen, steht wohl außer Frage, aber es handelt sich hierbei nur um ein Kriterium von vielen. Bedeutend für die Aggression eines Menschen sind vielmehr seine Entwicklung, seine Lerngeschichte und seine aktuelle Situationsbeschreibung. Die Frustrations-Aggressions-Theorie bietet keine Hilfe bei der Erklärung aggressiven Verhaltens, sie liefert lediglich einen kleinen Überblick der möglichen Ursachen von „Frustration“. Sie kann auch keine Aggression mindernden Vorschläge liefern, von daher ist sie eine Theorie, wenn auch empirisch belegt, ohne wirklichen Erklärungsgehalt.
2.3.3 Lerntheorien
Nach der lernpsychologischen Betrachtung werden Aggressionen, wie alle anderen Verhaltensweisen auch, erlernt. Im Gegensatz zu den Triebtheorien und der Frustrations-Aggressions-Theorie nimmt bei der lernpsychologischen Betrachtungsweise die Aggression keine Sonderstellung mehr ein. In dieser Theorie gibt es keinen angeborenen Trieb oder speziellen Auslöser, der Aggressionen erzwingt. Vielmehr bedeutet dies, dass die soziale Umwelt und deren Bedingungen Verhaltensweisen hervorbringen und verändern können. Genau betrachtet gibt es demnach nicht „die“ lerntheoretische Aggressionstheorie, sondern vielmehr lerntheoretische Ansätze, die neben einen Großteil unserer Verhaltensmuster eben auch die Entwicklung aggressiven Verhaltens erklären.
Nicht einmal Vertreter der aggressionsspezifischen Theorien leugnen, dass Aggressionen, z. B. die Art, wie man andere Menschen bedroht und verletzt, erlernt, aber auch wieder verlernt werden können. „Es ist daher präzisierend zu ergänzen: Nach lernpsychologischer Sicht werden auch die Bereitschaft zur Aggression und der Drang oder die bei einigen Menschen erkennbare Lust zur Aggression gelernt (und evtl. wieder verlernt).“ (Selg u. a. 1997, 28).
Da von Lerntheorien gesprochen wird, muss zuerst geklärt werden, was man unter dem Begriff des „Lernens“ versteht. Nach Craig 1975 definiert man Lernen als einen „Prozeß, durch den die eigene Befähigung oder Disposition als Ergebnis von Erfahrung verändert wird.“ (Craig u. a. 1975; zit. nach: Mietzel 2003, 19). Nolting (2005, 83) schließt sich dieser Definition an und spricht vom Lernen, wenn Menschen aufgrund von Erfahrungen ihre Kenntnisse, Fertigkeiten, Einstellungen, Gewohnheiten, Vorlieben, Abneigungen usw. verändern. Das Spektrum dessen, was gelernt werden kann, ist sehr weit, ebenso die verschiedenen Arten der Lernprozesse. Im Folgenden sollen drei Typen von Lernvorgängen, die für den Themenkomplex Aggression von besonderem Interesse sind, vorgestellt werden:
1. das klassische Konditionieren (wurde von Pawlow systematisch untersucht),
2. das operante Konditionieren oder auch Lernen durch Erfolg/Misserfolg bzw. Bekräftigungslernen genannt (Hauptvertreter Skinner) und
3. das Lernen am Modell (Lernen durch Beobachtung/Nachahmung, seit Bandura ein zentraler Gegenstand der Psychologie).
2.3.3.1 Klassische Konditionierung
Die wohl bekannteste Art der Lernprozesse stellt die „klassische Konditionierung“, auch als „Signallernen“ bezeichnet, dar. Bekannt geworden ist diese durch den russischen Physiologen Iwan Pawlow (1849 - 1936), nachdem der Organismus dadurch lernt, dass er zwei Umgebungsreize miteinander verknüpft (vgl. Mietzel 2003, 125f). Ein wohl jedem bekanntes Beispiel für die klassische Konditionierung ist der Versuch des Pawlow’schen Hund, der hier nur in Kürze dargestellt werden soll:
Bekommt ein hungriger Hund Futter, sondert er Speichel ab. Auf den unbedingten Reiz „Futter“ ist die Speichelabsonderung eine unmittelbare Reaktion. Lässt man dem eigentlichen, unbedingten Reiz einen neutralen Reiz, in diesem Fall einen Klingelton vorausgehen, zeigt der Hund vorerst keine Reaktion (keine Speichelabsonderung). Wiederholt man jedoch mehrmals die Verknüpfung des eigentlichen Reizes mit den neutralen Reiz, kommt es zu einer Kopplung dessen und alleine durch den Klingelton findet bei dem Tier eine vermehrte Speichelabsonderung statt. Der neutrale Reiz ist somit zum eigentlichen, bedingten Reiz geworden. D. h. der Hund „assoziiert“ den Klingelton mit der Fütterung und sondert vermehrt Speichel ab. Es wurde eine Reiz-Reaktions-Verbindung gelernt.
Nach Nolting (2005, 106) sind solche Lernprozesse generell bedeutsam für unwillkürliche emotionale Reaktionen. Beim Menschen können demnach manche Reizkopplungen auf persönlichen Erlebnissen beruhen oder auf Erzählungen und Belehrungen (vgl. ebd.).
Das klassische Konditionieren spielt für die Aggressionsforschung kaum eine Rolle, zumal dadurch kein Verhalten im engeren Sinne gelernt wird, sondern höchstens gefühlsmäßige Reaktionen auf neutrale Reize zu übertragen gelernt werden (vgl. Pilz 1982, 24).
Einen Erklärungswert könnte dieser Ansatz höchstens bei einigen Ärger/Wut-Reaktionen haben. „Wenn ein Mensch uns mehrmals zu ärgern vermochte, genügt im allgemeinen schon sein Anblick oder die Nennung seines Namens, um wieder Mißstimmung auszulösen. Möglicherweise findet auch eine Generalisierung auf seine Familie, seine Freunde oder Landsleute statt.“ (Selg u. a. 1997, 29).
2.3.3.2 Operante Konditionierung
Eine weitere Art der Lernprozesse ist die „operante Konditionierung“. Man kann auch vom „Bekräftigungslernen“, „Lernen am Erfolg/Misserfolg“ oder „Lernen am Effekt“ sprechen. Es ist unabhängig davon, für welche Bezeichnung man sich entscheidet, gemeint ist immer ein und dasselbe. Beim operanten Konditionieren erfährt eine Person für ihr Verhalten einen nachfolgenden Reiz bzw. eine Konsequenz, welches auch als Verstärker definiert wird. Dieser Ansatz geht von einer Verstärkung von Verhaltensweisen aus, die zu Belohnung oder Erfolg führten. Die Verstärkung kann sowohl positiv als auch negativ sein. Im Bezug auf aggressives Verhalten bedeutet Verstärkung folgendes:
- Positive Verstärkung: Durch aggressives Verhalten wird ein bestimmtes Ziel erreicht (z. B. durch Schreien bekommt das Kind den gewünschten Gegenstand).
- Negative Verstärkung: Das Kind kann durch sein aggressives Verhalten ein bedrohliches Ereignis oder einen unliebsamen Zustand verringern oder vermeiden (z. B. in einer Gruppe Gleichaltriger wird eine Kind nicht mehr angegriffen, nachdem er sie kräftig getreten hat).
Positive Verstärkung von Veraltensmustern, beispielsweise in Form von Lob, hätte eine Wiederholung des Verhaltensmusters zur Folge (z. B. durch Schreien bekommt das Kind seinen gewünschten Gegenstand). Eine Verringerung/Löschung vorhandener Verhaltensdispositionen könne hingegen durch eine kontinuierliche negative Verstärkung eines bestimmten Verhaltens erreicht werden, wie beispielsweise durch Tadel.
[...]
[1] Aggression leitet sich von dem lateinischen Wort „aggredi“ ab, was soviel bedeutet wie hinzugehen, angreifen.
[2] Sigmund Freud, 1856 – 1939, österr. Arzt und Tiefenpsychologe. Freud ist Begründer der Psychoanalyse, seine Theorien werden noch heute kontrovers diskutiert. Er gilt als einer der einflussreichsten Denker des 20 Jahrhunderts.
[3] Konrad Lorenz, 1903 – 1989, östrr. Verhaltensforscher, begründete die Verhaltensforschung.
[4] Instinkt zur Aggression; Instinkt zum Nahrungserwerb; Instinkt zur Fortpflanzung; Instinkt zur Flucht
[5] Yale – Gruppe: eine Forschergruppe der Yale Universität Connecticut, bestehend aus den Wissenschaftlern Dollard, Doob, Miller, Mowrer und Sears.
[6] Diese zusätzlichen Bedingungen werden von dem amerikanischen Sozialpsychologen Leonard Berkowitz in seiner „cue-arousal theory“ erläutert.
- Quote paper
- Anne Tönjes (Author), 2008, Aggressive Kinder und Jugendliche - (Schul-) Sport als Konfliktlöser?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/166901
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