Musikalische Sozialisation aus der Perspektive von Spielfilmen. Ein Titel, der bei mir persönlich
mittlerweile eine Art Begeisterung auslöst, die ich bei der Erstellung einer wissenschaftlichen
Arbeit nicht erwartet hatte. Zwar war nicht von Anfang an klar, was musikalische
Sozialisation eigentlich bedeutet, aber die Anwendung eines theoretischen Aspekts der
Musikpädagogik auf die faszinierende Welt des Filmes erschien mir ein vielversprechendes
Thema. Die Tatsache, dass ich nach dem Lesen der ersten Bücher zur Identität, Sozialisation,
Jugend und eben zur musikalischen Sozialisation auch vom theoretischen Hintergrund
restlos überzeugt war, hat diese Begeisterung zusätzlich unterstützt. Denn zur musikalischen
Sozialisation gehört mehr als nur die Analyse der sich direkt damit befassenden Literatur.
Ohne einen fundierten Hintergrund über die genannten Aspekte kann es nicht gelingen, zu
verstehen, was musikalische Sozialisation bedeutet. Somit kann auch keine Analyse aus der
Perspektive von Spielfilmen erfolgen.
Aber wie wird musikalische Sozialisation aus der Perspektive von Spielfilmen untersucht?
Wie können Sozialisationsprozesse erkannt werden?
Die Antworten auf diese Fragen finden Sie in dieser Arbeit, die im Rahmen der Zulassung zum 1.Staatsexamen in Schulmusik verfasst wurde.
Inhaltsverzeichnis
1. EINLEITUNG
2. IDENTITÄT - DIE FRAGE NACH DEM EIGENEN „ICH“
2.1 Identität in der Literatur - verschiedene Definitionsansätze
2.2 Spannungsfelder innerhalb des heutigen Verständnis von Identität
2.2.1 Identität als Spannung zwischen den Epochen
2.2.2 Identität als Prozess
2.2.3 Identität zwischen Kohärenz und Kontinuität
2.2.4 Identität und Alterität
2.2.5 Identität als Selbsterzählung
2.3 Das Identitätsmodell nach Heiner Keupp
2.3.1 Identitätsarbeit
2.3.2 Identitätskonstruktion
3. KULTUR, JUGEND UND JUGENDKULTUR
3.1 Kultur und Gesellschaft im Wandel
3.1.1 Gesellschaft im 21. Jahrhundert
3.1.2 Zum Kulturbegriff
3.2 Jugend - früher und heute
3.2.1 Die Entwicklung der Generation Jugend
3.2.2 Jugend heute
3.2.3 Jugend und Bildung
3.2.4 Zur Bedeutung von Musik für Jugendliche
3.3 Jugendkulturen
3.3.1 Die historische Entwicklung
3.3.2 Jugendkulturen heute
4. SOZIALISATION - MUSIKALISCHE SOZIALISATION
4.1 Sozialisation und Sozialisationskonzepte
4.1.1 Annäherung an die Begrifflichkeit
4.1.2 Verschiedene Sozialisationskonzepte
4.1.3 Die Schule als Sozialisationsinstitution
4.2 Musikalische Sozialisation
4.2.1 Rezeption von Musik - Das Hören in der heutigen Umwelt
4.2.2 Zur sozialen Bedeutung von Musik
4.2.3 Sozialisationsinstanzen
4.2.4 Stadien der musikalischen Sozialisation
4.2.5 Musikpräferenzen und Musikgeschmack
4.2.6 Das Konzept der (musikalischen) Selbstsozialisation
5. KRITERIEN ZUR ANALYSE MUSIKALISCHER SOZIALISATION IN SPIELFILMEN
5.1 Vorstellung des Films
5.2 Sozialisationsprozesse
5.3 Musikalische Sozialisation im Film
5.4 Die Darstellung
5.5 Resümee
6. „MÄDCHEN IN UNIFORM“
6.1 Vorstellung des Films
6.1.1 Inhaltsangabe
6.1.2 Vorstellung der Hauptcharaktere
6.1.3 Zeitliche Einordnung
6.2 Sozialisationsprozesse und ihre Darstellung
6.2.1 Die Umwelt im Internat
6.2.2 Die Rolle des „Stifts“
6.2.3 Möglichkeiten der Identitätskonstruktion
6.2.4 „Fräulein von Bernburg sagt ‚Gute Nacht‘ “
6.2.5 „Manuela gesteht ihre Zuneigung“
6.2.6 „Der Wandel der Oberin“
6.3 Musikalische Sozialisationsprozesse und ihre Darstellung
6.3.1 Das musikalische Umfeld der Hauptcharaktere
6.3.2 „In der Halle“
6.3.3 „So nimm denn meine Hände“
6.3.4 „Herr Adjutant“
6.4 Resümee
7. „DIE KINDER DES MONSIEUR MATHIEU“
7.1 Vorstellung des Films
7.1.1 Inhaltsangabe
7.1.2 Vorstellung der Hauptcharaktere
7.1.3 Zeitliche Einordnung
7.2 Sozialisationsprozesse und ihre Darstellung
7.2.1 Die Instanzen der Umwelt
7.2.2 „Fond de L’Etang“
7.2.3 Möglichkeiten der Identitätskonstruktion
7.2.4 „Schreibaufgabe“
7.2.5 „Fußball“
7.2.6 „Abschied“
7.3 Musikalische Sozialisationsprozesse und ihre Darstellung
7.3.1 Das musikalische Umfeld
7.3.2 „Das Experiment beginnt“
7.3.3 „Musikalische Selbstsozialisation“
7.3.4 „Mathieu und Morhange“
7.4 Resümee
8. „MUSIC OF THE HEART"
8.1 Vorstellung des Films
8.1.1 Inhaltsangabe
8.1.2 Vorstellung der Hauptcharaktere
8.1.3 Musikerziehung in den USA
8.2 Sozialisationsprozesse und ihre Darstellung
8.2.1 Das Umfeld der Hauptcharaktere
8.2.2 Die Schule in East Harlem
8.2.3 Möglichkeiten der Identitätskonstruktion
8.2.4 „Guadeloupe“
8.2.5 „Das Gespräch über die Scheidung“
8.2.6 „Der Familienstreit“
8.3 Musikalische Sozialisationsprozesse und ihre Darstellung
8.3.1 Das musikalische Umfeld
8.3.2 „Die erste Unterrichtsstunde“
8.3.3 „Hausmusik“
8.3.4 „Das große Konzert in der Carnegie Hall“
8.4 Resümee
9. FAZIT
10. ANHANG
10.1 Literaturverzeichnis
10.2 Sonstige Quellen
10.3 Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
„ Ein Buch voller Geschichten ist wie ein Strauß gepflückter Sterne “ - Kari Stern
(www.zeitzuleben.de, 05.06.09)
Kann das nicht auch über Filme gesagt werden? Sie erzählen ebenfalls Geschichten und sind ganz ähnlich wie Romane. Eine Sammlung von ihnen kommt einem Buch voller Geschich- ten gleich. Der Unterschied ist eigentlich nicht groß, aber dennoch gravierend. Liest ein Mensch ein Buch, lässt er seine Fantasie arbeiten. Die Welt des Buchs entsteht vor dem in- neren Auge und jeder einzelne Mensch stellt sie sich ein klein wenig anders vor. Filme da- gegen zeigen die Fantasie derer, die sie gemacht haben. Somit bleibt für uns als Zuschauer nicht mehr viel Raum für eigene Vorstellungen. Aber nehmen alle Menschen, die denselben Film sehen, auch dasselbe aus dem Film mit? Nein, das ist bei weitem nicht so. Auch Filme sind durch eigenes Wissen, eigene Wert- und Moralvorstellungen geprägt. Jeder versteht einen Film ein wenig anders. Aber gerade das macht Filme umso faszinierender. Vielleicht kann man einen Film mit einem Gemälde vergleichen. Es ist ein Kunstwerk, aber es gefällt nicht jedem gleichermaßen. Verschiedene Dinge können hinein interpretiert werden, aber der allgemeine Hintergrund, im Film das Drehbuch, beim Gemälde vielleicht die Hauptaus- sage, ist dennoch für alle sichtbar. Einen Apfel erkennt auf einem Bild jeder und die Ge- schichte um ein sinkendes Schiff, wie bei dem Film „Titanic“, verstehen ebenfalls alle. Dennoch kommt es immer auf uns selbst an, was wir daraus machen und wie wir uns darauf einlassen.
Musikalische Sozialisation aus der Perspektive von Spielfilmen. Ein Titel, der bei mir per- sönlich mittlerweile eine Art Begeisterung auslöst, die ich bei der Erstellung einer wissen- schaftlichen Arbeit nicht erwartet hatte. Zwar war nicht von Anfang an klar, was musikali- sche Sozialisation eigentlich bedeutet, aber die Anwendung eines theoretischen Aspekts der Musikpädagogik auf die faszinierende Welt des Filmes erschien mir ein vielversprechendes Thema. Die Tatsache, dass ich nach dem Lesen der ersten Bücher zur Identität, Sozialisati- on, Jugend und eben zur musikalischen Sozialisation auch vom theoretischen Hintergrund restlos überzeugt war, hat diese Begeisterung zusätzlich unterstützt. Denn zur musikalischen Sozialisation gehört mehr als nur die Analyse der sich direkt damit befassenden Literatur. Ohne einen fundierten Hintergrund über die genannten Aspekte kann es nicht gelingen, zu verstehen, was musikalische Sozialisation bedeutet. Somit kann auch keine Analyse aus der Perspektive von Spielfilmen erfolgen.
Die einfachste Definition, die musikalische Sozialisation beschreibt, ist die Entwicklung des Musikgeschmacks und der musikalischen Fähigkeiten innerhalb des gesellschaftlich- kulturellen Kontexts. Was aber ist der gesellschaftlich-kulturelle Kontext? Und wie leben wir Menschen generell in diesem Umfeld? Die Entwicklung des Musikgeschmacks ist zu- sätzlich eng an die Persönlichkeitsentwicklung gebunden. Sozialisation allein hingegen be- schreibt das Hineinwachsen in die Gesellschaft und beinhaltet somit ebenfalls die Identitäts- entwicklung. Deshalb wird das zweite Kapitel dieser Arbeit sich mit der Identität beschäfti- gen, basierend hauptsächlich auf Heiner Keupps Buch Identitäskonstruktionen (Keupp 2008).
Das allein reicht aber auch nicht aus, um den Hintergrund für den Begriff der musikalischen Sozialisation zu schaffen. Es ist ebenfalls wichtig, Begriffe wie „Kultur“ und „Gesell- schaft“, soweit möglich, zu umreißen. Da Identitätsentwicklung und Sozialisation haupt- sächlich, obwohl lebenslange Prozesse, in der Jugend ablaufen, ist es genauso nötig, ein Bild der Jugend und ihrer Entwicklung herzustellen. Auch befassen sich die ausgesuchten Filme „Mädchen in Uniform“, „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ und „Music of the Heart“ zum Großteil mit Jugendlichen. Sie spielen zudem nicht alle in der Gegenwart, wes- wegen es ebenfalls wichtig ist, den geschichtlichen Hintergrund darzustellen.
Um die musikalische Sozialisation selbst zu erklären, bedarf es natürlich auch der Klärung des Begriffes der Sozialisation, deren Prozesse auch für den musikalischen Entwicklungsprozess wichtig sind. Anschließend kann nun endlich der Prozess der musikalischen Sozialisation erklärt werden.
Für die Analyse der musikalischen Sozialisationsprozesse in einem Spielfilm bedarf es der, bis zu diesem Zeitpunkt, gemachten ausführlichen Besprechung des theoretischen Hintergrunds, denn nur so kann der Leser verstehen, warum manche Dinge wichtig sind, andere vielleicht weniger und warum ein Film niemals den gesamten Prozess der musikalischen Sozialisation aufzeigen kann, da er immer nur einen Ausschnitt aus der Welt der Menschen im Film zeigt und nie das komplette Bild.
Aber wie wird musikalische Sozialisation aus der Perspektive von Spielfilmen untersucht? Wie können Sozialisationsprozesse erkannt werden? Um dies zu klären, widme ich ein gan- zes Kapitel den Kriterien zur Analyse der musikalischen Sozialisation in Spielfilmen. Es gibt sehr viele Aspekte, auf die geachtet werden muss, und doch sind es so viele, dass nicht alle Bereiche betrachtet werden können. So kommt es zur Auswahl der für die Autorin wichtigs- ten Gesichtspunkte in diesem fünften Kapitel der Arbeit. In den nachfolgenden Kapiteln werden die einzelnen Filme nach der Vorlage des Analysekapitels untersucht. Dass dabei keineswegs jeder Film in seiner kompletten Ausdehnung analysiert werden kann, liegt daran, dass eine solche Analyse den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde.
Die Auswahl der Filme hat sowohl subjektive Gründe, als auch theoretische Überlegungen. So spielt der erste Film „Mädchen in Uniform“ im Jahr 1910 in einem Mädcheninternat in Preußen, „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ 1949 in einem Heim für schwer erziehbare Jungen in Frankreich und „Music of the Heart“ in den 80er Jahren in einer Schule in East Harlem, New York, USA. Die Überlegung dahinter war die der Abdeckung eines bestimmten Zeitraums. Diese drei Filme überspannen fast ein komplettes Jahrhundert. Auch finden alle drei Geschichten in verschiedenen Ländern statt.
Ein weiterer Grund für die Auswahl gerade dieser Filme ist auch die Tatsache, dass alle drei in Schulen spielen. Ein Film, „Mädchen in Uniform“, spielt in einer Mädchenschule und „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ vor dem Hintergrund eines Jungeninternats. Aus- schlaggebend war aber natürlich auch die Neugier, die gerade diese Filme auf die Analyse der Sozialisation geweckt haben, denn alle drei sind faszinierende Filme, nicht nur wegen ihrer Musik, sondern auch wegen ihrer Charaktere, wegen der Entwicklung, die diese durchmachen und wegen der Darstellung durch die Filmemacher, die jeden Film zu einem Kunstwerk der besonderen Art machen.
2. Identität - Die Frage nach dem eigenen „Ich“
„Wer bin ich in einer sozialen Welt, deren Grundriss sich unter Bedingungen der Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung verändert?“ (Keupp 2008, S. 7)
Die Antwort auf diese Frage geht heute einher mit dem Verständnis von Identität. Die reine Frage „Wer bin ich?“ reicht nicht mehr aus, um das Selbst zu erklären, denn wo früher Menschen in festgefügten sozialen Rollen ihre Identität als gegeben hinnahmen und den Traditionen entsprechend nicht weiter über sich selbst als etwas Veränderbares und nicht Gott Gegebenes nachdachten, so sind wir heute freier in dem, was wir aus uns und unserem Leben machen.
Die Frage nach dem „Ich“ ist heute so aktuell wie nie zuvor und dennoch stellt der Mensch sie sich schon seit Jahrhunderten. Im Folgenden soll erläutert werden, wie Identität früher definiert wurde und heute definiert wird. Als Beispiel eines modernen Identitätsmodells wird das von Heiner Keupp in Identitäskonstruktionen (Keupp 2008) näher betrachtet.
2.1 Identität in der Literatur - verschiedene Definitionsansätze
Um einen ersten Eindruck des Begriffs zu bekommen, stößt der Leser in der Brockhaus Enzyklopädie auf folgende Definition von Identität: Sie versteht sich als „die in sich und in der Zeit als beständig erlebte Einheit der Person, des Selbst;“ (Brockhaus 1969, S. 807). Diese Definition ist noch nicht durchdrungen von dem modernen Identitätsverständnis der Neuzeit. Noch versteht sich Identität als ein Zustand. Doch schon im Zuge der siebziger Jahre verschob sich dieses Verständnis. Identität war nicht länger durch die soziale Rolle vorgegeben, jeder konnte sich selbst gestalten. (Keupp 2008, S. 17)
Nach Heiner Keupp ist Identität demnach „das individuelle Rahmenkonzept einer Person, innerhalb dessen sie ihre Erfahrungen interpretiert und das ihr als Basis für alltägliche Iden- titätsarbeit dient. In dieser Identitätsarbeit versucht das Subjekt, situativ stimmige Passun- gen zwischen inneren und äußeren Erfahrungen zu schaffen und unterschiedliche Teilidenti- täten zu verknüpfen“ (Keupp 2008, S. 60). Ein Individuum muss sein ganzes Leben lang daran arbeiten.
Wilfried Ferchhoff stellt in seinem Buch Jugend und Jugendkulturen im 21. Jahrhundert traditionelle Identitätskonzepte den neuen gegenüber. Traditionell gesehen war Identität ein Selbstkonzept, das lebenslange Gültigkeit besaß. Wie auch im Brockhaus, verstand sich Identität also als Zustand. Es war geprägt von „Einheitlichkeit, Eindeutigkeitszwang, Stabi- lität, Kohärenz, Kontinuität“ (Ferchhoff 2007, S. 109) und war Endprodukt eines sozialen Entwicklungsprozesses (Ferchhoff 2007, S. 109). Heute versteht sich Identität als Prozess einer Auseinandersetzung mit der Umwelt. Identitätsarbeit muss durch ständige Eigenleistung und Konstruktion erfolgen (Ferchhoff 2007, S. 109). Diese Aussage deckt sich mit dem heutigen Identitätsverständnis von Heiner Keupp. Früher also wurde Identität als ein Zustand verstanden, heute als ein Prozess.
Für Matthias Rath ist Identität deshalb ein Epochenbegriff, der sich vor allem seit den sieb- ziger Jahren zu einem Personenbegriff gewandelt hat und die „subjektive, lebensweltliche, soziale und eben personale Rückgebundenheit des Individuums an sich selbst und das refle- xive Vermögen der Person, eben diese Rückgebundenheit für sich selbst in den Blick zu nehmen“ (Rath 2002, S. 153) meint. Er nennt Identität die Fähigkeit „sich selbst mit ‚ich‘ zu bezeichnen“ (Rath 2002, S. 154). Sie ist durch die Gesellschaft und auch durch die Ausei- nandersetzung mit der Gesellschaft bestimmt (Rath 2002, S. 158). Im Zuge des in Kapitel 3.1.1. beschriebenen Gesellschaftswandels musste sich das Verständnis von Identität also ändern.
Bernd Krewer und Lutz H. Eckensberger definieren dagegen das Selbst als ein Abrücken vom Primaten. Sie sehen die Betrachtung der eigenen Person als eine Zuwendung zur Analyse der individuellen und sozialen Konstruktion der Vorstellung vom Selbst, weg von der individuellen Selbsterkenntnis. Das Menschenbild verändert sich zu einem bewusst handelnden Menschen. Statische, überdauernde, dingähnliche Konzeptionen werden verworfen, nun geht es um den Prozess der Selbstgenese durch aktive Konstruktionen und Verhandlungen zwischen den Subjekten (Krewer, Eckensberger 1991, S. 575). Wieder wird der Aspekt des Prozess innerhalb der Identitätsbildung betont.
Andreas Dörpinghaus, Andreas Poenitsch und Lothar Wigger sehen Identität in Einführung in die Theorie der Bildung als keinen gesicherten Sachverhalt oder anzustrebenden Zustand, sondern als einen Prozess der Auseinandersetzung mit sich selbst (persönliche Identität) und der Auseinandersetzung mit dem sozialen Kontext (soziale Identität). Die Balance zwischen den beiden Prozessen bildet die Ich-Identität (Dörpinghaus, Poenitsch, Wigger 2008, S. 140- 142).
Ebenso definiert Klaus-Jürgen Tillmann in Sozialisationstheorien Identität über die persona- le und die soziale Identität, deren Balance zur Ich-Identität führt. Er fügt allerdings hinzu, dass Identität genau dann entsteht, wenn der Einzelne sich während eines Gesprächs in die Rolle des Anderen versetzen kann, die eigene Person mit dessen Augen zu betrachten ver- mag und auf diese Weise ein Bild von sich selbst entwickeln kann (Tillmann 2007, S. 140 f.). Ich-Identität versteht er „als Prozess und als immer wieder neu zu erbringende Leistung in der Interaktion“ (Tillmann 2007, S. 141). Dörpinghaus, Poenitsch, Wigger und auch Tillmann betonen also genau wie Krewer und Eckensberger den Aspekt der Kommunikati- on. Keupp, Rath und Ferchhoff drücken dasselbe als Auseinandersetzung mit der Umwelt aus, was im Allgemeinen durch Kommunikation geschieht. In diesem Punkt sind sich die verschiedenen Autoren von heute im Großen und Ganzen einig. Bei allen genannten Auto- ren ist Identität etwas Veränderbares.
Natürlich gibt es Aspekte innerhalb der Identität die heute noch genauso unveränderbar sind, wie sie es vor viele Jahren waren, wie Geburtsdaten, die biologische Unveränderlich- keit unseres Körpers und eine gewisse Zugehörigkeit zu bestimmten gesellschaftlichen Gruppen. Ein Mensch ist z. B. deutsch, katholisch und verheiratet (Keupp 2008, S. 65). Aber diese unveränderbaren Tatsachen sind nur ein Teil dessen, was wir als „Selbst“ be- zeichnen.
Warum sich das Verständnis von Identität gewandelt hat, ist durch die historische Entwick- lung innerhalb unserer Kultur zu erklären. Heute versteht sich Identität als Aufgabe des Subjekts. Früher war Identität in das traditionelle System eingebunden. Jeder musste eine gegebene soziale Rolle übernehmen. (Keupp 2008, S. 70) War der Vater Schmied, so wurde der Sohn ebenfalls Schmied. Sie hatten dieselbe Religion, denselben Stand innerhalb der Gesellschaft. Selbst bis in die fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts gab es noch ein ähnliches Verständnis von traditionellen Rollen, wie z. B. die der Frau als Hausfrau. Mo- derne Menschen können viel mehr Entscheidungen über ihr Leben und somit auch über ihre Identität selbst fällen. Seit Mitte der siebziger Jahre sind die Prozesse der Individualisierung und Entwurzelung stärker im Gange, die den Menschen immer mehr Wahl und Entschei- dungsmöglichkeiten lassen (Keupp 2008, S. 72 f.).
So gesehen hängt Identität und Identitätsbildung damit zusammen, wie in einer ganz be- stimmten gesellschaftlichen Epoche die persönliche Entwicklung verläuft (Keupp 2008, S. 70).
Dies führt aber unter anderem zum ersten Spannungsfeld innerhalb des heutigen Verständnisses von Identität.
2.2 Spannungsfelder innerhalb des heutigen Verständnis von Identität
2.2.1 Identität als Spannung zwischen den Epochen
Die heutige Identität wird oftmals als „Bastelexistenz“ oder „Patchwork Identität“ bezeich- net (Keupp 2008, S. 74), da den Menschen immer mehr Möglichkeiten offen stehen, in wel- che Richtung sie sich weiterentwickeln. Wie oben zu lesen, war die Frage nach der Identität früher leichter zu beantworten als heute. Grund waren die festgefügten Rollen, die der Mensch hatte. Sie waren kaum veränderbar und stehen der modernen Identität gegenüber (Keupp 2008, S. 71). Diese „neue“ Identität, die so viele Möglichkeiten offen lässt, birgt aber nicht nur Chancen für den Menschen, sie ist auch eine Bürde. Denn wo es viele Ent- scheidungsmöglichkeit gibt, besteht auch die Pflicht, sich für einen Weg zu entscheiden (Keupp 2008, S. 71). So kommt es zu den Begriffen „Bastelexistenz“ oder „Patchwork Identität“.
Wie weit diese „Idee der Konstruierbarkeit der eigenen Identität“ (Keupp 2008, S. 71) schon in unsere Gesellschaft vorgedrungen ist, lässt sich nicht genau feststellen. Die Entwicklung seit den fünfziger Jahren zeigt aber den Weg dort hin. Damals fand eine Phase der Verwur- zelung der Menschen statt. Sie fühlten sich in den festgefügten Rollen wohl und wollten diese behalten. In den siebziger Jahren wurde diese dann aber von einer Phase der Entwur- zelung abgelöst, also gerade ins Gegenteil verkehrt. Die Menschen wollten sich von den Traditionen lösen. So wurden schließlich in den 80ern und 90ern „Prozesse der Individuali- sierung“ (Keupp 2008, S. 72) wichtig. Die Idee, sich selbst von anderen abzuheben und nach seinen eigenen Wünschen zu gestalten, ist also relativ neu und erzeugt somit eine Spannung zwischen den Epochen.
2.2.2 Identität als Prozess
„Sieht man die gesellschaftliche Moderne so dynamisch, prozeßhaft und offen beschrieben, wie wir es soeben getan haben, dann sollte die Frage der Prozeßhaftigkeit von Identität eigentlich kein Thema mehr sein. Wo sollte denn das Statische herkommen in einer so fluiden gesellschaftlichen Situation?“ (Keupp 2008, S. 76).
Heiner Keupp bezeichnet sein zweites Spannungsfeld mit: Der Aspekt des Werdens - Identi- tät ist ein Prozeß (Keupp 2008, S. 76). Spannung entsteht hierbei zwischen der Identität und der Identitätsdiffusion. Identität meint in diesem Sinne die relative psychosoziale Gesund- heit und Identitätsdiffusion die relative Störung. In der Jugend muss eine individuelle Lö- sung zwischen beiden entwickelt werden, die allerdings die Spannung nicht beseitigen kann, da die Identitätsdiffusion das gesamte Leben Gegenstück der Identitätsbildung bleibt. Bei einer normalen Entwicklung überwiegt dabei die Identität, kann aber die Störung nie ganz verdrängen. Daher kommt es zu diesem zweiten Spannungsfeld (Keupp 2008, S. 76 f.).
Identitätsbildung versteht sich hier als Auseinandersetzung mit den bisher erworbenen Identifikationen, die in Frage gestellt werden, bis sie sich schließlich zu einer Ich-Identität formen (Keupp 2008, S. 77). Voraussetzung dafür ist der frühkindliche Aufbau von IchGrenzen und die Einheit des Selbst (Keupp 2008, S. 78).
So gesehen ist Identität auch nicht mehr nur eine Frage der Jugend, sondern ein „lebenslan- ger und unabschließbarer Prozeß“ (Keupp 2008, S. 82). Dies steht im Gegensatz zu dem, was manche Menschen unter Identität verstehen. Viele glauben, dass Identität etwas ist, das man besitzt und halten kann, weil man der Jugend entwachsen und erwachsen geworden ist (Keupp 2008, S. 83).
2.2.3 Identität zwischen Kohärenz und Kontinuität
Im dritten Spannungsfeld geht es Keupp um Identitätsziele, -projekte, -strategien und Identitätsentwürfe. Heute besteht die Schwierigkeit, den Menschen als ein „Ganzes“ zu betrachten, da die Erfahrungswelt zersplittert ist. Deshalb nennt Keupp dieses Spannungsfeld: Der zersplitterte Spiegel? Kohärenz und Kontinuität (Keupp 2008, S. 86). Zu sehen war dieses Spannungsfeld auch schon in den Begriffen der „Bastelexistenz“ oder „Patchwork Identität“. Die Frage, die nun gestellt werden muss, bezieht sich darauf, ob in dieser diffusen Erfahrungswelt nicht auch das Subjekt „zersplittert“.
Dieses Spannungsfeld entstand erst, als die Gesellschaft begann, sich zu dissoziieren und somit ihre Kohärenzzumutung an das Individuum weitergab (Keupp 2008, S. 87). So hatte die Gesellschaft zuvor gewisse Kohärenzgarantien wie gesellschaftliche Codes und Transaktionen, die auf das Subjekt übergingen, doch diese verschwinden in zunehmenden Maß. Selbst Tatsachen wie die Geschlechts- und Körperidentität sind nicht mehr unveränderbar und auch die Religion ist heute frei wählbar. (Keupp 2008, S. 89)
Das führt zu Teilidentitäten des Menschen. Familie, Arbeit, Freundschaften sind Teilberei- che dieser Identitätsbildung (Keupp 2008, S. 91) Es wird aber nicht auf die „Einheit der Person“ verzichtet (Keupp 2008, S. 92). Vielmehr ist es so, dass Menschen unterschiedliche Selbsterfahrungen in einem sehr hohen Maß integrieren können (Keupp 2008, S. 93). Unter- schiede gibt es dabei, wie groß das Bedürfnis des Einzelnen ist, sich selbst in verschiedene Teilidentitäten mit einem Identitätskern zu strukturieren oder aber auch wie „aus einem Guß“ (Keupp 2008, S. 93) zu sein. „Wenn dagegen über das Bemühen um eine Durchstruk- turierung hinaus die einzelnen Elemente durch einen reflexiven Bezug miteinander ver- knüpft sind, nähern wir uns einer konsistenten, synthetischen Identität“ (Keupp 2008, S. 94). Identitätsarbeit meint in diesem Falle also auch Konstruktionsarbeit.
2.2.4 Identität und Alterität
Laut Heiner Keupp reicht die Frage „Wer bin ich?“ zur Identitätsbestimmung nicht aus. Sie muss erweitert werden: „Wer bin ich im Verhältnis zu den anderen, wer sind die anderen im Verhältnis zu mir?“ (Keupp 2008, S. 95). Alterität meint in diesem vierten Spannungsfeld den Bezug zu anderen Menschen. Das steht im Gegensatz zum Verständnis von Identität als „Selbstbezogenheit“ (Keupp 2008, S. 67).
Der Wunsch des Menschen, eine Einheit zu sein, wird heute durch die verschiedenen Rol- len, die ein Mensch übernehmen muss, gefährdet. Ein Mann kann Vater, Ehemann, Chef, Mitarbeiter usw. gleichzeitig sein (Keupp 2008, S. 96). Solche Zuschreibungen von Rollen können genau dann zu Identitätsproblemen führen, wenn es eine Differenz zwischen den zugewiesenen Rollen des Subjekts und dessen Vorstellung von seinem „Selbst“ gibt (Keupp 2008, S. 96).
Spannung entsteht durch das Bedürfnis des Einzelnen, einmalig zu sein und seine Bedürfnisse zu befriedigen. Im Endeffekt muss er sich sowohl sozial integrieren, als auch seinem eigenen „Selbst“ entsprechen. (Keupp 2008, S. 96)
Keupp stellt an dieser Stelle die These auf, dass ein Mensch doch eigentlich mehr soziale Anerkennung bekommen müsste, wenn er gerade nicht den eigenen Bedürfnissen entspricht, sondern nur denen der anderen. Es ist aber gerade andersherum, da „dem Individuum desto mehr Möglichkeiten zur sozialen Interaktion offenstehen, je besser es ihm gelingt, die Be- sonderheiten seiner Identität […] in den Systemen sozialer Interaktion zu erläutern“ (Krappmann 1969, S. 10 nach Keupp 2008, S. 96). Das andere Extrem, wenn sich das Sub- jekt nur auf sich selbst bezieht, ist aber auch nicht die Lösung, denn Individualität und per- sönliche Autonomie benötigen Liebe und soziale Anerkennung (Keupp 2008, S. 97).
Deshalb muss wieder ein Kompromiss zwischen beiden Extremen geschlossen werden. Der Mensch ist ein soziales Wesen, dessen Leben „durch Konservationen geschaffen“ (Keupp 2008, S. 98) wird. So sind wir niemals alleine die Schöpfer unseres Selbst. Es sind immer andere daran beteiligt.
So kommt es auch hier zu Teilidentitäten, die in verschiedenen Bereichen des sozialen Netzwerks eines Individuums auftreten, beispielsweise in der Herkunftsfamilie, in neuen intimen Beziehungen, unter Freunden oder bei der Arbeit.
2.2.5 Identität als Selbsterzählung
In seinem fünften und letzten Spannungsfeld stellt Heiner Keupp die Selbsterzählung der Vorstellung der persönlichen Identität gegenüber. Da ein großer Teil unseres Lebens aus Kommunikationen besteht, sieht Keupp die „narrative Identität“ als wichtigen Aspekt unserer Persönlichkeit. Er meint damit die dialogische Form der Selbstkonstruktion, die hauptsächlich durch Erzählung erfolgt (Keupp 2008, S. 101).
Diese „narrative Identität“ steht im Gegensatz zu unserer persönlichen Identität, zumindest so lange, wie man diese als das „Erreichen eines bestimmten Bewußtseinszustandes“ (Keupp 2008, S. 101), als ein stabiles Selbstgefühl versteht.
Da die Erzählung in der Psychologie als ein primär strukturierendes Schema angesehen wird, durch welches Personen ihr Verhältnis zu sich und anderen organisieren (Keupp 2008, S. 102), ist sie auch wichtig für die Identitätsbildung. Selbsterzählung ist eine Art Aushandlungsprozess, indem eine Person innerhalb der gesellschaftlich üblichen Erzählformen von sich erzählt und darauf eine Reaktion erhält (Keupp 2008, S. 103). Diese „Regeln“ der sozial richtigen Erzählweise, dürfen allerdings nicht gebrochen werden, da die Geschichte dem Gegenüber in diesem Fall nicht plausibel erscheinen würde. Dadurch schränkt sich die Auswahl an Erzählungen ein und es ergibt sich eine Reihe von Möglichkeiten für die Identitätskonstruktion (Keupp 2008, S. 103 f.).
Da aber auch in diesem Spannungsfeld immer Prozesse der Entwicklung im Gange sind und das Subjekt in verschiedenen Lebenswelten zu Hause ist, kann sich die Rezeption der Geschichte, selbst bei exakter Wiedergabe ändern (Keupp 2008, S. 104). „Ob eine gegebene Narration aufrechterhalten werden kann, hängt wesentlich von der Fähigkeit des Individuums ab, über die gegenseitige Bedeutung von Ereignissen mit anderen erfolgreich zu verhandeln“ (Keupp 2008, S. 104).
2.3 Das Identitätsmodell nach Heiner Keupp
Im Wesentlichen geht es in Heiner Keupps Identitätsmodell um die Herstellung von Identität und die Identitätsarbeit des Einzelnen. Seine fünf Spannungsfelder müssen ebenfalls miteinbezogen werden.
2.3.1 Identitätsarbeit
Bereiche in denen Identitätsarbeit stattfindet sind: a) Der Arbeitsplatz, b) intime Beziehungen, c) soziale Netzwerke, d) Kultur und e) Lebenswelten.
a) Die Arbeit gilt für Keupp als wesentlicher Stützpfeiler der Identität. Er sagt dazu: „Letztlich sind die Berufswahl und der (gelingende) Berufseinstieg die ausschlaggebenden Kriterien dafür, ob der Jugendliche „seinen Platz“ in der Welt der Erwachsenen und die damit einhergehende Anerkennung findet“ (Keupp 2008, S. 112). Gerade am Arbeitsplatz verbringt ein Mensch in der Regel die meiste Zeit seines Lebens. Die Identitätsarbeit dort ist eine Kompromissbildung zwischen den individuellen Ansprüchen des Einzelnen und den sozialen Rahmenbedingungen (Keupp 2008, S. 113).
Was aber, wenn das Subjekt arbeitslos ist, vielleicht sogar ohne Schulabschluss, also einer Zukunftslosigkeit entgegensteuert? Genau dann kommt es zu Problemen bei der Identitätsbildung. Es ist sogar so, dass selbst bei Niedrigverdienern das soziale Klima am Arbeitsplatz und vor allem die Möglichkeit, sich selbst in der Arbeit zu verwirklichen, für die Arbeitsidentität wesentlicher sind als der materielle Aspekt (Keupp 2008, S. 116).
„Das Grundprinzip der Identitätsentwicklung im Arbeitsbereich ist der Wechsel zwischen verschiedenen Identitätszuständen“ (Keupp 2008, S. 119).
b) Intime Beziehungen sind für unser Leben ebenso wichtig, oder gefühlsmäßig noch wich- tiger als eine Selbstverwirklichung bei der Arbeit. Deshalb ist das Gelingen von Partner- schaft und Intimität ebenfalls ein zentrales Thema in Keupps Identitätstheorie (Keupp 2008, S. 129).
Traditionell gesehen waren den Geschlechtern Rollen auferlegt. Der Mann hatte zur Arbeit zu gehen und die Frau musste sich um den Haushalt und die Kinder kümmern. Beide waren voneinander abhängig, aber die Frau war ihrem Mann untergeordnet. Die Familie sollte den idyllischen Gegensatz zum harten Berufsalltag des Mannes bilden, doch oft ließ der Mann seinen Frust, den er von der Arbeit mit nach Hause brachte, an Frau und Kindern aus (Keupp 2008, S. 130). Erst Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts wurde dies überhaupt thematisiert und wurde mit zur Grundlage der „erstarkenden Frauenbewegung“ (Keupp 2008, S. 131).
Mit diesem traditionellem Bild einher gehen die Zuweisungen von Gefühlen zu den Ge- schlechtern. Emotionalität, Weichheit, Schwäche, Mitleid und Einfühlung werden Frauen zugeordnet. Ärger und Wut sind für Frauen völlig untypisch. Allerdings sind diese Gefühle auch bei Männern heute nicht mehr gern gesehen. Die Fähigkeit aber, sich in andere einfüh- len zu können, wird heute als wirtschaftlicher Erfolgsfaktor miteinbezogen (Keupp 2008, S. 132).
Es hat also eine soziale Änderung durch die Änderung der Geschlechterrolle gegeben. Dies ist heute aber nicht das Einzige, das sich im Vergleich zu früher verändert hat. Heute ist der Mensch mobiler und zunehmend gebildeter. Heutige Beziehungen zielen nicht mehr nur auf die Ehe und Kinder ab sondern sind oftmals nur Lebensabschnittspartnerschaften (Keupp 2008, S. 133). Trotzdem nimmt der feste Freund/die feste Freundin eine große Rolle im Leben des Einzelnen ein und auch die Familie wird zunehmend wieder wichtiger. Sexualität ist ebenfalls ein wichtiger Bestandteil gelingender Identität (Keupp 2008, S. 135 f.). Eine Person will heute so geliebt werden, wie sie ist, weil dies eine Erfahrung von Intimität ist, die von Identität vorausgesetzt wird (Keupp 2008, S. 144).
„Für die Identitätsentwicklung junger Erwachsener haben ihre Partnerschaften und Liebesbeziehungen also drei wesentliche Funktionen: Zum einen sind sie sowohl Mittel als auch Ausdruck ihrer Ab lösung aus der Herkunftsfamilie. […] Zweitens geht es um eine besondere Qualität von Begegnung mit einem signifikanten Anderen. […] Drittens sind Partnerschaften ein wichtiger Rahmen für familiäre Identitätsprojekte und der Raum, in dem ihre Verknüpfung (bzw. Verknüpfbarkeit) mit beruflichen Projekten diskutiert und verhandelt wird“ (Keupp 2008, S. 152).
Ohne intime Beziehungen fehlt den Menschen der Halt. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, da sie sich von zu Hause lösen müssen. Das fällt leichter, wenn in einer Beziehung gelebt wird. Vieles fällt leichter, wenn ein Mensch weiß, dass er geliebt wird.
c) Wie wichtig neben Liebesbeziehungen der Freundeskreis, das sogenannte soziale Netz- werk ist, spüren Menschen gerade in der heutigen Gesellschaft. Durch die Auflösung der traditionellen Strukturen ist niemand mehr so stark wie früher an soziale Verhaltensvor- schriften gebunden. Eine Person ist nicht mehr gezwungen, sich in einer bestimmten sozia- len Umgebung zu bewegen. Durch Individualisierungsprozesse kommt es zu Veränderun- gen in Beziehungen. Neue Freundschaften werden geschlossen und alte Freundschaften zer- brechen vielleicht. Das soziale Netzwerk ist heute allein die Aufgabe des Individuums, das damit aber auch die Verantwortung für die eigene soziale Integration übernehmen muss (Keupp 2008, S. 153).
Keupp nennt das soziale Netzwerk „Ressourcenfundus“ (Keupp 2008, S. 153) und meint damit, dass es in bestimmten Situationen da sein muss. So geht eine Person, z. B. wenn sie Liebeskummer hat, zur besten Freundin oder zum besten Freund. Allerdings wird vorher ab gewägt, ob diese/dieser mir zuhören wird, es gleich weitererzählt oder ob ich ihm vertrauen kann. In einer anderen Situation ist diese beste Freundin vielleicht nicht die richtige Ansprechpartnerin. Freunde werden also nach ihrem sozialen Nutzen für das Selbst und die Identitätsbildung ausgesucht, als Ressourcenfundus.
„Als Optionsraum und soziale Relevanzstruktur werden soziale Netzwerke vor allem da wichtig, wo es tatsächlich Wahlmöglichkeiten und die Notwendigkeit gibt, aus einer Fülle von Informationen und Angeboten die relevanten herauszufiltern“ (Keupp 2008, S. 154).
Bei Jugendlichen verhält es sich auf die Weise, dass sie ihre sozialen Netzwerke entsprechend ihren Bedürfnissen, aber auch Möglichkeiten wählen. Sie gehen zusammen zum Volleyballspielen, sind in der gleichen Klasse usw. Diese sozialen Beziehungen sind häufig, nicht immer, kurzfristig und wenig verbindlich (Keupp 2008, S. 156).
„Das Ziel von Identitätsarbeit ist die Herstellung eines Passungsverhältnisses zwischen der Person und ihrer sozialen Welt“ (Keupp 2008, S. 170).
d) Identitätsarbeit kann aber auch niemals ohne den Einfluss der Kultur vonstattengehen, in der wir leben. Es geht immer auch darum, welche kulturellen Werte, Orientierungen und Einstellungen uns mitgegeben wurden. Schon als Kind werden wir durch die Kultur, in der wir aufwachsen, geprägt. Eine Identitätsperspektive des Einzelnen entsteht immer innerhalb seines kulturellen Verständnisses und ist oft nicht sehr verschieden von Identitätsstandards innerhalb dieser Kultur (Keupp, 1999, S. 180). Innerhalb der sozialen Netzwerke, in denen sich der Einzelne bewegt, werden diese kulturellen Werte gefiltert und auch wieder repro- duziert. Sie werden in der alltäglichen Lebensführung umgesetzt (Keupp 2008, S. 180).
Durch die Vielfalt kultureller Identitäten auf der Welt ist es heute ebenso notwendig geworden, Toleranz und Anerkennung gegenüber anderen Kulturen aufzubringen, und sich damit innerhalb der Identitätsarbeit auseinander zu setzen (Keupp 2008, S. 180 f.).
e) „Identitätsentwicklung der jungen Erwachsenen lässt sich nur im Zueinander der Lebenswelten plastisch beschreiben“ (Keupp 2008, S. 181).
Ein Mensch lebt heute in verschiedenen Lebenswelten, wie z. B. Arbeit und Familie. Durch den Wunsch nach Kindern verbinden Frauen häufig Arbeit und Familie miteinander.
Männer fühlen sich dadurch im Arbeitsbereich unter Druck gesetzt. Kann es aber „unter einen Hut“ gebracht werden, so entsteht eine Verknüpfung der Lebenswelten (Keupp 2008, S. 183). Häufig ist es aber auch so, dass nacheinander in einzelne Lebenswelten investiert wird. „Ob aus der Verknüpfung lebensweltlicher Identitätsprojekte eher eine Beschränkung oder eine Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten wird, hängt nicht nur von subjektiven Projekten und Ressourcen, sondern auch von denen des konkreten Gegenübers ab“ (Keupp 2008, S. 186). Häufig werden Personen, die eine bestimmte Rolle für den Einzelnen spielen, zu „Lotsen“ (Keupp 2008, S. 186) zwischen den verschiedenen Lebenswelten.
2.3.2 Identitätskonstruktion
„Identität ist nicht etwas, das man von Geburt an hat, was die Gene oder der soziale Status vorschreiben, sondern wird vom Subjekt in einem lebenslangen Prozeß entwickelt“ (Keupp 2008, S. 215).
Identitätsarbeit ist ein fortschreitender Prozess eigener Lebensgestaltung, der sich in jeder alltäglichen Handlung konstruiert. Subjekte beziehen sich dabei auf soziale, lebensweltlich spezifische Anforderungen und auf die eigenen Selbstverwirklichungsentwürfe (Keupp 2008, S. 215 f.). Dies ist niemals ohne Ressourcen zu schaffen, ob diese nun aus materiellen Dingen bestehen, oder aber aus Freundschaften. Identität ist außerdem eine weitgehend nar- rative Konstruktion, deren zentrales Medium die Selbsterzählung ist (Keupp 2008, S. 216).
Dabei entstehen Teilidentitäten, über Bewertungen der eigenen Person ein Identitätsgefühl und biographische Kernnarrationen, welche die Selbstideologie einer Person vermitteln, wie sie sich derzeit sieht, und wie sie gerne gesehen werden möchte (Keupp 2008, S. 241 f.). Alle diese drei Konstruktionen, welche sich gegenseitig beeinflussen, führen dann zur Handlungsfähigkeit des Individuums (Keupp 2008, S. 217).
Dabei sind die drei wichtigsten Syntheseleistungen der Identitätsarbeit in der heutigen Gesellschaft Kohärenz, Anerkennung und Authentizität (Keupp 2008, S. 243).
Die Kohärenzleistung besteht darin, sich aus der Vielzahl von Möglichkeiten die für sich stimmigen Identitätsprojekte herauszufiltern und sich dabei dennoch als kohärent zu fühlen (Keupp 2008, S. 243). Anerkennung bekam ein Mensch früher über den sozialen Status (oder eben auch nicht), heute muss sie dialogisch ausgehandelt werden. Deshalb sind für die Anerkennung gute kommunikative Fähigkeiten, ein gutes Selbstgefühl und die Fähigkeit zur Selbstpräsentation wichtig (Keupp 2008, S. 267). Die Authentizität schließt die Idee der Autonomie mit ein und geht von der Leistung des Individuums aus, Ambivalenzen und Ver- änderungen in dessen Identitätsbiographie in ein für es stimmiges Spannungsverhältnis zu bringen (Keupp 2008, S. 269). Alle drei Leistungen beeinflussen die Handlungsfähigkeit des Subjekts. Wer sich aber z. B. facettenreich wohlfühlt, kann trotzdem zu einer gelungenen Identität kommen (Keupp 2008, S. 269). „Ressourcen“ sind dabei die Energien und Orientierungen, Mittel und Ziele, Instrumente und Instruktionen (Keupp 2008, S. 269). Und um es noch einmal zu betonen: Identität ist auch immer eine Selbstnarration.
So sind also die wichtigsten Bausteine von Keupps Identitätsmodell Kohärenz, Anerkennung, Authentizität, Handlungsfähigkeit, Ressourcen und Narration.
Was aber ist „gelingende Identität“? Sollen alle Bausteine so gut wie möglich ausgelebt werden? Die Antwort darauf ist: Nein, denn „gelungene Identität ermöglicht dem Subjekt das ihm eigene Maß an Kohärenz, Authentizität, Anerkennung und Handlungsfähigkeit“ (Keupp 2008, S. 274). Sie ist dynamisch und in sehr seltenen Fällen frei von Spannungen. Gelingende Identität ist eine „balancierte Variante des gut geführten, des erfüllten Lebens, eines sich und andere achtenden, bereichernden, fordernden und umsorgenden Interagie- rens“ (Keupp 2008, S. 275).
3. Kultur, Jugend und Jugendkultur
Warum in einer Arbeit über musikalische Sozialisation einige Worte über Kultur und Ge- sellschaft gesagt werden sollten, liegt eigentlich auf der Hand. Sozialisation, wie sie in Ka- pitel 4 beschrieben wird, findet immer in einem Umfeld statt, und zwar im kulturellen und gesellschaftlichen, im sozialen Umfeld. In den Filmen, die in Kapitel 6-8 behandelt werden, geht es immer größtenteils um die musikalische Sozialisation von Jugendlichen. Deshalb wird jeweils auch der Generation Jugend und ihren Jugendkulturen ein Teilkapitel gewid- met.
3.1 Kultur und Gesellschaft im Wandel
3.1.1 Gesellschaft im 21. Jahrhundert
In der Soziologie wird unter Gesellschaft das geordnete oder bewusst organisierte Zusammenleben und -handeln der Menschen verstanden. Sie ist ein System, das sich prozesshaft verändern kann (Gudemann u. a. 2000, S. 309). Alle Menschen leben in einem solchen Gesellschaftssystem und in diesem gilt es zu handeln. Und eben dieses System befindet sich noch und befand sich die letzten Jahrzehnte in einem massiven Wandel.
Vor allem Prozesse der Individualisierung charakterisieren diesen gesellschaftlichen Wan- del. Ansätze dafür gab es schon früh, im Judentum und im Christentum. Spätestens seit der Renaissance versuchen sich die Menschen aus alten Strukturzwängen und Verflechtungen zu befreien und von den traditionellen Vorstellungen und Anschauungen zu lösen (Ferchhoff 1995, S. 7).
David J. Elliott setzt den Anfang des Gesellschaftswandels in Europa später, an den Jahr- hundertwechsel vom 18. in das 19. Jahrhundert. Es begann mit dem „decline of the Euro- pean aristocracy and the rise of the new middle class“ (Elliott 1995, S. 23). Der Hauptge- danke dieses neuen Zeitalters war der Glaube daran, dass alle Menschen frei, gleich und selbstbestimmt leben können. Frauen waren damals allerdings noch nicht miteinbezogen. Die alte Gesellschaftsstruktur, in der Reichtum und Privilegien geerbt wurden, war überholt und es ging nun um die Autonomie des Einzelnen, egal, was dieser für einen Hintergrund hatte. Was nun zählte war der „inner worth“, der innere Wert des Menschen (Elliott 1995, S. 23).
„Whereas European society had previously been controlled by arbitrary laws handed down from the aristocracy, social harmony came to rest increasingly in the individual’s personal sensibilities, taste, and selfdiscipline” (Elliott 1995, S. 23 f.).
Allerdings ist dies noch nicht zu vergleichen mit dem, was wir heute in unserer Gesellschaft vorfinden. Die Entstehung der Gesellschaftsstruktur, wie wir sie im Moment haben, begann in den 1960er Jahren, sozusagen nach der Nachkriegszeit, in der die Menschen um das Überleben kämpfen mussten (Vogt 2005, S. 233). Alle vorangehenden Versuche, aus den Zwängen der traditionellen Gesellschaft auszubrechen, wurden erst Mitte des 20. Jahrhun- derts, und dies auch nur in bestimmten Teilen der Welt, Wirklichkeit (Ferchhoff 1995, S. 7).
Nun begann der Anstieg des Industriellen gegenüber der landwirtschaftlichen Produktion und mit ihm ein massives Wachsen der Städte und damit auch die Transformation der Ge- sellschaftsstruktur. Durch diese Industrialisierung kam es zur Migration nach Deutschland, Medialisierung des Alltags- und Berufslebens, Auflösung von traditionellen Gesellschafts- mustern, Neustrukturalisierung von Identitäten, Weltdeutungen und Sozialisationsprozessen und großen wirtschaftlichen und politischen Strukturveränderungen (Vogt 2005, S. 233 f.). In den 70er Jahren wurde durch die größere Wertschätzung der Bildung ein Schrumpfen der Unterschicht erreicht. Zusammenfassend kann zur Lage in den 90ern gesagt werden: „Aus der industriellen Nachkriegsgesellschaft war […] eine nachindustrielle Konsumgesellschaft geworden“ (Vogt 2006, S. 236), die weniger Arbeit und mehr Freizeit hatte und konsumori- entiert lebte. Es kam zur Hebung des allgemeinen Lebensstandards, da nun nahezu alle Schichten deutlich über dem Existenzminimum lebten. Soziale Unterschiede verschwanden aber nicht vollständig. Heute zeigen sie sich in differenzierten Konsumpräferenzen (Vogt 2005, S. 233-236).
Wir leben in einer Vollerwerbsgesellschaft, in einer „Freizeit-, Überfluss-, Erlebnis-, Netz- werk-, Wissens-, Informations-, Selbstbedienungs-, Risiko(vermeidungs-), Stress-, Be- schleunigungs-, Multioptions- und vernetzte Kommunikations- bzw. Web-2.0-Gesellschaft“ (Ferchhoff 2007, S. 64), so Ferchhoff. Doch unsere Gesellschaft ist immer noch durch den Wandel gekennzeichnet. Hauptmerkmale des heutigen Gesellschaftswandels sind Prozesse der Globalisierung, Differenzierung, Pluralisierung, Individualisierung, Lebensstilästhetik, Enttraditionalisierung und Entstrukturierung (Ferchhoff 2007, S. 65 f.). Durch die Plurali- sierung und Individualisierung werden die Bindungen des Einzelnen zu dessen sozialer Umwelt gelockert. Damit einher geht ein Verlust an Sicherheiten, aber auch die Freiheit der Lebensgestaltung (Jank 2005, S. 69), vergleichbar damit, was Heiner Keupp in seinem drit- ten Spannungsfeld darstellt (vgl. Kapitel 2.2.3). Klassische Instanzen und Gestaltungsmäch- te werden weniger wichtig, soziokulturelle Muster ebenso und viele Menschen werden aus ihren ständischen und klassenkulturellen Selbstverständlichkeiten herausgeholt (Ferchhoff 2007, S. 72). Die Ansprüche an das Individuum werden größer. Selbststeuerung ist gefragt (Ferchhoff 2007, S. 78).
Allerdings gibt es trotz alledem keine schrankenlose Gesellschaft (Rhein, Müller 2006, S. 555). Es kommt zu neuen sozialen Ungleichheiten und einer neuen Armut (Funk-Hennigs 1995, S. 183 f.). Die Individualisierung und Enttraditionalisierung zeigt sich in einem generativen Verhalten und Wanderungsbewegungen, was zu einem neuen, multikulturellen Gesicht der Bevölkerung führt. Technische Veränderungen in der Arbeitswelt führen zur Auflösung berufsnaher Gruppenmilieus (Funk-Hennigs 1995, S. 184). Im Zuge des Strukturwandels verlieren sich Lebenszusammenhänge und Solidargemeinschaften. „Die Wege zur Realisierung von Lebensplänen sind zum Teil eingeschränkt, in vielen Situationen total blockiert (z. B. durch Arbeitslosigkeit)“ (Funk-Hennigs 1995, S. 184).
Heute lebt eine „Generation des Weniger“, u. a. auch durch den starken Wettbewerb, vor allem der Billiglohnländer, hervorgerufen (Ferchhoff 2007, S. 68 f.). Viele Menschen sind heute von Arbeitslosigkeit bedroht und gerade bildungsarme Jugendliche schauen in eine nicht allzu rosige Zukunft. Die gegenwärtige Situation in Deutschland, jeden Tag wird davon in den Medien berichtet, ist die einer Rezession. Möglicherweise verlieren Tausende ihren Arbeitsplatz und die Berufsaussichten für Neueinsteiger sind düster.
3.1.2 Zum Kulturbegriff
Unter Kultur versteht man laut Bertelsmann Universal Lexikon die Veränderung der Natur durch den Gebrauch von Werkzeugen und alle Lebensformen einer menschlichen Gruppe. Sie dehnt sich auf alle sozialen Einrichtungen, Gebräuche und Lebensordnungen aus (Gudemann u. a. 2000, S. 484). Vom biologischen Kulturbegriff ist hier abzusehen. Günter Kleinen versteht Kultur als ein System kollektiver Sinnstrukturen (Kleinen 2008, S. 43), Helmut Rösing und Rolf Oerter als all jenes, was der Mensch geschaffen hat. Dazu gehören Erkenntnisse und Normen genauso wie Weltanschauungen (Rösing, Oerter 2002, S. 43).
Was wir aber heute unter Kultur verstehen ist viel weitreichender als diese einfachen Definitionen. Die herkömmliche Auffassung der Mitteleuropäer beschreibt Kultur als „Sammelnamen für Leistungen im Bereich Literatur, Kunst und Musik“ (Barth 2008, S. 14). Der Begriff wird aber auch für viele andere Dinge verwendet, denn „je weiter die Geschichte der Menschheit voranschreitet und je enger gleichzeitig die Menschheit zusammenrückt, desto weiter und schillernder wird der Kulturbegriff“ (Barth 2008, S. 12).
Früher stand der Begriff für „gedankliche Tiefe, innige Empfindung, Bildung oder hohe künstlerische Qualität“ (Barth 2008, S. 12). Heute wird er häufig und unspezifisch gebraucht. Bereiche, von denen sich Kultur früher abgegrenzt hat, wie z. B. Spaß und Materielles, werden durch Begrifflichkeiten wie Spaßkultur und Unternehmenskultur aufgewertet (Barth 2008, S. 12). Das ist es auch, was Renate Müller, Patrick Glogner und Stefanie Rhein mit ihrer „Ästhetisierung des Alltags“ meinen. „Im Begriff steckt die Idee, dass die Unterscheidung zwischen Kunst einerseits und Populärkultur und Alltagskonsum andererseits nicht mehr haltbar ist“ (Müller, Glogner, Rhein 2002, S. 12). Wobei sie eher auf die Musik eingehen und dem Prozess des Kulturellen Wandels Ende des 20. Jahrhunderts deutlich positiv gegenüberstehen (Müller, Glogner, Rhein 2002, S. 12).
Allgemein gesehen ist der Kulturbegriff attraktiv und erstrebenswert. Deshalb wird er heute häufiger verwendet, auch um negativ besetzte Ausdrücke, wie z. B. „Rasse“, zu umgehen (Barth 2008, S. 12 f.). Doch schon 1952 konnten 160 verschiedene Definitionen für Kultur erstellt werden (Barth 2008, S. 14). Wie also sollte man heutzutage mit nur einer einzigen Definition ausgekommen? Der „Kulturbegriff kann nicht auf eine Bedeutungsdimension reduziert werden“ (Barth 2008, S. 15), denn er beinhaltet z. B. sowohl die Matthäus-Passion und das Volk der Aborigines, als auch die feministische Bewegung (Barth 2008, S. 14).
Ein Wort sei hier gesagt über Musikkultur, denn Musik ist immer auch Teil der Kultur, sie enthält aber auch viel Kulturbildendes, das nicht von der jeweiligen Kultur abhängt. Vieles an der Musik ist Kultur gewordene Natur, wie z. B. die Tatsache, dass Männer und Frauen im Oktavabstand singen (Spitzer 2006, Nr. 8).
3.2 Jugend - früher und heute
Jugend kann heute als eine Lebensphase bezeichnet werden, die sich in der Übergangszeit zwischen der Kindheit und dem Erwachsenensein befindet und deren Angehörige schon mit gesellschaftlichen Funktionen ausgestattet sind (Ferchhoff 2007, S. 91). Diese Lebensphase der Jugend hängt stark von den gesellschaftlichen Gegebenheiten der jeweiligen Epoche ab (Ferchhoff 2007, S. 95). Jugendliche vor 20 Jahren hatten andere Wünsche und Träume als die Jugend von heute.
Vielleicht gibt es und gab es gerade deshalb aus Sicht der Erwachsenen schon immer etwas auszusetzen an der jungen Generation. Wer kann sich nicht daran erinnern, dass er selbst in der Jugend einmal einen Erwachsenen hat ausrufen hören: „Ach, die Jugend von heute“, nachdem ein Wort in der zeitgemäßen Jugendsprache benutzt oder einmal an einer Zigarette gezogen wurde. Das ist heute, im Jahre 2009, nicht anders. Allerdings hängt es am wenigs- ten von den Jugendlichen selbst ab, wie sie bezeichnet werden. Die gesellschaftliche Öffentlichkeit und die Massenmedien verbreiten die allgemeine Sichtweise. „Definitionen und Deutungen zur Jugend sind stets überformt von Etikettierungen und Jugendlichkeitsmythen der Erwachsenengesellschaft und sind heute vor allem sehr stark mitgeprägt durch eine eher spektakuläre, grelle und auf ‚auffällige Sonder- und Randgruppen‘ fixierte schnelllebige Medienberichterstattung“ (Ferchhoff 2007, S. 112). Dies führt natürlich und konsequent zu Vorurteilen in der Gesellschaft. Aber wie sind die Jugendlichen heute tatsächlich und wie waren sie früher? Es gibt kein „eindeutig abgerundetes Gesamtbild der jungen Generation“ (Ferchhoff 2007, S. 114). Die Jugend scheint vielmehr zu einer Phase zentraler persönlicher Entscheidungen geworden zu sein (Ferchhoff 2007, S. 122).
3.2.1 Die Entwicklung der Generation Jugend
Der Begriff „Jugend“ kam erstmals um die Jahrhundertwende vom 19. in das 20. Jahrhundert auf. Er beschrieb damals vor allem die biologisch-, psychischen Entwicklungen und Abläufe (Ferchhoff 2007, S. 27) und wurde wahrscheinlich durch die Durchsetzung der Pflichtschule gebräuchlich (Hurrelmann u. a. 2006, S. 32 f.). Seine Wurzeln gehen aber viel weiter zurück (Ferchhoff 2007, S. 27).
Im Mittelalter gab es noch überhaupt keinen Begriff für die Menschen, die sich im Über- gang zwischen dem Kindes- und dem Erwachsenenalter befanden (Ferchhoff 2007, S. 27). Bis zur Industrialisierung galt ein Mensch mit dem Eintritt der Pubertät als erwachsen (Hur- relmann u. a. 2006, S. 33). Allerdings gab es schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts den Ausdruck „junge Herrn“ und Mitte des 18. Jahrhunderts den Begriff „Jünglinge“, die beide allerdings nur eine kleine Gruppe von Männern bezeichneten (Ferchhoff 2007, S. 27 f.).
Auch das Verständnis von Jugendlichen war früher grundlegend anders. Der Jugendliche galt als verwahrlost, gottlos, kriminell und korrektionsbedürftig (Ferchhoff 2007, S. 28). Erst seit den 1920er Jahren verschwanden die negativen Assoziationen, die sich mit dem Begriff verbanden und Jugend wurde tendenziell zu einem wertfreien Begriff (Ferchhoff 2007, S. 29).
Bis 1950 hat sich Jugend als eine eigene Lebensphase herausgebildet, die damals ca. fünf Jahre umfasste: Vom Eintritt der Geschlechtsreife bis zum Eintritt in das Berufsleben (Hurrelmann u. a. 2006, S. 33). Heute umfasst die Lebensphase Jugend mindestens zehn Jahre, zum Teil auch 15 bis 20 Jahre (Hurrelmann u. a. 2006, S. 33).
3.2.2 Jugend heute
Die Lebensphase Jugend dehnt sich also immer weiter aus. Dies entstand durch längere Verweildauer im Bildungssystem. Vor allem weil hochqualifizierte Arbeitskräfte gebraucht wurden, wurde die Schul- und die Berufsbildung zunehmend wichtiger und durch den hohen Konkurrenzdruck auch der Drang zu höheren Ausbildungsabschlüssen (Hurrelmann u. a. 2006, S. 33). Die Jugendphase ist auch bei weitem nicht mehr so fest begrenzt, wie noch vor 50 Jahren. Sie dehnt sich sowohl in Richtung Kindheit aus, durch die immer früher einset- zende Pubertät, als auch in das Erwachsenenalter hinein (Ferchhoff 2007, S. 87). Ferchhoff führt für den angrenzenden Lebensabschnitt den Begriff der Postadoleszenz, der jungen Erwachsenen, ein. Der Begriff bezeichnet eine wachsende Gruppe von Menschen, die kultu- rell, politisch, im Lebensgestaltungsstil usw. autonom sind, keine pädagogische Betreuung mehr brauchen, aber beruflich und ökonomisch noch von den Eltern abhängig sind. Die Postadoleszenz kann zur Jugendphase hinzugezählt werden und erstreckt sich bis etwa 27 Jahre, in manchen Fällen auch noch deutlich länger (Ferchhoff 2007, S. 87 f.). Dieser Auf- schub des Übergangs in das Erwachsenenalter ist aber nicht unbedingt von den jungen Men- schen selbst gewollt, vielmehr wird das Bildungssystem als Warteraum genutzt, da es zu wenige Arbeitsplätze gibt. So wird eine relativ niedrige Quote von Jugendarbeitslosigkeit erreicht und weniger Frustrationspotential, als es z. B. in unserem Nachbarland Frankreich der Fall ist (Hurrelmann u. a. 2006, S. 33 f.). Dies führt außerdem dazu, dass Jugendlichen in anderen Lebensfeldern, als Arbeit und Bildung mehr Engagement entwickeln. Sie be- schäftigen sich mit Mode, Musik, Unterhaltung und anderen Freizeitaktivitäten (Hurrelmann u. a. 2006, S. 34).
Nach der 15. Shell Jugendstudie ist die Grundhaltung der Jugend im Jahr 2006, trotz aller negativen Kritik, eine Haltung der Leistungsbereitschaft, des Engagements und der Orien- tierung an den konkreten und naheliegenden Problemen. Jugendliche heute wünschen sich immer mehr befriedigende persönliche Beziehungen. Dadurch erhalten Familie und der pri- vate Freundeskreis zunehmend an Bedeutung (Hurrelmann u. a. 2006, S. 15). Durch die länger andauernde Phase der Jugend, bleiben junge Menschen heute im Durchschnitt länger in der Herkunftsfamilie. Auch dadurch bekommt die Familie mehr Bedeutung für die Ju- gendlichen. Nur neun Prozent der Jugendlichen von 2006 haben ein schlechtes Verhältnis zu ihren Eltern (Hurrelmann, Albert 2006, S. 17). Bei der Ablösung vom Elternhaus spielen auch Peer Groups (Gleichaltrige) eine immer größere Rolle. Sie werden zu Miterziehern. Auch die Massenmedien sind wichtig für die Freizeitgestaltung der jungen Menschen (Hur- relmann, Albert 2006, S. 17). Alle Entwicklungsprozesse, die sich in dieser Lebensphase abspielen, sind geprägt durch gesellschaftliche Phänomene wie Globalisierung, Regionali- sierung, Glokalisierung, Enttraditionalisierung, Destrukturierung, Neoliberalismus und In- dividualisierung (Ferchhoff 2007, S. 9). Jugendliche von heute müssen schon recht früh einen eigenen Lebensstil entwickeln (Hurrelmann u. a. 2006, S. 35). Diese Individualisie- rungsprozesse innerhalb der Gesellschaft bergen allerdings nicht nur positive Aspekte. Viele Jugendliche kommen mit den Anforderungen eines autonomen Lebensstils nicht zurecht und fühlen sich ungeschützt. Dies kann zu Zukunftsunsicherheit führen. Dasselbe Problem erwähnt Keupp in seinem dritten Spannungsfeld (vgl. Kapitel 2.2.3). Allerdings nehmen die allermeisten Jugendlichen die Chancen, die in der Individualisierung und Pluralisierung liegen, wahr (Ferchhoff 2007, S. 79 f.). Individualisierung meint hier die Entstandardisierung von Lebensläufen und Pluralisierung die Ausdifferenzierung von Le- bensstilen und Lebensformen (Müller, Glogner, Rhein 2007, S. 20). Die Schwierigkeit hier- bei liegt für Jugendliche darin, ihren eigenen Weg in der Fülle der ihnen offen stehenden Möglichkeiten zu finden. Auf die gesellschaftlichen Probleme reagiert die heutige Jugend mit gemischten Gefühlen. Sie empfinden zum Teil Ängste vor allem vor Arbeitslosigkeit. Zum großen Teil aber haben sie eine überwiegend positive Zukunftssicht (Hurrelmann u. a. 2006, S. 15).
Im Folgenden wird die Haltung der Jugend gegenüber Politik, Religion und sozialem Enga- gement dargestellt, ihre Haltung gegenüber der alternden Gesellschaft, ihre Wertorientie- rungen, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern und das Umgehen der Jugend mit der Gegenwart.
Die Jugend von heute zeichnet sich durch ein relativ geringes Interesse für Politik aus, wo- bei an höheren Schulen generell mehr und häufiger Interesse gezeigt wird. Im Durchschnitt sind die Jugendlichen von heute leicht links eingestellt und befürworten die Demokratie. Die „Spielregeln“ hiervon sind anerkannt und unumstritten (Hurrelmann, Albert 2006, S. 18 f.). Der Europäischen Union und der weltweiten Globalisierung stehen die Jugendlichen mit gemischten Gefühlen gegenüber. Europa wird vorrangig positiv betrachtet. Es gilt als Ga- rant für den Frieden und eröffnet mehr Mitsprachemöglichkeiten, ist aber auch in den Au- gen von vielen reine Geldverschwendung (Hurrelmann, Albert 2006, S. 23). Die Globalisie- rung wird ebenfalls als Frieden schaffend angesehen, gleichzeitig fördert sie aber auch die Umweltzerstörung, Arbeitslosigkeit und Kriminalität (Hurrelmann, Albert 2006, S. 24).
Die Religion ist vielen Jugendlichen heute nicht mehr wichtig. Zwar ist die große Masse konfessionell gebunden und engagiert sich bei kirchlichen Großveranstaltungen oder in der Jugendarbeit, hat auch prinzipiell eine positive Einstellung gegenüber der Kirche, aber den- noch nur eine mäßige Beziehung zu den kirchlich-religiösen Glaubensvorgaben (Hurrel- mann, Albert 2006, S. 26 f.). Dabei gibt es Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen. Im Osten wenden sich häufiger Jugendliche ganz von der Religion ab, während im Westen eine wenig intensive Beziehung betrieben wird, die aber grundsätzlich positiv ist. „Echte“ Religiosität findet man heute noch häufig in den Migrantenfamilien (Hurrelmann, Albert 2006, S. 27).
Die heutigen Jugendlichen zeichnen sich durch ein hohes Engagement für andere aus. Sie engagieren sich in Vereinen, in der Schule, Hochschule, in den Kirchengemeinden, Jugendorganisationen oder auch der Freiwilligen Feuerwehr (Hurrelmann, Albert 2006, S. 20). Ebenfalls auffällig ist die hohe Toleranz gegenüber Ausländern oder Behinderten. Nur gegenüber „Aussiedlerfamilien aus Russland“ gibt es Vorbehalte und es besteht eine ablehnende Haltung gegenüber der weiteren Migration nach Deutschland. Aggressivität spielt hierbei eine relativ kleine Rolle. Sie kommt häufiger bei Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien vor (Hurrelmann, Albert 2006, S. 21/22).
Die heutige Gesellschaft ist eine alternde Gesellschaft, dies stellt auch die Jugendlichen vor ein Problem. Sie haben heute eine respektvolle Einstellung gegenüber den Älteren und ein positives Verhältnis zu den Eltern, machen sich allerdings zum Großteil Sorgen bezüglich der Entwicklung und sehen die alternde Gesellschaft als ein großes Problem (Hurrelmann, Albert 2006, S. 23). Eigentlich müsste davon ausgegangen werden, dass dieses gesellschaft- liche Problem den Jugendlichen auch Chancen bietet. Wenn es immer weniger von ihnen gibt, müsste es doch auf dem Arbeitsmarkt immer besser für die „Jungen“ aussehen. Die jugendliche Bevölkerung schrumpft tatsächlich und dennoch wird sie am Arbeitsmarkt nicht mit offenen Armen empfangen (Hurrelmann u. a. 2006, S. 31). Die Perspektiven sehen an- ders aus - Lehrstellenmangel, Arbeitslosigkeit und große wirtschaftliche Probleme prägen das Bild (Hurrelmann u. a. 2006, S. 31). Für viele Jugendliche und auch ihre Eltern kommt dies wie ein Schock nach den Wohlstandsjahren der 80er und 90er des letzten Jahrhunderts (Hurrelmann u. a. 2006, S. 32).
Was die Wertorientierung der heutigen Jugend angeht, zeichnet sich eine Pluralität ab. Ju- gend kann heute nicht einfach als die „Jugend“ bezeichnet werden, da die jungen Menschen von heute je nach sozialer Situation und Geschlecht unterschiedliche Lebensauffassungen besitzen (Hurrelmann, Albert 2006, S. 25). Außerdem werden ihre Wertvorstellungen durch die Weiterentwicklung ihrer Identität immer wieder neu überdacht. Generell kann gesagt werden, dass für die Jugend vor allem Freundschaft, Partnerschaft, Familie und der Kontakt zu anderen Menschen einen hohen Stellenwert einnehmen. Hinzu kommt der Wunsch, die eigene Fantasie und Kreativität zu entwickeln, unabhängig zu sein und die eigenen Gefühle ausleben zu können. Außerdem zählen Fleiß und Ehrgeiz in die Wertvorstellungen der Jugendlichen hinein (Hurrelmann u. a. 2006, S. 39).
Es gibt auch Unterschiede zwischen jungen Frauen und Männern im Bezug auf die Lebens- einstellung. Junge Frauen erreichen heutzutage häufiger einen hochwertigen Schulabschluss und einen besseren Universitätsabschluss. Dies schlägt sich aber noch lange nicht auf ihren beruflichen Erfolg nieder (Hurrelmann u. a. 2006, S. 36). Die Frauen von heute sind ehrgei- zig, wollen Karriere und Familie unter einen Hut bringen (Hurrelmann u. a. 2006, S. 37). Die Männer allerdings können sich von dem traditionellen Bild der Frau, als Hausfrau und Mutter noch nicht entfernen und fühlen sich überfordert (Hurrelmann u. a. 2006, S. 37).
Die Jugend von heute ist aber auch Gegenwartsjugend. Sie sind mit ihrem Dasein einver- standen und zum Teil auch zufrieden (Ferchhoff 2007, S. 316). Sowohl freiwillig als auch unfreiwillig leben Jugendliche heute gegenwartsbezogen. Sie haben immer weniger Le- bensperspektiven und Lebenssicherheiten und gehen deshalb lieber gleich feiern. Es lohnt sich aber auch nur noch ökonomisch, erwachsen zu werden (Ferchhoff 2007, S. 319), da beinahe alles schon in der Kindheits- und Jugendphase „erfahren, durchlebt und erlebt wer- den kann“ (Ferchhoff 2007, S. 320). Jugend wir heute zum Leitbild für viele. Die Sehnsucht nach Jugend gibt es in fast allen europäischen Kulturen der Neuzeit. Durch Faltencremes und Schönheits-OPs ist es leichter, die Illusion „Jugend“ aufrecht zu erhalten. Auch nimmt der Erfahrungsvorsprung der Älteren immer weiter ab. Die jungen Menschen von heute ler- nen viel Neues, was Ältere nicht kennen, vieles was diese wiederum gelernt haben, ist heute veraltet (Ferchhoff 2007, S. 320 f.). Jugendlichkeit ist heute ein gesellschaftlich akzeptierter Wert (Ferchhoff 2007, S. 325).
Im Folgenden wird etwas detaillierter auf die Situation der Jugend im heutigen Bildungssystem eingegangen und auch auf die Situation auf dem Arbeitsmarkt.
3.2.3 Jugend und Bildung
Die Schule ist heute eine der wichtigsten Lebenswelten für die Jugend. Sie übernimmt Funktionen aus anderen Lebensbereichen. So werden beispielsweise Cafeteria und Schulhö- fe zu Freizeitorten für die Jugendlichen (Ferchhoff 2007, S. 294). Ein heutiger Schüler ver- bringt mindestens zehn Jahre in der Schule und der Besuch von weiterführenden Schulen und auch die Anzahl der Studenten steigt (Ferchhoff 2007, S. 294).
Heute beginnt der Weg der Bildung gegenüber den 50er und 60er Jahren wesentlich früher mit dem Kindergarten und manchmal der Vorschule und dauert selbst bei Ausbildungsberufen wesentlich länger an (Ferchhoff 2007, S. 292 f.). Früher war die Schule außerdem eine reine Wissensvermittlungsanstalt, wohingegen sie heute erzieherische und sozialpädagogische Aspekte ebenfalls miteinbezieht (Ferchhoff 2007, S. 305).
Trotz der umfassenden Zugangsmöglichkeit zum Bildungssystem sind noch immer deutli- che Unterschiede zwischen den sozialen Schichten zu erkennen. Wie sehr sich noch heute die soziale Herkunft auf die Chancen der jungen Menschen auswirkt verdeutlicht Abb. 1. Je höher der Schulabschluss des Vaters, desto bessere Chancen haben die Kinder. Ähnliches ergibt sich bei der Betrachtung des Schulabschlusses der Mutter (Langness, Leven, Hurrel- mann 2006, S. 66).
Abb. 1: Erreichter/angestrebter Schulabschluss der Jugendlichen und Schulabschluss des Vaters Jugendliche im Alter von 12 bis 25 Jahren
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Shell Jugendstudie 2006 - TNS Infratest Sozialforschung (Langness, Leven, Hurrelmann 2006, S.66)
Signifikant ist ebenfalls, dass sich heute die jungen Frauen auf der Überholspur befinden. Seit Anfang der 90er Jahre haben Frauen im Bildungssystem größere Erfolge als Männer und erhöhen so ihre Chancen auf Gleichberechtigung (Langness, Leven, Hurrelmann 2006, S. 66). Bei der Wahl der Studienfächer lassen sich allerdings noch immer altbekannte Rollenmuster erkennen (Langness, Leven, Hurrelmann 2006, S. 68).
Insgesamt lässt sich eine hohe Leistungsbereitschaft erkennen. Knapp die Hälfte aller Ju- gendlichen möchte das Abitur machen. Sie streben zum großen Teil Bildungsabschlüsse an, die über ihre besuchte Schulform hinausgehen (Langness, Leven, Hurrelmann 2006, S. 68). Dadurch entsteht allerdings Unsicherheit, ob das Angestrebte auch erreicht werden kann und tatsächlich können nicht alle mithalten. Misserfolge führen zur Schwächung des Selbstwertgefühls und in schlimmen Fällen zur sozialen Ausgrenzung. Dies geschieht meist in den unteren sozialen Schichten (Langness, Leven, Hurrelmann 2006, S. 69).
Die Jugendlichen träumen einerseits davon einen höheren Schulabschluss zu erreichen, glauben aber andererseits immer seltener daran, dass ihre beruflichen Wünsche in Erfüllung gehen. Selbst wenn die Jugendlichen heute einen Ausbildungsplatz bekommen, ist es nicht sicher, ob sie nach der Ausbildung auch vom Betrieb übernommen werden (Langness, Le- ven, Hurrelmann 2006, S. 72). Diese Einschätzung der Jugendlichen ist sehr realistisch und so kommt es zu einer wachsenden Furcht vor Arbeitslosigkeit (Langness, Leven, Hurrel- mann 2006, S. 74 f.). Allerdings nehmen die meisten Ängste, auch in Bezug auf Politik usw., „mit zunehmendem Alter der Befragten ab“ (Langness, Leven, Hurrelmann 2006, S. 75). Dies kommt wahrscheinlich daher, dass die Älteren die Gefahrenlage besser einschät- zen können. Die Sorge um den Arbeits- oder Ausbildungsplatz ist aber bei jüngeren und älteren Jugendlichen in etwa gleich stark ausgeprägt. Das hat mit der gegenwärtigen Situati- on zu tun (Langness, Leven, Hurrelmann 2006, S. 75).
Was könnte aber in diesem Fall besser von dieser Gefahrenlage ablenken als Musik? Doch wie wichtig ist Musik eigentlich für die Jugendlichen?
3.2.4 Zur Bedeutung von Musik für Jugendliche
Welche Rolle spielt die Musik im heutigen Leben von Jugendlichen? „Musik gehört in der westlichen Zivilisation zum Alltag eines jeden Bürgers“ (Rösing 2002, S. 113). 1989 haben Jugendliche und Erwachsene in der Bundesrepublik Deutschland täglich mindestens drei Stunden Musik über Radio, Fernsehen, Kassette, Schallplatte, CD und Walkman konsumiert (Rösing 2002, S. 115). Die Tendenz ist seitdem zunehmend.
Musik ist ein universales, offenes Ausdrucksmedium des Menschen und ebenso weit gefä- chert wie die Gesellschaft. Seit dem 20. Jahrhundert haben Jugendliche eigene Musikstile entwickelt und bevorzugt. Sie dienen der Abgrenzung gegenüber den Erwachsenen (Baacke 2002, S. 228) und sind Mittel, um soziale Solidarität auszudrücken, also die Zusammenge- hörigkeit einer Gruppe und ihre Abgrenzung nach außen. Musik ist ebenso ein Mittel, sich der gegenseitigen Akzeptierung der anderen zu versichern (Müller 1990, S. 68).
„Das Individuum drückt mit seinem musikalischen Verhalten aus, daß es die gemeinsamen musikali- schen Orientierungen und Bedeutungszuschreibungen an musikalische Symbole teilt und die von der Gruppe gestellten Erwartungen an sein musikalisches Verhalten erfüllt“ (Müller 1990, S. 68).
Das Umgehen mit Musik, durch Hören oder musikalisches Handeln, kann aber auch Indivi- dualität ausdrücken und ist nicht nur an die Akzeptanz der Gruppe gebunden (Müller 1990, S. 68). Sie dient der Selbstpositionierung, Problembewältigung und ist aktiver Vorantreiber der eigenen Entwicklung durch gezielte Nutzung (Müller 2002, S. 13). Außerdem ist Mu- sikhören eine der häufigsten Freizeitbeschäftigungen Jugendlicher (Kleinen 2008, S. 57).
„Das Hören von populärer Musik und Diskothekenbesuche zählen heute zu den beliebtesten Freizeitunternehmungen und sozialen Aktivitäten junger Menschen überhaupt“ (Hellbrück 2008, S.21).
Jugendliche sind es beispielsweise auch gewohnt, selbst bei Schularbeiten Musik zu hören (Baacke 1998, S. 9). Aber nicht jede Art von Musik ist bei der heutigen Jugend angesagt. Es gibt eine generelle Abneigung gegenüber klassischer Musik. Jazz und Musical schneiden in Umfragen nur geringfügig besser ab. Zwar sind einschlägige Klavier- oder andere Instru- mentalstücke bekannt, dienen aber nicht zur Identitätskonstruktion. Die Volksmusik und die volkstümliche Musik schneiden noch schlechter ab, wohingegen gegenüber Folklore und Folk aus fremden Kulturen eine Offenheit besteht. Den deutlichsten Zuspruch bekommen der Hip Hop, die Rap-Musik und die Mainstream-Pop-Kultur. Danach folgen die Rave- Kultur und der Rock (Claus-Bachmann 2005, S. 48-53). An dieser Stelle fällt zum ersten Mal das Wort Kultur im Zusammenhang mit Jugend, und das ist auch kein Wunder, da die meisten Jugendlichen heute innerhalb einer Jugendkultur, wie beispielsweise der Mainstream-Pop-Kultur, mit Musik in Kontakt kommen. Doch trotz aller festgestellten Ab- neigung der Jugendlichen gegenüber klassischer Musik, sind ein Großteil der sechs Millio- nen Menschen in Deutschland, die Musik aktiv betreiben, Jugendliche (Baacke 1998, S. 18).
3.3 Jugendkulturen
Die Jugend hat heute und hatte auch schon vor hundert Jahren ein starkes Bedürfnis nach Eigenständigkeit und Unabhängigkeit, vor allem gegenüber der Herkunftsfamilie. So kommt es zur Entstehung von Jugendkulturen, die in der heutigen Gesellschaft nicht mehr wegzudenken sind. Unter Jugendkulturen wird die Gewinnung eines authentischen Lebensstils verstanden, welcher innerhalb einer selbstgewählten Gemeinschaft von Gleichaltrigen und im sozialen Kontext erworben wird (Ferchhoff 2007, S. 49 f.). Im Folgenden soll zuerst die historische Entwicklung von jugendlichen Gruppierungen erläutert werden um anschließend auf Jugendkulturen von Heute einzugehen.
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- Christiane Eitzenhöffer (Author), 2009, Mit Musik in die Gesellschaft, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/166554
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