„Leonidas ist einfach der typische Opportunist seiner Zeit, und die Geschichte eines
solchen österreichischen Opportunisten ohne Rückgrat wird uns hier erzählt.“1
Mit sicherer Hand, knapp und prägnant, entwirft Paulsen in wenigen Worten den
thematischen Rahmen, innerhalb dessen sich Werfels Novelle2 Eine blaßblaue Frauenschrift
aufspannt: Im Vordergrund steht die Analyse eines Charakters bis in seine feinsten
Verästelungen, deren Raffinesse und Reiz vor allem in der Tatsache begründet liegt, daß es
sich um eine Selbstanalyse handelt, Protagonist und Leser sich demnach stets auf dem
gleichen Erkenntnisniveau befinden. Mit diesem Erzählstrang eng verzahnt, präsentiert sich
die zweite Ebene, die Werfels Novelle in den Rang eines „Zeitroman[s]“3 erhebt.
Eine blaßblaue Frauenschrift versetzt uns ins herbstliche Wien des Jahres 1936 – ein
Schicksalsjahr im wahrsten Sinne des Wortes. Vor wenigen Monaten erst sah sich der
österreichische Bundeskanzler Schuschnigg gezwungen, ein Abkommen über die
Wiederherstellung freundschaftlicher Beziehungen, das sog. „Juli-Abkommen“, mit dem
Deutschen Reich zu unterzeichnen, einen Vertrag, der letzten Endes den ersten Schritt in
Richtung „Anschluß“ darstellen sollte, insofern er den österreichischen Handlungsspielraum
im allgemeinen, besonders aber im Bereich der Außenpolitik dramatisch einengte. Von dem
italienischen Diktator Mussolini durfte sich der bedrängte Kleinstaat keine Protektion mehr
erhoffen, nachdem dieser seinem deutschen „Kollegen“ bereits im Januar freie Hand
zugesichert hatte.
Die Autonomie Österreichs bedroht, die nationalsozialistische Ideologie in voller Entfaltung
begriffen, eine Welt am Vorabend der Zerstörung: Vor diesem Hintergrund entwirft Werfel
ein Szenario, das um so beklemmender wirkt, als Strukturen und Verhältnisse des
Makrokosmos Österreich sich im Mikrokosmos Individuum widerspiegeln. Wie hat Werfel
nun die Figur seines „Helden“ konzipiert, der den Anforderungen und Wertungen seiner Zeit
entsprechen sollte? Welche Attribute, welche Charaktereigenschaften ihm zugebilligt?
1 Paulsen, Wolfgang, Franz Werfel. Sein Weg in den Roman, Tübingen/Basel 1995, S. 226.
2 Wagener Hans, Gericht über eine Lebnslüge. Zu Franz Werfels Eine blaßblaue Frauenschrift, in: brücken,
Germanistisches Jahrbuch Tschechien - Slowakei 1995, S. 192.
3 Paulsen (wie Anm. 1) S. 233.
Inhalt
1 Einleitung
2 Aufsteiger Leonidas – Prototyp des österreichischen Bürokraten
3 Die beiden Frauenfiguren – Polarität zweier Lebensmodelle
3.1 Leonidas und Amelie: Stagnation einer Ehe
3.2 Leonidas und Vera: Der Zusammenprall zweier Welten
4 Das Scheitern des Protagonisten als Irrweg eines Systems
5 Schluß
1 Einleitung
„Leonidas ist einfach der typische Opportunist seiner Zeit, und die Geschichte eines solchen österreichischen Opportunisten ohne Rückgrat wird uns hier erzählt.“[1]
Mit sicherer Hand, knapp und prägnant, entwirft Paulsen in wenigen Worten den thematischen Rahmen, innerhalb dessen sich Werfels Novelle[2] Eine blaßblaue Frauenschrift aufspannt: Im Vordergrund steht die Analyse eines Charakters bis in seine feinsten Verästelungen, deren Raffinesse und Reiz vor allem in der Tatsache begründet liegt, daß es sich um eine Selbstanalyse handelt, Protagonist und Leser sich demnach stets auf dem gleichen Erkenntnisniveau befinden. Mit diesem Erzählstrang eng verzahnt, präsentiert sich die zweite Ebene, die Werfels Novelle in den Rang eines „Zeitroman[s]“[3] erhebt.
Eine blaßblaue Frauenschrift versetzt uns ins herbstliche Wien des Jahres 1936 – ein Schicksalsjahr im wahrsten Sinne des Wortes. Vor wenigen Monaten erst sah sich der österreichische Bundeskanzler Schuschnigg gezwungen, ein Abkommen über die Wiederherstellung freundschaftlicher Beziehungen, das sog. „Juli-Abkommen“, mit dem Deutschen Reich zu unterzeichnen, einen Vertrag, der letzten Endes den ersten Schritt in Richtung „Anschluß“ darstellen sollte, insofern er den österreichischen Handlungsspielraum im allgemeinen, besonders aber im Bereich der Außenpolitik dramatisch einengte. Von dem italienischen Diktator Mussolini durfte sich der bedrängte Kleinstaat keine Protektion mehr erhoffen, nachdem dieser seinem deutschen „Kollegen“ bereits im Januar freie Hand zugesichert hatte.
Die Autonomie Österreichs bedroht, die nationalsozialistische Ideologie in voller Entfaltung begriffen, eine Welt am Vorabend der Zerstörung: Vor diesem Hintergrund entwirft Werfel ein Szenario, das um so beklemmender wirkt, als Strukturen und Verhältnisse des Makrokosmos Österreich sich im Mikrokosmos Individuum widerspiegeln. Wie hat Werfel nun die Figur seines „Helden“ konzipiert, der den Anforderungen und Wertungen seiner Zeit entsprechen sollte? Welche Attribute, welche Charaktereigenschaften ihm zugebilligt?
2 Aufsteiger Leonidas – Prototyp des österreichischen Bürokraten
Zu dem Zeitpunkt, da die Handlung einsetzt, befindet sich der Protagonist auf dem Höhepunkt seiner Karriere: Sektionschef im österreichischen Kultusministerium, „gehörte [er] somit zu den vierzig bis fünfzig Beamten, die in Wirklichkeit den Staat regierten.“[4] Allem Einfluß, allen Ehrbezeigungen zum Trotz, bewegt sich Leonidas – seinem innersten Gefühl nach – auf dünnem Eis, auf einem ihm fremden, schwankenden Grund. Mit einem Wort läßt sich umfassen, was sein äußerlich so glänzendes Leben „vergiftet“: Leonidas ist ein parvenu, ein Emporkömmling, dem der Aufstieg aus den weniger begünstigten Volksschichten nur durch „Zufall“ geglückt ist. Eine im Grunde zweisprossige Erfolgs- und Karriereleiter öffnet ihm den Weg ins „Elysium“ der (Erfolg)Reichen: Durch den Selbstmord eines jüdischen Zimmernachbarn gelangt Leonidas unverhofft in den Besitz eines guterhaltenen Frackes, unabdingbare Voraussetzung für die Teilnahme an Bällen und Abendgesellschaften. Im Sturm erobert der attraktive, tänzerisch begabte junge Mann alle Herzen und sichert sich die begehrteste, da wohlhabendste (und schönste) Partie ganz Wiens, Amelie Paradini. Seine Heirat katapultiert den Sohn „eines armen Gymnasialprofessors achter Rangklasse“, „ein[en] Niemand ohne Familie“[5], endgültig aus der Welt der Unterprivilegierten in das „Paradies“ der Oberschicht. Tatsächlich bezeichnet er sich selbst als einen „Götterliebling“[6], seinen kometenhaften Aufstieg als Beweis für den stimmigen und harmonischen Lauf der Welt. Wie wenig fundiert, vordergründig, hohl und nichtig diese Selbstdarstellung jedoch ist, beweist Leonidas panikartige Reaktion auf den Brief mit der blaßblauen Frauenschrift. Obgleich es ihm gelingt, vor Amelie die Contenance zu wahren und er sich selbst schilt, ist ihm der Schreck nachhaltig in die Glieder gefahren, umso mehr, als er mit einer ähnlichen Situation schon einmal konfrontiert war. Die Flucht vor der Wahrheit, die ihm damals geglückt ist, kann er jetzt nicht mehr antreten und so sieht er ihr oder dem, was er dafür hält, widerstrebend ins Auge. Vor den Konsequenzen jedoch muß ein Mann wie Leonidas unweigerlich zurückschrecken, gilt es doch alles, worauf er sein – wenn auch scheinhaftes – Leben aufgebaut hatte: Reputation und Reichtum. Das Schreckgespenst „Scheidung“ mitsamt allen unerquicklichen Begleitumständen erscheint vor seinem inneren Auge: „Wenn ich Amelie verliere, habe ich positiv mehr zu verlieren, als sie zu verlieren hat, wenn sie mich verliert.“[7] Positiver Verlust steht hier gleichbedeutend für materiellen Verlust, womit wir ins Zentrum all seiner Befürchtungen vorstoßen: Leonidas, vom armseligen Schlucker zum Mann von Welt (und Geld) avanciert, „wußte jetzt, daß er das enge Leben seiner Kollegen nicht würde ertragen können, diesen täglichen Kampf gegen die besseren Bedürfnisse und Begehrlichkeiten.“[8] Nicht minder quält ihn die Angst vor einem Skandal und der damit verbundenen Rufschädigung. Seine Position, seine Reputation bedeuten ihm alles, um keinen Preis will er die Stufen der Erfolgsleiter, die er einst mühevoll erklomm, wieder hinabsteigen. Ein „wahrer“ Angehöriger der Elite kann sich einen Fehltritt gestatten, ein Emporkömmling hingegen nicht – zumindest nicht ohne ihn gebührend zu verschleiern. Leonidas weiß sehr wohl um diese Gegebenheiten und hat sich größtenteils damit arrangiert: Er glaubt, kein Recht auf Charakter zu haben, so besitzt er denn auch keinen. Stets witternd, stets sondierend, segelt er mit dem jeweils günstigen Wind, paßt sich seinen Vorgesetzten an. Dabei ist er sich völlig darüber im klaren, daß diese buchstäbliche Charakterschwäche seinen Aufstieg erleichtert und befördert hat: „Ich persönlich zum Beispiel verdankte meine erstaunliche Karriere durchaus keinen überragenden Eigenschaften, sondern drei musikalischen Talenten: dem feinen Gehör für die menschlichen Eitelkeiten, meinem Taktgefühl und – dies ist das wichtigste der drei Talente – der schmiegsamsten Nachahmungskunst, deren Wurzel freilich in der Schwäche meines Charakters liegt.“[9] Leonidas selbst deutet hier auf den wunden Punkt und offenbart eine erstaunliche Klar- und Weitsicht, die ihn vom Typ des „geistlosen, dienstbeflissenen Subalternen“ abhebt. Er gibt sich allerdings – wo immer nötig – den Anschein desselben, um so ungestört eigene Ziele verfolgen zu können. Obschon formell dem Kultusminister unterstellt, schätzt er seine Position als wesentlich vorteilhafter, da sicherer, ein: „Leonidas aber und seinesgleichen hatten das Regieren gelernt […] Die Minister spielten (in ihren Augen) nur die Rolle politischer Hampelmänner […] Sie aber, die Ressortchefs, warfen ihren unbeweglichen Schatten über diese Tyrannen. Welches Partei-Spülicht auch die Ämter überschwemmte, sie hielten die Fäden in der Hand.“[10] Leonidas und Kollegen bestimmen den politischen Kurs Österreichs, während alle Zeichen bereits auf Sturm stehen. Der große Nachbar jenseits der Grenze lockt und droht. Nach ersten außenpolitischen Erfolgen[11] hat das Regime den Gipfelpunkt seiner Popularität im In- und Ausland erreicht, der Nationalsozialismus ist salonfähig geworden, gehört in vielen Kreisen zum guten Ton. Nach welcher Seite wird sich die österreichische Bürokratie wenden? Die Waagschale der Macht neigt sich dem Reich zu, Abgrenzung könnte Sanktionen nach sich ziehen und dieses Risiko einzugehen, ist die opportunistische Spitze nicht bereit: Der Lehrstuhl für innere Medizin soll deshalb nicht von dem international anerkannten, verdienstvollen, aber jüdischen Herzspezialisten Alexander Bloch, sondern von dem unbekannten Provinzmediziner Professor Lichtl besetzt werden.
Werfels Novelle konfrontiert uns – gleichsam in einer Momentaufnahme – mit einem Österreich, das sich erneut am Wendepunkt seiner Geschichte und Geschicke befindet. An die Stelle des Staatsganzen wird jedoch ein Einzelmensch gesetzt, dessen Situation nicht weniger zwiespältig und vertrackt ist, der in seiner Unsicherheit, seinem Zaudern und Schwanken einen „würdigen“ Vertreter seiner Heimat abgibt. Auch der opportunistische Bürokrat Leonidas muß zwischen zwei Möglichkeiten wählen: Der Erhaltung eines feigen, falschen Status quo oder der radikalen, risiko- und verlustreichen Kehrtwende. Beide Wege sind unauflöslich mit einer Frauengestalt verknüpft: Seine Ehefrau Amelie Paradini steht für den bequemeren, seine ehemalige Geliebte, die Jüdin Vera Wormser – ihrem Namen gemäß – für den wahrhaftigeren.
[...]
[1] Paulsen, Wolfgang, Franz Werfel. Sein Weg in den Roman, Tübingen/Basel 1995, S. 226.
[2] Wagener Hans, Gericht über eine Lebnslüge. Zu Franz Werfels Eine blaßblaue Frauenschrift, in: brücken, Germanistisches Jahrbuch Tschechien - Slowakei 1995, S. 192.
[3] Paulsen (wie Anm. 1) S. 233.
[4] Werfel, Franz, Eine blaßblaue Frauenschrift, Frankfurt/M. 121999, S. 10.
[5] Ebd., S. 11.
[6] Ebd., S. 13.
[7] Ebd., S. 42.
[8] Ebd., S. 114.
[9] Ebd., S. 54.
[10] Ebd., S. 67.
[11] Anzuführen sind hier das Reichskonkordat von 1933, die Rückgewinnung des Saarlandes 1935 sowie der Einmarsch ins entmilitarisierte Rheinland im Frühjahr 1936.
- Arbeit zitieren
- Anne-Bärbel Kirchmair (Autor:in), 2000, Die "Agonie" Österreichs in Franz Werfels "Eine blaßblaue Frauenschrift", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/16654
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