Der Begriff „Phänomenologie“ kann mit „Lehre von dem, was sich zeigt“ übersetzt werden. Explizit taucht er zum ersten Mal bei Lambert auf, der darin ein Werkzeug sieht, das Wahre vom Schein zu unterscheiden. Fichte weitet Phänomenologie auf das gesamte Bewusstsein aus und möchte dadurch die Produkte des Ichs von denen des Gegen-Ichs unterscheiden können. Für Hegel ist Phänomenologie die Entwicklung des Geistes, die dem Unkundigen in den Stand des Wissens verhilft. Zentrales Merkmal der Phänomenologie Husserls ist die phänomenologische Reduktion. Durch diese Methode möchte er zu den Sachen selbst, zu ihrem Wesen gelangen. Dazu muss man sich klar machen, dass Wahrnehmung immer unter einen gewissen Aspekt vonstatten geht, und alle nebensächlichen und zufälligen Gegebenheiten der Wahrnehmung ausklammern, um so auf etwas Bleibendes, das Eidos zu stoßen. Ausgangspunkt dieser Reduktion ist die Erfahrung. Aus den verschiedenen Erfahrungen konstituiert sich die Lebenswelt, die zugleich in der natürlichen Begebenheit der Boden der phänomenologischen Reduktion ist, und in ihrer Reinheit deren Ziel.
Neben der phänomenologischen Reduktion der Religion selbst, ist es nützlich, innerhalb der Religionspädagogik Phänomene, Erfahrungen und Lebenswelten zu betrachten. Denn so wird der Blick geweitet dahingehend, dass Dinge immer mehr sein können und sind als der jeweilige Betrachter vermutet. Neben seiner Deutung von einer bestimmten Erfahrung, die er in seiner ihm eigenen Lebenswelt vollzieht, gibt es u. a. auch religiöse Deutungen. Umgekehrt erklärt die Phänomenologie auch, dass eine religiöse Erfahrung von Person X noch längst nicht für Person Y eine solche sein muss.
INHALTSVERZEICHNIS
1. EINLEITUNG
2. AUS DER GESCHICHTE DER PHÄNOMENOLOGIE
2.1 Begriffsgeschichte
2.1.1 Lambert
2.1.2 Fichte
2.1.3 Hegel
2.2 Ein Abriss der transzendentalphänomenologischen Methode in Anlehnung an Edmund Husserl
2.2.1 Grundlagen
2.2.2 Die Erfahrung als Ausgangspunkt der phänomenologischen Methode
2.2.3 Die Lebenswelt als Boden und Ziel
3. PHÄNOMENOLOGIE UND RELIGIONSPÄDAGOGIK
3.1 Verschiedene Weisen, Religion und Phänomenologie in Beziehung zu bringen
3.2. Religiöse Erfahrung
3.3 Unterricht als Anwendungsfeld der Phänomenologie
4. ZUSAMMENFASSUNG
5. LITERATURVERZEICHNIS
1. Einleitung
„Geht zu allen Völkern und unterrichtet sie!“1 (Eigene Übersetzung), gibt der aufer- standene Jesus seinen Jüngern und damit uns allen mit auf den Weg. Wie genau das geschehen soll, steht nicht im Evangelium, es ist kein didaktisches Konzept überlie- fert. Jedoch ist im Neuen Testament nachzulesen, wie die erste Generation von Christen diesen Auftrag verstanden und auch umgesetzt hat, in narrativer Form vor allem in der Apostelgeschichte anhand des Apostels Paulus. Er durchreiste die Welt, ging auf Menschen zu und sprach mit ihnen.2 Auch kam er gleich mit den beiden bestimmten philosophischen Strömungen seiner Zeit, dem Epekureismus und dem Stoizismus, ins Gespräch.3 In Ansätzen kann auch erahnt werden, wie solche Ge- spräche verliefen: „Denn als ich umherging und mir eure Heiligtümer ansah, fand ich auch einen Altar mit der Aufschrift: EINEM UNBEKANNTEN GOTT. Was ihr ver- ehrt, ohne es zu kennen, das verkünde ich euch.“4 Er hat also nicht mit etwas völlig Neuem, Unbekanntem begonnen, sondern mit etwas, was seinen Zuhörern schon aus der Erfahrung vertraut war, in dem überlieferten Beispiel nämlich, dass die Wirk- lichkeit mit den von ihnen verehrten Göttern wohl nicht vollends erfasst war.
Diese Vorgehensweise des Apostels Paulus, dem Auftrag Jesu nachzukommen, be- gegnet beim phänomenologischen Ansatz der Religionspädagogik auf zweierlei Art. Zunächst auf formaler Ebene: Wie Paulus mit den Philosophen in Dialog getreten ist, so setzen sich auch hier Theologen mit einen philosophischen Ansatz, nämlich der Phänomenologie, auseinander. In der Geschichte des Christentums war es durchge- hend so, dass in der Theologie Werkzeuge verwendet wurden, die der Philosophie entlehnt waren, um etwa dadurch manches zu strukturieren (z. B. Gott als „Ens in se“), zu verdeutlichen, (z. B. kann es, wenn Gott das erste Prinzip ist, keinen zweiten Gott geben) oder auch den Weg zu neuen Erkenntnissen (z. B. Privationslehre in der Theodizee) zu bahnen. Aber auch auf inhaltlicher Ebene vollzieht sich hier etwas, was sich schon bei Paulus andeutet: Menschen und ihre Erfahrungen werden ernst genommen und aufgegriffen.5
In einem ersten Hauptteil soll auf die Geschichte der Phänomenologie geblickt werden, indem zunächst anhand dreier Philosophen des 18. und 19. Jahrhunderts die Begriffsgeschichte kurz beleuchtet wird, um anschließend die Phänomenologie Hus- serls als ihres Begründers im heutigen Sinne, in groben Umrissen darzustellen. Dabei werden, nachdem einige Grundlagen genannt sind, die Begriffe „Erfahrung“ und die aus diesen Erfahrungen sich bildende „Lebenswelt“ einzeln erläutert. In einem letz- ten Teil wird gefragt, wie Phänomenologie und Religion miteinander in Beziehung gesetzt werden können, um schließlich Anwendungen der Phänomenologie im Reli- gionsunterricht aufzuzeigen.
2. Aus der Geschichte der Phänomenologie
2.1 Begriffsgeschichte
Das Wort Phänomenologie setzt sich aus den beiden griechischen Worten phainein (zeigen) und logos (Lehre) zusammen. Phainein kann in seiner medial-passiven Be- deutung, welche hier zugrunde liegt, mit „sich zeigen“ oder „scheinen“ übersetzt werden.6 Phänomenologie ist somit die Lehre von dem, was scheint, bzw. von dem, was sich zeigt. Doch da sich Fachbegriffe ja nicht völlig erschließen, wenn man sie einfach ins Deutsche übersetzt, sondern dadurch höchstens eine grobe Richtung ge- wiesen werden kann, wohin die Untersuchung gehen wird, sollen exemplarisch drei Vertreter der Philosophie, nämlich Lambert, Fichte und Hegel ausgewählt werden, um an ihnen aufzuzeigen, auf welche Weise sie den Begriff der Phänomenologie, sei es in Übereinstimmung oder voneinander abweichend, verwendet haben. Zwischen der Zeit des Wirkens von Hegel und Husserl wurde das Wort Phänomenologie zu einem vagen Methodenbegriff, dessen Bedeutung die jeweiligen Autoren bei ihren Lesern als bereits bekannt vorauszusetzen scheinen.7
2.1.1 Lambert
Der Begriff Phänomenologie taucht zum ersten Mal bei Johann Heinrich Lambert (1728-1777) auf. 8 Seine Verwendung kommt der wörtlichen Übersetzung recht na- he, denn der vierte Teil seines „Neuen Organons“ trägt den Titel „Phänomenologie oder Lehre von dem Sein“9. Genauer gesagt soll sie „den Schein kenntlich machen, und die Mittel angeben, ihn zu vermeiden, um zu dem Wahren durchzudringen“10 Schein und Wahrheit sind also zu trennen, denn es ist ein „Irrthum, wenn man das, was eine Sache zu sein scheint, mit dem verwechselt, was sie wirklich ist“11. Der Schein setzt sich dabei aus dem Leeren, d.h. Subjektiven (geschuldet durch Einbil- dungskraft, Vorurteile und Affekte) und dem Objektiven zusammen. Er erschließt sich also „aus der besonderen Gedenkens- und Gemüthsart eines Menschen“12. Die Phänomenologie soll also das, „was die Sache im Grunde ist, und zugleich wie je- mand sich dieselbe vorstellt“13 voneinander trennen, um so durch die Erfahrung zum Allgemeinen in den subjektiven Quellen des Scheins zu gelangen. Lambert hat somit einen groben Rahmen vorgegeben, innerhalb dessen der Name „Phänomenologie“ von da an, in gewissen Modifizierungen versteht sich, Verwendung finden sollte.14
2.1.2 Fichte
Während Lambert, und im Anschluss an ihn auch Herder und Kant, Phänomenologie im Bereich der Ästhetik, also Wahrnehmung, ansiedelten, wendet Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) den Begriff ins Grundsätzliche und versteht darunter nicht mehr die bloße Sinneswahrnehmung, sondern das Bewusstsein selbst15, besonders im Ver- hältnis zum Absoluten16. Fichte postulierte nämlich ein absolutes Ich, welches der Erkenntnis absolut unterworfen ist.17 „Dieses absolute Ich ist in sich nichts Reales, sondern wird real, indem es durch das absolute Bewusstsein eigens gesetzt wird.“18
Diesem Ich stellt sich ein Gegen-Ich entgegen und weist ihm seine Schranken. Aufgabe der Phänomenologie ist es nun, „zu unterscheiden, was, wenn man dieselbe [=Phänomenologie] durch ihre Formen hindurch verfolgt, auf das wahre, was auf das scheinbare Ich schließen lasse“19. Fichte sieht Phänomenologie also als eine Art „Ichlehre“ an;20 letztendlich dient sie doch auch hier als Werkzeug dazu, das Wahre vom scheinbar Wahren zu trennen.
2.1.3 Hegel
Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770-1831) Verständnis von Phänomenologie wird durch sein Werk „Phänomenologie des Geistes“ aus dem Jahre 1807 be- stimmt.21 Phänomenologie des Geistes ist hier als „Werden der Wissenschaft über- haupt, oder des Wissens“22 aufgefasst. Die Aufgabe der Phänomenologie besteht darin, „das Individuum von seinem ungebildeten Standpunkte aus zum Wissen zu führen“23. Dabei ist zwischen dem Wissen (den Begriffen) und dem Gegenstand des Wissens zu unterscheiden. Dieser Unterschied bestimmt das Bewusstsein und die Veränderung dieses Unterschiedes ist als Erfahrung zu bezeichnen, welche ihr Ziel erreicht hat, wenn der Gegenstand des Wissens dem Wissen, also dem Begriffe, ent- spricht.24 Aus der bestehenden Differenz von Wissen und Wissensgegenstand er- wächst so folglich „der sich selbst erscheinende Geist, der dialektisch in der Fluchtli- nie des absoluten Wissens zu sich selber kommt25. Entscheidend ist also die Erfah- rung des Bewusstseins, welchen ja ein „phainomenon“ des Geistes ist, denn das Be- wusstsein ist durch die Differenz von Wissen und Wissensgegenstand gekennzeich- net, woraus der Geist erwächst.26
[...]
1 Mt 28,19a.
2 Vgl. Apg 17,17.
3 Vgl. Apg, 17,18.
4 Apg 17,23.
5 Vgl. ebd.
6 Vgl PAPE II, 1251.
7 Vgl. CLAESGES, 488.
8 Vgl. ebd., 486.
9 LAMBERT, II, 215.
10 Ebd., I, Vorrede.
11 Ebd.
12 Ebd., II, 435.
13 Ebd.
14 Vgl. KIRCHHOFF, 4.
15 Vgl. ebd., 5
16 Vgl. CLAESGES, 487.
17 Vgl. WILLEMS, I, 293.
18 Ebd. („Hoc „Ego absolutum“ in se nil reale est, sed reale fit positione sua propria per conscientiam absolutam.“).
19 FICHTE, VI, 40.
20 Vgl. Ebd.
21 Vgl. CLAESGES, 488.
22 HEGEL, II,30.
23 Ebd.
24 Vgl. CLAESGES, 488.
25 KIRCHHOFF, 5.
26 Vgl. CLAESGES, 488.
- Arbeit zitieren
- Michael Roßler (Autor:in), 2010, Der phänomenologische Ansatz in der praktischen Theologie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/166384
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