Die Arbeit befasst sich mit der Briefkultur des 18. Jahrhunderts basierend auf den Theorien Johann Christian Fürchtegott Gellerts. Dabei wird Johann Wolfgang Goethe als Leipziger Studenten und dessen Beziehung zum Leipziger Mädchen Anna Katharina Schönkopf ins Zentrum der Betrachtung gestellt. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt auf Goethe als Briefschreiber, sowohl zu seiner Leipziger Zeit, aber vor allem im Briefwechsel mit Käthchen Schönkopf, welcher zu Goethes Zeit in Frankfurt von 1768 bis 1770 stattfand. Die Betrachtung dieses Briefwechsels soll Aufschluss über Goethes Briefstil, seine Zeit in Leipzig und sein Verhältnis zu Käthchen geben.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Johann Wolfgang Goethe als Student in Leipzig
1. Das Leben in Leipzig
a) Die Stadt Leipzig
b) Goethe im Hause Schönkopf
2. Goethe als gelehriger Schüler J. Ch. F. Gellerts
a) Gellerts Brieftheorie
b) Goethes Leipziger Briefstil
III. das Verhältnis zu Käthchen Schönkopf im Spiegel der Briefe aus Frankfurt
1. Korrespondenzverlauf
2. Inhalt
3. Briefstil
4. Verhältnis
IV. Resümee
V. Bibliographie
I. Einleitung
Nach meiner Auseinandersetzung mit den Briefen des jungen Goethe und der Briefkultur des 18. Jahrhunderts habe ich für meine Seminararbeit ein Thema gewählt, das Johann Wolfgang Goethe als Leipziger Studenten und dessen Beziehung zu einem Leipziger Mädchen ins Zentrum der Betrachtung stellt. Ich habe Anna Katharina (genannt Käthchen) Schönkopf gewählt, weil Goethe eine besondere Beziehung zu ihr gehabt hat, die sich auch vielfach in Briefen widerspiegelt und die er auch danach eine Zeit lang aufrechtzuerhalten versuchte. Denn nach seiner Zeit in Leipzig beginnt er in Frankfurt mit Käthchen einen Briefwechsel, der gemäß dem Überlieferungsstand noch vor seiner Abreise nach Straßburg beendet ist. Es ergibt sich für mich folgende Ausgangsfrage: Wie spiegelt sich das Verhältnis Goethes zu Käthchen Schönkopf in den Briefen aus Frankfurt?
Doch zu Anfang möchte ich den Studenten und Briefschreiber Goethe in seinem Leipziger Umfeld zeigen. Dem ersten Unterkapitel lege ich folgende Frage zugrunde: Wie war Leipzig zur Zeit von Goethes Aufenthalt und wie hat diese Stadt auf den jungen Studenten gewirkt? Dabei soll vor allem Goethes Beziehung zum Hause Schönkopf untersucht werden. Grundlage meiner Betrachtungen sind zum einen Selbstzeugnisse Goethes in Form von Briefen aus Leipzig sowie die entsprechenden Kapitel aus Dichtung und Wahrheit und zum anderen die heutige Forschungsliteratur. Das zweite Unterkapitel befaßt sich mit Goethe als Briefschreiber und mit dessen Impulsgeber Johann Christian Fürchtegott Gellert. Goethes eigenen Briefstil untersuche ich kurz anhand der zwei bedeutendsten Briefwechsel dieser Zeit, und zwar mit Cornelia Goethe und mit Ernst Wolfgang Behrisch.
Im III. Kapitel soll dann die genauere Analyse des Verhältnisses zu Käthchen Schönkopf anhand der Briefe aus Frankfurt erfolgen. Diese sind gewissermaßen ein Spiegel seiner Leipziger Zeit. Ich untersuche sie hinsichtlich ihres Stils und ihres Inhalts. Daraus erhoffe ich mir, Schlüsse darüber ziehen zu können, wie Goethes Verhältnis zu Käthchen in Leipzig gewesen sein mag und wie es sich dann in Frankfurt fortentwickelte.
II. Johann Wolfgang Goethe als Student tn Leipzig
1. Das Leben in Leipzig
a) Die Stadt Leipzig
Als Johann Wolfgang Goethe 1765 zum Studieren nach Leipzig kommt, hat sich die Stadt vom Siebenjährigen Krieg noch nicht ganz erholt. Der Krieg hat viel Unheil angerichtet und erst seit etwa 2 Jahren herrscht Frieden. Es ist erstaunlich, wie sehr Leipzig zu Goethes Ankunft wiederhergestellt sein muß, wenn der junge Ankömmling im Brief an seine Schwester Cornelia so ins Schwärmen gerät: „Die Gärten sind so prächtig als ich in meinem leben etwas gesehen habe“.[1]
Goethes erster Eindruck ist also durchaus positiv, vor allem wenn man bedenkt, daß er gar nicht nach Leipzig wollte. Diese Stadt hat neben ihren Bauwerken und Gärten auch den Vorzug, daß „mehrere, im Guten und Rechten Gleichgesinnte, schon gebildete Männer daselbst neben einander wohnen“[2], wie er noch nach Jahren in Dichtung und Wahrheit zufrieden reflektiert. Leipzigs Höhepunkt als Sammelort der verschiedenen aufklärerischen Strömungen ist zwar schon überschritten, doch die Kräfte wirken noch nach. Gottsched, Gellert und noch einige andere gelehrte Vorreiter sorgen für das entsprechende geistige Klima, in dem sich der junge Student durchaus wohl fühlt. Zu diesem anfänglichen Wohlbefinden trägt wahrscheinlich auch die zu seiner Ankunft gerade stattfindende Messe bei. Die Stände und Verkäufer kennt er noch aus Frankfurt und so fühlt er sich gleich schon etwas heimischer. Ansonsten hat Leipzig mit dem unmodernen, traditionsbehafteten Frankfurt wenig gemein. „Klein-Paris“, wie sich Leipzig gerne nennt, ist fortschrittlich, modern, galant und schillernd. Man orientiert sich an Frankreich und lebt die Rokoko-Kultur. Kernbegriffe des Rokoko als Lebensart sind Genuss, Spiel und Selbstinszenierung. In sein privates Leben gönnt man den Mitmenschen nur so viel Einblick, als man für nötig hält. Der spielende Gesellschaftsmensch verhüllt galant und gekünstelt sein wahres Ich. Diese unbeschwert wirkende Lebensatmosphäre zieht den jungen Studenten in seinen Bann. Goethe versucht sich dieser neumodischen Denk- und Lebensart so schnell wie möglich anzupassen. Seine Frankfurter Freunde stellen recht bald Veränderungen an Goethe fest, auch wenn dieser in seinem Brief an Riese schreibt: „Ich mache hier große Figur! - Aber noch zur Zeit bin ich kein Stutzer. Ich werd es auch nicht.“[3] Der anfänglich enorme Anpassungswille legt sich jedoch schon bald. Anscheinend bemerkt Goethe zuerst gar nicht, dass die erlebte „Wirklichkeit“ nur ein gesellschaftliches Spiel ist. Doch als er das falsche Spiel durchschaut, distanziert er sich von dieser Lebensform. Die Faszination wandelt sich in Kritik, die sich auch in den Briefen niederschlägt:
Ich fange an mit den Leipzigern, und mit Leipzig, ziemlich unzufrieden zu werden. Ich binn aus der Gnade derjenigen denen ich sonst meine Aufwartung machen durfte gefallen, und das deßwegen weil ich meines Vaters Raht gefolgt habe und nicht spielen will.[4]
Er wendet sich also vom gesellschaftlichen Leben ab. Konzerten, Komödien, Gesellschaften und Spazierfahrten, die ihm anfangs so viel bedeuten, entsagt er zunehmend und zieht sich zurück ins private Leben.
b) Goethe im Hause Schönkopf
Der Wirt und Weinhändler Christian Gottlob Schönkopf (1716-1791) und seine aus Frankfurt stammende Frau Katharina Sybilla (1714-1790) unterhalten einen Mittagstisch. Seinem späteren Schwager J.G. Schlosser hat es Goethe zu verdanken, dass er die Schönkopfs überhaupt kennen lernt.
[Schlosser] kam und trat in einem kleinen Gast- oder Weinhause ab, das im Brühl lag und dessen Wirth Schönkopf hieß. Dieser hatte eine Frankfurterinn zur Frau [...] So lange Schlosser in Leipzig blieb speiste ich täglich mit ihm, und lernte eine sehr angenehme Tischgesellschaft kennen. [...] Ich blieb wirklich nach Schlossers Abreise bey ihnen, gab den Ludwigischen Tisch auf, und befand mich in dieser geschlossenen Gesellschaft um so wohler, als mir die Tochter vom Hause, ein gar hübsches, nettes Mädchen, sehr wohl gefiel.[5]
Die Tochter heißt Anna Katharina Schönkopf (1746-1810). Sie gefällt Goethe so sehr, dass er sich in sie verliebt. Käthchen[6] ist ihm gegenüber auch nicht ganz abgeneigt. Es kostet Goethe einige Überwindung, ihr seine Liebe zu gestehen, und mindestens genauso viel, um es seinem Freund Moors zu schreiben:
Ich liebe ein Mädgen, [Käthchen] ohne Stand und ohne Vermögen [...] nur durch meinen Charackter, nur durch mein Herz habe ich sie erlangt. Ich brauche keine Geschencke um sie zu erhalten[7].
Jeden Tag ist er also zu Gast im Hause Schönkopf und das nicht nur am Mittagstisch. Er steht zur ganzen Familie in freundschaftlichem Verhältnis. Der Umstand, dass Frau Schönkopf aus Frankfurt stammt, trägt wohl auch dazu bei, dass Goethe so schnell in den Kreis der Familie aufgenommen wird und man ihn wie ein Teil derselbigen behandelt. Herr Schönkopf leitet außerdem eine kleine Theatergruppe, der sich Goethe auch anschließt. Man spielt Krügers „Herzog Michel“, Lessings „Minna von Barnhelm“ und anderes. So kann er sein geliebtes Käthchen regelmäßig ohne Hindernisse sehen. Allerdings können sie ihre Zuneigung nicht offen ausleben, denn Käthchen ist bereits verlobt[8]. Doch „trotz ihrer Verlobung ist sie durchaus offen für eine ihr unschuldig scheinende Liebschaft mit dem jungen Studenten“[9], die ganz im Stil des Rokoko mehr Spiel als Realität ist, zumindest von Käthchens Seite aus.
Der Umgang der jungen Leute unterschiedlichen Geschlechts war hier in Leipzig eindeutig freier als in Goethes Heimatstadt. [...] Das war mit ein Grund dafür, daß Goethe bei seinem Käthchen schließlich, die immerhin verlobt war, relativ weit kommen konnte.[10]
Viele Eingeweihte gibt es nicht. Der wichtigste Vertraute Goethes ist Ernst Wolfgang Behrisch, dem er in einem seiner Briefe freudig einen der wenigen Momente der Zweisamkeit schildert:
Ja Behrisch ich habe meine Jetty [Käthchen] eine halbestunde ruhig, ohne Zeugen unterhalten, ein Glück daß ich jetzt manchmal genieße, sonst nie genoß. Diese Hand die jetzt das Papier berührt um dir zu schreiben, diese glückliche Hand drückte sie an meine Brust.[11]
Die Briefe an seinen Vertrauten Behrisch sind der beste Spiegel dieser Beziehung. Goethe lässt ihn an allen Hochs und Tiefs teilhaben. In anderen Briefwechseln hält er sich eher zurück. Seiner Schwester gegenüber erwähnt er zwar, dass er „[l]a petite Schoenkopf“[12] möge und liebe, was jedoch bei ihm nicht so viel zu bedeuten hat, da er das Wort Liebe häufig im Zusammenhang mit Freunden und Freundinnen gebraucht. Die Liebschaft geht etwa zwei Jahre bis zum Frühjahr 1768, als sie sich freundschaftlich trennen, womit Goethe nicht wirklich zufrieden ist:
O Behrisch ich habe angefangen zu leben! [...] Nette, ich, wir haben uns getrennt, wir sind glücklich. [...] Behrisch wir leben in dem angenehmsten freundschafftlichsten Umgange [...] Wir haben mit der Liebe angefangen, und hören mit der Freundschafft auf. Doch nicht ich. Ich liebe sie noch, so sehr, Gott so sehr.[13]
Die Beziehung steht von Anfang an unter einem schlechten Stern, weil sie, wie bereits gesagt, für Käthchen mehr Spiel bedeutet als Ernst. Goethe passt sich dem Leipziger Rokoko nicht wirklich an und die Galanterie liegt ihm anscheinend auch nicht.[14] Er ist hin und her gerissen zwischen seinen nicht unterdrückbaren Gefühlen und dem, was gesellschaftlich und moralisch Rechtens wäre. Außerdem ist er meist unnötiger Weise übertrieben eifersüchtig. Dadurch und durch seine häufige Verstimmung hat er sich und Käthchen viele schöne Momente verdorben.
2. Goethe als gelehriger Schüler J. Ch. F. Gellerts
a) Gellerts Brieftheorie
Im 17. und frühen 18. Jahrhundert herrschte eine sehr regelgeleitete Briefkultur in Deutschland. Der Curialstil dominierte. Man unterschied zwischen Geschäftsbriefen, lateinischen Gelehrtenbriefen, französischen Konversationsbriefen und anderen. Mitte des 18. Jahrhunderts führen nun Brieftheoretiker einen neuen, revolutionären Briefstil ein. Natürlichkeit ist nun das große Schlagwort. Einer dieser ist Johann Christian Fürchtegott Gellert. Er veröffentlicht 1742 den in Briefform formulierten Text „Gedanken von einem guten deutschen Briefe“ und 1751 folgt „Briefe nebst einer Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmack in Briefen“. Seine Hauptforderungen an den Briefstil, den er in diesen Schriften entwickelt, sind, dass er Gesprächscharakter haben sowie natürlich, lebhaft, präzise und persönlich gefärbt sein sollte.
„Das erste, was uns bey einem Briefe einfällt, ist dieses, daß er die Stelle eines Gesprächs vertritt.“[15] Man gibt also in einem Brief schriftlich wieder, was man sonst mündlich mitteilen würde, wenn man wollte oder könnte. Der Brief ist jedoch keine Kopie eines Gesprächs, sondern soll nur Gesprächscharakter haben, soll dem Gespräch ähneln. Somit ist nicht alles, was im Gespräch erlaubt ist, zugleich auch im Brief erlaubt. „Er ist [nur] eine freye Nachahmung des guten Gesprächs.“[16] Damit hat man schon das nächste Kriterium: das als Vorbild gewählte Gespräch sollte gut sein. Dies bezieht sich vor allem auf die Sprache. Beim Briefschreiben soll man sich an der alltäglichen Sprache orientieren. Doch man tut im Brief ja nur so, als ob man spräche, so dass der Umgangston keineswegs unverändert übernommen werden darf. Würde man wirklich so schreiben, wie man oft redet, so würde man „sehr nachlässig, sehr unordentlich, überflüssig und unzierlich schreiben“.[17] Beim Schreiben eines Briefes hat man jedoch mehr Zeit, seine Gedanken und Worte sorgfältiger zu wählen und zu ordnen, als im Gespräch. Die Worte entstammen zwar der Umgangssprache, aber „[w]er Briefe schön schreiben will, muß nicht wohl schreiben, wie ein jeder im gemeinen Leben reden, sondern wie eine Person im Umgange ohne Zwang sprechen würde, welche die Wohlredenheit völlig in ihrer Gewalt hätte“.[18]
Man ahmt also die Sprache derjenigen nach, die die Erzählkunst beherrschen, und orientiert sich an der gepflegten Konversation und nicht an „einem unordentlichen Caffeegespräche“.[19] Doch man darf nicht vergessen, dass Sprache und Erzählweise eines Briefes immer auch davon abhängen, was man erzählen will. Eine Schreibart ist nur schön, „als sie sich zu den Dingen schickt, welche sie vorträgt“. [20] Alltägliche Erzählungen verlangen nach einer einfacheren Sprache, als wenn man Emotionales mitteilen möchte. Prinzipiell kann man über alles schreiben, worüber man auch reden kann, es kommt nur auf das „wie“ an. Und dazu gehört bei Gellert auch, dass der Brief natürlich und leicht wirken muss. Die Forderung nach Natürlichkeit impliziert wiederum das „als ob“. Denn der Brief soll das Natürliche nur nachahmen, soll dem Natürlichen nur ähneln, und nicht wirklich natürlich sein, sondern wohlüberlegt und geordnet. Natürlich kann ein Brief nur wirken, wenn man Gedanken, Inhalte, Worte und Zusammenhänge in Einklang bringen kann. Das heißt nicht nur die einzelnen Worte und Gedanke müssen natürlich wirken, sondern der Brief im Ganzen. Es erfordert einige Übung und Mühe, beim Leser den Eindruck des Natürlichen zu wecken. Dabei darf diese Mühe für den Leser im nachhinein nicht erkennbar sein. Der Brief soll also leicht wirken, als ob er den Schreiber keine Mühe gekostet habe und einfach so drauflos geschrieben worden wäre. Und in gewisser Weise soll er es auch sein, wenn Gellert fordert, „man überlasse sich der freywilligen Folge seiner Gedanken [...] aber wir setzen einen gesunden Verstand voraus. [...] Wer keine gute Auferziehung gehabt, wer seinen Verstand noch gar nicht durch den Umgang mit geschickten und vernünftigen Leuten, oder durch das Lesen guter Bücher geübt, und in Ordnung gebracht, oder wer ihn durch einen bösen Geschmack gar schon verderbt hat, der wird freylich nach dieser Regel immer noch elende Briefe schreiben können.“[21]
Mit anderen Worten gesagt, geht Gellert davon aus, dass jeder, der in der Lage ist, gut zu denken, und die Erzählkunst beherrscht, auch fähig ist gute Briefe zu schreiben. Doch so frei die Gedanken auch fließen sollen, eine gewisse Ordnung gibt Gellert schon vor: Und zwar soll man mit dem Wichtigsten beginnen und alles weitere nach seiner Gewichtung anschließen. Am Anfang des Briefes sollte man gleich zur Sache kommen und seine Gedanken im folgenden knapp und präzise zum Ausdruck bringen. Umständliche und ausschweifende Formulierungen lassen die Lebhaftigkeit schwinden.
Des weiteren fordert Gellert, der Briefschreiber solle „seinem eignen Naturelle“[22] folgen. Jeder Brief soll demnach eine persönliche Note haben. Der Briefempfänger sollte in einem ihm bekannten Schreiber durchaus seinen Bekannten, Freund oder Verwandten wieder erkennen können. Denn jeder Mensch hat ja seine individuelle Art zu denken und sich auszudrücken. „Diese soll er [...] nie unterdrücken, sonst wird er eben dadurch gezwungen und unnatürlich werden.“ [23] Dies ist allerdings kein Aufruf seiner Persönlichkeit freien Lauf zu lassen. Gellert warnt sogar vor zu persönlichen Briefen, da diese eventuell zu viel über die eigene Person verraten können.
Gellert gibt zum Großteil allgemeine Anregungen für alle Arten von Briefen, aber er teilt auch in verschiedene Briefgenres ein. So gibt es u.a. erzählende Briefe, gefühlvolle Briefe und Briefe, die zum Vergnügen geschrieben werden. Briefe, deren Inhalt bloß aus Erzählungen besteht, sind die gängigsten. Dabei gibt es zwei Punkte zu beachten: die Deutlichkeit und die Kürze. Man muss verständlich, präzise und knapp das berichten, was zu dem Geschehnis gehört, d.h. keine Nebensächlichkeiten. Man sollte „nicht mehr Worte brauchen, als nöthig ist“. [24] Geschehnisse müssen lebhaft erzählt werden, so dass der Leser glaubt, selbst dabei zu sein. „Dies geschieht durch die kleinen Gemälde, die man im Erzählen von den Umständen, oder Personen, entwirft, insonderheit wenn man die Personen zuweilen selbst reden läßt“. [25] Für Gefühlvolle Briefe ist die Natürlichkeit das höchste Kriterium. Wenn man Empfindungen mitteilen oder erwecken will, „so lasse man sein Herz mehr reden als seinen Verstand; und sein Witz gar nicht. Man wisse von keiner Kunst, von keiner Ordnung in seinem Briefe.“[26] Geistreiche Einfälle und Ordnung der Gedanken erfordern eine ruhige Gemütslage, die man aber in der wirklichen Leidenschaftlichkeit nicht hat. Daneben gibt es auch noch Briefe, die man zum puren Vergnügen schreibt. Darin ist erlaubt, was sonst unnatürlich wäre, Hauptsache es bereitet dem Schreiber und dem Leser Vergnügen. Alle geistreichen Einfälle sollten zum Gedanken passen sowie witzig, ungezwungen und der Mühe wert sein. Der vergnügliche Brief bedarf eines Schreibers, „den die Natur [...] dazu gebildet hat“.[27] Zu dieser Art gehört auch der Brief in Versform. Im allgemeinen sollten Briefe in Prosa geschrieben sein, schließlich ist sie deutlich natürlicher als die Poesie. Im vergnüglichen Brief ist es etwas anders: Verse sind zwar weder natürlich, noch ist anzunehmen, dass sie den Schreiber keine Mühe gekostet haben, aber, da sie zum beidseitigen Vergnügen verfasst wurden, sind sie akzeptabel.
Gellert schwankt immer wieder zwischen dem Wunsch nach freiem Ausdruck und der Regelgebundenheit. Denn so sehr er sich den regelfreien Brief wünscht, so sehr stellt er auch selber Regeln und Bedingungen auf. Die Formulierung „Gellerts antinormative Norm des Briefschreibens“[28] trifft diesen Widerspruch am besten.
Nun bleibt noch die Frage, warum ausgerechnet J.Ch.F.Gellert soviel Bedeutung für den jungen Goethe hat? Gellert ist in Leipzig an der Universität tätig. Er hält u.a. Vorlesungen über Dichtkunst und gibt praktische Übungen zur Bildung des Stils, vor allem des Briefstils. Auch Goethe zieht es in seine Vorlesungen und Übungen. Er nimmt Gellerts Anweisungen zum Schreiben eines guten Briefes ernst und versucht sie auch umzusetzen. Gellert scheint jedoch nicht immer mit seinem Schüler zufrieden zu sein, wie es Goethes Reflexion in Dichtung und Wahrheit darstellt:
Er wünschte nur prosaische Aufsätze und beurtheilte auch diese immer zuerst. Die Verse behandelte er nur als eine traurige Zugabe, und was das Schlimmste war, selbst meine Prose fand wenig Gnade vor seinen Augen: denn ich pflegte, nach meiner alten Weise, immer einen kleinen Roman zum Grunde zu legen, den ich in Briefen auszuführen liebte. Die Gegenstände waren leidenschaftlich, der Styl ging über die gewöhnliche Prose hinaus, und der Inhalt mochte freylich nicht sehr für eine tiefe Menschenkenntniß des Verfassers zeugen; und so war ich denn von unserem Lehrer sehr wenig begünstigt[29].
b) Goethes Leipziger Briefstil
Auch wenn Goethes Übungsbriefe anscheinend nicht ganz Gellerts Vorstellungen entsprechen, so basiert sein Briefstil der Leipziger Zeit nichtsdestoweniger auf dessen Anregungen, genauer gesagt geht er darüber hinaus und ist vielleicht sogar zu natürlich. Die beiden bedeutendsten Briefwechsel dieser Zeit mit seiner Schwester Cornelia und mit seinem Freund Ernst Wolfgang Behrisch entsprechen gemäß Gellerts Definition zwei unterschiedlichen Briefgenres.
Die Briefe an seine Schwester kann man als erzählende Briefe, die zum Vergnügen geschrieben werden, bezeichnen. Er schreibt in einer (viel zu) umgänglichen Sprache über Alltägliches und ist teilweise übertrieben geistreich und witzig, was allerdings laut Gellert tolerierbar ist, da es ja um das gegenseitige Vergnügen geht. Er schreibt Cornelia, weil er Lust hat, sich mit ihr zu unterhalten. Seine Aussage, „ich will mich vergnügen, indem ich an dich schreibe“[30], rechtfertigt seinen zum Teil prahlerischen Witz, Sarkasmus und lebhaft-launischen Sprachton. Die Briefe sind jedoch großteils in einem natürlich-ungezwungenen Plauderton geschrieben, wie er wahrscheinlich auch im mündlichen Gespräch zwischen den Geschwistern üblich war. Auch inhaltlich handelt es sich mehr um leichte Plauderei und Geschwätz, wie er seine Erzählungen auch selbst bezeichnet, genauer gesagt nennt er sie „babbling“[31]. Goethe teilt Cornelia schriftlich mit, was er ihr sonst mündlich mitteilen würde. Die Briefe sind Ersatz für die tägliche Konversation. Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass viele gesprächstypische Elemente vorkommen, wie Fragen, Ausrufe, Anreden, Schweigen (in Form von Gedankenstrichen) und ähnliches. Goethe spielt geradezu mit dem Gegensatz von mündlichem und schriftlichem Gespräch, vor allem simuliert er Unmittelbarkeit. Er lässt Cornelia in seinen Briefen zahlreiche Situationen mit- bzw. nacherleben, überspielt die tatsächliche räumliche Distanz und holt Cornelia zu sich nach Leipzig:
Was würdest du sagen Schwestergen; wenn du mich, in meiner jetzigen Stube sehen solltest? Du würdest astonishd ausrufen: So ordenlich! so ordentlich Bruder da - thue die Augen auf und sieh - Hier steht mein Bett! da meine Bücher! dort ein Tisch aufgeputzt wie deine Toilette nimmermehr seyn kann. Und dann - Aber ja das ist was anders. Eben besinne ich mich. Ihr andern kleinen Mädgen könnt nicht so weit sehen, wie wir Poeten.[32]
Cornelias „Quasi-Präsenz“[33] wird unterbrochen, als er sich wieder scherzhaft auf seine Schreibsituation besinnt. Goethe baut auch öfters Reaktionen seines Gesprächspartners mit ein, wie z.B.: „Lachst du etwann Närrgen, daß ich in einem so hohen Tone spreche. Lache nur. Wir Gelehrten, achten - was? Meinst du etwa 10 rh. nicht.“[34] Er simuliert Lachen und Unterbrechungen, weil er glaubt, seinen Gesprächspartner so gut zu kennen, dass er sogar seine Reaktionen im voraus weiß. Auch eigene spontane Reaktionen, wie z.B. Lachen, setzt er ganz bewusst ein: „Ha! Ha! Ha! - Schwestergen du bist erznärisch. ich habe gelacht.“[35] Zu diesem „Quasi-Spontane[n]“[36] gehören auch Ausrufungen und Laute anderer Art, wie z.B. „St!“[37], wenn Cornelia etwas nicht weitersagen soll, oder auch spontane Satzabbrüche: „Mit jungen schönen W - doch was geht das dich an. Fort! fort!
fort! Gnug von Mädgen.“[38] Es kommt auch öfters vor, dass er plötzlich von einem Gedanken abschweift zu einem anderen. Die Themenwechsel erfolgen allgemein recht abrupt. Diese ganzen Elemente hat Goethe der mündlichen Konversation entlehnt und sie auf seine vergnüglichen, berichtenden, brieflichen Gespräche mit Cornelia übertragen.
Die Briefe an Behrisch hingegen sind gefühlvolle Briefe, die aus dem Affekt heraus geschrieben sind und sich fast ausschließlich um ein Thema drehen: Goethes Liebe zu Käthchen Schönkopf. Er lässt, so wie Gellert es fordert, sein Herz mehr sprechen als seinen Verstand, behält sich aber nichtsdestotrotz unter Kontrolle. So leidenschaftlich-erregt er beim Schreiben eines Briefes ist, so leidenschaftlich ist auch seine Sprache. Doch den lebhaft-leichten Plauderton wie in den Briefen an Cornelia findet man hier ebenfalls. Genau das macht das Besondere dieser Briefe aus, dass sie nicht einem bestimmten Stil klar zuzuordnen sind, sondern sich aus der Laune heraus ergeben. Die spezifische Erzählweise der Briefe an Behrisch, „die unmittelbar inneres Erleben ins Wort überträgt“[39], kennzeichnen Elemente wie Ausrufe (Ha!), Wiederholungen, Satzabbrüche und ähnliches. Der Stil ist sehr unmittelbar, leidenschaftlich, heftig und zerrissen. Die von Gellert in emotionalen Briefen geduldete Ordnungslosigkeit der Sprache und Gedanken ist im Vergleich zu Goethes affektiver Schreibweise noch sehr geordnet.
Du hast viel mit mir ausgestanden, stehe noch das aus. Das Geschwätze, und wenn dir's Angst wird, dann bete, ich will Amen sagen, selbst kann ich nicht beten. Meine - Ha! Siehst du! Die ist's schon wieder. Könnte ich nur zu einer Ordnung kommen, oder käme Ordnung nur zu mir. Lieber, lieber.[40]
Die Briefe sind der Ausdruck seiner momentanen Leidenschaft und Verfassung. Goethe schreibt in seinen Briefen nicht nur über Empfindungen, sondern er macht diese Empfindungen sprachlich fassbar. Die Empfindungen werden vom Briefschreiber beim Schreiben gelebt und vom Leser des Briefes wiederum nacherlebt, was eine besondere Form des Nachempfindens und Mitleidens ermöglicht. Goethe will Behrisch an seinen Empfindungen teilhaben lassen und erwartet sich Trost und Rat. Dabei ist die Distanz zum Kommunikationspartner entscheidend dafür, dass sich der Schreiber im Brief wirklich öffnet und sein Innerstes herauslässt ohne ein Gefühl der Scham, aber auch ohne Unterbrechungen und Zügelungen durch den anderen. Dies wird von Goethe allerdings zum Teil dadurch unterlaufen, dass gesprächshafte Situationen hergestellt werden und er die imaginäre Präsenz des Gesprächspartners immer wieder ins Spiel bringt. Denn dadurch kann er sich selbst zügeln.
Ha Behrisch das ist einer von den Augenblicken! Du bist weg, und das Papier ist nur eine kalte Zuflucht, gegen deine Arme. O Gott, Gott. - Laß mich nur erst wieder zu mir kommen. Behrisch, verflucht sey die Liebe. O sähst du mich, sähst du den elenden, wie er raßt, der nicht weiß gegen wen er raßen soll, du würdest jammern. Freund, Freund! Warum hab ich nur Einen?[41]
Während Behrisch noch in Leipzig ist, sind die Briefe eigentlich überflüssig. Das Geschriebene könnte man auch im mündlichen Gespräch klären. Doch die briefliche Kommunikation ist Goethe wichtig, weil er anscheinend des Niederschreibens bedarf, um seine Gefühle schriftlich festzuhalten und sie dadurch sowohl affektiv wie auch rational zu reflektieren. Als nun Behrisch nicht mehr in Leipzig ist, ersetzt der Briefwechsel die mündlichen Gespräche gänzlich. Der Schreibprozess ist für Goethe eigentlich wichtiger als die Mitteilung seiner Probleme. Das Schreiben ermöglicht ihm eine Auseinandersetzung mit sich selbst und vor allem beruhigt es ihn auch: „ Besser ich lasse hier meine Wuht aus, als daß ich mich mit dem Kopf wider die Wand renne.“[42] Goethe ließt sich die eigenen Briefe auch nach dem Schreiben durch und ist oft überrascht, was er geschrieben hat. Dies ist vor allem der Fall bei Briefen, deren Entstehung sich über mehrere Tage erstreckt, wenn er nahezu tagebuchartig mehrfach aufs Neue zum Schreiben ansetzt. Anscheinend ist das eine Eigentümlichkeit seiner Leipziger Phase. Denn auch in den Briefen an Cornelia kommt es manchmal vor, dass er sich plötzlich verabschiedet und ,sagt’: „Adieu, je m'en vais coucher. Demain nous nous reverrons.“[43]
Im allgemeinen lesen sich Goethes Briefe aus Leipzig gerade aufgrund dieser typischen Merkmale im Briefwechsel mit Cornelia und Behrisch besonders lebhaft und leicht, wie Gellert sagen würde. Sie wirken natürlich und nicht inszeniert oder gestellt. Man hat zum Teil wirklich das Gefühl, als habe sich Goethe spontan zum Schreiben hingesetzt und einfach drauflos geschrieben[44].
[...]
[1] An Cornelia Goethe, Leipzig 12.12.1765
[2] Dichtung und Wahrheit, 2. Teil, 8. Buch
[3] An Riese, Leipzig 20.10.1765
[4] An Cornelia Goethe, Leipzig 27.09.1766
[5] Dichtung und Wahrheit, 2. Teil, 7. Buch
[6] Meist nennt er sie in seinen Briefen Käthgen, aber auch Annette, Nette und andere Variationen kommen vor.
[7] An Moors, Leipzig 01.10.1766
[8] Zur Frage der Verlobung finden sich in der Forschungsliteratur unterschiedliche Standpunkte. Ich beziehe mich auf Goethes eigene Aussage im Brief an Behrisch, gemäß der Käthchen mit ihrem zukünftigen Verlobten in der Komödie ist. vgl. An Behrisch, Leipzig 05. oder 08.10.1766
[9] Appel, 1998, S. 35
[10] ebd., S. 37
[11] An Behrisch, Leipzig 07.11.1767
[12] An Cornelia Goethe, Leipzig 11.05.1767; die „kleine“ Schönkopf ist übrigens drei Jahre älter als er
[13] An Behrisch, Leipzig 26.04.1768
[14] vgl. An Behrisch, Leipzig 05. oder 08.10.1766
[15] Brieftheorie d. 18. Jhdts., 1990, S. 61
[16] ebd., S. 61
[17] Brieftheorie d. 18. Jhdts., 1990, S. 22
[18] ebd., S. 63
[19] ebd., S. 26
[20] ebd., S. 64
[21] ebd., S. 75
[22] Brieftheorie d. 18. Jhdts., 1990, S. 82
[23] ebd., S. 82
[24] ebd., S. 90
[25] ebd., S. 90/91
[26] ebd., S. 85
[27] ebd., S. 92
[28] ebd., S. 57
[29] Dichtung und Wahrheit, 2. Teil, 6. Buch
[30] An Cornelia Goethe, Leipzig 12.12.1765
[31] An Cornelia Goethe, Leipzig 27.09.1766
[32] An Cornelia Goethe, Leipzig 12.10.1765
[33] Anderegg, 2001, S. 52
[34] An Cornelia Goethe, Leipzig 06.12.1765
[35] An Cornelia Goethe, Leipzig 31.10.1765
[36] Anderegg, 2001, S. 52
[37] An Cornelia Goethe, Leipzig 30.03.1766
[38] An Cornelia Goethe, Leipzig 12.10.1765
[39] Neuhaus, 1952, S. 58
[40] An Behrisch, Leipzig 10.11.1767
[41] ebd.
[42] An Behrisch, Leipzig 10.11.1767
[43] An Cornelia Goethe, Leipzig 31.12.1765
[44] Von einigen seiner Briefe sind nur Konzepte erhalten, so daß anzunehmen ist, daß wahrscheinlich den meisten Briefen ein Konzept zugrunde lag. Allerdings gibt es Hinweise darauf, daß einige seiner Briefe an Cornelia und andere Briefempfänger nicht zuerst konzipiert wurden. Denn z.B. erwähnt Goethe, daß sich Cornelia über seine schlechte Handschrift beklage, was darauf hindeuten könnte, daß er kein Konzept abgeschrieben habe (vgl. An Cornelia Goethe, Leipzig 06.12.1765).
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