In seiner "Einführung in den 'Zauberberg' für Studenten der Universität Princeton" von 1939 bezeichnet Thomas Mann den "Zauberberg" als Zeitroman im doppelten Sinn: "einmal historisch, indem er das innere Bild einer Epoche, der europäischen Vorkriegszeit, zu entwerfen versucht, dann aber, weil die reine Zeit selbst sein Gegenstand ist ..."
Hier werden beide Aspekte, der der "Epoche" und der der "reinen Zeit" aufgegriffen und an einigen ausgewählten Beispielen untersucht.
Der "Zauberberg" von Thomas Mann als Zeitroman
In seiner „Einführung in den ‚Zauberberg’ für Studenten der Universität Princeton“ von 1939 bezeichnet Thomas Mann den „Zauberberg“ als „Zeitroman im doppelten Sinn: „einmal historisch, indem er das innere Bild einer Epoche, der europäischen Vorkriegszeit, zu entwerfen versucht, dann aber, weil die reine Zeit selbst sein Gegenstand ist ...“ Hier sollen beide Aspekte, der der „Epoche“ und der der „reinen Zeit“, aufgegriffen und an einigen ausgewählten Beispielen untersucht werden.
1. Der Aspekt „Epoche“
Die Deutung des „Zauberberg“ als Roman einer geschichtlichen Epoche stellt eine häufig anzutreffende Lesart dar. Auf diesen Aspekt nimmt der Autor im Roman selbst wiederholt Bezug: „Der Mensch lebt nicht nur sein persönliches Leben als Einzelwesen, sondern, bewusst oder unbewusst, auch das seiner Epoche oder Zeitgenossenschaft“, „die allgemeinen und unpersönlichen Grundlagen seiner Existenz“ betreffend (Z B Seite 47). Man kann das von Krankheit und Lebensüberdruss geprägte Leben der internationalen Sanatoriumsgesellschaft als Spiegelbild der geistig-seelischen Verfassung der europäischen Vorkriegsgesellschaft betrachten, vor allem der von materiellen Sorgen befreiten, wohlhabenden bürgerlichen Oberschicht. Dabei geht es im Wesentlichen um zwei Arten von Leiden: solche mit und solche ohne organischen Befund. Die chronisch verlaufende Lungentuberkulose, besonders in der Form der Phtise (volkstümlich Schwindsucht genannt), wurde unter vielen gutsituierten Bürgern zu einer Krankheit der Zeit. Die Neurasthenie (volkstümlich Nervenschwäche), eine Krankheit ohne eigentlichen organischen Befund mit den Symptomen der Reizbarkeit, Nervosität, Überempfindlichkeit der Sinnesorgane, allgemeine Erschöpfung, Unfähigkeit der Entspannung sowie diffusen Beschwerden wie Herzklopfen, Herzschmerzen, weiche Knie, Schwindel, Hitzewallungen, Kopfschmerzen, erhöhte Temperatur usw., finden wir in ausgeprägter Form bei den Protagonisten Hans und Clawdia, aber auch bei einer größeren Zahl von Nebenfiguren, im Roman beschrieben. Neurasthenische Erschöpfungszustände können als ‚Modekrankheit’ der Jahrhundertwende angesehen werden und haben offenbar, in der einen oder anderen Form, auch Thomas Mann selbst nicht verschont. Auf diesem Hintergrund hat der Autor gegen Ende des Romans zwei Abschnitte des siebten Kapitels „Der große Stumpfsinn“ und „Die große Gereiztheit“ genannt, die in diesem Zusammenhang als Schlüsseltexte angesehen werden können. Die „Hysterie“ (ZB Seite 896), die offensichtlich ebenfalls die Gemüter zartbesaiteter Bürger um die Jahrhundertwende intensiv beschäftigte, verweist Thomas Mann jedoch in den Abschnitt „Fragwürdigstes". Der um 1900 noch weit verbreiteten Auffassung, von diesem Zustand psychischer Überspanntheit, die der antiken Lehre nach auf krankhafte Vorgänge in der Gebärmutter (gr. „hystéra“) zurückging, seien nur Frauen betroffen, begegnet der Autor mit ironisierender Skepsis.
Das Phänomen des Angekränkeltsein, des Sich-Elend-Fühlen und Leiden ohne eigentlichen Befund und ohne Bestimmung von eindeutigen ursächlichen Zusammenhängen, fand seinen Ausdruck in einer Entwicklungsrichtung der europäischen Literatur, die unter „Dekadenz“ oder „Fin de Siècle“ bekannt geworden ist. Sie entstand aus dem Streben nach einer überfeinerter Kultur als Zeichen einer späten Stufe kulturellen Verfalls und betonte die Welt des Sinnlich-Schönen und des von moralischen Wertmaßstäben befreiten künstlerischen Schaffens gegenüber einer Welt festgefügter bürgerlicher Moral- und Wertvorstellungen sowie eine ins Morbide übersteigerte ästhetische Feinfühligkeit und Sensibilität. In einem Brief an seinen Bruder Heinrich (vom 8. November 1913) spricht Thomas Mann von seiner „wachsende(n) Sympathie mit dem Tode“ und davon, dass sein „ganzes Interesse immer dem Verfall“ galt. Bei ihm ist der Begriff der Dekadenz mit den Begriffen Krankheit, Tod, Romantik und Musik assoziiert. Die Musik, insbesondere die Musik Richard Wagners, der im „Zauberberg“ indirekt als „Seelenzauberkünstler“ (ZB Seite 895) erwähnt wird, ist im Roman ein Leitmotiv, das auf den Tod verweist.[1] In Settembrinis Augen ist Musik daher „politisch verdächtig“. Sie ist wie ein „Opiat“, das „betäubt“ und „einschläfert“ und „der Aktivität und dem Fortschritt entgegenarbeitet“ (ZB Seite 158). Thomas Mann verknüpft die rückwärtsgewandte und unpolitische Innerlichkeit der deutschen Musik - versinnbildlicht durch Schuberts Lindenbaumlied[2] - mit deutschem Überlegenheitsgefühl in Sachen Kultur, insbesondere bezüglich deutscher Musik, sowie dem politischen Hegemoniestreben Deutschlands in der Vorkriegszeit und betont damit die Bedeutung dieser spezifisch deutschen Mentalität für die Entstehung des Krieges. Diesen Gedanken entwickelt er als Erzähler in der Weise, dass er sie seinem Protagonisten am Ende des Abschnitts „Fülle des Wohllauts“ in einer Art inneren Monolog in den Mund legt: „Man brauchte nicht mehr Genie, nur viel mehr Talent als der Autor des Lindenbaumliedes, um als Seelenzauberkünstler dem Liede Riesenmaße zu geben und die Welt damit zu unterwerfen. Man mochte wahrscheinlich sogar Reiche darauf gründen, irdisch-allzu-irdische Reiche, sehr derb und fortschrittsfroh und eigentlich gar nicht heimwehkrank ...“ (ZB Seite 895).
Ich fasse zusammen: Wenn man den „Zauberberg“ als einen „Zeitroman“ liest, der das Bild einer historischen Epoche zeichnet, so spiegelt sich in der Sanatoriumsgesellschaft die Gemütslage bzw. die geistig-seelische Verfassung einer europäischen Vorkriegsgesellschaft wider, die durch Hypochondrie und Dekadenz gekennzeichnet ist, verknüpft mit der Dimension einer Zeit politischer Krisen. Dazu gesellt sich die spezifisch deutsche Mentalität einer rückwärtsgewandten Innerlichkeit, die mit einer elitären Vorstellung vom „deutschen Wesen“ und politischem Machtstreben assoziiert wird. Nach dieser Lesart stehen die Protagonisten exemplarisch für weltanschauliche und politische Positionen. Konkrete Anspielungen auf zeitgeschichtliche Bezüge und auf zeitaktuelle weltpolitische Ereignisse finden sich vor allem in den Abschnitten „Der große Stumpfsinn“ und „Die große Gereiztheit“, die die Gemütslage einer aus den Fugen geratener und sich in Auflösung befindenden Gesellschaft wiedergeben. In diesem Sinne kann man auch den Hinweis des Autors im „Vorsatz“ verstehen, dass die Geschichte nicht um Hans Castorps willen, sondern „um der Geschichte willen“ (ZB Seite 7) erzählt wird, wenn diese Formulierung auch dahingehend modifiziert wird, dass es letztlich doch seine Geschichte war (ZB, Seite 980).
[...]
[1] Vg l. hierzu den Abschnitt „Fülle des Wohllauts“, wo das Grammophon, mit dem Hans Castorp der Sanatoriumsgesellschaft Musikschallplatten vorspielt, als „Schrein“, „mattschwarze Truhe“ und „Musiksarg“ bezeichnet wird.
[2] Thomas Mann besaß eine Schallplatte mit einer von Richard Tauber gesungenen Version des Schubertschen Lindenbaumliedes. In einem Brief an Agnes Meyer vom 12. Jan. 1943 beschreibt er dieses Lied als "Symbol alles Liebenswert-Verführerischen, worin der heimliche Kern der Verderbnis lauert". Hierzu passt auch die folgende Passage aus dem ZB, Seite 894: "Hans Castorps holdes Heimwehlied ... war eine Frucht, die frisch und prangend gesund diesen Augenblick oder eben noch, ... vom nächsten unrechten Augenblicke an Fäulnis und Verderben in der genießenden Menschheit verbreitete. Es war eine Lebensfrucht, vom Tode gezeugt und todesträchtig." Der Autor verwendet hier das Bild einer Schwangerschaft, die bereits von Anfang an den Todeskeim in sich trägt, wo der Tod also nicht am Ende eines längeren Verfallsprozesses steht, sondern der von ihm gezeugten "Lebensfrucht" schon im Akt der Zeugung den Stempel des Verfalls aufdrückt.
- Arbeit zitieren
- Hans-Georg Wendland (Autor:in), 2010, Der "Zauberberg" von Thomas Mann als Zeitroman, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/164970
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