„Es ist beim Sammeln das Entscheidende, daß der Gegenstand aus allen ursprünglichen Funktionen gelöst
wird um in die denkbar engste Beziehung zu seinesgleichen zu treten. Diese ist der diametrale Gegensatz
zum Nutzen und steht unter der merkwürdigen Kategorie der Vollständigkeit. Was soll diese
‚Vollständigkeit’ (?) Sie ist ein großartiger Versuch, das völlig Irrationale seines bloßen Vorhandenseins
durch Einordnung in ein neues eigens geschaffenes historisches System, die Sammlung, zu überwinden.
Und für den wahren Sammler wird in diesem Systeme jedwedes einzelne Ding zu einer Enzyklopädie aller
Wissenschaft von dem Zeitalter, der Landschaft, der Industrie, dem Besitzer von dem es herstammt.“1
Der französische Schriftsteller Gustave Flaubert (1821-1880) war ein Mensch, der sich
zeit seines Lebens mit dem Sammeln beschäftigt hat – und zwar mit dem Sammeln von
‚ausgesprochenen Dummheiten‘.
„ [...]da eine Dame zu Papa kommt, die uns immer Dummheiten erzählt, werde ich sie aufschreiben.“ ,
schreibt Flaubert mit neun Jahren.2
„Einstweilen ist mir ein alter Gedanke wieder in den Kopf gekommen, nämlich der meines Dictionnaire
des idées reçues [...] Diese Apologie der menschlichen Gemeinheit in all ihren Zügen, ironisch und
schreiend von Anfang bis Ende, voll von Zitaten und Beweisen (die das Gegenteil beweisen würden)
und erschreckenden Texten (das wäre nicht schwierig), hätte, so würde ich sagen, zum Ziel, ein für
allemal mit den Exzentritäten, welcher Art sie auch sein mögen, Schluß zu machen. [...] Man würde also
darin in alphabetischer Reihenfolge über alle möglichen Gegenstände alles finden, was man in
Gesellschaft sagen muß, um ein anständiger Mensch zu sein..“3
Die Einträge aus dem genannten Dictionnaire des idées reçues finden sich in allen Werken
Flauberts wieder, in Bouvard und Pécuchet aber nehmen sie den meisten, wenn nicht gar allen
Raum ein und machen so das Buch zu einer „Anti-Enzyklopädie“.4 Beschrieben werden zwei
Männer, die sich auf das Land zurückziehen und sich nacheinander durch sämtliche
Wissensgebiete arbeiten, ohne dabei jedoch eine Methode oder eine kritische Distanz zu
entwickeln. [...]
1 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften V.I. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt: 41996, S. 271.
2 Gustav Flaubert: Briefe. Zürich: Diogenes 1977, S. 7.
3 ebd., S. 223 f.
4 Frank Leinen: Flaubert und der Gemeinplatz. Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 1990, S. 244.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Die Verwandlung der Dinge
- Abfall, Körper und Dinge
- Gesammelte Dinge und Semiophoren
- Ausgestellte Semiophoren - Das Museum
- Gesammeltes Wissen - Die Enzyklopädie
- Bouvard und Pécuchet
- Die Sammlung
- Das Museum von Chavignolles
- Die Anti-Enzyklopädie
- Schluß
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit befasst sich mit dem Phänomen des Sammelns im Werk Flauberts, insbesondere in seinem Roman "Bouvard und Pécuchet". Der Fokus liegt dabei auf der Paradoxe des Sammelns, der Verwandlung von Gegenständen in Semiophoren und der Kritik an der bürgerlichen Kultur, die sich in der Sammelleidenschaft manifestiert. Die Arbeit analysiert, wie Flaubert die Tätigkeit des Sammlers und die Institution des Museums parodiert und somit auch die Grenzen des menschlichen Wissens und Strebens hinterfragt.
- Die Verwandlung von Gegenständen in Semiophoren
- Die Paradoxe des Sammelns
- Das Museum als Institution der bürgerlichen Kultur
- Kritik an der Enzyklopädie als umfassendes Wissenssystem
- Die Beziehung zwischen dem Sammeln von materiellen Gegenständen und dem Sammeln von Wissen
Zusammenfassung der Kapitel
Einleitung
Die Einleitung führt in die Thematik des Sammelns als Phänomen ein, das in Flauberts Leben und Werk eine zentrale Rolle spielt. Es wird auf Flauberts eigene Sammelleidenschaft und seine Beschäftigung mit dem Dictionnaire des idées reçues hingewiesen, das als Ausgangspunkt für die Analyse von "Bouvard und Pécuchet" dient.
Die Verwandlung der Dinge
Dieses Kapitel analysiert den Prozess der Verwandlung von Gegenständen, ausgehend von ihrer Funktion als Abfall oder Gebrauchsgegenstand bis hin zu ihrer Transformation zu wertvollen Sammelobjekten. Es wird die Unterscheidung zwischen Körper, Artefakten und Semiophoren erläutert und die Bedeutung des Sammelns für die Bedeutungskonstitution von Gegenständen hervorgehoben.
Bouvard und Pécuchet
Dieses Kapitel konzentriert sich auf die beiden Protagonisten des Romans, Bouvard und Pécuchet, und ihre Sammelleidenschaft. Es wird die Entwicklung ihres Museums in Chavignolles und ihre Auseinandersetzung mit verschiedenen Wissensgebieten beschrieben, wobei ihr unkritisches und oberflächliches Sammeln im Vordergrund steht. Die Arbeit untersucht, wie Flaubert durch die Darstellung der beiden Protagonisten die Absurdität und die Grenzen des menschlichen Wissens und Strebens aufzeigt.
Schlüsselwörter
Die Arbeit beschäftigt sich mit folgenden Schlüsselbegriffen: Sammeln, Semiophoren, Museum, Enzyklopädie, Anti-Enzyklopädie, bürgerliche Kultur, Gustave Flaubert, Bouvard und Pécuchet, Parodisierung, Kritik am Wissen, Wissenschaftskritik, Materialität, Bedeutungskonstitution.
- Quote paper
- Mirjam Krapoth (Author), 2003, Gesammelte Dummheiten - Über Flauberts Bouvard und Pécuchet, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/16442