Über Douglas Sirk kann man kaum noch etwas schreiben, was nicht
schon einmal von jemand anderem zu Papier gebracht wurde. Seine
Filme sind ein idealer Nährboden für Interpretationen, wenn man genau
zu beobachten weiß. Denn Sirk überließ bei der Inszenierung seiner Filme
nichts dem Zufall, sondern setzte die ihm zur Verfügung stehenden Mittel
der Bildgestaltung zielgerichtet ein: „Perspektiven sind die Gedanken des
Regisseurs. Das Licht ist seine Philosophie. Ich kann so weit gehen und
sagen: Lange vor Wittgenstein lernten ich und meine Zeitgenossen, der
Sprache als präzisem Medium und Interpreten von Wirklichkeit zu
misstrauen. Ich lernte also, mehr meinen Augen zu vertrauen als der
Windigkeit der Worte.“1 Man muss bei Sirks Filmen also ganz genau
hinsehen.
Genauer betrachten möchte ich in dieser Arbeit Sirks Melodrama von
1955 ALL THAT HEAVEN ALLOWS. Ausgangs- oder Anhaltspunkte für die
Überlegungen in den einzelnen Kapiteln dieser Arbeit sind in den meisten
Fällen Aussagen des Regisseurs selbst, entnommen dem Interviewband
Douglas Sirk. Imitation of Life (im Original: Sirk on Sirk) von Jon Halliday.2
Als Leitfaden für den Aufbau dieser Arbeit dient allerdings folgende
Ausführung Georg Seeßlens:
„Die bildhafte, „architektonische“ Struktur vieler Sirk-Filme,
Komödien und Melodramen gleichermaßen, ist die Darstellung
einer dreigliedrigen Unterdrückung:
[1.] Die Sehnsucht nach Liebe wird unterdrückt von der Familie
(deren Repräsentanten zumeist militant konformistische Kinder
sind, die, was die Eltern als Leidens- und Anpassungsdruck
erfahren, schon völlig verinnerlicht haben);
[2.] die Familie ihrerseits ist gefangen im Haus, einer
Architektur, die vollständig auf die Festigung des
Zusammenhalts und auf die Anpassung ausgerichtet scheint
([...] das Haus verlassen zu wollen, wie in All That Heaven
Allows, gehört denn auch zu den größten Sakrilegien der Frau,
[...]); [...]
1 Halliday (1997), S. 59.
2 Halliday (1997
Inhalt
1. Einleitung
2. Sehnsucht nach Liebe: Das ungleiche Paar
2.1 Cary
2.2 Ron
3. Unterdrückung der Liebe: Gesellschaft, Haus und Familie
3.1 Die amerikanische Kleinstadt
3.2 Häuser und Austattung
3.2.1 Häuser
3.2.2 Austattung
3.3 Die Kinder
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Über Douglas Sirk kann man kaum noch etwas schreiben, was nicht schon einmal von jemand anderem zu Papier gebracht wurde. Seine Filme sind ein idealer Nährboden für Interpretationen, wenn man genau zu beobachten weiß. Denn Sirk überließ bei der Inszenierung seiner Filme nichts dem Zufall, sondern setzte die ihm zur Verfügung stehenden Mittel der Bildgestaltung zielgerichtet ein: „Perspektiven sind die Gedanken des Regisseurs. Das Licht ist seine Philosophie. Ich kann so weit gehen und sagen: Lange vor Wittgenstein lernten ich und meine Zeitgenossen, der Sprache als präzisem Medium und Interpreten von Wirklichkeit zu misstrauen. Ich lernte also, mehr meinen Augen zu vertrauen als der Windigkeit der Worte.“[1] Man muss bei Sirks Filmen also ganz genau hinsehen.
Genauer betrachten möchte ich in dieser Arbeit Sirks Melodrama von 1955 All That Heaven Allows. Ausgangs- oder Anhaltspunkte für die Überlegungen in den einzelnen Kapiteln dieser Arbeit sind in den meisten Fällen Aussagen des Regisseurs selbst, entnommen dem Interviewband Douglas Sirk. Imitation of Life (im Original: Sirk on Sirk) von Jon Halliday.[2] Als Leitfaden für den Aufbau dieser Arbeit dient allerdings folgende Ausführung Georg Seeßlens:
„Die bildhafte, „architektonische“ Struktur vieler Sirk-Filme, Komödien und Melodramen gleichermaßen, ist die Darstellung einer dreigliedrigen Unterdrückung:
[1.] Die Sehnsucht nach Liebe wird unterdrückt von der Familie (deren Repräsentanten zumeist militant konformistische Kinder sind, die, was die Eltern als Leidens- und Anpassungsdruck erfahren, schon völlig verinnerlicht haben);
[2.] die Familie ihrerseits ist gefangen im Haus, einer Architektur, die vollständig auf die Festigung des Zusammenhalts und auf die Anpassung ausgerichtet scheint ([...] das Haus verlassen zu wollen, wie in All That Heaven Allows, gehört denn auch zu den größten Sakrilegien der Frau, [...]);
[3.] das Haus ist Teil der Kleinstadt, einer perfekten Mikro-Gesellschaft, die niemanden herein- und niemanden herauslassen will außer durch Geburt oder Tod und die häufig durch moralische Instanzen (die „Klatschbasen“, die Freundin der Heldin in All That Heaven Allows) oder vertikale Organisationen (der Club in demselben Film) repräsentiert wird.
Umgekehrt konstituiert die Familie das Haus, das Haus die Stadt, die Stadt die Gesellschaft.“[3]
Dieser Dreigliederung folgend[4] möchte ich untersuchen, wie Sirk zwei Lebensentwürfe gegenüberstellt: In All That Heaven Allows wird „der real existierenden amerikanischen Gesellschaft“ ein Lebensmodell entgegengesetzt, das sich an Henry David Thoreaus Schriften – allen voran Walden – orientiert.[5] Auf der einen Seite steht also das Leben in der oberen Mittelschicht einer amerikanischen Kleinstadt in den 50er Jahren. Was Thoreau in Walden beschreibt, ist ein Leben in Naturverbundenheit und weitest gehender Autarkie, bei dem der Mensch allein seinem freien Willen gehorcht, aber gleichzeitig tolerant gegenüber seinen Mitmenschen ist.[6] Die beiden Lebensmodelle prallen im Film durch die Liaison der Hauptcharaktere, Cary (Jane Wyman) und Ron (Rock Hudson), aufeinander.
2. Sehnsucht nach Liebe: Das ungleiche Paar
Cary und Ron verlieben sich ineinander. Das wird zum Problem, denn: Es sind die 50 Jahre; die beiden leben in der amerikanischen Kleinstadt Stoningham; Cary ist eine wohlhabende Witwe, Ron einfacher Gärtner und Baumschuleninhaber; Cary ist deutlich älter als Ron. Dass die Beziehung zum Scheitern verurteilt ist, liegt zunächst einmal an Carys Charakter. All That Heaven Allows „enthält die klare Antithese zwischen der einen schwankenden Gestalt (Jane Wyman) und einer sehr stabilen und direkten (Rock Hudson).“[7] Cary gewinnt durch Rons Einfluss im Laufe des Films ein wenig an Sicherheit. So traut der Zuschauer ihr für einen Moment lang zu, sich gegen alle Anfeindungen aus ihrer Umgebung offen zu Ron zu bekennen. Doch die Kleinstadtgesellschaft der 50er Jahren ist ein hartes Pflaster für Leute, die sich außerhalb der vorgegebenen Bahnen bewegen wollen. Letztendlich sind es Carys eigene Kinder, die sie dazu bewegen, die Verbindung zu dem ganz und gar nicht standesgemäßen Mann abzubrechen. Die Kinder finden nicht nur das Verhalten ihrer Mutter skandalös, sondern sehen dadurch auch ihre eigene gesellschaftliche Position gefährdet. Ganz Klischee-Mutter stellt Cary also das vermeintliche Glück ihrer Kinder über ihr eigenes und beugt sich deren Willen. Die „real existierende amerikanische Gesellschaft“ in Gestalt der Kinder bezwingt letztendlich den aufkeimenden Individualismus und ist damit stärker als die Sehnsucht nach Liebe.
Dass Ron stark ist, heißt nicht, dass die ganze Geschichte ihn völlig unberührt lässt. Wie Cary macht auch er im Laufe der Handlung eine Veränderung durch. Im Unterschied zu ihr, die gegen die Konventionen aufbegehrt, passt er sich zumindest ein Stück weit an die Vorgaben des kleinstädtischen Familienbildes an. Charakterfest wirkt er vor allem deshalb, weil er sich schon vor langer Zeit entschieden hat, keinen Pfifferling auf das Gerede anderer Leute zu geben. Seine Entscheidungen trifft er nur aus seiner eigenen Überzeugung heraus und versucht auch Cary von der Haltung zu überzeugen, die Thoreau so ausdrückt: „Public opinion is a weak tyrant compared with our own private opinion. What a man thinks of himself, that is which determines, or rather indicates, his fate.”[8]
2.1 Cary
Die Charakterisierung schwankend vs. stabil/direkt erfährt der Zuschauer bereits in der ersten Szene. Schon gegenüber ihrer Freundin Sara erscheint Cary unsicher und lässt sich von ihr im Befehlston dazu „überreden“, abends im Club zu erscheinen. Als Cary am Ende dieser Unterhaltung einen schweren Karton mit Geschirr, den Sara ihr gebracht hat, ins Haus schleppt, bietet sofort der starke Ron seine Hilfe an. Er ist in diesem Moment nicht nur Träger einer Last, sondern noch dazu „Lückenfüller“ für einen ansonsten einsamen Nachmittagskaffee. Als Cary mit ihm am Tisch sitzt, scheint sie zum ersten Mal wirklich wahrzunehmen, dass dieser Gärtner, den sie offenbar schon seit mehreren Jahren beschäftigt, ein attraktiver Bursche ist. Mit großen Rehaugen blickt sie ihn an, bekundet durch eifrige Fragen Interesse an seinem Beruf und wirkt insgesamt eher unsicher. In seiner selbstbewussten Art erzählt Ron von seinem „schönen Leben“ als Gärtner und Baumschuleninhaber und zeigt auch, dass sie ihm bereits zuvor aufgefallen ist. Untermalt wird der Dialog von einem zart säuselnden Chor. Damit auch noch der letzte Zuschauer versteht, was zwischen Cary und Ron los ist, erklärt er ihr am Ende der Szene den Goldregenbaum in ihrem Garten: Der gedeiht nämlich nur dort, wo Liebe ist, sagt Ron und überreicht Cary einen Zweig. Leicht überrascht scheint sie zu sein, schlägt artig den Blick nieder, um ihm dann verträumt lächelnd nachzuschauen, als er wieder an seine Arbeit geht.
Dieser Mann fackelt offenbar nicht lange, sondern zeigt, was er will – ohne dabei aufdringlich zu sein. Cary hingegen kann sich noch nicht einmal gegen ihre Freundin zur Wehr setzen. Augenscheinlich ist die Witwe es gewöhnt, ihre eigenen Bedürfnisse hintan zu stellen, um sich den wohlmeinenden Ratschlägen oder Forderungen anderer zu beugen. Im Laufe des Films wird ihr dieser Zug in ihrem Kampf um Eigenständigkeit und Selbstbestimmung zum Verhängnis. Cary ist so, wie Sirk seine Filmcharaktere folgendermaßen beschreibt:
„Die Figur, die mich immer interessiert hat, im Theater wie im Film, und die ich auch im Melodram bewahren wollte, ist der zweifelnde, der mehrdeutige Charakter. Unbeständigkeit und Unbestimmtheit menschlicher Zielsetzungen sind zentral für viele meiner Filme, wie immer diese Charakterzüge auch verborgen sein mögen. Ich interessiere mich für Zirkularität, für den Kreis - für Menschen, die an den Ort zurückkehren, von dem sie ausgegangen sind. Sie werden deshalb in vielen meiner Filme finden, was ich tragische Rondos nenne, Menschen, die im Kreis gehen.“[9]
Offenbar aufgeblüht und ermutigt durch Rons Interesse an ihr, vollzieht Cary bereits in der zweiten Szene eine erste zarte Wandlung, als sie sich für Saras Clubabend fein macht. Nachdem sie zu Beginn in langweiliges, graues Strick gehüllt war, zieht sie nun ein rotes, tief dekolletiertes Kleid an. Und erregt mit ihrem Aufzug überall Aufsehen. Zunächst in der eigenen Familie, denn selbst ihren Kindern gegenüber hat sie keine Autorität, sondern lässt sich durch deren Bemerkungen verunsichern: Die Tochter hält naseweis Vorträge über ägyptische Witwen, die mit ihren Männern zusammen begraben wurden und belehrt die Mutter, dass ja ab einem gewissen Alter der Sexualtrieb zu schweigen habe. Dann rügt der Sohn den angeblich zu weiten Ausschnitt, der dem alten Harvey Angst einjagen werde. Dieser zeigt sich jedoch eher angetan und macht Cary am Ende des Abends sogar einen Heiratsantrag. Davor darf jedoch noch die versammelte Kleinstadtgesellschaft beim Clubabend ihr Urteil über die „lustige Witwe“ fällen, die sich wie ferngesteuert durch den Abend bewegt.
Weder war es ihr Wunsch, an der Veranstaltung im Club überhaupt teilzunehmen, noch hat sie sich selbst für den impotenten Harvey als Begleiter entschieden. Der ausgetauschte Tratsch ist ihr zuwider. Und am allerwenigsten wollte sie von dem verheirateten Lustmolch Howard genötigt werden, der die Farbe des Kleides offenbar als ein Signal zum offensiven Baggern missverstand. Der Spießrutenlauf endet auch nicht nach Verlassen des Clubs: Vor der Haustür macht Harvey ihr besagten Heiratsantrag, über den sie augenscheinlich alles andere als entzückt ist. Allein in ihrem Schlafzimmer betrachtet sie sehnsüchtig den Goldregen-Zweig von Ron: Von den drei offenkundig interessierten Männer verspricht einzig eine Beziehung mit ihm sowohl eine vertrauensvolle Partnerschaft als auch sexuelle Befriedigung.[10]
[...]
[1] Halliday (1997), S. 59.
[2] Halliday (1997).
[3] Seeßlen (1980), S. 128 f.
[4] allerdings in umgekehrter Reihenfolge
[5] vgl. Halliday (1997), S. 142.
[6] vgl. Thoreau (1854), S. 1768 ff; S. 1814 ff; S. 1836 ff; S. 1938.
[7] Halliday (1997), S: 140.
[8] Thoreau (1854), S. 1771.
[9] Halliday (1997), S. 66 f.
[10] vgl. Mulvey (1977), S. 78.
- Arbeit zitieren
- Diana von Webel (Autor:in), 2003, Douglas Sirk: ALL THAT HEAVEN ALLOWS. Eine Betrachtung., München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/16409
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