Ein Überblick über den Begriff "Zeit" in der Erzähltextanalyse, versehen mit einigen Beispielen.
Gliederung
1. Geschichte vs. Fabel
2. Die Ordnung narrativer Aussagen
2.1 Anfang und Ende
2.2.Anordnung narrativer Aussagen
2.2.1 Besondere Formen des anachronischen Erzählens
3. Die Geschwindigkeit
4. Die Häufigkeit
5. Literaturverzeichnis
6. Anmerkungen
1. Geschichte vs. Fabel
Bei der Analyse der Zeitstruktur narrativer Texte sind generell zwei unterschiedliche Dimensionen zu berücksichtigen[i]: Zum einen lassen sich die Ereignisse eines Romans auf einer natürlichen Zeitachse der Sukzessivität anordnen, sie geschehen in einer bestimmten chronologischen Reihenfolge, entweder nacheinander (sukzessiv) oder gleichzeitig (simultan). Davon abzugrenzen ist die Anordnung, die der Autor gewählt hat und die sich auf einer narrativen Achse auftragen läßt; hier ist die Ordnung normalerweise sukzessiv, Simultaneität läßt nur schwer darstellen. Um diesen beiden Dimensionen gerecht zu werden, ist eine Unterscheidung zwischen Geschichte (histoire), dem Handlungsschema entsprechend der chronologischen Ordnung im Handlungsablauf, und Fabel (discours), dem Handlungsablauf im Vorgang des Erzählens, zweckmäßig; die Fabel kann sich nun mit der Geschichte decken oder von ihr abweichen, indem sie die chronologische Ordnung durch Rückwendungen oder andere Formen der Verknüpfung (thematisch, kausal usw.) durchbricht; aus ihr lässt sich die Geschichte rekonstruieren.
2. Die Ordnung narrativer Aussagen
2.1 Anfang und Ende
Allen Erzählungen ist gemeinsam, daß sie einen Anfang und ein Ende besitzen; dazwischen kann der Autor die Ereignisse in einer beliebigen Reihenfolge anordnen. Bei Anfängen lassen sich schematisch folgende Fälle unterscheiden[ii]:
Beginn ab ovo: Die Erzählung erfolgt von Anfang an, schrittweise wird die Geschichte entfaltet. Ein typisches Beispiel ist der Märchenanfang: „Es war einmal ...“.
Beim Beginn in medias res wird ein Zeitpunkt mitten im Geschehen als Ausgangspunkt gewählt:
‚Weißt du, Grete, wir haben ein Nest in unserem Garten, und ganz niedrig, und zwei Junge drin.‘ ‚Das wäre! Wo denn? Ist es ein Fink oder eine Nachtigall?’ ‚Ich sag es nicht. Du mußt es raten.‘ Diese Worte waren an einem überwachsenen Zaun [...] gesprochen worden.[iii]
Gleichzeitig hat Fontane hier eine szenische Darstellung gewählt; bei der vorliegenden Erzählform spricht man von zeitdeckendem (isochronischem) Erzählen.
Möglich ist außerdem ein Beginn in ultimas res: Der Autor beginnt seine Erzählung mit dem Ende einer Geschichte, was klassischerweise in einem Detektivroman oder einem Krimi der Fall ist; die Entwicklung hin zu diesem Ende wird im Verlauf der Geschichte schrittweise dargestellt. Als Beispiel für diese Art des Beginns kann „Crónica de una muerte anunciada“ (1981) von García Márquez dienen: Bereits nach wenigen Seiten stirbt der Held, was angesichts des Titels nicht völlig unerwartet kommt. Der Rest von „Crónica de una muerte anunciada“ beschäftigt sich nun mit den Voraussetzungen und Umständen seines Todes und beleuchtet diesen aus zahlreichen Perspektiven, weshalb es sich bei „Crónica de una muerte anunicada“ um eine analytische Erzählung handelt.
Durch ein Vorwort kann eine Hinführung auf die Geschichte geleistet werden; in Form einer Widmung, einer Einführung oder einer einer Rahmenerzählung wird eine ausdrückliche Einführung geboten.
Ebenso lassen sich bei den Schlüssen narrativer Texte mehrere Fälle unterscheiden[iv]:
Die Literaturtheorie kennt zunächst ein geschlossenes Ende mit bestimmten Schlußsituationen wie Tod oder „happy ending“. In Steinbecks „Of Mice and Men“ verdingen sich zwei Männer in den 1930er Jahren als Landarbeiter, der Roman endet mit dem Tod eines der beiden Protagonisten.
Je nach Erwartungshaltung lässt sich unterscheiden zwischen einem erwarteten Ende und einem überraschenden Ende. Beim erwarteten Ende wird den Lesererwartungen entsprochen, indem sich die Spannung auflöst, ein Gefühl der Stabilität suggeriert wird.
Dem gegenüber steht ein überraschendes Ende: Den Lesererwartungen wird nicht entsprochen, die Geschichte bricht an einer bestimmten Stelle ohne erkennbares Ende ab, oder es ergeben sich unvorhersehbare schicksalhafte Wendungen.
Möglich ist schließlich ein offenes Ende: Damit einhergehen können z.B. Rätselhaftigkeit, ungelöste Konflikte oder eine Zirkelstruktur des betreffenden Werkes. Nehmen wir als Beispiel das Ende von Sartres „Huis clos“:
INÈS
Et nous sommes ensemble pour toujours. Elle rit.
ESTELLE, éclatant de rire.
Pour toujours, mon Dieu que c‘est drôle! Pour toujours!
GARCIN, en les regardant toutes deux.
Pour toujours!
Eh bien, continuons.
RIDEAU[v]
[...]
[i] vgl. Martinez/Scheffel (2002), S. 25f.
[ii] vgl. Martinez/Scheffel (2002), S. 32ff.
[iii] Fontane, Theodor: Grete Minde. München 1962. S. 7. Zitiert nach Martinez/Scheffel (2002), S. 40
[iv] vgl. Martinez/Scheffel (2002)
[v] Sartre, Jean-Paul: Huis clos, Paris 1947, S. 67
- Quote paper
- Mark Möst (Author), 2002, Die Zeit als Begriff der Erzähltextanalyse, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/164036
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