Die Arbeit befasst sich mit der Karriere des amerikanischen Sängers Al Jarreau. Als Jazzsänger in den 70er Jahren gestartet wandte er sich in den 80ern und Anfang der 90er Jahre mehr und mehr der Popmusik zu. Diese Wandlung wird durch beispielhafte Analysen in den Bereichen Improvisation, Harmonik und Liedtexte beschrieben. Eingeleitet wird die Arbeit durch einen Blick auf die Biographie und die Musikalität Al Jarreaus, eine Einteilung seiner bis in die 90er Jahre veröffentlichten Alben und einen kritischen Blick auf die Mechanismen des Musikgeschäfts. Eine kommentierte Diskographie rundet das Werk ab.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
A Jazz - Popmusik Zur Problematik der Begriffsbestimmung
B Al Jarreau - Zur Person
1. Biographie
2. Musikalische Einflüsse
3. Die Stimme
4. Musikalität
C Stationen des Wandels
1. Die Schallplatten
2. Kommerzielle Zwänge
3. Analysen
3.1 Improvisation
3.1.1 So Long Girl
3.1.1.1 Formaler Aufbau
3.1.1.2 Rhythmische und melodische Gestaltung
3.1.1.3 Allgemeine Merkmale
3.1.2 Susan's Song
3.1.2.1 Improvisation über vamps
3.1.2.2 Formaler Aufbau
3.1.2.3 Innere Entwicklung
3.1.2.4 Tonmaterial und Art des Singens
3.1.2.5 Text
3.1.2.5 Text
3.1.3 Take Five
3.1.3.1 Entstehung des Stückes aus der Improvisation
3.1.3.2 Rhythmische Gestaltung
3.1.4 Love is Real
3.1.4.1 Aufbau des Solos
3.1.4.2 Allgemeine Merkmale
3.1.5 Boogie Down
3.1.5.1 Aufbau des Solos
3.1.5.2 Sonstige Merkmale
3.2 Harmonik
3.2.1 Harmonik der frühen LPs
3.2.1.1 Wechsel zwischen zwei Akkorden, Blueseinflüsse
3.2.1.2 Kadenzielle Verläufe
3.2.1.3 Plagale Wendungen
3.2.1.4 Diatonische Akkordfortschreitungen
3.2.1.5 Verwendung von vamps
3.2.2 Harmonik der späten LPs
3.2.2.1 Tonartliche Ausweichungen, Modulationen
3.2.2.2 Tonartfremde Akkordfortschreitungen und Rückungen
3.2.2.3 Der Akkord C9sus oder Bb/C
3.3 Texte
3.3.1 Inhalte
3.3.2 Sprache
4. Zusammenfassung
D Anhang
1. Liedtexte
2. Diskographie
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Personenregister
Verzeichnis der im Text erwähnten Titel Al Jarreaus
Einleitung
Als Al Jarreau vor gut fünfzehn Jahren mit seiner sensationellen Europatournee seine Karriere begann, waren vor allem die Jazzfans begeistert. Zu mitreißend war es gewesen, was der damals siebenunddreißigjährige schwarze Sänger auf der Bühne veranstaltet hatte. Seine Technik, die Stimme in immer neuen Klangfarben zu präsentieren, perkussive Effekte, Improvisationen mit Text- oder scat-Silben und die außergewöhnliche Ausstrahlung; das alles begeisterte Kritiker wie Publikum.
Heute ist vieles davon verblaßt. Beim Anhören seiner neueren Platten kann man unschwer feststellen, daß sich der Schwerpunkt verlagert hat. Die Improvisation und die musikalische Spontaneität sind in den Hintergrund getreten. Die Musik ist stromlinienförmiger geworden, dem aktuellen Pop-Tagessound angepaßt. Er ist sich dessen auch bewußt, wie seine Äußerungen in verschiedenen Interviews zeigen. Dennoch steht bei seinen Produktionen - egal in welchem Musikstil er sich gerade aufhält - Qualität im Vordergrund. Das läßt sich nicht nur an den Besetzungslisten seiner Platten ablesen, das hört man ganz einfach.
Grund genug, sich aus heutiger Sicht mit der Person Al Jarreau und seiner Musik, vor allem aber mit seiner musikalischen Entwicklung und den Gründen dafür zu beschäftigen.
A Jazz – Popmusik
Zur Problematik der Begriffsbestimmung
Bevor man eine Arbeit schreibt, die den Weg eines Künstlers vom Jazz zum Pop aufzeigt, ist es notwendig, diese zwei Begriffe zu definieren. Was ist eigentlich Jazz, was ist Popmusik? Was sind die herausragenden musikalischen Merkmale beider Stile, und wie kann man sie unterscheiden? Worauf legt die Musik wert, und welche Zielgruppe spricht sie an? Ganz einfach ist diese Aufgabe nicht, da beide Bezeichnungen Oberbegriffe für eine ziemliche Vielfalt musikalischer Ausprägungen darstellen. Dies ist vor allem bei der Popmusik der Fall. Der Begriff "Popmusik" ist zunächst eine Kurzform für "populäre Musik" und somit keine Beschreibung eines musikalischen Stils, sondern ein Hinweis auf die diese Musik konsumierende Zielgruppe. Somit können alle Musikformen, die ein größeres Publikum ansprechen, gemeint sein. Das Sachlexikon Popularmusik schreibt hierzu:
"Populäre Musik: Ensemble sehr verschiedenartiger Genres und Gattungen der Musik, denen gemeinsam ist, daß sie massenhaft produziert, verbreitet und angeeignet werden. Im Unterschied dazu ist die Bezeichnung populäre Musik nämlich nicht allein an die Musik gebunden, sucht diese so verschiedenartigen Genres.. nicht vergeblich auf ein oder mehrere musikalisch definierte Kriterien. festzulegen. Sie verweist vielmehr darüber hinaus auf den Funktions- und Wirkungszusammenhang einer solchen Musik, in dem ihre Popularität, also ihr Verbreitungsgrad und damit ihr realer Stellenwert in der Lebenspraxis großer Massen von Hörern, ein wesentliches Moment ist."[1]
Im Laufe der Zeit hat die Kurzform Popmusik allerdings noch eine spezielle Bedeutung erfahren, die sich wieder mehr am Musikstil orientiert. Der Begriff Popmusik meint hier
"Musikformen, die die Stilistik und klanglichen Möglichkeiten des Rock mit der universellen Verkäuflichkeit des Schlagers kombinieren, ..ein mehr oder weniger unverbindlicher Unterhaltungsanspruch mit Bezug auf »Allgemeinmenschliches « , formal raffiniert und perfekt gemacht, aber inhaltlich bedeutungslos."[2]
Die Popmusik ist insofern musikalisch eine Mischform, die Elemente aus den verschiedensten Bereichen wie dem Rock, Rock’n’Roll, Rhythm & Blues, Funk, Disco und auch der schwarzen Musik in sich vereinigt und zu einerleicht genießbaren Kost zusammenstellt.
Spezifisch für die Popmusik ist die Entstehung des Produkts im Studio. Dieser Teil des Schaffensprozesses ist oft wichtiger als die Komposition des Stückes. Denn bei der Aufnahme im Studio und bei der anschließenden, äußerst wichtigen technischen Bearbeitung der verschiedenen Aufnahmespuren bekommt ein Stück den "Sound", der für seinen Erfolg entscheidend ist. Man spricht dann oft von einem "Tagessound", eine bestimmte Aufmachung, die gerade "in" ist und gute Verkäuflichkeit garantiert.
Wenn man so einen Popsong nur auf seine rein musikalischen Elemente reduziert, ist man oft über die Einfachheit der Mittel ernüchtert. Man erkennt, wie ein cleveres Arrangement und eine perfekte Produktion musikalische Schwachstellen überdecken können.
Somit ist die Produktion eines Poptitels eine Gemeinschaftsarbeit von Komponist, Arrangeur, Musiker, Toningenieur und Produzent,
".weil schöpferische Idee, die Bedingungen ihrer Realisation (die organisatorischen und technischen Voraussetzungen ihrer Aufführung und Produktion) und ihre Realisierung selbst (das Musizieren einschließlich seiner technischen Umsetzung im Studio) nicht mehr voneinander getrennte Sphären (Komponist, Verlagswesen, Konzertwesen, Musiker), sondern zu einer Einheit geworden sind. Neben dem Komponisten und Arrangeur sind die Produzenten und Toningenieure in den Studios. heute gleichermaßen schöpferisch am künstlerischen Gesamtergebnis beteiligt."[3]
Hinter der Popmusik steckt heute ein ganzer Industriezweig und der Konkurrenzkampf bei Plattenverkäufen wird mit ziemlicher Härte geführt. Es ist offenkundig, daß bei Pop-Produktionen oftmals nicht künstlerische, sondern wirtschaftliche Interessen im Vordergrund stehen. Der Erfolg eines Produktes ist fest eingeplant und notwendig. Das bedeutet, daß es sich die Plattenfirmen gar nicht mehr leisten können, ein qualitativ schlechtes Produkt auf den Markt zu bringen. Es bedeutet aber auch, daß die Risikobereitschaft, ein musikalisch interessantes Projekt zu unterstützen, nicht sehr groß ist, wenn dessen kommerzieller Erfolg fraglich ist. Die Folge ist: die Musik wird stromlinienförmiger, angepaßter, das musikalische Niveau sinkt. Ganz anders ist dies beim Jazz. Der Hauptunterschied zur Popmusik liegt in mehreren Punkten:
1. Jazz ist eine Minderheitenmusik, die ihre Erscheinungsformen nicht danach richtet, ob sie von einer Masse konsumiert werden kann, sondern die ihre musikalische Identität bewahrt hat.
2. Der Jazz ist im Gegensatz zu der völlig festgelegten und durcharrangierten Popmusik eine Musik, bei der Spontaneität und Vitalität, sowie die freie Ausführung und die Improvisation eine wichtige Rolle spielen. Somit erhält jede neue Wiedergabe eines Stücks eine oftmals völlig andere Gestalt. Bei der Popmusik hingegen gibt es nur ein Endprodukt: eine einzige Aufnahme, die massenhaft vervielfältigt wird.
3. Beim Jazz spielen die Musiker mit ihrer Individualität und Virtuosität die Hauptrolle, nicht die möglichst raffinierte technische Aufarbeitung eines Stückes (In der Popmusik sind Aussehen oder das Image eines Künstlers oft wichtiger als musikalisches Können).
4. Der Jazz ist eine Musik, die von der Inspiration, der Seele und den Gefühlen der Musiker lebt, die ihr Leben aus dem Zusammenspiel verschiedener Musiker nimmt. Die Popmusik dagegen ist ein synthetisch hergestelltes Produkt, das möglichst viele Menschen erreichen und hohe Verkaufszahlen erzielen soll.
B Al Jarreau - Zur Person
1. Biographie
Al Jarreau wurde am 12. März 1940 in Milwaukee, Wisconsin als fünftes von sechs Kindern geboren. Sein Vater, der aus New Orleans stammte, war Pfarrer in der Seventh Day Adventist Church, mußte aber während des Krieges in einer Munitionsfabrik arbeiten, so daß Al seinen Vater nie in der Kirche predigen hörte. Beide Elternteile, sowie Al's Geschwister, waren sehr musikalisch, so daß auch beim kleinen Al die ersten musikalischen Gehversuche nicht lange auf sich warten ließen. Mit vier Jahren sang er zum ersten Mal ein Solo in der Kirche, und in den folgenden Jahren bestimmte der Gesang mehr und mehr sein Leben.
Während der Schulzeit sang er in - wie er es nennt - "oo-shoo-be-doo street corner quartets" oder in Schul-Jazzbands Standards wie "Lullaby of Birdland" oder "Moonlight in Vermont". Bald begann er auch, in Bars seiner Heimatstadt aufzutreten. In einer davon lernte er den ungarischen Jazzpianisten Les Czimbel kennen, der ihn ein wenig unter seine Fittiche nahm, ihn zum Improvisieren ermunterte und ihm zeigte, wie man Songs ausarbeitet. Nach der Schule begann er, am Rippon College Psychologie zu studieren. Er trat nebenbei weiter auf, obwohl er auch anderen Hobbies wie Baseball oder Basketball intensiv nachging. Nach seinem Studienabschluß promovierte er an der University of Iowa und ging 1964, nach sechs Monaten bei der Armeereserve, nach San Francisco. Dort führte er, wie er sagt, so eine Art Doppelleben. Tagsüber war er als Rehabilitationsberater tätig, abends sang er dreimal in der Woche in einem Club zusammen mit einem Trio, das von dem damals auch noch unbekannten George Duke geleitet wurde.
1968 lernte er den brasilianischen Gitarristen Julio Martinez kennen, mit dem er fortan im Duo im "Gatsby's" in Sausalito auftrat. Das war die Zeit, in der er seinen speziellen Gesangsstil entwickelte, weil er plötzlich, nur noch von einer Gitarre begleitet, viel mehr Freiheiten hatte. Noch im selben Jahr kündigte er seinen Beruf, der ihn nie so ganz befriedigt hatte, um sich voll undganz der Musik widmen zu können. Es folgten Auftritte bei Dino's in Los Angeles, bei Rodney Dangerfield in New York und in den TV-Shows von Johnny Carson, Mike Douglas und David Frost. Trotzdem wollte sich der Erfolg nicht so recht einstellen.
Im Jahre 1971 ging Al Jarreau nach Minneapolis und gründete, immer noch mit Julio Martinez zusammen, eine Rockgruppe, genannt "Jarreau". Doch auch dieser Versuch endete erfolglos. In dieser Zeit allerdings begann Al, seine ersten eigenen Songs zu schreiben. Die nächsten zweieinhalb Jahre sangen Al und Julio Martinez im Bla Bla Café in Los Angeles. Anfangs ohne festes Gehalt, ließen sie einen Hut durch das Publikum wandern. Nach zwei Jahren aber, so berichtet Al Jarreau, war er in der Lage, seine Miete und sonstigen Ausgaben durch zwei Auftritte in der Woche zu bezahlen.
Schließlich, im Jahr 1975, wurde Al Jarreau im Vorprogramm für ein Konzert von Les McCann im Troubadour Club in Hollywood engagiert. Sein Auftritt wurde ein derartiger Erfolg, daß er am nächsten Tag seinen ersten Plattenvertrag bei Warner Brothers in der Tasche hatte. Bald darauf wurde seine erste Platte "We Got By" veröffentlicht; bis zum heutigen Tag folgten elf weitere.
1976 sang er zum ersten Mal in Europa, nämlich bei den Jazzfestivals in Montreux und Berlin. Im Jahr darauf begann mit einem Konzert im "Onkel Pö" in Hamburg seine Europatournee durch sechzehn Städte. Sie wurde ein triumphaler Erfolg und beförderte Al mit einem Schlag vom Geheimtip zum Star - zumindest in Deutschland, wo er den Deutschen Schallplattenpreis als bester Nachwuchskünstler erhielt. Doch so langsam begannen sich seine Erfolge auch in den USA herumzusprechen und seine Beliebtheit stieg, was sich an den Leserumfragen der Zeitschrift "down beat" und an der Verleihung des "Grammy" als "best male vocalist 1977" ablesen läßt. Einer zweiten Europatournee 1984, die auch sehr erfolgreich war, folgten in den nächsten Jahren weitere.
Seinen Wohnsitz hat Al Jarreau seit 1971 in Kalifornien, wo er mit wechselnden Produzententeams seine neuesten Platten aufnimmt.
2. Musikalische Einflüsse
Al Jarreau's Vater stammte aus New Orleans, der Wiege des Jazz. Daß er Jazzfan war, ist für Al heute deshalb eine Selbstverständlichkeit:
"Since Dad was from New Orleans, he was kindly to it [Jazz]."[4]
Jazz - das war die Musik, die Al von Kind an hörte, die er liebte und die ihn prägte. Und Jazz war auch die Musik, die im Hause Jarreau praktisch ausgeübt wurde - vor allem vokal.
"My older brother had a fine tenor voice. The next one was more the jazzer. I'd sit around and watch them rehearse, and I learned a lot. They did sort of "Four Freshmen harmonies" Sometimes one brother would sing a line and we'd sing it back. Or he'd make a funny sound with his mouth and we'd repeat it."[5]
Die "Four Freshmen" waren eine vierköpfige Vokalgruppe, bestehend aus vier Männern, die durch ihre vierstimmigen Vokalsätze in ganz enger Lage bekannt wurden. Meist begleiteten sie sich mit ihren Instrumenten (g, b, dr, tp) während des Singens selber.
Darüberhinaus war das Radio ein wichtiger Bezugspunkt für den kleinen Al.
"Daddy-O-Dailey. That was a radio show from Chicago. I'd listen to that with my oatmeal every morning before school."[6]
Hier hörte er Jazzgrößen wie Ella Fitzgerald, Dizzie Gillespie, Jon Hendricks, Illinois Jacquet und auch Nat King Cole. Nat King Cole - der ursprünglich Pianist war, sich aber bald hauptsächlich dem Gesang widmete - ist ein frühes Beispiel für einen Jazzmusiker, der sich durch wachsende Popularität mehr der populären Musik zuwandte.
Wenn man Al Jarreau fragt, wer den größten Einfluß auf ihn gehabt habe, führt er an erster Stelle Jon Hendricks auf. Von ihm habe er - so Al Jarreau - gelernt, schnelle, instrumental gedachte Melodien so zu singen, daß er zusätzlich auch noch die Botschaft und Bedeutung des Songs vermitteln könne.[7] Jon Hendricks wurde mit dem von ihm gegründeten Vokaltrio "Lambert, Hendricks and Ross" berühmt. Diese drei hatten sich anfangs darauf spezialisiert, BigBand-Arrangements von Count Basie und die dazugehörenden originalen Instrumentalsoli mit Texten zu versehen und dann beides zusammen vorzutragen. Diese Technik, die ein sehr hohes technisches Können verlangt, hat sich bis heute bei Gesangsgruppen wie "Manhattan Transfer" erhalten. Bei Al Jarreau begegnen wir diesem Verfahren bei seinen Aufnahmen von "Spain", "Blue Rondo a la Turk" und "Take five", alles nachträglich von ihm selber getextete, ursprünglich instrumentale Jazzstücke.
Weiterhin von großem Einfluß auf ihn waren die Meister des scat-Gesangs, dem Singen und Improvisieren mit "zusammenhanglosen, lautmalerisch improvisierten Silben."[8] Hier haben sich Louis Armstrong, Cab Calloway, Sarah Vaughan und vor allem Ella Fitzgerald einen Namen gemacht. Al Jarreau sagt selber über diese Einflüsse:
"I've just taken a principle and developed my own style, my own personal approach to the way I hear the music inside of myself."[9]
Nicht vergessen werden aber darf ein Phänomen, das in den Sechzigerjahren in Form des Bossa Nova auftauchte: südamerikanische Rhythmen, verbunden mit "nordamerikanischem" Jazzfeeling.
"1964 brach die Musikwelle aus Brasilien über mich herein. Diese Musik bestimmte fortan mein Leben. Sie warf mich einfach um."[10]
In der Praxis wirkte sich dieser Einfluß in der intensiven Zusammenarbeit mit dem brasilianischen Gitarristen Julio Martinez aus, später dann in Aufnahmen wie "Agua de beber" oder "Easy".
Sicherlich gibt es noch eine Menge anderer Musik, die Al Jarreau bewußt oder unbewußt beeinflußt hat, vor allem aus dem Rock- und Popbereich. Diese Einflüsse dürften allerdings nicht so gravierend sein; eine detailliertere Darstellung würde zu weit führen.
Überlassen wir nun das zusammenfassende Schlußwort in diesem Zusammenhang Al Jarreau selber:
"So I'm really a product of a lot of different music. The whole Americanscene was an influence as a part of my past, but probably the jazz stuff was the most important."[11]
3. Die Stimme
"Stimmartist", "Stimmkünstler", "the voice", "the amazing acrobat of scat", "human synthesizer" - das sind nur einige der Namen, die Al Jarreau in den letzten Jahren gegeben wurden. Sie alle sind Ausdruck der Faszination, die von ihm und vor allem von seiner Stimme ausgeht. Diese Faszination allerdings in Worte zu fassen, ist ein sehr schwieriges Unterfangen. Es würde Seiten füllen, wollte man die ganze stimmliche Palette mit all den Geräuschen, Zischlauten, den verschiedenen Klangfarben, die er seiner Stimme zu geben vermag, den Temperamentsausbrüchen, dem Spiel mit Text, Rhythmus und Melodie beschreiben. Und selbst dann wäre diese Darstellung nur ein notdürftiger Ersatz für einen Höreindruck. Man muß Al Jarreau einfach gehört haben.
Einen recht gelungenen Versuch, sich über Al Jarreaus Stimmartistik schriftlich zu äußern, machte 1977 Joachim Ernst Berendt, den ich hier nun zitieren will:
"Jarreau - singend, gurgelnd, mit der Zunge schnalzend, stöhnend, schreiend, flatternd, flüsternd, seufzend, knatternd - verfügt über ein Arsenal stimmlicher Möglichkeiten, das mit dem keines anderen männlichen Sängers vergleichbar ist. Jarreau ist ein Instrumentalist der Stimme, seine Musik kommt von instrumentalen Phrasen her. Seine Kehle bringt wirklich ein ganzes Orchester hervor: Schlagzeuge und Saxophone, Trompeten und Flöten, Congas und Bässe - aber das alles aus dem Mund eines einzigen Mannes, vom tiefsten Baß zum höchsten Flageolett, als ob dieser Mann über ein Dutzend oder mehr verschiedener männlicher oder weiblicher Stimmen verfüge. Am frappantesten ist Al Jarreaus Flötenstimme"[12]
Der amerikanische Kritiker Lee Underwood schreibt 1976 (hier in deutscher Übersetzung):
"Seine melodischen, vokalen Improvisationen sind oftmals so schnell, schwierig und in die Höhe steigend wie die eines Saxophons. Mit einer persönlichen, nicht beschreibbaren Palette von Flötenklängen, Zuggeräuschen, Vogelstimmen, geflüsterten, gekreischten oder leidenschaftlichen Tönen ausgestattet, hat Al Jarreau die Kunst des Scatgesangs sozusagen neu erfunden."[13]
Seine Flötenstimme ist in der Tat beeindruckend. Sie ist am besten bei der Einleitung des Titels "Glow" von der gleichnamigen LP zu bewundern. Ein gutes Beispiel für die Imitation von Congas ist seine Aufnahme des Dave Brubeck-Klassikers "Take five", die auf "Look to the Rainbow" zu finden ist (siehe Kapitel C, Ziffer 3.1.3).
Ich möchte allerdings die stimmliche Beschreibung hier nicht weiterführen, da sie sich nicht zu analytischen Betrachtungen eignet.
Im Analyseteil werde ich wieder auf Al Jarreaus Stimme zurückkommen, allerdings mehr unter dem Aspekt, wie er seine stimmlichen Mittel musikalisch einsetzt.
4. Musikalität
Al Jarreau ist ein musikalisches Naturtalent, ein Mensch, bei dem die Musik nicht aus dem Kopf, sondern aus der Seele kommt. Er hat, wie so viele andere schwarze Jazzmusiker vor ihm, nie im eigentlichen Sinne gelernt, Musik zu machen. Vielmehr ist er in einer musikalischen Umgebung aufgewachsen, in der er von Kindesbeinen an nichts anderes als Jazz gehört hat. Da die ganze Musikrezeption, auch die Umsetzung und Wiedergabe des Gehörten, nur über das Gehör ablief, entstand für Al Jarreau niemals die Notwendigkeit, Noten zu lernen. Er gibt diese Tatsche heute auch gerne zu:
"Ich habe es zwar einige Male versucht, konnte es auch so ein bißchen, habe es inzwischen aber wieder völlig verlernt."[14]
Al Jarreau steht damit aber bei weitem nicht allein. Viele berühmte Jazzmusiker, wie zum Beispiel Erroll Garner, Jon Hendricks, auch der Komponist Irving Berlin, waren in dieser Hinsicht "ungebildet".
Es ist sicherlich auch unnötig, besonders zu betonen, daß Al Jarreau niemals in seinem Leben irgendeine Form von Gesangsunterricht erhielt. Er benutzt seine Stimme völlig intuitiv.
Schwierig wurde es erst, als Al begann, eigene Stücke zu schreiben. Da er nie ein Instrument gelernt hat, stellt sich die Frage, wie dieser Vorgang vor sich geht. Er äußert sich hierzu folgendermaßen:
"Ich habe eine Melodie im Kopf, ein paar Textzeilen, die dazu passen, behalte alles normalerweise so lange bei mir, bis alles in meiner Vorstellung feste Formen annimmt und erst dann arbeite ich es mit meinem Pianisten aus."[15]
Der Pianist war zu der Zeit, als diese Aussage entstand, Tom Canning. Er ist auf den ersten sechs Platten Al Jarreaus als Pianist und Keyboarder mit von der Partie und bei vielen Titeln als Co-Autor mit aufgeführt. Er dürfte derjenige sein, der den Kompositionen Al Jarreaus die harmonische Gestalt gab.
Allerdings ist Al Jarreau nicht nur für den musikalischen Teil mit verantwortlich, er steuert auch alle Texte zu seinen Kompositionen bei. Al Jarreaus Musikalität zeigt sich in seiner Vollkommenheit erst richtig bei seinen Live-Konzerten. Schon in seiner Jugend in Schulbands, später dann bei seinen jahrelangen Auftritten in den verschiedensten Clubs, hatte er immer den hautnahen Kontakt zum Publikum, die sofortige Resonanz auf das, was er auf der Bühne vortrug. Und auch heute noch lebt er erst bei seinen Live-Konzerten so richtig auf. Er unterhält sich während der Stücke mit dem Publikum, nimmt Anregungen auf, improvisiert viel ausgiebiger und ist, so perfekt seine Studioproduktionen auch sein mögen, wie ausgewechselt. Hier mag vielleicht auch die Religiosität eine Rolle spielen, die er in seiner Kindheit durch seinen Vater erfahren hat:
"Very often I'm right up onstage preaching. It's a pulpit [Kanzel] ". [16]
C Stationen des Wandels
1. Die Schallplatten
Von 1975 an bis heute hat Al Jarreau bei Warner zwölf Schallplatten veröffentlicht. Es sind dies:
"We got by" 1975
"Glow" 1976
"Look to the Rainbow" 1977
"All fly home" 1978
"This Time" 1980
"Breakin' away" 1981
"Jarreau" 1983
"High Crime" 1984
"Live in London" 1984
"L is for Lover" 1986
"Heart's Horizon" 1988
"Heaven and Earth" 1992
Sie alle sind im Moment (Ende `92) im Handel als CDs erhältlich. Darüber hinaus gibt es zwei weitere CDs, die allerdings nicht bei Warner Bros. erschienen sind. Es handelt sich dabei einmal um "Al Jarreau sings Bill Withers", eine undatierte und musikalisch nicht sehr bedeutende Aufnahme. Die andere Veröffentlichung ist bei weitem interessanter, da es sich um die erste verfügbare Aufnahme Al Jarreaus handelt, die unter dem Namen "The Masquerade is Over" erschienen ist. Sie stammt aus dem Jahr 1973, wurde aber erst 1989 veröffentlicht. Al Jarreau singt hier in Begleitung eines Trios verschiedene Jazzstandards.
Ich möchte mich in dieser Arbeit allerdings, ohne dieses erste Tondokument zu vernachlässigen, auf die Platten Al Jarreaus konzentrieren, die bei Warner seit 1975 erschienen sind, da diese eine kontinuierliche Entwicklung darstellen.
Man kann sie in drei verschiedene Phasen einteilen. Diese Einteilung richtet sich zum einen nach dem Produzenten und den Musikern, die zusammen mit Al Jarreau für die Komposition und das Arrangement der Titel verantwortlich sind, zum anderen nach der musikalischen Zielsetzung der Platte.
1. Phase 1975 - 1978
Diese Phase umfaßt die ersten vier Schallplatten, die von Al Schmitt produziert wurden. Auffallend sind folgende Merkmale:
a. Die totale Ausrichtung auf Al Jarreaus Stimme und Stimmkünste. Sämtliche Soli werden von ihm bestritten. Auch fast alle Intros und Schlüsse begleitet er mit stimmlichen, improvisierten Einlagen. Die Band bleibt dabei stets begleitend im Hintergrund.
b. Die Besetzung ist relativ klein. Auf "Look to the Rainbow" besteht sie nur aus voc, vib, p, b, dr. Bei den anderen drei Platten kommen noch Keyboard und Percussion dazu.
c. Das musikalische Material besteht zu einem großen Teil aus von Al Jarreau komponierten und getexteten Songs. Diese Lieder bestechen hauptsächlich erst durch die Kombination der Komposition, des Textes und vor allem des Vortrags durch Al und die Band. Dies ist nur möglich, weil
d. die Songs nicht bis in alle Einzelheiten genau festgelegt sind. Es ist nur ein ungefähres Gerüst aus Melodie und Harmonie vorhanden. Das heißt allerdings nicht, daß jeder spielt, was ihm gerade einfällt. Die Spielart der einzelnen Stücke ist schon abgesprochen und geprobt. Es ist die Freiheit im Detail und die kurzfristige, spontane Gestaltung im Augenblick der Aufnahme, die das besondere ausmacht.
2. Phase 1980- 1983
Diese Phase umfaßt die LPs "This Time" bis "Jarreau".
Zwischen "All fly home" und "This Time" ist ein deutlicher Einschnitt zu bemerken. "This Time" hat einen völlig anderen Stil, klingt ausgereifter, in gewisser Hinsicht professioneller. Das hängt in der Hauptsache mit dem Produzentenwechsel zusammen, der sich in der Zeit zwischen diesen zwei Platten vollzog. Neuer verantwortlicher Mann für den Sound ist nun Jay Graydon. Er ist außerdem auf den folgenden Platten als Gitarrist zu hören und ist mit Al Jarreau und Tom Canning zusammen Autor vieler Titel der LPs der Jahre 1981 bis 1983. Der Einfluß Tom Cannings als Komponist und Keyboarder ist aber auch weiterhin maßgebend für die Gestalt vieler Titel aus dieser Zeit.
Im einzelnen haben sich folgende Punkte geändert:
a. Al Jarreau setzt seine Stimmkünste bewußter und gezielter ein als vorher. Er hält sich nun oftmals bewußt zurück, um anderen Instrumenten die Chance zu solistischer Verwendung zu geben. Oft betrifft dies nur kurze Einwürfe zwischen zwei Verszeilen, die nicht mehr von ihm stimmlich, sondern durch verschiedene Instrumente ausgefüllt werden.
b. Die Besetzung ist um einige Instrumente erweitert worden (vor allem Synthesizer und E-Gitarre), außerdem werden die Instrumente abwechslungsreicher eingesetzt. Charakteristisch für viele Titel sind wirkungsvolle Bläsersätze.
c. Die Arrangements sind nun viel detaillierter festgelegt.
d. Es werden deutliche Unterschiede zwischen Stücken verschiedener Musikstile gemacht, so findet man Popballaden, funkige oder Rhythm & Blues-Stücke und auch Jazzstandards.
e. Die Zielsetzung ist nun - besonders durch die Häufung "ins Ohr gehender" Popballaden - ganz klar der umsatzstarke Popmarkt.
[...]
[1] Wieland Ziegenrücker/Peter Wicke, Sachlexikon Popularmusik, Piper-Schott 1987, S. 288,289
[2] ebda., S. 298
[3] ebda., S. 294
[4] zitiert nach: Steve Bloom, Breakin’ away, in: down beat Vol. 49/2, 2/1982, S. 26
[5] zitiert nach: Marc Rowland, Has the adult contemporary songwriter eclipsed the jazzsinger?, in: Musician Nr. 75, 1/1985, S. 25
[6] ebda.
[7] Gudrun Endress, Al Jarreau im Wunderland, in: Jazz Podium 3/1977, S. 8
[8] Ziegenrücker/Wicke, Sachlexikon Popularmusik, a.a.O., S. 344
[9] zitiert nach: Lee Underwood, The amazing acrobat of scat, in: down beat Vol. 45/6, 3/1978, S. 16
[10] zitiert nach: Interview mit Al Jarreau, Deutschlandfunk, 28.08.92 (Verfasser nicht bekannt)
[11] zitiert nach: Sandra Cooper, Never giving up, in: Jazz Forum Nr. 71, 3/1981, S. 43
[12] Joachim Ernst Berendt, Das Ritual aus der Kehle, in: Jazz Forum Nr. 49, 5/1977, S. 35
[13] Lee Underwood, Al Jarreau, in: down beat, Vol. 43/16, 10/1976, S. 37. Im Original: “His melodic vocal improvisations are often as fast, as difficult, and as soaring as those of a saxophone. Incorporating a personal, non-referential array of flute sounds, train sounds, whispers, squeaks, bird-calls and passion-cries, Jarreau has virtually re-invented the art of scat-singing.“
[14] zitiert nach: Gudrun Endress, a.a.O., S. 8
[15] ebda., S. 9
[16] zitiert nach: Marc Rowland, a.a.O., S. 98
- Quote paper
- Jochen Scheytt (Author), 1993, Al Jarreau - Studien seiner Entwicklung vom Jazz- zum Popinterpreten, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/16304
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