Entwicklung oder Desillusionierung? "Das kunstseidene Mädchen" von Irmgard Keun als Frauentyp der Weimarer Republik


Seminararbeit, 2003

18 Seiten


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Charakterisierung des Romans
2.1. Allgemeine Kennzeichen
2.2. Einordnung des Romans in die Epoche der Neuen Sachlichkeit

3. Das kunstseidene Mädchen als Frauentyp der Weimarer Republik
3.1. Charakterisierung und Typbeschreibung der Protagonistin
3.2. Figurenkonstellation des Romans
3.3. Entwicklung oder Desillusionierung der Protagonistin?

4. Abschließende Betrachtung

5. Literatur

1. Einleitung

„Das kunstseidene Mädchen von Irmgard Keun“ – als ich das Buch zum ersten Mal in der Hand hielt, sagten mir weder der Titel noch die Autorin etwas. Ich fragte mich, was eine Autorin wohl dazu bewegt haben könnte, einer ihrer Figuren das Prädikat „kunstseiden“ aufzudrücken, das Assoziationen zu ‚minderer Qualität’, ‚schönem Schein’ und Oberflächlichkeit weckt und dieses Attribut ihrer Protagonistin sogar in den Titel aufzunehmen. Ich war nicht sonderlich gespannt auf die Geschichte, die sich dahinter verbergen mochte und musste schließlich feststellen, dass ich das Buch nicht aus der Hand legen konnte, ehe es ausgelesen war und mich seitdem auch nicht mehr losließ. Irmgard Keun fesselte mich durch ihren unkonventionellen und gewöhnungsbedürftigen Schreibstil, ließ mich die Höhen und Tiefen der Protagonistin unmittelbar mitfühlen, obwohl – oder vielleicht gerade weil – mir ihre Handlungen oft nicht nachvollziehbar, teilweise absurd erschienen. Um die Figur der Doris, ihren Lebensentwurf, ihre Möglichkeiten und ihren Werdegang verstehen zu können, musste ich mich zwangsläufig mit der Zeit auseinandersetzen, in der der Roman entstanden war und ebenso mit der Strömung, in die er einzuordnen war. Doch durch seine Unkonventionalität in allen nur denkbaren Bereichen öffnete Irmgard Keun mir quasi die Hintertür zu einer Zeit, wie sie von jungen, nach Unabhängigkeit strebenden Frauen erlebt und gelebt wurde: Sie gibt dem Leser die Chance eines im besten Sinne naiven, jugendlichen, lebenshungrigen Blicks auf eine Zukunft, die vermeintlich voller Möglichkeiten steckt, wenn man sich nur für niemandes Zwecke einspannen lässt.

Im Gespräch über den Roman wurde die Frage nach einer Entwicklung der Protagonistin sehr kontrovers gesehen. Die Entscheidung zwischen Desillusionierung oder Entwicklung wurde nicht erschöpfend beantwortet, da für beide, auf den ersten Blick gegensätzliche Möglichkeiten, Argumente gefunden werden konnten. Erst nach dem Lesen des ersten Romans von Irmgard Keun „Gilgi – eine von uns“ fiel mir auf, dass das Eine Basis des Anderen sein kann, vielleicht sogar sein muss.

Zunächst soll jedoch der Roman allgemein charakterisiert und eingeordnet werden.

Im Verlauf der Arbeit wird dann zu klären sein, ob die Protagonistin jemals eine Chance auf einen anderen Werdegang hatte und wenn ja, welchen. Dazu müssen auch die anderen Frauenfiguren des Romans in ihrer Anlage näher beleuchtet werden, ebenso wird der Zeitgeist der Weimarer Republik mit einbezogen und die Protagonistin einerseits textimmanent, andererseits zeitbezogen charakterisiert.

2. Charakterisierung des Romans

2.1. Allgemeine Kennzeichen

Der Roman „Das kunstseidene Mädchen“ von Irmgard Keun erschien 1932 als Zeitroman, und wurde wie „Gilgi - eine von uns“ zum Bestseller. Seine Handlung liegt im Zeitraum eines dreiviertel Jahres zwischen Spätsommer 1931 und Frühling 1932. Er ist in drei sowohl vom Inhalt wie auch vom Umfang her annähernd gleichwertige Kapitel aufgeteilt. Im ersten Teil „Ende des Sommers und die mittlere Stadt“ stellt sich die Protagonistin Doris in Form einer Ich-Erzählerin vor. Zur Charakterisierung der Romanfigur Doris dient u. a. der Schreibstil in Form eines Tagebuchs oder ‚Films’, der sich durch fehlende Linearität und Strukturiertheit, Präsensform, Momentaufnahmen und gedanklich widergespiegelte Dialoge auszeichnet. Doris breitet in diesem ersten Teil ihre Denkweise, ihre Neigungen und ihre Ziele vor dem Leser aus, lässt ihn an Kindheitserinnerungen teilhaben und weist immer wieder daraufhin, dass sie eines Tages „ein Glanz“ sein wird. Sie gibt ihre Erlebnisse wieder, in dem sie vollständige Bilder entwirft, Wichtiges wie Nebensächliches gleichermaßen ausmalt. Damit wird der Filmcharakter erreicht, den Doris ihren Aufzeichnungen geben möchte und der den Sehgewohnheiten der Zeit entspricht. Daraus ergibt sich aber auch eine Romanfabel ohne Höhepunkt und Spannungsbogen, der Leser erlebt Doris` Geschichte eher wie ein wechselvolles Auf und Ab, das von Doris selbst kaum beeinflussbar zu sein scheint.

Im zweiten Teil „Später Herbst – und die große Stadt“ sowie im dritten Teil „Sehr viel Winter und ein Wartesaal“ wird all das entwickelt, was im ersten Teil bereits angelegt war. Nach der Flucht aus der Kleinstadt stürzt sich Doris in das Großstadtleben der 20er Jahre, immer auf der Suche nach einer Chance „ein Glanz zu werden“ und - nicht ganz unabhängig davon – den richtigen Mann zu treffen, der „atmet das ganze Berlin aus sich heraus und auf mich ein“[1]. Sie hat zahlreiche Affären, ohne jedoch ihre Träume verwirklichen zu können. Im dritten Teil wird die Desillusionierung der Protagonistin immer deutlicher. Selbstbewusstsein und Überlegenheitsgefühl weichen dem Ekel vor sich selbst. Der Roman endet schließlich mit der Frage nach einer Zukunftsperspektive und der unsicheren Feststellung „aber ich habe Korke in meinem Bauch, die lassen mich doch nicht untergehen?“[2]

2.2. Einordnung des Romans in die Epoche der Neuen Sachlichkeit

Der Begriff „Neue Sachlichkeit“ zur Betitelung einer künstlerischen Strömung wurde erstmals von Gustav F. Hartlaub (Direktor Kunsthalle Berlin) 1925 für eine Ausstellung geprägt, die Malerei einer Strömung zeigen sollte, die weder impressionistischer, noch expressionistischer Natur war. Obwohl sich der Literaturbegriff „Neue Sachlichkeit“ nicht auf die Malerei beziehen lässt, bezeichnete man auch hier zunächst allgemeine Merkmale, wie den „Gesamtkomplex der nachexpressionistischen Literatur in Deutschland“[3]. Sie war weder eine Künstlerbewegung, noch ist eine Festlegung auf eine politische Richtung möglich. Der Begriff war also weder a priori gesetzt, noch wurde er von den Autoren selbst verwendet, mit Ausnahme „der sehr kleinen Gruppe der linksliberalen Intelligenz Berlins“[4], er entstand eher aus der Betonung der Gemeinsamkeiten, v. a. dem Einverständnis mit Modernisierungsprozess der Zeit.[5] Sie wird von Brunner / Moritz definiert als „komplexe gesamtkulturelle Bewegung in der Weimarer Republik, die sich auf die Akzeptanz und Entwicklung massendemokratischer und konsumkultureller Tendenzen bezieht.“[6] Damit wird der Begriff zum Schlagwort für „großstädtisches Lebensgefühl“ und „kritikloser Begeisterung für Technik, Sport etc.“[7], das vor allem die junge Generation des ‚neuen Mittelstandes’, die Angestellten, zur Beschreibung ihrer Lebenshaltung beanspruchten. Sie strebte eine Abhebung von der Elterngeneration an, die noch tief im ‚wirtschaftssaturierten Bildungbürgertum’[8] verwurzelt war, und sollte eine Gegenbewegung zum Pathos des Expressionismus und der enttäuschten Hoffnungen der Nachkriegsjahre auf den ‚neuen Menschen’ darstellen.

[...]


[1] Keun, Irmgard: Das kunstseidene Mädchen. Mit Materialien. Stuttgart: Klett, 2001, S. 61.

[2] ebenda, S. 141.

[3] Mahlow, Verena: Die Liebe, die uns immer zur Hemmung wurde…Weibliche Identitätsproblematik zwischen Expressionismus und Neuer Sachlichkeit am Beispiel der Prosa Claire Golls. Frankfurt am Main: Peter Lang, 1996, S. 33, aus Klaus Petersen: Neue Sachlichkeit: Stilbegriff, Epochenbezeichnung oder Gruppenphänomen. In: DVjs, Jg. 56, 1982, H. 3, S. 463

[4] Lindner, Martin: Leben in der Krise. Zeitromane der neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Stuttgart, Weimar: Metzler, 1994, S. 155.

[5] vgl. Brunner, Horst; Moritz, Rainer (Hrsg.): Literaturwissenschaftliches Lexikon. Grundbegriffe der Germanistik. Berlin: Erich Schmidt, 1997, S. 246.

[6] ebenda, S. 245 f.

[7] a.a.O. Lindner: Leben in der Krise, S. 155.

[8] vgl. Brunner/Moritz, S.247

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Details

Titel
Entwicklung oder Desillusionierung? "Das kunstseidene Mädchen" von Irmgard Keun als Frauentyp der Weimarer Republik
Hochschule
Universität Potsdam  (Neuere deutsche Literatur/ 19. und 20. Jh.)
Autor
Jahr
2003
Seiten
18
Katalognummer
V16281
ISBN (eBook)
9783638211765
ISBN (Buch)
9783638781589
Dateigröße
421 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Dichter Text - einzeiliger Zeilenabstand.
Schlagworte
Entwicklung, Desillusionierung, Mädchen, Irmgard, Keun, Frauentyp, Weimarer, Republik
Arbeit zitieren
Manuela Wolf (Autor:in), 2003, Entwicklung oder Desillusionierung? "Das kunstseidene Mädchen" von Irmgard Keun als Frauentyp der Weimarer Republik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/16281

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