Man möchte meinen, eine Verwaltungsinstitution werde ausschließlich geschaffen, weil man sie braucht; man möchte dabei hoffen, dass sie in einer Form geschaffen werde, die am besten der Erfüllung der ihr zugedachten Aufgabe dient. Die neue EU-Energieagentur ACER zeigt die Realität: Ihr Entstehungsprozess war neben sachlichen und technischen Überlegungen maßgeblich geprägt von Strategien zur Kompetenzerweiterung und -absicherung der beteiligten Akteure sowie zeitlichen und organisatorischen Beschränkungen. Diese Zusammenhänge werden hier unter Anwendung des akteurzentrierten Institutionalismus herausgearbeitet.
Inhalt
1. Einleitung
2. Methodik und politiktheoretische Vorüberlegungen
2.1. Methodik
2.2. Akteurzentrierter Institutionalismus
2.3. European Governance
3. Spielanalyse: Für den Entscheidungsprozess konstitutive Komponenten
3.1. Spielfeld: Status quo und Rahmenbedingungen
3.1.1. Energiepolitik und Energiebinnenmarkt
3.1.2. Regulierung der Energiewirtschaft
3.1.3. Paketverhandlungen im Rahmen des dritten Legislativpakets
3.1.4. EU-Agenturen und Netzwerkpolitik
3.1.5. Rechtliche Situation von Agenturen in der EU: Die Meroni-Entscheidung
3.2. Mitspieler
3.2.1. Kommission
3.2.2. Ministerrat
3.2.3. Parlament
3.2.4. Gerichtshof
3.2.5. ERGEG/CEER
3.2.6. Weitere Mitspieler
3.3. Spielregeln
3.3.1. Formelle Spielregeln
3.3.2. Informelle Spielregeln
3.4. Ziel des Spiels
4. Spielablauf
4.1. Einigungsprozess
4.1.1. Erste Lesung
4.1.2. Zweite Lesung
4.2. Ergebnis
4.2.1. Aufbau und Kompetenzen der Agentur
4.2.2. Einordnung in die europäische Institutionenlandschaft
5. Erklärung des Politikergebnisses
5.1. Sachliche und technische Überlegungen
5.2. Akteurskonstellation
5.3. Personalisierung der Verhandlungen
5.4. Package Deal
5.5. Ratspräsidentschaft
5.6. Policy Window
5.7. Soft-Governance
5.8. Strategien zur Kompetenzerweiterung und -absicherung
5.8.1. Ministerrat
5.8.2. Europäisches Parlament
5.8.3. CEER und nationale Regulierungsbehörden
5.8.4. ETSO und GTE
5.8.5. Kommission
6. Ausblick und Fazit: Ein neuer Akteur auf dem Spielfeld
7. Anhang
7.1. Agenturvorschläge in der Entwicklung
7.2. Ablaufplan des Einigungsprozesses
8. Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
Ein neuer europäischer Akteur ist geboren: Die EU-Agentur ACER. Das Kind hat einen hübschen Namen, das Akronym ist das lateinische Wort für „streitkräftig" oder „heftig". Die Langform des Namens sagt mehr über die europäische Realität und ist nicht halb so schön: Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden. Es war eine lange Geburt mit einigen Komplikationen. Um diesen Entstehungsprozess soll es in der vorliegenden Arbeit gehen.
Die Agentur entspringt einer schwierigen Familiensituation: Mindestens drei Elternteile, die sich schon vor der Geburt um das Sorgerecht streiten und teilweise nicht wollen, dass das Kind jemals erwachsen wird; alle diese mit einer unterschiedlichen psychologischen Veranlagung, bestimmten Interessen und differierenden Fähigkeiten. Vom Familienrecht ganz zu schweigen.
Politikwissenschaftlich ausgedrückt betrachten wir in dieser Arbeit den Entstehungsprozess der neuen EU-Agentur aus der Perspektive des akteurzentrierten Institutionalismus. Warum haben sich die beteiligten Akteure auf die Agentur in dieser Form geeinigt? Wir versuchen, diese Frage unter Rückgriff auf die Elemente eines politischen Spiels zu beantworten. Konstitutive Elemente sind dabei das Spielfeld, die Mitspieler, die Spielregeln, das Ziel des Spiels und der Spielablauf. Auf dieser Grundlage erfolgen eine Einordnung des Entscheidungsprozesses und eine Erklärung desselben. Es wird davon ausgegangen, dass ein Großteil des Ergebnisses, also die Form der jetzigen Agentur, durch die Spielsituation vorgegeben war.
Von besonderem Interesse ist daher, die speziellen inhaltlichen und verfahrenstechnischen Verquickungen herauszuarbeiten, die das Politikergebnis als Gleichgewichtslösung entstehen und erscheinen lassen - und an welchen Stellen Akteure ihre Ressourcen besonders gut oder schlecht zu nutzen wussten. Neben einer pfadabhängigen Entwicklung der Governance-Strukturen im Energiebereich auf Basis vorbestehender Soft-Governance-Strukturen können im ACER-Prozess insbesondere Strategien zur Kompetenzerweiterung, Kompetenzabsicherung und Kompetenzrückgewinnung als formgebend ausgemacht werden.
Ins Zentrum der Beobachtung rückt hier die Kommission, die sich als Herrin der Netzwerkpolitik („governance with networks" (Lehmkuhl 2009: 118) auch in der Agentur verwirklichen möchte. Das gelingt ihr durch geschicktes rechtspolitisches Manövrieren mit Hilfe der Meroni-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) von 1958. Die Mitgliedstaaten wiederum versuchen über eine Institutionalisierung die Dynamik der von der Kommission geleiteten informellen europäischen Regulierung, die angesichts des entstehenden Energiebinnenmarkts notwendig wurde, einzufangen und national zu erden. Eine Besonderheit im Prozess stellt die europaweite Vereinigung der nationalen Regulierer, der CEER (Council of European Energy Regulators), dar. Kraft seines Expertenwissens und eines erfolgreichen Lobbyingansatzes konnte er seine ursprünglich schon zentrale Stellung in der Agentur formalisieren.
Die Arbeit gliedert sich in sechs Teile: Nach dem ersten Teil, der vorliegenden Einleitung, beschäftigt sich der zweite Teil mit der Methodik und den allgemeinen theoretischen Grundlagen wie dem akteurzentrierten Institutionalismus und der European Governance. Im dritten Teil werden die Vorbedingungen des Spiels beschrieben, der vierte Teil zeigt den eigentlichen Spielablauf: den offiziellen Verhandlungsprozess um die ACER. Der fünfte Teil führt Theorie und Beobachtung zusammen, indem er das Politikergebnis im Hinblick auf die Spieldeterminanten beleuchtet. Im sechsten Teil finden sich Zusammenfassung, Fazit und ein kurzer Ausblick auf die wahrscheinlich noch sehr interessante Entwicklung der jungen ACER inklusive einiger offener Forschungsfragen.
Als Herangehensweise wird wie schon erwähnt der akteurzentrierte Institutionalismus gewählt, der die Inhalte für eine Prozessanalyse liefert. Die Methodik ist unter Punkt 2.1 genauer erläutert. Der Fokus liegt auf dem Entscheidungsprozess, der seinen Ausgang mit dem Kommissionsvorschlag nimmt und mit der Annahme des Legislativpakets endet. Die Entstehung des Kommissionsvorschlags wird aber in angemessenem Maße hergeleitet. Inhalte nach der Annahme des Legislativpakets - wie zum Beispiel die Konstituierung der Agentur, Wahl des Direktors etc. - spielen hier keine Rolle. Inhaltlich ausgeschlossen wird außerdem die gern diskutierte Frage zum Rechtsschutz gegen Agenturentscheidungen, die eng mit hier auch nicht behandelten Demokratieproblemen von Agenturen zusammenhängt. Diese Fragen waren im Diskussionsprozess um die ACER nicht zentral. Auf Grund der insbesondere aus Effizienzgründen gewählten Forschungsmethode der Dokumentenanalyse (s.u.) können die Vorgänge innerhalb von Parlament(-sauschuss) bzw. Rat(-sarbeitsgruppen) leider nicht im Detail beleuchtet werden. Hierzu existiert keine offizielle Dokumentation.
Inhaltliche Grundlage der Arbeit ist neben einschlägiger politikwissenschaftlicher Literatur zu den EU- Institutionen vor allem eine große Auswahl offizieller Dokumente (das Legislativpaket selbst, Änderungsvorschläge, Protokolle, Mitteilungen etc.) und Positionierungen von Stakeholdern, die im Legislativprozess entstanden sind. Die im Zentrum stehenden Dokumente sind allesamt online auf den Seiten der Akteure verfügbar. Den Ausgangspunkt bildet das PreLex zum Agenturvorschlag (Europäische Union o.J. a). Damit lässt sich der Hergang der Entscheidungsfindung schon gut beschreiben und man kann begründete Vermutungen über die interinstitutionelle Dynamik entwickeln. Um diese Vermutungen auf eine solidere Basis zu stellen und weiter zu vertiefen, wurden zudem im Mai 2010 einige Interviews mit Prozessbeteiligten geführt (europäisches Parlament, Council of European Energy Regulators, Bundesnetzagentur, Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland; Interviews mit der Kommission und den Netzbetreiber-Verbänden kamen leider nicht zu Stande). Sie werden hier nicht als eigene empirische Grundlage herangezogen, sondern dienen wie oben angegeben als Anstoß und Absicherung der Dokumentenanalyse. Soweit zitiert, werden sie einheitlich als „Interview" gekennzeichnet. Eine genauere Kennzeichnung ist nicht möglich, da von den Interviewpartnern nicht das Einverständnis zur Veröffentlichung eingeholt wurde. Auch über die Nennung der Institution wären die Aussagen rasch auf die jeweilige Person zurückführbar, da die Anzahl der Experten zur ACER stark begrenzt ist.
Exakt auf die Fragestellung passende Literatur ist derzeit noch rar, was vor allem durch die zeitliche Nähe zum untersuchten Prozess bedingt ist. Schließlich wurde das Legislativpaket vor gerade einmal einem Jahr verabschiedet. Die wenigen speziell auf die ACER bezogenen Beiträge geben vorrangig den politischen Stand zur Zeit des Kommissionsvorschlags oder im laufenden Prozess wieder, viele Betrachtungen sind ausschließlich juristisch. Politikwissenschaftliche Beiträge zu den europäischen Governance-Strukturen im Energiebereich existieren von Joachim Sanden (Sanden 2009) sowie Edgar Grande und Ute Hartenberger (Grande/Hartenberger 2009). Das letztgenannte Werk bildet noch den Stand vor dem ACER-Vorschlag ab, Sanden hingegen bezieht die ACER-Verhandlungen schon mit ein. Während er in seinem Werkt insgesamt eine umfassende und hilfreiche Analyse der Energie- Governance liefert, weist seine Argumentation in Bezug auf die ACER jedoch Lücken und Unwägbarkeiten auf und wirkt nachträglich ins Manuskript eingefügt, was auf Grund des Erscheinungsdatums auch nicht weiter verwundert (Vorwort von Januar 2009, Einbeziehung von Material bis Herbst 2008).
Die vorliegende Fragestellung stellt damit in Bezug auf die ACER eine echte Neuerung dar. Bei der Erarbeitung des Themas haben sich außerdem eine ganze Reihe interessanter Forschungsfragen ergeben, die im letzten Kapitel der Arbeit näher erläutert werden und hoffentlich früher oder später eine wissenschaftliche Bearbeitung erfahren.
2. Methodik und politiktheoretische Vorüberlegungen
2.1. Methodik
Für die Analyse des Verhandlungsprozesses wird die politikwissenschaftliche Prozessanalyse gewählt. Sie korreliert hervorragend mit den hier verwendeten theoretischen Annahmen des akteurzentrierten Institutionalismus und dem Governance-Paradgima, da alle drei handelnde Akteure vorsehen, die an einem dynamischen Interessenausgleich arbeiten. Die Idee der Prozessanalyse ist dabei, anhand der Beschaffung und Aufbereitung von Prozessdaten gesicherte Aussagen über Ursache und Wirkung hinsichtlich des Prozessergebnisses zu erhalten (Schimmelfennig 2006). Hier erfolgt die Anwendung im Rahmen einer theorietestenden Einzefallstudie. Die These ist dabei, dass sich das Politikergebnis „ACER" über eine spezifische, europäisierte Konstellation von machtbewussten Akteuren erklären lässt, die zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einer Sachfrage konfrontiert werden. Der Thesentest findet auf Basis einer Dokumentenanalyse unter Einbeziehung einschlägiger Fachliteratur statt.
Um eine bessere Fassbarkeit der Ergebnisse zu gewährleisten, folgt die Analyse der Idee, dass es sich bei dem Prozess um ein Spiel handelt. Das deckt sich mit der Aussage von Mayntz und Scharpf, dass sich die Spieltheorie und der akteurzentrierte Institutionalismus. bei der empirischen Forschung gut ergänzen (u.a. Scharpf 2000). Hier soll jedoch nicht die an sich mathematische Spieltheorie zur Anwendung kommen, sondern es werden lediglich Lexik und Logik des Spiels übertragen. Der Grund ist, dass es sich hier um eine qualitative Analyse handelt, während die klassische Spieltheorie immer auch quantifiziert. Der Analyseüberbau „Spiel" mit den Komponenten Spielfeld, Mitspieler, Spielregeln, Ziel des Spiels und Spielablauf leistet eine detaillierte Erfassung des Verhandlungsprozesses und seines Rahmens, ohne dabei an Übersichtlichkeit einzubüßen, weil die Analyse so an ein gängiges Denkschema anknüpft. Die Parameter Mitspieler und Spielregeln sind dabei der Akteurskonstellation zuzuordnen, das Ziel des Spiels stellt die Sachfrage dar. Der Parameter Spielfeld ist nicht ganz trennscharf. Eine weitere Aufgliederung in akteursbezogene und sachliche Ausgangs- und Rahmenbedingungen erschien nicht als sinnvoll, zumal es sich hauptsächlich um einen politischen Rahmen handelt, bei dem die beiden Aspekte notwendigerweise miteinander verknüpft sind.
Im Folgenden werden die theoretischen Grundlagen insoweit angerissen und erläutert, wie sie für das Verständnis der Analyse notwendig sind. Auf eine ausführliche theoretische Diskussion wird hier verzichtet, um ein angemessenes Verhältnis zwischen Theorie- und Analyseteil zu gewährleisten.
2.2. Akteurzentrierter Institutionalismus
Der akteurzentrierte Institutionalismus bietet uns als Forschungsgrundlage über die Nähe zur Spieltheorie hinaus dreierlei Vorteile:
Der erste ist die Voraussetzung der Wirkkraft des Handelns von politischen Institutionen. Der von Renate Mayntz und Fritz Scharpf im Jahr 1995 (Mayntz/Scharpf 1995) erstmals vorgestellte Ansatz steht in der jungen Tradition des Neo-Institutionalismus, dem o.g. Herangehensweise eigen ist. Im akteurzentrierten Institutionalismus gilt allerdings ein engerer Institutionenbegriff: Nicht Institutionen als symbolische bzw. vorstrukturierte Handlungen im soziologischen Sinne bilden die Basis, sondern eher die Organisationsstrukturen des politischen Systems, also politische Institutionen wie das Parlament, die Regierung etc. Sie wollen sich aber andererseits nicht auf politische Institutionen beschränken lassen, diese sowohl als abhängige als auch als unabhängige Variable betrachten und den Begriff nicht deterministisch verwenden.; „institutionelle Faktoren bilden vielmehr einen - stimulierenden, ermöglichenden oder auch restringierenden Handlungskontext" (Mayntz/Scharpf 1995: 42f.). Das ermöglicht es uns in unserem Zusammenhang, das Politikergebnis der ACER überhaupt auch auf die beteiligten Institutionen zurückzuführen und es nicht als bloßen Spielball mitgliedstaatlicher Interessen wahrzunehmen. Die Institutionen gestalten den Prozess.
Der zweite Vorteil ist die Quasi-Persönlichkeit, die den Institutionen als Akteur zugesprochen wird. Die Institutionen als korporative Akteure verfolgen u.a. Interessen, positionieren sich, geben sich auf eine bestimmte Art und Weise (von der englischen „attitude" bis zur deutschen „Attitüde"...), bauen auf einen Erfahrungsschatz auf. Teilweise wird aber auch ein Blick auf die Mikroebene nötig - d.h. die Individuen und Funktionsträger innerhalb des korporativen Akteurs -, um dessen Handeln erklären zu können (Mayntz/Scharpf 1995: 44ff., 50). Die individuellen Akteure können nämlich teils beträchtliche Handlungsspielräume und wechselnde Strategien haben; ein einheitliches Handlungsmandat ist selten (Mayntz/Scharpf 1995: 50f.). Diese Handlungsspielräume ergeben sich einerseits aus dem institutionellen Kontext, aber auch aus Vorprägungen der Menschen, die in den Institutionen arbeiten. Das sind beispielsweise die Nationalität, Erfahrungen mit Unternehmens-/Verwaltungskulturen und Wahrnehmungsschemata, die sich aus Beruf bzw. Ausbildung ergeben. Hier wird auch deutlich, dass es sich nicht um einen Rational-Choice-Ansatz handelt, denn die Akteure sind innerhalb ihrer Handlungsspielräume keine reinen Nutzenmaximierer (Mayntz/Scharpf 1995: 52ff.). Diese Voraussetzung einer Quasi-Persönlichkeit erlaubt es uns, eine Vielzahl von Handlungsgründen in Erwägung zu ziehen und die Interaktion auch der korporativen Akteure aus einer zwischenmenschlichen Perspektive zu sehen.
Der dritte Vorteil des akteurzentrierten Institutionalismus ist die Möglichkeit der Prozessbetrachtung. Dem akteurzentrierten Institutionalismus geht es immer um konkrete Situationen, um Interaktionsanlässe und -arenen (Mayntz/Scharpf 1995: 47f.). Wir können also damit nicht nur einen Systemzustand zum Zeitpunkt X beschreiben, sondern auch den Ablauf von Handlungen darstellen, die zwischen den interdependenten Akteuren erfolgen (Mayntz/Scharpf 1995: 58ff.). Das ist in unserem Falle besonders wichtig, weil die Kompromissfindung über mehrere Stufen erfolgte, sich Interessen verlagerten und sich prozessbedingt Machtpositionen veränderten.
2.3. European Governance
Was nun noch geleistet werden muss, ist eine „Europäisierung" der theoretischen Basis. Dabei vertragen sich Prozessanalyse und akteurzentrierter Institutionalismus insbesondere mit dem Governance- Paradigma, dass die European Studies weitläufig beherrscht.
Governance setzt eine „komplexe Interaktion zwischen einer Vielzahl von Akteuren" voraus (Tömmel/Verdun 2009) und muss verstanden werden als „der fortwährende Prozess bewusster politischer Zielbestimmung und Eingriffe zur Gestaltung gesellschaftlicher Zustände (Benz 2004: 78). Diese moderne Form des Regierens grenzt sich dagegen ab, dass klassischerweise beim Regieren eine Regierung im Mittelpunkt steht. Governance erfasst hingegen auch die Wirksamkeit vielfältiger gesellschaftlicher Akteure. Die Akteure, die diese Form des Regierens tragen, sind zumeist verschiedenartigste Institutionen, womit sich der Kreis zum akteurzentrierten Institutionalismus schließt. Im Zentrum stehen meist weiterhin spezifische politische Institutionen, erweitert um einen Kreis zivilgesellschaftlicher und wirtschaftlicher Stakeholder (u.a. Benz 2004).
Diese Akteure können sich zudem noch auf verschiedenen Ebenen befinden. Das trifft speziell auf das Regieren im europäischen Kontext zu, denn hier gibt es mindestens eine europäische, eine nationalstaatliche und eine regionale Ebene. Deswegen spricht man im Falle von europäischer Governance so gut wie immer von Multilevel Governance. Die Theoretiker konstatieren insbesondere eine Verknüpfung der Entscheidungsebenen, Machtverschiebungen zwischen den Ebenen und deren jeweiligen Trägern (u.a. Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2004, Tömmel 2009). Auch der Multilevel Governance ist die Spieltheorie nicht fremd; sie versucht dadurch u.a. supranationale und intergouvemementale Entscheidungsfindung zu interpretieren. Die wichtigsten, da formal und faktisch immer noch entscheidungsmächtigsten Ebenen sind die EU-Ebene und die mitgliedstaatliche Ebene. Zwei wichtige Prinzipien beherrschen die Logik in deren Zusammenspiel: die Verpflichtung, im Gemeinschaftsinteresse zu handeln (Art. 10 EGV/ Art. 4 Abs. 3 EUV (neu)), und die Subsidiarität (Art. 5 EGV/Art. 5 EUV (neu)), also den Vorrang mitgliedstaatlicher Erledigung. Diese auf den ersten Blick widersprüchlichen Prinzipien spiegeln sich auch im europäischen Institutionengefüge, der so genannten institutionellen Balance. Diese wird „dadurch aufrecht erhalten, dass alle wesentlichen politischen Entscheidungen durch das Zusammenspiel von zwei Organen mit jeweils widersprechenden Loyalitäten zustande kommen" (Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2004: 82). Der Rat ist dabei für mitgliedstaatliche Interessen zuständig, die Kommission vertritt die europäische Idee. Diese Logik findet sich in den klassischen Entscheidungsprozessen, aber auch modernen Governance-Formen wie den europäischen Agenturen wieder, wie noch zu sehen sein wird. Die institutionelle Balance unterliegt aber auch einer nicht zu unterschätzenden Dynamik. Abgesehen von ganz grundsätzlichen Reformdebatten, hat sich über die Jahre insbesondere das Parlament als dritte Partei etabliert (Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2004: 84). Als Institution mit zwar national gewählten Abgeordneten, aber prinzipiell parteipolitischer Denkweise passt es nicht in das klassische Schema, beansprucht aber nicht zuletzt aus demokratischen Erwägungen einen festen Platz im Entscheidungsgefüge.
Das Fortschreiten der europäischen Integration ist extrem auf systemkonformes Verhalten angewiesen (Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2004: 86). Die beteiligten Akteure befinden sich in einem System institutionalisierter Dauerverhandlungen. Der lange Zeitraum und die Vielzahl behandelter Themen veranlassen die Akteure zu grundsätzlich kooperativem Verhalten: Die wechselseitigen Abhängigkeiten sind klar. Auf diese Art und Weise werden Kompromisse über das Einzelthema hinaus im Sinne von Package Deals ermöglicht.
Eine weitere interessante Form der European Governance für unser Projekt ist das Regieren über Netzwerke. Obgleich zumindest in Ansätzen in der EU schon länger vorhanden, fällt diese Form in die Kategorie „new modes of governance" (Tömmel 2009). Diese Regierungsmodi sind von weicher und meist nicht-bindender Natur. Die derzeit am häufigsten diskutierte Methode dieser Art ist die offene Methode der Koordinierung (OMK), eine alternative, unverbindliche Integrationsmethode zwischen den Mitgliedstaaten (Benz 2009: 166). Einen weiter gefassten Begriff hat Joachim Sanden (Sanden 2009), der auch die informellen und halbformellen Netzwerkstrukturen im Bereich der Energiepolitik als OMK bezeichnet, obwohl hier vorrangig nicht die Mitgliedstaaten als solche eingebunden sind. Es ist umstritten, ob die „new modes of governance" in Zukunft den europäischen Politikprozess beherrschen werden, oder ob sie nicht vielmehr eine Übergangsstufe darstellen, bis die Mitgliedstaaten auf einem bestimmten Gebiet bereit zu „echter" Integration sind (Tömmel 2009:12).
Spezielle inhaltliche Grundlagen, die über den allgemeinen theoretischen Bezugsrahmen hinausgehen - insbesondere die Beschreibung der Netzwerkpolitik im Energiebereich - finden sich im folgenden Teil der Spielanalyse unter Punkt 3.1. (Spielfeld).
3. Spielanalyse: Für den Entscheidungsprozess konstitutive Komponenten
3.1. Spielfeld: Status quo und Rahmenbedingungen
3.1.1. Energiepolitik und Energiebinnenmarkt
Spätestens seit dem 4. November 2006 wissen die Europäer: Wir brauchen eine effektive europäische Energiepolitik. An diesem Tag sorgte eine planmäßige Netzabschaltung in einem kleinen Gebiet in Deutschland für einen Blackout in halb Europa (Tagesschau.de 2006). Die europäischen Politiker sind auf dem Gebiet des Energiebinnenmarktes und der Versorgungssicherheit zum Erfolg verdammt.
Sowohl der Energiebinnenmarkt im Speziellen als auch die europäische Energiepolitik im Allgemeinen erlebte in den vergangenen Jahrzehnten unterschiedliche Konjunkturen, wobei jüngst eine enorme Dynamik zu verzeichnen ist - und das alles ohne Spezialkompetenz der EU im energiepolitischen Bereich. Abgesehen davon, dass die Energiepolitik für die europäische Integration eine wichtige Rolle gespielt hat (Euratom, EGKS), findet sich im (alten) Primärrecht der EG kein Artikel oder gar Abschnitt zur Energiepolitik (Schulenberg 2009). Nichtsdestotrotz hat die EG/EU das Thema seit spätestens Mitte der 1980er für sich entdeckt - die Vollendung des Energiebinnenmarktes zum Beispiel war von der Kommission für 1996 geplant (Geden 2008: 27). Mit der Einstufung von Strom als Ware durch den EuGH (Opolio 2005: 87) untersteht der Handel den Binnenmarktvorschriften, und der mit Abstand kraftvollste Rechtbereich der EG ist für den Energiesektor geöffnet. Trotzdem steckt der Energiebinnenmarkt noch in den Kinderschuhen. Der Grund dafür sind mitgliedstaatliche Zurückhaltung sowie die ökonomischen und technischen Besonderheiten der Energiewirtschaft als Netzwirtschaft.
Die Mitgliedstaaten sahen und sehen den Energiesektor als hochsensiblen Bereich an. Ohne preisgünstig und zuverlässig bereit gestellte Energie ist die gesamte nationale Wirtschaft und der Lebensstandard der Bevölkerung gefährdet: Der Energiesektor stellt einen Teil der Daseinsvorsorge dar, einer unabdingbaren Wirtschaftsleistung - die allerdings in der EU grundsätzlich auch dem Wettbewerbsrecht unterfällt. Zusätzlich ist die aktuelle Organisation und Situation der Energiemärkte in den Mitgliedstaaten so unterschiedlich, dass Scharpf für Verhandlungen im Energiesektor kein klassisches, symmetrisches Gefangenendilemma attestiert, sondern ein asymmetrisches Konfliktspiel (Scharpf 1999: 98f.), was auch erklärt, warum der von Majone in den 1990ern prognostizierte europäische Regulierungsstaat (Grande/Hartenberger 2009: 199) zunächst nicht zustande kam. Erst 1996 (Strom) und 1998 (Gas) wurden nach beträchtlichen Überzeugungsleistungen der Kommission (Schmidt 1998) die ersten Rechtsakte zur tatsächlichen Vollendung des Energiebinnenmarktes erlassen (erstes Legislativpaket). Rasch wurde klar, dass die relativ knappen Vorschriften des ersten Paketes nicht ausreichen würden, um einen Binnenmarkt zu schaffen, und so wurde im Jahr 2003 das zweite Legislativpaket verabschiedet („Beschleunigungsrichtlinien"). Dessen schlechte Umsetzung gab Anlass zur Sorge, so dass die EU-Kommission im Juli und Oktober 2009 - also nach Annahme des dritten Pakets - zahlreiche Vertragsverletzungsverfahren eröffnet hat - im Stromsektor beispielsweise gegen 25 Mitgliedstaaten (Europäische Kommission 2010).
Die europäische Energiepolitik fußte zur Entstehungszeit der ACER auf der Kommissionsmitteilung „Eine Energiepolitik für Europa" von Januar 2007 (Europäische Kommission 2007d) und dem darauf aufbauenden Energieaktionsplan 2007-2009 des Europäischen Rates von März 2007 (Europäischer Rat 2007). Die Inhalte dieser Dokumente, die einer breiten öffentlichen Debatte entspringen, hat die Kommission über ihr Grünbuch „Eine europäische Strategie für nachhaltige, wettbewerbsfähige und sichere Energie" von März 2006 (Europäische Kommission 2006) entscheidend mitgeprägt.
Im Zentrum steht dabei das sogenannte energiepolitische Zieldreieck: Die drei Zielkomponenten Nachhaltigkeit, Wettbewerbsfähigkeit (= v.a. Binnenmarkt) und Versorgungssicherheit bedingen einander und müssen daher auch politisch gemeinsam angegangen werden. Gleichzeitig wird so sichergestellt, dass sich alle Mitgliedstaaten mit ihren stark unterschiedlichen energiepolitischen Interessen irgendwo in der europäischen Energiepolitik wiederfinden. Der Aktionsplan für 2007-2009 inkorporiert daher auch alle Ziele, der Energiebinnenmarkt spielt allerdings die entscheidende Rolle (Geden 2008: 40ff.). Damit waren sich die Mitgliedstaaten ihrer Handlungsfähigkeit wohl bewusst - der Binnenmarkt bildet eine wichtige Voraussetzung für die anderen beiden Ziele und ist gleichzeitig die Baustelle vor der eigenen Haustür, auf die man den meisten Einfluss hat (Geden 2010). Leider ist es mit der reinen Abschaffung der Binnengrenzen hier nicht getan, die Besonderheiten des Energiesektors rufen nach einer Regulierung. Warum dies so ist, wird im nächsten Unterabschnitt erläutert.
3.1.2. Regulierung der Energiewirtschaft
Zerlegt man die Wertschöpfungskette der Energiewirtschaft, so erhält man einige Stufen, die sich - mehr oder weniger problemlos - liberalisieren lassen, so z.B. die Energieerzeugung. Beim Netz sieht das anders aus: Es ist ein natürliches Monopol. Das heißt, es wäre unsinnig und teuer, ein zweites Netz aufzubauen, wo doch alle - theoretisch - das eine vorhandene Netz nutzen können. Natürliche Monopole sind eine klassische Version des Marktversagens, für die sogar liberale Wirtschaftstheorien einen staatlichen Eingriff vorsehen. Dabei werden den Inhaber der Monopole Regeln auferlegt, die eine diskriminierungsfreie Bewirtschaftung sicherstellen sollen (Höffler 2008). Besonders wichtig sind solche Regeln dann, wenn die Inhaber des Monopols noch auf anderen Stufen der Wertschöpfungskette aktiv sind, beispielsweise als Energielieferant. Klassischerweise verfügen viele Energieunternehmen wertschöpfungstechnisch gesehen über einen vertikal integrierten Aufbau. Die Regulierung läuft dabei auf eine Trennung der Aufgabengebiete in der vertikalen Wertschöpfungskette heraus, insbesondere auf eine Ausgliederung des Netzbetriebs („Unbundling") (Meister 2007: 270).
Doch nicht nur wegen der speziellen ökonomischen Gegebenheiten bedarf es der Regulierung. Ein wichtiger Punkt insbesondere beim grenzüberschreitenden Handel ist die Definition einheitlicher technischer Standards, damit die Netze überhaupt gekoppelt werden können. Die technisch schlechten Voraussetzungen, darunter vor allem auch die Engpässe an den Grenzen, die aus der ehemals rein nationalen Energieversorgung resultieren, gelten neben den Wettbewerbsproblemen als Hauptgrund für den niedrigen Entwicklungsstand des Energiebinnenmarktes (Geden 2008: 21, 72; Welfens 2008: 622). Auf regulatorischer Ebene müssen deshalb auch Anreize für gezielte Investitionen in die Netze geschaffen werden bzw. die Kapazitäten an den Grenz-Engpässen fair verteilt werden.
Die Durchführung der Regulierungsaufgaben liegt derzeit nahezu vollständig in der Hand der nationalen Regulierungsbehörden. Diese Tatsache basiert auf dem über Jahre vorherrschenden Konsens, dass kein europäischer Regulierer entstehen soll - schließlich konnte man sich nicht einmal auf eine europäische Kartellbehörde einigen (Tömmel 2006, zitiert nach Sanden 2009: 189). In vielen Fällen sind nicht einmal die nationalen Regulierer auf Initiative des einzelnen Mitgliedstaats entstanden, sondern über EG-Recht angeordnet, zumindest aber geformt. Aus Effizienzgründen verordnete die EU den Mitgliedstaaten durch das zweite Legislativpaket Regulierungsbehörden mit bestimmten Kompetenzen und Aufgaben (Eberlein/Newman 2009). Sie sollen dafür sorgen, dass alle zu vernünftigen Bedingungen Zugang zu den Netzen erhalten, die Netzbetreiber sinnvoll in ihre Netze investieren und sich Unternehmen, die auf mehreren Stufen der Wertschöpfungskette aktiv sind, nicht unrechtmäßige Vorteile verschaffen (Durchsetzung der Entflechtung - „Unbundling").
Damit können die Regulierungsbehörden wirtschaftliche Entscheidungen der Netzbetreiber erheblich einschränken und erhalten im Gegenzug selbst beträchtliche Gestaltungsmöglichkeiten. Regelmäßig werden daher die betroffenen Unternehmen, aber auch die Politik versuchen, Einfluss auf die Regulierungsbehörden auszuüben oder sich gleich selbst innerhalb derselben zu positionieren. Die Garantie von Unabhängigkeit der Regulierer gegenüber der Wirtschaft und der Tagespolitik sind daher die Voraussetzung für eine effektive Ausübung ihrer Tätigkeit (Ehricke 2004: 38ff.). Im zweiten Legislativpaket war lediglich die Unabhängigkeit gegenüber der Wirtschaft klar verankert (bspw. Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie 2003/54/EG), die Unabhängigkeit der Behörden gegenüber staatlichem Einfluss und ihr Ermessen variierten beträchtlich im Vergleich der Mitgliedstaaten (Erwägungsgrund Nr. 33 der Richtlinie 2009/72/EG).
Die nationalen Regulierer arbeiten seit 2003 offiziell in der ERGEG (European Regulators Group for Electricity and Gas) zusammen, einer unabhängigen Gruppe, die die Kommission berät. Näheres dazu unter Punkt 3.2.5.
Neben der eben dargestellten Form der Regulierung, die auf der Ebene des Netzbetriebs und möglichst vor einer Wettbewerbsverzerrung stattfindet, erfährt die Energiewirtschaft noch eine andere Form der Kontrolle: Kartellbehörden überwachen die anderen Stufen der Wertschöpfung. Hierbei geht es um vor allem um Fusionskontrolle und Missbrauchsaufsicht (Wagemann 2008). Dieser Teil des
Wettbewerbsrechts ist derjenige von allen Rechtsbereichen, der am weitesten europäisiert ist. Die EU verfügt hier über echte und bei europaweit relevanten Sachverhalten ausschließliche Kompetenzen, die als starkes Druckmittel taugen. Sie sind bei der Generaldirektion Wettbewerb der Kommission angesiedelt (Schmidt 1998: 56ff.).
3.1.3. Paketverhandlungen im Rahmen des dritten Legislativpakets
Wie schon bei der vorhergehenden Gesetzgebung zum Energiebinnenmarkt, hatte die Kommission auch in diesem Fall ein großes Paket mit Legislativvorschlägen geschnürt, das notwendigerweise zusammenhängend verabschiedet werden sollte. Es besteht insgesamt aus fünf Rechtsakten (Verordnungen (EG) Nr. 713 bis 715/2009 sowie Richtlinien 2009/72 bzw. 73/EG).
Heiß diskutierter Kernpunkt des dritten Legislativpakets war die Frage der Entflechtung von Energieunternehmen. Im ersten Liberalisierungspaket wurde den Unternehmen auferlegt, für den Bereich Netzbetrieb getrennte Rechnungen zu führen. Die bloße getrennte Rechnungsführung erwies sich allerdings als nicht besonders effektiv. In den Beschleunigungsrichtlinien des zweiten Legislativpakets von 2003 wurde deshalb zusätzlich vorgesehen, dass sich die Unternehmen einer rechtlichen und funktionalen Entflechtung zu unterziehen haben - dass also der Netzbetrieb in rechtlich selbständige Tochtergesellschaften ausgegliedert werden muss. Diese Regeln wurden weder hinreichend umgesetzt noch für wirklich zielführend gehalten (Koppenfels 2010: 79f.).
Der Kommissionsvorschlag im dritten Legislativpaket sah daher eine volle eigentumsrechtliche Entflechtung vor, wie sie schon im Jahr 2005 in knapp der Hälfte der Mitgliedstaaten - alten wie neuen - Wirklichkeit war (van Koten/Ortmann: 2007): Die Energieunternehmen sollten zum Verkauf ihrer Netze gezwungen werden. Aus der Sicht der Kommission und des Parlaments stellt das die wirksamste und einfachste Lösung dar (Koppenfels 2010: 84f). Politisch war dieser Vorschlag allerdings äußerstes brisant: Es gab zwar durchaus eine Gruppe von Mitgliedstaaten (v.a. Italien, Niederlande, Spanien und Großbritannien), die die eigentumsrechtliche Entflechtung befürworteten, eine große Gruppe um Deutschland und Frankreich (Koppenfels 2010: 86) plagte sich dagegen mit verfassungspolitischen Bedenken (Enteignung) und industriepolitischen Überlegungen (nationale Netze und gewachsene Strukturen). Diese bildeten eine explosive Mischung, die durch intensives Industrielobbying nicht gerade entschärft wurde. Wie entscheidend diese Frage für die Energieunternehmen ist, zeigt zum Beispiel beim Blick auf die nationale Ebene, mit welch teilweise sogar kriminellen Methoden sie ihre Interessen durchzusetzen versuchen (van Koten/Ortmann: 2007, hier wird ein direkter gegenläufiger Zusammenhang zwischen effektivem Unbundling und Korruption hergestellt).
In ihrem Vorschlag nahm die Kommission den Kompromiss gleich vorweg und sah neben der kompletten eigentumsrechtlichen Entflechtung auch das sog. ISO-Modell vor („Independent System Operator"). Dabei bleibt den vertikal integrierten Unternehmen lediglich das Eigentum des Netzes, alle Entscheidungen über Betrieb und Ausbau werden aber von einem unabhängigen Netzbetreiber getroffen. Doch das ging der Gruppe um Deutschland[1] nicht weit genug: Sie präsentierte im Dezember 2007 eine dritte Option, den sog. ITO („Independent Transmission Operator"). Es handelt sich im Kern um den Erhalt der Regelungen des zweiten Legislativpakets, aufgestockt durch Detailregelungen zu Organisation, Leitung und (finanzieller) Ausstattung, die eine „wirksame Entflechtung" - so der allgemeine Terminus technicus - sicherstellen sollen (Koppenfels 2010: 85ff.). Letztlich wurden alle drei Optionen - also vollständige eigentumsrechtliche Entflechtung, ISO und ITO - zugelassen und es den Mitgliedstaaten anheimgestellt, welche Option in ihrem Hoheitsbereich Anwendung finden soll (siehe u.a. Richtlinie 2009/72/EG, Erwägungsgrund 18f.).
3.1.4. EU-Agenturen und Netzwerkpolitik
Die Übernahme von Verwaltungsaufgaben durch unabhängige, themenbezogene Agenturen ist ursprünglich eine amerikanische Idee. Ihre Vorteile liegen insbesondere darin, dass mit ihnen Verantwortlichkeiten offengelegt werden, die Organisation der Verwaltung vereinfacht, da themenbezogen wird und durch Dezentralisierung und Dekonzentrierung eine größere Effizienz erzielt werden kann (Shirvani 2008). Gerade in politisch und wirtschaftlich brisanten Bereichen kann eine Agentur den weiteren Vorteil bringen, unabhängig von der Politik die für den Markt notwendigen Entscheidungen treffen zu können. Trotz ihrer Unabhängigkeit sind die Agenturen über ein wohldosiertes Geflecht an Einflussmöglichkeiten unter demokratischer Kontrolle (zusammenfassend Everson 2009). Die dennoch auftretenden demokratiespezifischen Bedenken sollen hier nicht näher ausgeführt werden, da sie in der ACER-Debatte nicht bestimmend waren.
Der Griff zum Instrument der Agentur geht der Kommission bzw. der EU mittlerweile leicht von der Hand: Die ACER ist die dreißigste Agentur der EU (Ermacora 2010). Die vermehrte Gründung von Agenturen in der letzten Zeit ist auf eine sog. Externalisierungsstrategie der Kommission zurückzuführen, die ihr die Konzentration auf ihre Kernaufgaben ermöglichen soll (Shirvani 2008: 6).
Aber was macht eigentlich eine Agentur? Dazu findet sich weder im Primärrecht noch in den Gründungsakten der Agenturen eine Definition. Das mag sowohl Grund als auch Folge der Tatsache sein, dass die Agenturen solch verschiedenartige Gestalten haben. Im Jahr 2001 hat die Rechtsabteilung der Kommission folgende zusammenfassende Definition erstellt (zitiert nach Vos 2003: 118): Es handelt sich um eine durch Verordnung gegründete, dezentralisierte Einrichtung mit Rechtspersönlichkeit und festgelegten Aufgaben. Die Agenturen haben einen eigenen Haushalt und unabhängige Verwaltungsgremien. Häufig bauen sie auf existierenden Expertennetzwerken auf. Ein Hauptunterschied ist zwischen beratenden und entscheidenden Agenturen zu machen.
Die Mitgliedstaaten haben es sich nicht nehmen lassen, für jede Agentur eigenes Verwaltungsrecht zu schaffen. Das variiert insbesondere bezüglich der Entscheidungsmacht der einzelnen Agentur (Pollack 2003: 396). Für die Agenturen im Allgemeinen kann eine ausgesprochene „ad hoc Entwicklungsdynamik" attestiert werden (Traguth 2009: 109). Eine interinstitutionelle Vereinbarung, die Form und Aufgaben von Agenturen allgemein regelt, wurde zwar Anfang des Jahrtausends von der Kommission angestrebt, die Verhandlungen wurden jedoch Anfang 2007 unter deutscher Präsidentschaft ergebnislos abgebrochen und ein Gründungsstopp für weitere Agenturen - mit Ausnahme schon laufender Vorschläge - vereinbart (Traguth 2009: 109). Ungefähr zeitgleich gab es von Seiten der Mitgliedstaaten Bestrebungen, im Vertrag von Nizza die Gründung von Agenturen in den alleinigen Machtbereich des Rates zu stellen, was Kommissionspräsident Prodi unter Verweis auf Fragmentierung der exekutiven Aufgaben zu verhindern wusste (Vos 2003: 128f.). Wir befinden uns also in einem hart umkämpften Bereich.
Hier hinein spielt auch die Wahl der Rechtsgrundlage von Agenturgründungen: Erst relativ spät setzte sich die Idee durch, Agenturen auf Basis von Spezialkompetenzen zu gründen, was im Falle des Binnenmarktes - hier gibt es die meisten Agenturen - in der Regel das Mitentscheidungsverfahren nach sich zieht (Majone 2005: 94). Damit streitet nun auch das Europäische Parlament mit um den Einfluss auf die an und für sich unabhängige Agentur.
Der Standardaufbau von Agenturen umfasst einen Verwaltungsrat, in dem vom Rat und der Kommission - bei den neueren auch vom Parlament - bestellte Mitglieder grundsätzlich die Arbeitsrichtung vorgeben und den Direktor ernennen, der mit der Durchführung der Agenturaufgaben betraut ist. Zusätzlich verfügen die meisten über ein Experten- oder Beratungsgremium sowie ein Sekretariat. Spezialitäten sind Budgetausschüsse, ausführende Ausschüsse und Beschwerdekammern (Vos 2003: 122).
Der Verwaltungsrat ist also das Steuerungsgremium der Agentur und dadurch standardmäßig der Schlüssel zum inhaltlichen Einfluss. Deshalb gibt es hier eine besonders große Varianz in der Besetzung - je nach Entstehungsphase, Aufgabe und politischem Gewicht der Agentur. Klassischerweise sitzt in den alten Agenturen ein Vertreter pro Mitgliedstaat plus ein Kommissionsvertreter im Verwaltungsrat, aber auch Industrie- oder Gewerkschaftsvertreter sind möglich (Pollack 2003: 396). In der jüngeren Zeit war man - schon aus Effizienzgründen - bemüht, den Verwaltungsrat zu verkleinern. Gleichzeitig strebte das Parlament in den Verwaltungsrat (u.a. Majone 2005: 95). Das hat das Feilschen um die Posten nicht unbedingt erleichtert.
Eine mögliche Kompensation der Mitgliedstaaten findet sich in der Schaffung eines zusätzlichen Fachgremiums mit Mitgliedern mitgliedstaatlicher Behörden (einer pro Staat) (so z.B. bei der EFSA - European Food Safety Agency). Diese Vernetzung von mitgliedstaatlichen Behörden innerhalb eines eigenen Gremiums stellt einen Spezialfall und eine Formalisierung der ohnehin in der Konzipierung von Agenturen häufigen Netzwerkarbeit dar. Gerade die mit Informationsbereitstellung beauftragten Agenturen tragen über die Vernetzung von nationalen Referenzinstitutionen Wissen zusammen und schaffen Verbindungen zwischen europäischen Experten (Vos 2003: 127). Eine neue Qualität haben die so genannten „Netzwerkagenturen", bei denen bestehende Netzwerke fest in eine neue Agentur integriert werden, wie es auch bei der ACER geschehen ist (Hancher/de Hautecloque 2010: 3).
Mit Netzwerken im Allgemeinen und Agenturen im Speziellen schafft sich die Kommission einen Expertenpool, ohne den sie die immer komplexer werdenden Regulierungsaufgaben kaum stemmen kann. Da sie selbst nur begrenzt über eigene Experten verfügt, sollte man davon ausgehen, dass sie die Meinung der Agentur mehr oder weniger unverändert übernimmt, zumal diese auch in der Öffentlichkeit fachliche Autorität hat. Es gibt jedoch genügend Fälle, in denen die Kommission die zuständige Agentur gar nicht erst konsultiert. (Majone 2005: 98). Sie entscheidet dann selbst - unter Zuhilfenahme des Komitologie-Verfahrens, also über Einbeziehung mitgliedstaatlicher Experten (siehe Punkt 3.2.1).
Die Entwicklung von Expertennetzwerken und allgemein die stärkere eigenverantwortliche Einbeziehung der beteiligten Akteure ist im Licht einer generellen Tendenz der EU zu weicheren Governance- Methoden zu sehen. Diese verdanken ihre Effektivität der geschickten Ausnutzung akteurspezifischer Interessen und Ressourcen, teils gepaart mit staatlichem Drohpotenzial - sind also speziell über den akteurzentrierten Institutionalismus erklärbar (Sanden 2009: 61f.). Dabei arbeiten die verschiedenen Stakeholder z.B. in Foren zusammen und erstellen freiwillige Vereinbarungen und Empfehlungen im Konsens. Der Grund ist vor allem, dass die EU wegen der fehlenden supranationalen Kompetenzen mit rein klassischer Regulierung wenig Erfolg hatte. Regulierungsdefizite - z.B. wegen fehlender EU- Kompetenz - und Fehlregulierungen waren an der Tagesordnung (Sanden 2009: 181f.) Mit Formen von Soft Governance, für die keine spezielle Ermächtigung vorliegen muss, versucht die EU bzw. Kommission, dieses Defizit zu kompensieren. Der Modus der Regulierung ist daher weniger hierarchisch als vielmehr ausgeprägt netzwerkbezogen.
Ausgangspunkte der Netzwerkpolitik im Energiebereich bilden die verschiedenen Energieforen, die auf Veranlassung der Kommission gegründet wurden. Das erste, das sog. Florenzforum für die Elektrizitätsversorgung, datiert schon auf das Jahr 1998. Nach einer Anlaufphase wurden zusätzlich zu Vertretern der staatlichen Ebene (Kommission, nationale Regulierer und Wirtschaftsministerien) auch Netzbetreiber und -nutzer, Verbraucher und Energiehändler einbezogen, so dass man mit Sanden (2009: 238) von „joint regulation" sprechen kann - wenn auch in Anbetracht fehlender Rechtsverbindlichkeit in sehr begrenztem Rahmen.
Neben dem erwähnten Florenzforum (Strom) existieren noch einige weitere spartenspezifische Foren im Energiesektor, darunter u.a. das Madridforum für Gasversorgung (seit 1999). Die Foren diskutieren offene Fragen der Energieregulierung (also Umsetzungsfragen und alles, was noch nicht in Richtlinien oder Verordnungen niedergelegt ist). Betrachtet man die Tagesordnungen der Foren, wird offensichtlich, dass andere Zusammenschlüsse wie die ERGEG (s.u.) und die Netzbetreiberverbände auch die Foren dominieren.
Die ERGEG ist ein im Jahr 2003 durch Beschluss der Kommission eingesetztes formelles Beratungsgremium, das sich aus den Energieregulierungsbehörden der Mitgliedstaaten zusammensetzt. Es ist das Hauptberatungsorgan der Kommission in Energiebereich und stellt die Formalisierung des CEER, eines privaten Vereins, dar, in dem noch weitere Regulierungsbehörden von Nicht-EU-Staaten Mitglied sind. Auch der CEER ist auf Initiative der Kommission entstanden. Der CEER und die ERGEG spielen bei der netzwerkbezogenen Politik eine entscheidende Rolle (Sanden 2009: 82f.), auch im Rahmen der ACER-Gründung. Daher werden sie als Akteure unter Punkt 3.2.5 noch näher beschrieben.
Zum Vergleich mit der ACER sei eine ähnlich weit entwickelte Agentur, die Agentur für Flugsicherheit EASA (European Aviation Safety Agency), herangezogen. Sie wurde 2003 gegründet und hat ihren Sitz in Köln. Ihre Aufgaben sind nach eigenen Angaben die „fachliche Beratung der EU bei der Erarbeitung neuer Rechtsvorschriften, [die] Umsetzung und Überwachung von Sicherheitsvorschriften, z. B. durch Kontrollen in den Mitgliedsstaaten, [die] Musterzulassung luftfahrtechnischer Produkte (Flugzeuge, Triebwerke, Ausrüstungsteile) sowie Genehmigung von Unternehmen, die im Bereich der Entwicklung, Herstellung und Wartung von Luftfahrtprodukten tätig sind, [die] Sicherheitsgenehmigung für außereuropäische Airlines [sowie die] Datenerhebung, Analyse und Forschung zur Verbesserung der Flugsicherheit." (EASA o.J.). Schon zu Zeiten ihrer Gründung war sie die „mächtigste" Agentur mit der Kompetenz zur Fällung von wichtigen Einzelfallentscheidungen, eben den oben angesprochenen Genehmigungen. Vos widmete ihr bei ihrer Agenturklassifizierung eine eigene Kategorie (Vos 2003: 121). Im März 2009 einigten sich der Rat und das Parlament zudem darauf, die EASA zum One-Stop- Shop der europäischen Luftsicherheit auszubauen. Ab 2012 bzw. 2013 wird sie von den nationalen Behörden die Aufgabe übernehmen, in bestimmten Teilbereichen bindende und harmonisierte Regeln zu erlassen (Euractiv 2010d). Schon auf Grundlage der bis dato gültigen Verordnung Nr. 216/2008 konnte die EASA zusätzlich zu den Einzelfallentscheidungen auch Zulassungsspezifikationen, u.a. Lufttüchtigkeitskodizes, erlassen, die dann im Zulassungsverfahren verwendet werden (Art. 19 Abs. 2 der VO). Diese technischen Kodizes können von der EASA vollkommen selbstständig ohne Rückgriff auf andere Organe oder Verfahren (z.B. Komitologie) angenommen werden (Riedel 2006: 6). Diese Zulassungsspezifikationen werden zwar als unverbindliche Regeln qualifiziert, was sie aber in der Praxis nicht sind, da die EASA bei der Zulassung verbindlich auf sie rekurriert (Kahl 2008: 260).
Das o.g. Prinzip des One-Stop-Shops ist das Werbebanner der letzten Reform des europäischen Kartellrechts bzw. der Zusammenarbeit der nationalen Kartellbehörden und der Kommission. Es ist ein Grund für die Schaffung des Europäischen Netzes der Wettbewerbsbehörden (ECN = European Competition Network) im Jahr 2004, das eine effiziente Verweisung von Fällen zwischen den einzelnen mitgliedstaatlichen Behörden und der EU-Kommission ermöglichen soll. Das Netzwerk hat weder Rechtspersönlichkeit noch originäre Kompetenzen. Es ist lediglich ein Forum für die beteiligten Behörden, in dem Fälle mit europäischer Tragweite und allgemeine sektorspezifische Erfahrungen diskutiert werden. Damit hat das ECN auch die Aufgabe der informellen Angleichung der Rechtspraxis. Zusätzlich erhält die Kommission bei anhängigen Fällen Unterstützung durch einen speziellen Beratungsausschuss (Europäische Kommission o.J. a; Oelke 2006). Anders als im Falle der Energieregulierung hat die EU-Kommission in diesem Rechtsbereich eine eindeutige Kompetenz und kann daher im Netzwerk als „primus inter pares" agieren (Lehmkuhl 2009: 113). Das ECN ist ein formalisierter und auf die EU-Staaten beschränkter Nachfolger der ECA (European Competition Authorities).
Das bisher erfolgreichste Netzwerk, das schon gar nicht mehr als solches wahrgenommen wird, ist das System der Europäischen Zentralbanken (ESZB). Es ist primärrechtlich verankert (Art. 105ff. EGV, Protokoll über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank (Maastricht-Anhang)). An seiner Spitze steht die Europäische Zentralbank (EZB), dessen Entscheidungsgremien der EZB-Rat und das Direktorium sind (Art. 107 EGV). Die sechs Mitglieder des Direktoriums werden intergouvememental bestimmt, der EZB-Rat wiederum setzt sich aus dem Direktorium und den Präsidenten der nationalen Zentralbanken zusammen. Durch die lange Amtszeit des Direktoriums (acht Jahre ohne Wiederwahl, Art. 112 EGV) und die völlige Weisungsfreiheit (Art. 108 EGV) ist die EZB als sehr unabhängige Institution konzipiert. Die Aufgaben und Entscheidungskompetenzen von EZB und ESZB sind ausgesprochen weitreichend (Art. 105 EGV). Deswegen wurde immer wieder von Seiten nationaler Regierungen oder aus dem informellen Ausschuss der Euro-Finanzminister heraus versucht, politischen Druck auf die EZB auszuüben (Loedel 2002: 209).
3.1.5. Rechtliche Situation von Agenturen in der EU: Die Meroni-Entscheidung
Die rechtliche Situation von Agenturen im Allgemeinen und denen der EU im Besonderen ist ein beliebter Forschungsgegenstand. Die allgemeinen rechtlichen Überlegungen betreffen dabei vorwiegend Fragen der Verfassungsmäßigkeit (Stichworte Gewaltentrennung und Rechenschaftspflicht) (z.B. Zwart 2009). Die Diskussion um die klassische Verfassungsmäßigkeit ist im Falle der EU wegen des anderen institutionellen Kontexte nicht einschlägig, hier geht es insbesondere um die Möglichkeit und Basis der Agenturgründung selbst sowie das Ausmaß der zulässigen Kompetenzübertragung.
Die EuGH-Entscheidung, die den Diskurs beherrscht, ist die Meroni-Rechtssprechung („Meroni-Doktrin") aus dem Jahr 1958 (Rs. 9/56 und 10/56), eine aktuelle Rechtsprechung zu den modernen EU-Agenturen hat seitens des EuGH nicht stattgefunden. Im Folgenden werden der Sachverhalt dargestellt, die Implikationen für die Gründung von Agenturen erläutert und eine mögliche Gegenargumentation zusammengefasst.
Der Meroni-Fall steht im Kontext der EGKS (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl). Es ging dabei um die Regulierung von Schrottpreisen, speziell um Ausgleichszahlungen, die die EG-weiten Preise niedrig halten sollten. Ein auf freiwilliger Kooperation beruhendes System war gescheitert, so dass die Hohe Behörde (=EGKS-Entsprechung der Kommission) ein obligatorisches System einführte. Mit der Durchführung beauftragte sie die privatrechtliche Organisation, die auch schon in Zeiten des Kooperationssystems den Verwaltungsauftrag innehatte. Die Eingriffsbefugnisse gingen dem italienischen Stahlunternehmen Meroni zu weit, so dass es gegen die Übertragung der Aufgabe Klage erhob (Weller 2002: 34).
In der darauf folgenden Rechtssprechung des EuGH legte dieser Vorbedingungen und grundsätzliche Anforderungen für die Zulässigkeit der Übertragung von Hoheitsbefugnissen fest. Die Vorbedingungen sind: Die übertragenen Befugnisse dürfen nicht weiter reichen als die der übertragenden Behörde selbst; außerdem muss die Übertragung ausdrücklich erfolgen. Hinsichtlich der Anforderungen verneint der EuGH die Möglichkeit eines Ermessensspielraums seitens der beauftragten Stelle - es können nur genau umgrenzte Ausführungsbefugnisse übertragen werden (EuGH vom 13. Juni 1958, verb. Rs. 9 und 10/56; Ehricke 2009: 49f.; Vos 2003: 129f.).
Die dargestellte Meroni-Doktrin spielt bei der Bewertung von Agentur-Tätigkeit bis heute eine entscheidende Rolle und wird gemeinhin als Rechtfertigung für knapp bemessene Kompetenzen herangezogen. Es gibt jedoch gewichtige Argumente gegen die direkte Anwendung der Meroni-Doktrin auf Agenturen der EU. Die Argumentation fasst Weller (Weller 2002) unter Berücksichtigung von u.a. Ehlermann, Yatanagas, Fischer-Appelt, Ladeur und Dehousse folgendermaßen zusammen (ähnlich laut Everson 2009 auch Geradin und Petit):
Die Entscheidung erging im Rahmen des EGKS - der EGV ist als „Rahmenvertrag" wesentlich flexibler. Desweiteren bezog sie sich auf privatrechtlich errichtete Einheiten, während Agenturen in den institutionellen Gemeinschaftskontext eingebunden sind. Die heutige Wirklichkeit der EU kennt und braucht eine Ausdifferenzierung der Verwaltungsstruktur - und über den Umweg der Mitgliedstaaten an mitgliedstaatliche, private Stellen übertragene Aufgaben (Bsp. Erasmus) werden auch nicht in Frage gestellt. Zudem behandeln die Agenturen meist sehr komplexe, technische Fragen - ihr „Rat" wird von der Kommission häufig zwangsläufig ungefragt übernommen. Einen politischen Entscheidungsspielraum brauchen sie dennoch nicht - technisches Ermessen ist unterhalb der politischen Leitlinien gefragt. Außerdem vernachlässigt die Meroni-Doktrin, dass Ermessensentscheidungen von Agenturen vollumfänglich durch das Rechtssystem der EU kontrollierbar sind. Auch das institutionelle Gleichgewicht - die europäische Entsprechung der Gewaltenteilung - ist nicht zwangsläufig bedroht, weil die Institutionen feste Verbindungen zur Agentur haben bzw. in ihr widergespiegelt werden. Zudem geht es bei der „Ermächtigung" von Agenturen meistens nicht um eine horizontale Kompetenzverlagerung wie bei der Schrottbehörde (Kommission ^ Behörde), sondern um vertikale Kompetenzverlagerung, da die Kompetenzen der Agenturen in spe meist zuvor die Mitgliedstaaten innehatten.
3.2. Mitspieler
Nachdem nun umfänglich der politische und rechtliche Hintergrund der ACER-Verhandlungen erläutert wurde, betrachten wir als nächstes die Mitspieler des Aushandlungsprozesses. Die kollektiven Akteure sind dabei vorrangig die EU-Organe.
3.2.1. Kommission
Die Kommission ist die „europäische" Institution schlechthin: Theoretisch unabhängig von mitgliedstaatlichen Interessen soll sie sachorientiert den europäischen Gedanken vorantreiben, der in den Verträgen verankert ist. Von ihrem Ursprung her ist sie kein politisches, sondern ein Expertengremium. Die Hauptaufgaben der Kommission sind die Ausführung europäischer Politik auf Gemeinschaftsebene (Verwaltung) und das Erstellen von Legislativvorschlägen. Die Kommission hat im europäischen Gesetzgebungsverfahren das Initiativmonopol. Damit kann sie einen beträchtlichen Einfluss auf die europäische Entwicklung ausüben und ist zusammen mit dem EuGH das wohl „mächtigste" Organ der EU. Außerdem kann sie Vertragsverletzungverfahren - insbesondere gegen die Mitgliedstaaten - einleiten (Pollack 2003: 75ff.).
Die Kommission setzt sich zusammen aus einem Kommissar pro Mitgliedstaat, die ihre Beschlüsse als Kollegium treffen. Zu Zeiten der ACER-Entstehung hatten wir es also mit 27 Kommissaren zu tun, davon zwölf aus verhältnismäßig neuen Mitgliedstaaten. Die Kommissare sind unabhängig von Weisungen aus ihrem Heimatstaat, eine völlige Unabhängigkeit wird jedoch wiederholt angezweifelt (bspw. Wonka 2008, Topan 2006). Die Amtszeit der Kommission dauert fünf Jahre und verläuft in etwa parallel zur Legislaturperiode des Parlaments.
Auf Verwaltungsebene ist die Kommission untergliedert in thematische Generaldirektionen, die bis vor kurzem nicht zwangsläufig mit den Ressorts der Kommissare kongruent waren. Die Generaldirektionen arbeiten den Kommissaren zu. Den Generaldirektionen steht ein Generaldirektor vor, der politisch im Schatten des jeweiligen Kommissars bleibt. Beide haben niemals die gleiche Nationalität, um die Vereinnahmung eines Politikbereichs auszuschließen. Auch bei den übrigen Beamten wird - gerade auf höherer Ebene - auf ein ausgewogenes Verhältnis der Nationalitäten geachtet (u.a. Topan 2006: 166f.; Hooghe 2001). Die Kommission ist kein homogener Akteur - in ihr streiten, wie in den anderen Organen auch, politische Vorstellungen, berufliche und nationale Prägungen (Hooghe 2001). Manche Generaldirektionen (GDs) sind allerdings so stark und dauerhaft von einer Nationalität geprägt, dass man schon von einer „Eroberung" sprechen kann (Topan 2006: 167). So gilt beispielsweise die GD Wettbewerb als deutsch geprägt (Schmidt 1998: 69), auch die GD TREN (Transport und Energie) hat auf den wichtigsten Positionen Deutsche (s.u.).
Die tatsächliche Macht der Kommission differiert von Politikfeld zu Politikfeld. Je stärker europäisiert ein Politikfeld ist, desto mehr Kompetenzen hat die Kommission, da ihr die europäisierten Kompetenzen in der Regel zugedacht werden (Majone 2005: 90). Über Durchführungsverordnungen, Leitlinien und bindende Entscheidungen, die die Kommission relativ autark produziert, prägt sie die Details der Politikgestaltung und darüber auch deren Entwicklung entscheidend. Die Kommission ist darauf bedacht, einmal erlangte Kompetenzen unbedingt zu behalten und diese nicht - unter eventuell größerer Aufsicht der Mitgliedstaaten - an unabhängige Agenturen abzutreten. Die Argumentationsbasis zur Durchsetzung dieses institutionellen Selbstinteresses bildet dabei regelmäßig die Meroni-Doktrin und das Prinzip des institutionellen Gleichgewichts (Majone 2005: 90; Everson 2009: 119).
Aber auch wenn die Kommission „normale" Entscheidungen im Rahmen ihrer Kompetenzen trifft, sind in vielen Fällen die Mitgliedstaaten über das Komitologie-Verfahren beteiligt. Eine ungeheure Zahl von Ausschüssen, bestehend aus nationalen Regierungsvertretern und Experten berät die Kommission bei ihren Entscheidungen. Je nach Verfahrenstyp kann für eine Entscheidung auch die Zustimmung eines Ausschusses nötig sein. Ist dieser dagegen, geht die Entscheidung weiter an den Rat. Diese scheinbar umfangreiche mitgliedstaatliche Kontrolle bei der Exekutivfunktion der Kommission ist die politische Voraussetzung für die Übertragung von weitreichenden Kompetenzen. Deswegen hat sich die Kommission auch nicht weiter dagegen gewehrt (Bergström 2005: 316). Tatsächlich fühlt sich die Kommission durch die Komitologie aber kaum eingeschränkt. Sie nutzt das System hauptsächlich zur Informationsgewinnung, und in der Praxis ist eine Weiterleitung an den Rat selten und endet im Zweifel mit der Zustimmung zum ursprünglichen Kommissionsvorschlag (Majone 2005: 91). Die Kommission dirigiert das Orchester der Komitologie-Ausschüsse also sehr erfolgreich und kann es als Legitimationsbasis für möglichst weitreichende Kompetenzen nutzen.
[...]
[1] Die weiteren Mitglieder dieser Gruppe waren Deutschland, Frankreich, Österreich, Luxemburg, Griechenland und Bulgarien (Europäisches Parlament 2008e).
- Quote paper
- Tatjana Böttger (Author), 2010, Die neue europäische Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ACER), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/162305
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