Unter den Texten, die Franz Kafka Max Brodt schriftlich bat, nach seinem Tode ungelesen zu verbrennen, findet sich ein Brief, in dem sich Kafka an seinen Vater Hermann richtet. Dieser Brief, entstanden zwischen dem 10. und 19. November 1918, hat seit seiner Veröffentlichung eine grundlegende Funktion in der Interpretation kafkascher Literatur eingenommen. Er stellt, auf den ersten Blick, schlichtweg die autobiographische Beschreibung des konfliktreichen Verhältnisses Kafkas zu seinem Vater dar. Das Thema „Obrigkeit vs. Untergebener“, welches in Kafkas Werk immerwieder auftaucht, scheint seinen Prototypen in diesem Verhältnis zu haben. Dadurch ist die Herleitung seiner literarischen Themen aus dem Privatleben zum Allgemeinplatz der Kafkaanalyse geworden.
Auf den zweiten Blick jedoch tun sich einige Fragen auf, durch welche der Stellenwert jenes Briefes ins Wanken gerät. An erster Stelle steht hier das Problem der Kategorisierung, womit bereits Max Brod Schwierigkeiten hatte. Müller-Seidel sieht darin bereits einen Hinweis auf eine mögliche literaturgeschichtliche Zuordnung:
„Die mangelnde Eindeutigkeit in der Zuordnung ist aber ihrerseits schon ein Merkmal moderner Literatur, die auf den Dichtungsbegriff der Tradition nicht festzulegen ist. Es hat daher durchaus seine Richtigkeit, wenn Max Brod nicht recht wußte, wohin denn nun ein Text wie dieser gehören soll: zu den Werken oder zu dem Band der gesammelten Briefe.“
Bis heute besteht kein Konsens darüber, wie der Brief einzuordnen ist, was bereits zur nächsten Frage führt: Handelt es sich beim „Brief an den Vater“ überhaupt wirklich um einen Brief, also ein privates Schreiben, das an einen Empfänger gerichtet ist und in der Absicht verfasst wurde, es diesem zukommen zu lassen? Oder handelt es sich nicht vielmehr um einen literarischen Text, der dem Werk Kafkas zuzuordnen ist? Für Letzteres spräche beispielsweise, dass Hermann Kafka den Brief nie erhalten hat.
Die vorliegende Arbeit soll der Frage nachgehen, welche Absicht hinter Kafkas „Brief an den Vater“ steckt. Hierzu wird zunächst das Vater-Sohn-Verhältnis wie Kafka es im Brief darstellt betrachtet, um anschließend im größeren Zusammenhang Kafkas Vorgehens- und Argumentationsweise, sowie daraus resultierend seine Absicht erkennen zu können.
Inhaltsverzeichnis
- I. Einleitung
- II. Darstellung des Vaters im Brief
- II.1 Hermann Kafka
- II.2 Vater und Sohn
- II.2.1 Judentum
- II.2.2 Gewalt und Sprache
- II.2.3 Ehe
- II.2.4 Schule/Arbeit/Karriere
- II.3 Vater und Familie
- III. Zur Intention des Briefes
- III.1 ,,Beidseitige Unschuld\"?
- III.2 Kafkas Wahrheit
- IV. Schluss
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit Franz Kafkas „Brief an den Vater“ und untersucht die Absicht hinter diesem Schreiben. Hierzu wird das Vater-Sohn-Verhältnis, wie Kafka es im Brief darstellt, analysiert. Ziel ist es, Kafkas Vorgehens- und Argumentationsweise im Brief zu verstehen und seine Intention dahinter zu ergründen.
- Das konfliktreiche Verhältnis zwischen Franz und Hermann Kafka
- Die Darstellung Hermann Kafkas als herrischer und launischer Machtmensch
- Die Rolle des Judentums im Brief und dessen Einfluss auf die Beziehung zwischen Vater und Sohn
- Die Verwendung von Sprache und Stilmitteln durch Kafka im Brief
- Die Frage nach der literarischen Bedeutung des „Brief an den Vater“
Zusammenfassung der Kapitel
In der Einleitung wird der „Brief an den Vater“ als ein wichtiger Text für die Interpretation Kafkascher Literatur eingeführt. Es wird auf die Problematik der Einordnung des Briefes eingegangen und die Frage aufgeworfen, ob es sich um ein privates Schreiben oder einen literarischen Text handelt.
Das zweite Kapitel befasst sich mit der Darstellung Hermann Kafkas im Brief. Es wird beschrieben, wie Kafka seinen Vater als einen herrischen und launischen Machtmenschen darstellt, der seinem Sohn keine Zuneigung entgegenbringt. Die Kapitel beleuchten verschiedene Bereiche des Lebens Hermann Kafkas, wie seine Herkunft, seinen Militärdienst und seine berufliche Laufbahn. Zudem wird der Einfluss dieser Faktoren auf die Beziehung zwischen Vater und Sohn untersucht.
Schlüsselwörter
Die wichtigsten Schlüsselwörter des Textes sind: Franz Kafka, Hermann Kafka, Vater-Sohn-Verhältnis, Brief, Konflikte, Judentum, Gewalt, Sprache, Stilmittel, Literatur, Interpretation.
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- Patrick Wolf (Author), 2009, „Das edle Gefühl der Nichtigkeit“ Franz Kafkas Brief an den Vater, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/161396