„Eine gelungene Prävention erkennt man daran, dass man ihre Wirkung nicht mehr sieht. Wenn alles gewirkt hat, wie es sollte, dann hat niemand ein Problem gehabt, niemand etwas gemerkt. Sofort wird sich dann die Frage gestellt, wozu man denn diesen aufwändigen Kurs, dieses Training, diese Schulung, diese Supervision überhaupt
gebraucht hat – es gab doch gar kein Problem. Das ist natürlich falsch, aber es ist verständlich, denn das Leben hat keine Kontrollgruppe, leider. Wir sehen niemals, wie das Leben verlaufen wäre, wenn dieses oder jenes nicht so gewesen wäre, wie es eben tatsächlich war. Und so sehen wir insbesondere niemals, ob
die Vorbeugung, die wir uns geleistet haben, wirklich nötig war, weil wir nicht wissen, wie es ohne sie gekommen wäre.“ (Greve 2010, S. 9).
Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit bei Kindern und Jugendlichen sind weder neue noch besonders akute Themen, jedoch in ihrer Aktualität nicht weniger erheblich. Auch wenn die 2009 veröffentlichte Studie des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen seit 1998 tendenziell rückläufige Zahlen in der Kriminalstatistik verzeichnet, ist die fast 100%iger Zunahme von Gewalttaten bei 14-18 Jährigen von 1990 bis 1999 nicht zu vernachlässigen.
Die Verschärfung dieser Problematik und die sich abzeichnende Entwicklung verlangen zunehmend nach Lösungen. Im Zuge dessen wuchs die Anzahl der Interventions- und vor allem der Präventionsmaßnahmen, um dieser Entwicklung vorzubeugen.
Im Vergleich zu Interventionen sind präventive Konzepte sowohl langfristig erfolgreicher als auch deutlich kostengünstiger. Da an Kindergärten und Schulen aggressive und gewaltbereite Verhaltensweisen zum Dauerthema geworden sind, konzentrieren sich effektive Präventionsansätze, über die Unterstützung der Familien hinaus, auf die Entwicklungsbedingungen der Kinder in den außerfamiliären sozialen Beziehungen in Kindergärten und Schulen. Auch aus entwicklungspsychologischen und neurobiologischen Forschungsbefunden geht hervor, dass sich vorbeugende Maßnahmen auf die frühe Kindheit fokussieren sollten. Demnach bieten sich die Jahre im Vorschulalter besonders für primäre Präventionsmethoden an.
FAUSTLOS ist das einzige in Deutschland existierende Gewaltpräventionsprogramm, das für diese Altersgruppe entwickelt wurde. Vor diesem Hintergrund ergab sich das Forschungsinteresse der vorliegenden Arbeit.
Intention ist es, unter Einbeziehung von Erzieherinnen, das Projekt FAUSTLOS an Kindergärten zu evaluieren.
INHALTSVERZEICHNIS
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
I EINLEITUNG
II THEORETISCHER RAHMEN
1. GEWALT
1.1 Begriffsklärung
1.2 Klassische Ursachenmodelle von Gewalt
1.2.1 Trieb- und Instinkttheorie
1.2.2 Frustrations- und Aggressionshypothese
1.2.3 Lerntheorie
1.3 Kindheit und Gewalt
1.3.1 Der familiäre Kontext für die Entstehung von aggressiven Verhaltensweisen
1.3.2 Schule und Kindergarten als Kontext für aggressives Verhalten von Kindern
1.3.3 Gewalt im gesellschaftlichen Kontext
2. GEWALTPRÄVENTION
2.1 Begriffsklärung
2.2 Möglichkeiten der Gewaltprävention bei Kindern
2.2.1 Personenzentrierte Prävention
2.2.2 Familienzentrierte Prävention
2.2.3 Außerfamiliäre Präventionsansätze
III STAND DER EMPIRISCHEN FORSCHUNG
1. FAMILIENZENTRIERTE PRÄVENTIONSPROGRAMME
1.1 Programme der Frühprävention
1.2 Elternprogramme
2. AUSSERFAMILIÄRE PRÄVENTIONSPROGRAMME
IV FRAGESTELLUNG DER UNTERSUCHUNG
V BESCHREIBUNG DES PROGRAMMS “FAUSTLOS“
VI QUALITATIVE EVALUATION ALS METHODISCHER
ANSATZ
1. GRUNDPRINZIPIEN UND GÜTEKRITERIEN
QUALITATIVER FORSCHUNG
2. FORSCHUNGSDESIGN
3. UNTERSUCHUNGSVERFAHREN
3.1 Fallbestimmung
3.2 Erhebungsverfahren
3.3 Aufbereitungsverfahren
3.4 Auswertungsverfahren
VII DARSTELLUNG DER ERGEBNISSE
1. PROFILE DER KINDERGÄRTEN
2. CHARAKTERISTIKA DER ZIELGRUPPE
3. VERGLEICHENDE THEMATISCHE AUSWERTUNG DER EINZELFALLDARSTELLUNGEN
3.1 Gestaltung des FAUSTLOS-Unterrichtes
3.2 Erfahrungen während der Umsetzung von FAUSTLOS
3.2.1 Resonanz und Umgang der Kinder mit FAUSTLOS
3.2.2 Altersbezogene Erfahrungen
3.2.3 Geschlechtsbezogene Erfahrungen
3.2.4 Einbindung der Eltern
3.2.5 Kritik
3.3 Wirksamkeit des Projektes
3.4 Bilanzierung
4. EVALUATION DES PROJEKTES
VIII SCHLUSSBETRACHTUNG UND AUSBLICK
LITERATURVERZEICHNIS
ANHANG
A - EINVERSTÄNDNISERKLÄRUNG
B - TRANSKRIPTIONEN
C - KATEGORIENSYSTEM
D - EINZELFALLDARSTELLUNGEN
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
Abbildung 1: Eine Typologie der Gewalt (vgl. Esser/Dominikowski 1997, S. 31) Abbildung 2: Ursachen von Gewalt (vgl. Jäger 1999, S. 239)
Abbildung 3: Kreisprozess der sozialen Informationsgewinnung (vgl. Lemerise/Arsenio 2000)
Abbildung 4: Möglichkeiten der Intervention im Kreismodell (vgl. Lemerise/Arsenio 2000)
Abbildung 5: Reihenfolge und Inhalte der Lektionen für den Kindergarten (vgl. Cierpka 2009, S. 52f.)
Abbildung 6: Ablaufplan Einzelfallanalyse (eigene Darstellung)
Abbildung 7: Leitfaden
Abbildung 8: Ablaufmodell induktiver Kategorienbildung (vgl. Mayring 2002. S 116)
DAS PRÄVENTIONSPARADOX
WIE MACHT MAN SICHTBAR, DASS ETWAS VERSCHWINDET?
„Eine gelungene Prävention erkennt man daran, dass man ihre Wirkung nicht mehr sieht. Wenn alles gewirkt hat, wie es sollte, dann hat niemand ein Problem gehabt, niemand etwas gemerkt. Sofort wird sich dann die Frage gestellt, wozu man denn diesen aufwändigen Kurs, dieses Training, diese Schulung, diese Supervision überhaupt gebraucht hat - es gab doch gar kein Problem. Das ist natürlich falsch, aber es ist verständlich, denn das Leben hat keine Kontrollgruppe, leider.
Wir sehen niemals, wie das Leben verlaufen wäre, wenn dieses oder jenes nicht so gewesen wäre, wie es eben tatsächlich war. Und so sehen wir insbesondere niemals, ob die Vorbeugung, die wir uns geleistet haben, wirklich nötig war, weil wir nicht wissen, wie es ohne sie gekommen wäre. “ (Greve 2010, S. 9).
I. EINLEITUNG
Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit bei Kindern und Jugendlichen sind weder neue noch besonders akute Themen, jedoch in ihrer Aktualität nicht weniger erheblich. Auch wenn die 2009 veröffentlichte Studie des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen (Baier u.a. 2009) seit 1998 tendenziell rückläufige Zahlen in der Kriminalstatistik verzeichnet, ist die fast 100%iger Zunahme von Gewalttaten bei 14-18 Jährigen von 1990 bis 1999 (Bundeskriminalamt 2006) nicht zu vernachlässigen.
Die Verschärfung dieser Problematik und die sich abzeichnende Entwicklung verlangen zunehmend nach Lösungen. Im Zuge dessen wuchs die Anzahl der Interventions- und vor allem der Präventionsmaßnahmen, um dieser Entwicklung vorzubeugen (vgl. Schick/Cierpka 2005, S. 463).
Im Vergleich zu Interventionen sind präventive Konzepte sowohl langfristig erfolgreicher als auch deutlich kostengünstiger (vgl. Bruene-Butler u.a. 1997; Slaby 1998). Vorbeugen statt Nachsorgen hat den „entscheidenden Vorteil, dass innerpsychologische Strukturen der Kinder noch nicht verfestigt sind und man die sozialen und emotionalen Kompetenzen auf eine kindgemäße, spielerische und dadurch lernförderliche Art und Weise vermitteln kann.“ (Schick/Cierpka 2005, S. 463).
Da an Kindergärten und Schulen aggressive und gewaltbereite Verhaltensweisen zum Dauerthema geworden sind, konzentrieren sich effektive Präventionsansätze, über die Unterstützung der Familien hinaus, auf die Entwicklungsbedingungen der Kinder in den außerfamiliären sozialen Beziehungen in Kindergärten und Schulen. Auch aus entwicklungspsychologischen und neurobiologischen Forschungsbefunden geht hervor, dass sich vorbeugende Maßnahmen auf die frühe Kindheit fokussieren sollten. Demnach bieten sich die Jahre im Vorschulalter besonders für primäre Präventionsmethoden an.
FAUSTLOS ist das einzige in Deutschland existierende Gewaltpräventionsprogramm, das für diese Altersgruppe entwickelt wurde. Vor diesem Hintergrund ergab sich das Forschungsinteresse der vorliegenden Arbeit.
Intention ist es, unter Einbeziehung von Erzieherinnen, das Projekt FAUSTLOS an Kindergärten zu evaluieren.
Kapitel II beschäftigt sich zunächst mit theoretischen Grundlagen, die zum Thema Gewaltprävention hinführen. Anschließend wird der aktuelle Forschungsstand präventiv ansetzender Programme in Kapitel III dargelegt. Als Grundlage zur Untersuchung wird das Konzept von FAUSTLOS vorgestellt, um im Anschluss daran, mit Hilfe einer qualitativen Evaluation, subjektive Erfahrungsbericht und Deutungsmuster zu FAUSTLOS zu entwickeln.
In diesem Sinne wird der Frage nachgegangen, wie Erzieherinnen das Kindergarten Curriculum von FAUSTLOS wahrnehmen und bewerten.
II THEORETISCHER RAHMEN
1 GEWALT
1.1 Begriffsklärung
Gewalt und Aggression sind häufig verwendete Begriffe, denen eine sehr große Bandbreite an Bedeutungen zugrunde liegt. Es ist fast unmöglich auch nur ansatzweise alle Varianten von Gewalt zu beschreiben. Die Verwendung beider Begriffe ist meist synonym, obwohl sie in ihrem Ursprung doch sehr unterschiedlich sind. Darum sollen hier zunächst Definition und Bedeutung erläutert werden.
Der Gewaltbegriff ist eindeutig negativ konnotiert und meint im allgemeinen Sprachgebrauch Gewalttätigkeit, im Sinne eines Gewaltaktes. Aggression hingegen wird mit negativ als auch positiv bewerteten Verhaltensmustern beschrieben (vgl. Ratzke 2002, S. 16) und meint zunächst nur die Fähigkeit von Menschen zur Aktivität und zur Kontaktlust, die in verschiedenen Formen von Selbstbehauptung bis hin zur Grausamkeit zum Ausdruck kommen kann (vgl. Remschmidt u.a. 1990). Aggression kann, muss aber nicht zu einer Gewalttat führen.
Da sich die vorliegende Arbeit jedoch ausschließlich mit negativen Verhaltensmustern befasst, werden die Begriffe Gewalt und Aggression im weiteren Verlauf als gleichwertig betrachtet. Dementsprechend wurde auch in den letzten Jahren an Stelle des herkömmlichen Aggressionsbegriffs der Oberbegriff Gewalt eingesetzt, der alle Formen von aggressiven Handlungen subsumiert.
Dem Versuch einer Begriffsbestimmung näher zu kommen, soll zusätzlich folgende Eingrenzung vorweg genommen werden. Wenn sich diese Arbeit mit einem Verhalten beschäftigt, das sich als problematisch darstellt und zum Handeln, egal ob reaktiv oder präventiv, auffordert, dann hilft hier eine zu weitgefasste Erläuterung der Begriffe Gewalt und Aggression nicht weiter. Darunter fällt auch eine Erklärung der Begriffe mit Rückgriff auf die Wortwurzel.
Dass Gewalt und Aggression mit einer Schädigung zu tun haben, lässt sich in nahezu jeder Definition finden. Viele sprechen darüber hinaus noch von einer Intention. Derjenige, der sich aggressiv verhält, tut dies demnach mit der Absicht oder dem Ziel eine Schädigung zu verursachen (vgl. Werbik/Munzert 1978). Dies erscheint sinnvoll, wenn wir versuchen Gewalt und Aggression von Tätigkeiten abzuheben, bei denen ein Schaden aus Ungeschick entsteht. Jedoch sollte eine klare Absicht nicht als Grundvoraussetzung verstanden werden, denn sie kann beispielsweise bei einer massiven Gewaltausübung eines unzurechnungsfähigen Täters fehlen. Das Kriterium der Absicht ist demnach nicht ganz unproblematisch. Mit dem Ziel, den gesundheitlich Zustand eines Patienten zu verbessern, fügt ein Chirurg beispielsweise dem Patienten bei einer Operation ‘bewussť körperlichen Schaden zu. Würden wir deshalb das Operieren als aggressives und gewalttätiges Verhalten bezeichnen? Eine passendere sprachliche Beschreibung ergibt sich mit dem Begriff der „Gerichtetheit“ (vgl. Dückers 2006, S. 13). “Gewalt und Aggression sind also gegen Personen oder Sachen gerichtete Handlungen, die Schädigungen nach sich ziehen können.“ (Ebd., S. 13). Es wird demnach auch von Aggression und Gewalt gesprochen, obwohl objektiv gesehen kein Schaden entstanden ist. Allein die gerichtete Handlung, die einen Schaden nach sich ziehen kann, genügt, um die Tat als aggressiv und gewalttätig zu bezeichnen.
Eine Definition der Begriffe sollte keinen wertenden Charakter haben und sollte deshalb vermieden werden. Denn wenn Aggression und Gewalt in einen wertenden Zusammenhang gebracht werden, lässt sich nicht mehr objektiv festlegen, ob eine Tat als aggressiv bezeichnet werden kann. Was normgerechte, angemessene oder sinnvolle Handlungen sind oder nicht, wäre dann stark von situativen Zusammenhängen und individuellen Maßstäben abhängig. Ob eine Ohrfeige beispielsweise zur normalen Erziehung gehört oder bereits zu gewalttätiger Auseinandersetzung gezählt wird, ist sehr stark vom eigenen Werturteil abhängig und kann von unterschiedlichen Personen jeweils anders gedeutet werden (vgl. Ebd., S. 14 f.).
In der vorliegenden Arbeit geht es konkret um personenbezogene Gewalt- und Aggressionsformen, die von Kindern gezeigt und ausgeübt werden, sowie um die Zerstörung von Gegenständen durch Kinder. Daher soll folgende Definition zugrundegelegt werden:
Als Aggressionen und Gewalt werden gegen Personen oder Sachen gerichtete Handlungen bezeichnet, die eine Schädigung verursachen, verursachen wollen oder in Kauf nehmen.
Gewalt ist vielschichtig und ihre Erscheinungsformen sind vielfältig. Die meiste Beachtung finden hierbei körperliche Auseinandersetzungen, aber auch andere, subtilere Formen, die seltener wahrgenommen und als weniger problematisch gesehen werden. Eine Möglichkeit der Differenzierung von Erscheinungsformen zeigt sich, indem man das Objekt der Gerichtetheit unterscheidet. Damit lassen sich drei Bereiche voneinander abgrenzen:
- Aggression und Gewalt gegen Menschen
- Aggression und Gewalt gegen Sachen
- Strukturelle Gewalt
Aggression und Gewalt gegen Menschen
Der Grundcharakter des Gewaltbegriffs bezieht sich auf die „zielgerichtete, direkte physische Schädigung von Menschen durch Menschen.“ (Schwind u.a. 1990, S. 36). Die physische Gewalt umfasst unter anderem Schläge, Stöße und Stiche, die zu körperlichen Verletzungen führen. Solche körperliche Auseinandersetzungen erregen großes Aufsehen und es bildet sich meist schnell eine Menschentraube um sich prügelnde Menschen.
Deutlich häufiger als physische Gewalt treten sprachliche Aggressionen, verbale Gewalt, auf, jedoch ziehen Beschimpfungen und Beleidigungen längst kein so großes Interesse auf sich. Auch diese Form der Gewalt ist gegen andere Personen gerichtet und bezweckt, das Gegenüber zu verletzen und in seinem Verhalten durch beleidigende, erniedrigende und entwürdigende Äußerungen zu beeinflussen (vgl. Cierpka 2008a, S. 15). Solche verbalen Aggressionen und Beschimpfungen laufen unauffälliger ab, geschehen meist nebenbei und werden außer von den Betroffenen selten wahrgenommen (vgl. Dückers 2006, S. 16 ff.).
Ähnlich wie die verbale Gewalt ist auch die psychische Gewalt eher unauffällig. Eine Schädigung kann hier sogar ohne direkte Konfrontation erreicht werden, indem man sich dem Gegenüber als Gesprächs- oder Interaktionspartner entzieht und damit die Person beleidigt, demütigt, enttäuscht oder verletzt (vgl. Ebd., S. 18). Als psychische Gewalt bezeichnet man die gewollte, in Kauf genommene oder tatsächlich eingetretene Schädigung beziehungsweise „Verletzung eines anderen durch Abwendung, Ablehnung, Abwertung, durch Entzug von Vertrauen, durch Entmutigung oder emotionale Erpressung.“ (Bründel/Hurrelmann 1994, S. 23).
Des Weiteren sollte nicht außeracht gelassen werden, dass sich Gewalt und aggressive Handlungen auch auf die eigene Person beziehen können. Bei solchen nach innen gerichteten Aggressionen spricht man von Autoaggressionen. Sie treten scheinbar häufiger bei intelligenten und sensiblen Menschen auf, vor allem wenn sie dazu neigen Frust in sich hineinzufressen. Es zeigen sich Verhaltensmuster wie Nägelkauen oder Stottern und es können organische Krankheiten, Allergien und auch Depressionen bis hin zum Suizid auftreten.
Aggression und Gewalt gegen Sachen „Wenn Aggressionen und Gewalt nicht gegen andere Personen oder sich selbst gerichtet werden, bleibt häufig nur die Umlenkung der Gewalt auf die Umwelt. Sie richtet sich dann gegen Sachen, gegen Tiere oder Pflanzen.“ (Dückers 2006, S. 20). Diese Form von Gewalt wird für harmloser gehalten als die Schädigung und Verletzung von Menschen. Sachbeschädigung ist meist Ausdruck von Langeweile, Überforderung und Frust und nicht selten ist damit eine Reaktion auf strukturelle Gewalt verbunden. Die Objekte der Beschädigung werden oft in Bezug zum Motiv beziehungsweise zum Aggressionsauslöser gewählt.
Die oben beschriebenen Formen von Gewalt und Aggression werden auch unter dem Begriff der Personalen Gewalt zusammengefasst. Bei dieser direkten Gewaltausübung lässt sich immer ein handelndes Subjekt, ein Akteur, bestimmen (vgl. Bierhoff/Wagner 1998, S.7).
Strukturelle Gewalt Der norwegische Friedensforscher Johan Galtung hat gegen Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts eine bedeutende Erweiterung des Gewaltbegriffs erreicht, indem er die Kategorie der strukturellen Gewalt einführte (vgl. Esser/Dominikowski 1997, S. 29 f.). Im Gegensatz zur personalen Schädigung, tritt bei indirekter oder struktureller Gewalt niemand in Erscheinung, der einem anderen direkt Schaden zufügt (vgl. Nunner-Winkler 2004, S. 24). Gewalt liegt hier in den gesellschaftlichen Strukturen und Normen, sie findet in ungerechten sozialen Strukturen und menschenunwürdigen Lebensbedingungen statt.
Der Gewaltbegriff ist damit in seinen wesentlichen Punkten erweitert und man spricht nun auch dann von Gewalt, „wenn sie ohne verletzende Absicht ausgeübt wird, wenn sie nicht körperlich, sondern geistig wirksam ist, wenn kein Gewalttäter und keine abgrenzbare Gewaltaktion zu identifizieren sind.“ (Esser/Dominikowski 1997, S. 30).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1 : Eine Typologie der Gewalt
Es zeigt sich, dass Gewalt zum einen mit der Absicht zur Verletzung ausgeübt werden oder unintendiert sein kann. Zum anderen kann sie objektbezogen oder objektlos wirken. Außerdem kann sie offen als Gewalttat erscheinen oder aber verdeckt als Gewaltursache bestehen, die bei Gelegenheit zu einer offenen Gewaltaktion führt. Die zentralen Unterscheidungen bleiben wohl die zwischen personaler und struktureller Gewalt auf der einen Seite und physischer und psychischer Gewalt auf der anderen Seite (vgl. Ebd.).
1.2 Klassische Ursachenmodelle von Gewalt
Bis heute gibt es kein allgemeingültiges und anerkanntes Erklärungsmodell zur Entstehung von Gewalt, denn es hat sich gezeigt, dass ein simples UrsachenWirkungsmodell zur Erklärung von Gewalt nicht genügt. „Zu vielschichtig sind die Faktoren, die ganz offenkundig die Bereitschaft zu aggressivem Handeln beeinflussen und auch die Intensität.. .aggressiver Verhaltensweisen steuern.“ (Dückers 2006, S. 23).
Der folgende Abschnitt nimmt drei verschiedene Ursachenmodelle ins Visier, die in der Aggressionsforschung die bedeutendste Rolle spielen. Zu beachten ist, dass sich die unterschiedlichen Erklärungsmodelle durchaus überschneiden und ergänzen. An einigen Stellen wird hier bereits das Verhalten von Kindern herangezogen, um die Theorien und Ansätze zu verdeutlichen.
1.2.1 Trieb- und Instinkttheorie
Die Trieb- und Instinkttheorie beschreibt Gewalt und Aggression als angeborenes und somit natürliches menschliches Verhalten.
Triebtheorie in Anlehnung an Sigmund Freud (1920) Als eine der ersten, befasst sich Freuds triebtheoretische Überlegung mit Theorien der Aggression. Freud nahm an, dass es neben dem Leben erhaltenden Trieb (Eros) einen Destruktions- beziehungsweise Todestrieb gibt und formuliert diesen Gedanken erstmals in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts.
„Nach langem Zögern und Schwanken haben wir uns dazu entschlossen, nur zwei Grundtriebe anzunehmen, den Eros und den Destruktionstrieb. (...). Beim Destruktionstrieb können wir daran denken, dass als sein letztes Ziel erscheint, das Lebende in den anorganischen Zustand zu überführen. Wir heißen ihn dadurch auch Todestrieb.“ (Freud 2002, S. 44 f).
Ein Trieb wird über das Muskelsystem nach außen abgeleitet und zeigt sich dann als aggressive Handlung, deren Ziel die Zerstörung des anderen ist (vgl. Schwind u.a. 1995, S. 17). Nach Freud hat der Mensch als ein von seinen Trieben bestimmtes Wesen deshalb nur zwei Möglichkeiten: er richtet den Todestrieb gegen andere (Fremdzerstörung) oder gegen sich selbst (Selbstzerstörung) (vgl. Bierhoff/Wagner 1998, S. 7).
Aufgrund ihrer mangelnden Überprüfbarkeit gilt die Trieblehre als besonders strittig und jüngere Triebkonzepte entfernen sich von Freuds dualistischer Trieblehre. Ebenso wie ihre Überprüfbarkeit, stellt sich auch die praktische Verwendbarkeit als begrenzt dar. Denn wenn man daran festhält, dass Gewalt und Aggression eine angeborene und somit zutiefst menschliche Verhaltensweise ist, bleibt die Frage offen, wie man darauf angemessen pädagogisch reagieren kann (vgl. Dückers 2006, S. 25).
Instinkttheorie in Anlehnung an Konrad Lorenz (1974) Im Gegensatz zu Freud sehen die Verhaltensforscher Konrad Lorenz und Irinäus Eibl- Eibesfeldt Aggression als eine spontane innere Bereitschaft zum Kampf, die für das Überleben unentbehrlich sei. Aggression und Gewalt werden als etwas Triebhaftes und typisch Menschliches verstanden und sind Ausdruck eines Verteidigungs- und Selbsterhaltungstriebes. Beim Menschen ging jedoch die Befriedigungsstrategie, ein Verhalten, das bei Tieren Unterwerfung signalisiert, verloren, während der Aggressionstrieb erhalten blieb (vgl. Dückers 2006, S. 25).
In Bezug auf aggressive Handlungen von Kindern und Jugendlichen handelt es sich um eine Art instinktive Aggressivität, die spontan entsteht, ein bestimmtes Maß erreicht und sich dann in einer Gewalttat entlädt. Für diesen Erklärungsansatz wird sich häufig des Dampfkessel-Modells zur Veranschaulichung bedient. Es macht deutlich, dass Kinder demnach nicht aggressiv sind, weil sie etwas geärgert hat, sondern weil sich schlichtweg ihr Aggressionstrieb entladen muss. Eine gewalttätige Handlung dient hier als Abreaktion und entlädt den angestauten Druck explosionsartig (vgl. Ebd., S. 26). „Die Vertreter dieses Ansatzes empfehlen auch für Menschen zur Vermeidung eines Triebstaus, die aggressive Energie in nichtschädigende Aktivitäten (z.B. Sport) umzulenken (Kathatsis-Hypothese).“ (Schwind u.a. 1995, S. 17).
1.2.2 Frustrations- und Aggressionshypothese in Anlehnung an Dollard et al. (1939)
Es gibt viele Situationen im Alltag, in denen Aggressionen und Gewalthandlungen die Folge einer negativen Erfahrung sind. Hierbei handelt es sich um ein relativ einfaches Ursache-Wirkungsmodell, das von den amerikanischen Wissenschaftlern Dollard, Doob, Miller, Mower und Sears Ende der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts veröffentlicht wurde. Die Frustrations-Aggressions-Hypothese beruht zunächst auf zwei Kernaussagen: Aggression ist immer eine Folge von Frustration und Frustration führt immer zu einer Form von Aggression (vgl. Dollard u.a. 1971, S.9). Unter Frustration wird die Störung einer zielgerichteten Handlung verstanden. „Als Aggression wird jedes Verhalten bezeichnet, das auf die Verletzung oder Zerstörung eines Organismus...zielt“ (Dückers 2006, S. 29). Zusätzlich zu den Kernaussagen sind einige Zusatzannahmen zu erwähnen, denn die Stärke der Aggressionsneigung ist abhängig von weiteren Faktoren. Zum einen von der Stärke der frustrierenden Aktivität, womit die subjektive Wichtigkeit des geplanten Vorhabens gemeint ist. Zum anderen vom Grad der Störung, welcher das Ausmaß der Frustration beschreibt. Im Sinne der Frustrations-Aggressions-Hypothese gilt, je höher der Grad der Störung, desto höher ist die Neigung aggressiv zu reagieren. Die Stärke der Aggressionsneigung ist darüber hinaus auch noch von der Häufigkeit der Störung abhängig. Die Wahrscheinlichkeit mit Gewalt zu reagieren erhöht sich demnach, wenn die Frustration in ihrer Anzahl ansteigt (vgl. Dollard u.a. 1971, S. 37 ff.). Eine sehr wichtige Rolle in diesem Modell spielen Hemmungen. Insbesondere, wenn eine Bestrafung der Aggression zu erwarten ist, können aggressive Tendenzen gehemmt werden (vgl. Bierhoff/Wagner 1998, S. 8). Grundsätzlich lässt sich sagen, je größer die Bestrafung angenommen wird, desto größer die Hemmung und desto unwahrscheinlicher wird eine Aggressionshandlung (vgl. Dollard u.a. 1971, S. 47). Im Allgemeinen richtet sich die Aggression in erster Linie an den oder die Frustrierenden. Bei starker Hemmung kann es jedoch auch zu einer Verschiebung kommen, wobei entweder eine andere Form des Angriffs gewählt wird oder eine andere Person, ein anderes (Ersatz-) Objekt Ziel des Angriffs wird. Eine besondere Variante der Verschiebung ist die bereits im vorhergehenden Abschnitt erwähnte Autoaggression. „Vor allem, wenn man sich selbst als (Mit-) Ursache einer Frustration erfährt, kann man selber auch als Objekt der Aggression ins Blickfeld rücken.“ (Dückers 2006, S. 31).
Obwohl die Frustrations-Aggressions-Hypothese die Entstehung von Gewalt und Aggression verständlich erklärt, weist sie einige Schwierigkeiten auf und sollte mit großer Vorsicht betrachtet werden. Der vorliegende Erklärungsansatz formuliert den Anspruch, alle Frustration führt zu Aggression und Aggression ist immer eine Folge von Frustration. Bereits 1941 wurde Dollard und seinen Mitarbeitern klar, dass eine solche Annahme nicht haltbar ist. Anhand weniger Beispiele ließ sich diese Allgemeingültigkeit widerlegen (vgl. Ebd.). Miller formulierte folgende, passendere Hypothese: „Frustration erzeugt Anregungen zu einer Anzahl unterschiedlicher Arten von Reaktionen, von denen eine die Anregung zu irgendeiner Form der Aggression ist.“ (Miller 1941, S. 338; deutsche Übersetzung).
1.2.3 Lerntheoretische Ansätze in Anlehnung an Albert Bandura (1979)
Bei der Trieb- und Instinkttheorie wird von einer genetisch festgelegten Voraussetzung gesprochen, die den Menschen Wut und Ärger erleben lässt. Die Frustrations- Aggressions-Hypothese zeigt uns, dass Frustration zu aggressivem Verhalten führt.
Aggressive Handlungen, die als Reaktion auf bestimmte Auslöser zu verstehen sind, sind sehr stark vom Verhaltensrepertoire abhängig, das jedem Mensch zur Verfügung steht.
„Ob und wie der Mensch auf entsprechende Situationen reagiert, ist also in hohem Maße abhängig von den Erfahrungen, die er im Laufe seines Lebens gemacht hat. Aggression und Gewalt sind also auch erworben. Die lerntheoretische Forschung versucht den Erwerb von Verhaltensweisen, also die Abläufe von Lernprozessen zu beschreiben und zu erklären.“ (Dückers 2006, S. 33).
Albert Banduras soziale Lerntheorie gehört zu den bekanntesten Aggressionstheorien und beinhaltet sehr plausible Grundannahmen und einfache Erklärungen aggressiver Verhaltensweisen (vgl. Bierhoff/Wagner 1998, S. 12).
Im Folgenden werden kurz die wesentlichen Annahmen lerntheoretische Forschung beschrieben, die für das Erkennen von Aggression und Gewalt von Bedeutung sind.
Lernen am Modell bedeutet, dass eine Person (Beobachter) ein Verhalten nachahmt, das sie zuvor bei einer anderen Person (Modell) beobachtet hat. Die bedeutendsten Experimente, bei denen ein Lerneffekt durch Beobachtung beziehungsweise Imitation hervorgeht, stammen von Albert Bandura und seinen Mitarbeitern (1963a). Kinder ahmten in den Versuchen aggressives Verhalten nach, das sich ohne das entsprechende Modell wahrscheinlich nicht entwickelt hätte. Im Rahmen ihrer Forschung unterscheiden sie die Aneignungsphase, die sich aus Aufmerksamkeits- und Gedächtnisprozessen zusammensetzt, von der Ausführungsphase, die aus motorischen Reproduktionsprozessen und aus Motivations- bzw. Verstärkungsprozessen besteht (vgl. Dückers 2006, S. 34).
Die Erkenntnisse, die aus der Lerntheorie gewonnen werden, sind für die Gewaltprävention an Kindergärten und Schulen äußerst wichtig. Dort leben zahlreiche Modelle positives und negatives Verhalten vor, welches verstärkend wirken und die Nachahmung fördern kann. Welches Verhalten letztendlich nachgeahmt wird und wer überhaupt als Modell in Frage kommt, hängt von Persönlichkeitsmerkmalen des Beobachters und des Modells, sowie deren Beziehung zueinander ab. Am bedeutendsten sind jedoch Modelle in pädagogischen Verhältnissen. Das wichtigste Modell sind dabei die Eltern, da familiäre Einflüsse eine große Rolle spielen. Aber auch andere Personen, die erzieherische Aufgaben übernehmen, wie Lehrer oder Erzieherinnen, können als Modell angesehen werden. Grundsätzlich kommen alle Personen in Frage, die soziale Macht besitzen oder ein hohes Ansehen genießen (vgl. Bierhoff/Wagner 1998, S. 12 f.).
Lernen durch Erfolg: Es zeigte sich eine besonders deutliche Imitation, wenn das Modell für sein Verhalten belohnt wurde und dementsprechend eine geringere Nachahmung, wenn eine Bestrafung folgte (vgl. Bandura/Ross/Ross 1963b). Ob ein Verhalten ins Verhaltensrepertoire des Beobachters aufgenommen wird und letztendlich Lernen stattfindet, ist also davon abhängig, ob mit diesem Verhalten der beabsichtigte Erfolg erzielt wird. Gewalt kann als Mittel angesehen werden um bestimmte Ziele zu erreichen. „Je häufiger das Verhalten positive Konsequenzen erfährt, desto wahrscheinlicher wird sein Auftreten. Die Imitation des Verhaltens wird - lerntheoretisch gesprochen - direkt verstärkt.“ (Dückers 2006, S. 36).
Mediale Gewalt: Neben realen Vorbildern wird in der sozialen Lerntheorie auch die Rolle medialer Gewalt diskutiert. Ein eindimensionales Ursache-Wirkungsmodell im Sinne von 'Wer viel mediale Gewalt konsumiert, wird gewalttätig', gibt es nicht, aber mediale Gewalt darf zweifellos als Risikofaktor angesehen werden, der aggressives Verhalten verstärken kann. „Gewaltdarstellungen im Fernsehen können verschiedene ungünstige Einflüsse auf die Sozialisation haben, die dann insgesamt die Wahrscheinlichkeit aggressiven Verhaltens erhöhen.“ (Bierhoff/Wagner 1998, S. 13). Doch auch mediale Gewalt muss erst einen Modellcharakter für den Beobachter haben. Die Massenmedien stellen ein sehr attraktives Fenster dar, durch das beobachtet werden kann. Da Kinder lernen, indem sie beobachten, stellt der ständige Konsum medialer
Gewalt eine große Gefahr für sie dar. Wenn ihnen das Modell, die Massenmedien, sympathisch erscheint, sie sich mit dem aggressiven Helden identifizieren oder das gewalttätige Verhalten realistisch gezeigt und moralisch gerechtfertigt erscheint, werden Kinder anfälliger für aggressives Verhalten, eine Imitation wird wahrscheinlicher (vgl. Dückers 2006, S. 38).
1.3 Kindheit und Gewalt
Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit sind keine neuen Themen. Allerdings kann man von einer eher zunehmenden Gewaltbereitschaft in unserer heutigen Gesellschaft, besonders bei Kindern und Jugendlichen sprechen. (vgl. Cierpka 2008 a, S. 17). Die Zunahme in den letzten 30 Jahren zeigt sich nicht nur in der Kriminalstatistik, sondern es stellt sich auch in immer mehr Untersuchungen heraus, dass es in Kindergärten und Schulen in Deutschland immer härter zugeht. Bereits ab dem 2. Lebensjahr lassen sich aggressive Verhaltensmuster beobachten (vgl. Cierpka 2003). Die Tendenz in heftige Auseinandersetzungen, Schlägereien und andere Formen destruktiven Sozialverhaltens verwickelt zu werden, sind frühe Indikatoren. Obwohl ca. neun von zehn Kindern und Jugendlichen es ablehnen Gewalt anzuwenden, sind sie noch immer zu schnell dazu bereit Mittel der Gewalt anzuwenden (vgl. Cierpka 2008, S. 17).
„Aggressivität und Gewalt entstehen vorwiegend in außerschulischen Kontexten, werden aber in die Schule hinein- und dann dort ausgetragen ^importierte Gewalt„). (...) Da aggressive Kinder und Jugendliche eine gestörte Selbst- und Fremdwahrnehmung haben, deuten sie Umweltreize...oft falsch und reagieren aggressiv. Sie fühlen sich ständig bedroht und wollen sich mit einem „Erstschlag„ einen Vorteil bei einem Angriff verschaffen.“ (Schmidt 1994, S. 10 f.).
Kinder mit impulsivem oder aggressivem Verhalten fallen dadurch auf, dass sie andere Menschen verletzen, Verletzungen androhen oder Gegenstände beschädigen. Gefährdet sind vor allem Kinder, die bereits sehr früh durch ihre Gewaltbereitschaft auffallen.
Diese Aggressivität zeigt sich in den unterschiedlichen Kontexten Familie, Kindergarten, Schule und Öffentlichkeit (vgl. Cierpka 2008a, S. 32). „Wichtig ist hierbei, daß der Ursprungsort der Konflikte nicht immer mit dem Ort der Aggressionsäußerung identisch ist.“ (Ratzke 2002, S. 19). Warum die Gewaltbereitschaft zugenommen hat und wie sie überhaupt zustande kommt, lässt sich nicht mit einer Ursache alleine plausibel erklären (vgl. Cierpka 2009, S. 16). Es ist vielmehr davon auszugehen, „dass sich aggressives und gewaltbereites Verhalten innerhalb eines multifaktoriellen Bedingungsgefüges entwickelt, in dem das Individuum, die Familie...Schule und Gesellschaft in einem engen Wechselverhältnis zueinander stehen.“ (Ebd.).
In allen Entwicklungsphasen, in sämtlichen Lebens- und Erfahrungsbereichen stellen die verschiedenen Erscheinungsformen von Gewalt einen prägenden und bestimmenden Faktor dar (vgl. Esser/Dominikowski 1997, S. 35). Während der Sozialisation entsteht die menschliche Persönlichkeit in Abhängigkeit von der (sozialen) Umwelt. Die Aufgabe der Sozialisation besteht in der Entwicklung einer eigenständigen Identität, der Aneignung sozialer Bedeutungen und Normen und der Herausbildung einer Handlungskompetenz des Individuums (vgl. Hurrelmann/Ulich 1991, S. 8). Aber nur ein Teil dieses Prozesses wird von den Erziehungsinstanzen Familie und Schule beeinflusst (vgl. Esser/Dominikowski 1997, S. 35). Darüber hinaus spielen weitere Faktoren eine Rolle beim Heranwachsen eines Kindes. Die Risikofaktoren (s. Abbildung 2) und Motive, die bei der Entstehung und Aufrechterhaltung kindlicher aggressiven Verhaltensweisen wirksam sein können, werden im Folgenden beschrieben.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Ursachen von Gewalt
1.3.1 Der familiäre Kontext für die Entstehung von aggressiven Verhaltensweisen
„Die Entwicklung von Kindern findet im Kontext der Beziehungen statt, in denen sie leben. Die Familie spielt deshalb als primäre Sozialisationsinstanz im seelischen Entwicklungsprozess eines Kindes eine entscheidende Rolle.“ (Cierpka 2008a, S. 21 f.). Es gibt viele Faktoren, die hierbei berücksichtigt werden müssen.
Primär ist zu betonen, dass Kinder von ihren Eltern abhängig sind, voraus sich Formen psychischer struktureller Gewalt ergeben (vgl. Esser/Dominikowski 1997, S. 40), die Petri (1989) als ‘Gulliver-Erfahrung‘, Gefühle der Kleinheit und des Ausgeliefertseins, und als Trennungserfahrungen beschreibt. Das elterliche Erziehungsverhalten, genau genommen, inkonsistente Erziehungsstile haben negative Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes. Auf der einen Seite steht ein Regeln vermeidendes, wenig Grenzen aufzeigendes, auf der anderen Seite ein extrem autoritäres Erziehungsverhalten, das dem Kind kaum Freiräume und Mitspracherecht einräumt (vgl. Ratzke/Cierpka 2002, S. 26 f.). Ebenfalls einen großen Einfluss auf die Entstehung aggressiver Verhaltensweisen sind familiäre Problemlösungsstrategien.
„Wenn auftretende Probleme...nicht besprochen werden und nicht gemeinsam nach Lösungen gesucht wird, können die Kinder wichtige soziale Kompetenzen weder lernen noch erproben, sondern greifen in schwierigen Situationen eher auf aggressive Verhaltensmuster zurück.“ (Ebd., S. 27).
Kinder wissen oft nicht woran sie sich orientieren und wonach sie sich richten sollen, denn oft sehen sie in ihren Eltern kein gutes Vorbild (vgl. Schmidt 1994, S. 14). Zusätzlich geben viele Eltern ihren Kindern kaum positive Rückmeldungen, wenn sie erwünschte Verhaltensweisen zeigen. Das führt dazu, dass prosoziales Verhalten nicht bestätigt und somit langfristig auch nicht in das Verhaltensrepertoire des Kindes aufgenommen wird (vgl. Ratzke/Cierpka 2002, S. 27). Auch Vernachlässigung, beispielsweise durch die Berufstätigkeit beider Elternteile, Verwöhnung und Überforderung können bei Kindern zu Auftreten von aggressiven Verhaltensweisen und Gewalttätigkeit führen (vgl. Schmidt 1994, S. 14 f.).
Ein weiterer Risikofaktor im familiären Kontext sind Beziehungsprobleme der Ehepartner. Die psychische Form personaler Gewalt, Streit zwischen den Eltern, ist wesentlich häufiger anzutreffen als vermutet (vgl. Esser/Dominikowski 1997, S. 41). Kinder werden dabei möglicherweise Zeugen gewalttätiger Auseinandersetzungen ihrer Eltern und lernen Gewalt und Aggression als Lösung in konflikthaften Situationen kennen (Lernen am Modell). Selbst wenn die Konflikte der Eltern nicht gewalttätig ausgetragen werden, geraten die Kinder in Mitleidenschaft, wenn es nicht gelingt die Probleme auf Paarebene zu lösen und die Kinder abzuschirmen (vgl. Ratzke/Cierpka 2002, S. 29; Cierpka 2009, S. 21). Solche konfliktträchtige Familienbeziehungen, aber auch Alkoholismus, Suchtprobleme, Trennung, Scheidung, Arbeitslosigkeit oder beengte Wohnverhältnisse kommen mittlerweile im Leben vieler Kinder vor. Die Kinder sind durch diese Lebensprobleme sehr belastet und empfinden gestörte und unsichere Familienverhältnisse als bedrohlich (vgl. Schmidt 1994, S. 16). Durch diese ungünstigen Beziehungserfahrungen kann ein Kind notwendige Fähigkeiten wie Selbstvertrauen, kommunikative Kompetenz und soziale Fähigkeiten nur sehr schwer erwerben und es können daraus Schwierigkeiten mit Empathie, Impulskontrolle und im Umgang mit Wut und Ärger resultieren. Das hat eine Beeinträchtigung seiner Beziehung zu seinen Mitmenschen zur Folge und es erlangt kaum Handlungsspielräume bei zwischenmenschlichen Konflikten (vgl. Ratzke/Cierpka 2002, S. 32).
Hervorzuheben ist an dieser Stelle die Empathie, da sie eine grundlegende Fähigkeit darstellt, die bereits im zweiten Lebensjahr eines Kindes als ein Mechanismus auftritt, „der es erlaubt, Einsicht in die subjektive Verfassung einer anderen Person zu gewinnen.“ (Cierpka 2008a, S. 26). Empathie beschreibt die Teilhabe an der Emotion anderen. Gergely (1998) beschreibt den Erwerb der empathischen Fähigkeit als interaktiven Prozess zwischen Mutter und Kind. Wenn nun die Eltern zu wenig Einfühlung in die Gefühle ihres Kindes zeigen, deren Trauer oder deren Freude übersehen, beginnen Kinder das Empfinden von Emotionen zu meiden. Aufgrund dieser negativen familiären Erfahrung entsteht ein Entwicklungsdefizit für Empathie (vgl. Cierpka 2008a, S. 27). Viele Kinder, die später aggressiv oder gewalttätig handeln, sind in diesem Sinne emotional vernachlässigt. Es wird sich im weiteren Verlauf der Arbeit zeigen, dass es Möglichkeiten gibt, die Empathiefähigkeit zu fördern.
Darüber hinaus sind Opfererfahrungen der Kinder nicht zu vergessen. Erlebte körperliche Misshandlung oder Missbrauch stellen ein sehr großes Risiko dar und können Grund dafür sein, dass Kinder den erlebten Schmerz direkt in Aggressionen umsetzen (vgl. Cierpka 2009, S. 21).
1.3.2 Schule und Kindergarten als Kontext für aggressives Verhalten von Kindern
„Die Bereitschaft eines Kindes...bei der Lösung seiner Konflikte auf aggressives Verhalten zurückzugreifen...wird mit Heranwachsen des Kindes in andere Bereiche hineingetragen.“ (Ratzke/Cierpka 2002, S. 32).
Neben familiärer Gewalt gilt Gewalt in der öffentlichen Erziehung damit als zweiter wichtiger Bereich (vgl. Esser/Dominikowski 1997, S. 42). Bereits Kindergärten und Kindertagesstätten, die eigentlich Entwicklungs- und Entfaltungsräume für Kinder bieten sollten, stellen eine Belastung für die Kinder und ihre Familien dar. Da sehr wenige Plätze zur Verfügung stehen, lastet ein Druck (strukturelle Gewalt) auf den Eltern, den die Kinder auch zu spüren bekommen. Der Eintritt in den Kindergarten oder Schule bringt eine radikale Änderung der Gewohnheiten mit sich. Das vertraute Umfeld muss für einen großen Teil des Tages zurückgelassen werden (vgl. Dollard u.a. 1971, S. 83). Kindern steht eine Trennungserfahrung von den Eltern bevor, die aufgrund von Raumenge und Personalmangel kaum durch die Institution gemildert werden kann (vgl. Esser/Dominikowski 1997, S. 43). Auch die Ersatzpersonen in Gestalt einer Erzieherin kann diese Trennung nicht erleichtern. Ebenso sind Erzieherinnen „großen strukturellen Belastungen ausgesetzt. In zu großen und in ihrer Zusammensetzung häufig wechselnden Gruppen können Kinder keine stabile Identifikation aufbauen.“ (Ebd.). Durch die Zwänge der Institution werden die Kinder in ihren Entfaltungsmöglichkeiten beschnitten und ihre kindlichen Bedürfnisse und ihre Lebendigkeit sind immens eingeschränkt.
Ein ähnliches Bild zeigt sich auch für die Schule. Die Schule ist eine Zwangseinrichtung, in der strukturelle Gewaltverhältnisse vorhanden sind und sie kann Aggressionen und Gewalt hervorrufen oder verstärken. Da sich die Schule als eine Stätte der Vermittlung sieht, kommt das Üben von positivem Sozialverhalten und das Kooperieren und Einander-Helfen viel zu kurz (vgl. Schmidt 1994, S. 18). Kinder, die vor Schuleintritt nicht gelernt haben ihre Probleme sozial kompetent, sondern durch aggressives Verhalten zu lösen, werden wahrscheinlich auch in der Schule diese ungünstigen Verhaltensweisen zeigen. Die Schule kann daher als ein Ort „importierter Gewalt“ (Valtin 1995, S. 10) verstanden werden, deren Ursache mit familialen und gesellschaftlichen Faktoren zusammenhängt (vgl. Sanders/Krannich 2002, S. 61). Die Institution fungiert jedoch auch als Produzentin von Gewalt. Nachfolgend werden einige Faktoren aus dem Schulalltag dargestellt, die aggressives und gewaltbereites Verhalten zur Folge haben können.
Eine Überforderung und eine Bewertung als leistungsschwach kann bei Kindern eine starke Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls bewirken. Verunsicherung durch schlechte Noten, Klassenwiederholung oder ein Schulwechsel sind mögliche Ursachen und Auslöser von aggressivem Verhalten (vgl. Bründel/Hurrelmann 1994, S. 125; Schwind 1998, S. 260 f.). Subjektiv betrachtet liegt also eine Verletzung des Selbstwertgefühls vor, was zu Demütigung und Missachtung führt. Objektiv gesehen kann es zu Ausgrenzung und Vereinzelung führen (vgl. Schmidt 1994, S. 20). Wenn Kinder die Beurteilung der Lehrer nicht nachvollziehen können, fühlen sie sich ungerecht behandelt. „Sie spüren strukturelle Gewalt (Galtung) und reagieren aggressiv. Ihr subjektiv empfundenes Unrecht kann zu ‘Rache‘, Vergeltung führen, zu Gewalt gegen empfundene Gewalt.“ (Ebd., S. 19). Andererseits können aber auch Langeweile und Unterforderung als bedeutende Risikofaktoren für Gewalt angesehen werden (vgl. Sanders/Krannich 2002, S. 62).
Inkonsistente Erziehungsstile und Erwartungen sind weitere Faktoren, die gewisse Risiken mit sich bringen. Müssen sich die Kinder bereits im familialen Kontext auf verschiedene Erziehungsstile einstellen, wird von ihnen nun auch noch in der Schule im 45-Minuten-Takt eine kognitive und emotionale Umstellung gefordert (vgl. Schmidt 1994, S. 18). Dieser 45-Minuten-Rhythmus und der festgelegt Stundenplan kommen dem kindlichen Wissensdrang und Erkenntnisbedarf kaum entgegen. Die Kinder sind in ihrem natürlichen Bewegungsdrang und ihrem individuellen Lerntempo eingeschränkt. Eine solche Vernachlässigung der kindlichen Bedürfnisse zeigt sich auch bei der fehlenden Mitbestimmung über Lerninhalte und Formen ihrer Vermittlung (vgl. Sanders/Krannich 2002, S. 62). Zusätzlich führt das Konkurrenzverhalten, der Drang besser zu sein als die anderen, zu Druck und Angst bei den ‘Siegern‘, die ihre Position halten müssen, und den ‘Verlierern‘, die Benachteiligung, Ungerechtigkeit und Zeitdruck erleben. Die ‘Verlierer fühlen sich in ihrer Würde, ihrem Stolz und in ihrem Selbstwertgefühl verletzt (vgl. Schmidt 1994, S. 19).
Es lassen sich viele weitere Faktoren benennen, die im Kontext der Schule ein aggressives Verhalten fördern oder verstärken. Zum einen kann ein Niveauverlust an Schulen zu permanenter Unterforderung begabter Schüler führen, die dann häufig den Unterricht aus Langeweile stören. Zusätzlich fühlen sich Lehrer häufig durch aggressives Verhalten ihrer Schüler überlastet und ratlos. Darauf folgt ein stures Durchbringen des Lernstoffes, womit die Lehrer versuchen die Beziehungsstruktur zu versachlichen, aber damit unbewusst zum Weiterdrehen der Aggressionsspirale beitragen (vgl. Ebd., S. 24). Zum anderen können kahle ungepflegte Schulgebäude und schmutzige Räume mit sichtbaren Spuren von Gewalt und Zerstörung zu neuem Vandalismus führen (vgl. Ebd., S. 24 f.). Zudem wird diskutiert, ob nicht auch große Schulklassen mit über 30 Schülern oder große Schulen gefährdet sind und einen Nährboden für Aggressionen darstellen, da sie gegenüber kleineren Einrichtungen Anonymität und soziale Abschirmung begünstigen (vgl. Bründel/Hurrelmann 1994, S. 125 f.).
1.3.3 Gesellschaftlicher Kontext
Gesellschaftliche Aspekte und Rahmenbedingungen haben ebenfalls einen großen Einfluss auf die Entwicklung eines Kindes und können gewalttätige Verhaltensweisen begünstigen.
„Kinder und Jugendliche begegnen Gewalt im Fernsehen, Radio, in Zeitungen, Zeitschriften, am Computer, in Video, im Kino. Die Massenmedien stellen mittlerweile einen demokratischen nicht kontrollierten Machtfaktor dar. (...) Durch ihre inflationäre Negativberichterstattung werden Ängste geschürt, Vorurteile geweckt, bestätigt und konserviert.“ (Schmidt 1994, S. 26).
Die Medien nehmen immer mehr Einfluss auf die Werte, Zielsetzungen und Verhaltensstile einer Gesellschaft, was früher Aufgabe von Schule und Familie war. „Neue Miterzieher sind die Medien“. (Cierpka 2009, S. 17). Sie spielen bei der Vermittlung und Produktion von Gewalt eine wichtige Rolle, da sie ohne Zweifel voll Berichten und Darstellungen fiktionaler und realer Gewalttätigkeiten ist. Dass die Gewaltrezeption jedoch unmittelbar zu Gewalttaten führt oder, wie bereits erläutert, ein Lernen am Modell bewirkt, ist sehr umstritten (vgl. Esser/Dominikowski 1997, S. 46). „Eher ist plausibel, daß eine langfristige Gewöhnung an Gewalt stattfindet, die zu einer anderen Wahrnehmung und Bewertung auch von realer Gewalt führt.“ (Ebd.). Abgesehen von Gewaltdarstellungen im Fernsehen führt vieles Fernsehen, eine ständige Reizüberflutung und dauernder Lärm zu Stress und Angst (vgl. Schmidt 1994, S. 27).
Weiterhin begegnen Kinder Gewalt in ihrem Wohngebiet, der Nachbarschaft, dem Stadtteil, im Verkehr, im Sport und vor allem auch im Kontakt mit Erwachsenen. Aggressionen sind in nahezu allen Bereichen zu einem Kommunikationsmittel geworden, werden zu sehr toleriert und nicht deutlich genug geächtet (vgl. Ebd.). Gewalttätiges Verhalten wird heruntergespielt und verleitet Kinder dadurch zum Nachahmen und zur Übernahme in ihr Verhaltensrepertoire.
Darüber hinaus stellen Ängste und Unsicherheiten ein zunehmendes gesellschaftliches Problem dar. Immer mehr Erwachsene sorgen sich um ihren Arbeitsplatz, empfinden einen Mangel an Rechtssicherheit, haben Angst vor Umweltkatastrophen und vor der Ausweitung der beängstigend vielen Kriege. Diese Ängste wirken sich erheblich auf Kinder und Jugendliche aus, die dann vor allem mit Zukunftsängsten zu kämpfen haben (vgl. Ebd., S. 30).
Mit Familie, Kindergarten, Schule und Gesellschaft sind die wichtigsten Bereiche im Zusammenhang mit der Entstehung von aggressiven Verhaltensweisen vorgestellt. Es lässt sich eine große Vielfalt zusätzlicher Risikofaktoren aufführen, die an dieser Stelle nur kurz aufgezeigt werden:
Zusätzliche Einflussfaktoren
2. GEWALTPRÄVENTION
2.1 Begriffsklärung
Wie bereits zum Thema Gewalt ist es grundlegend, sich zunächst mit der Begrifflichkeit (Gewalt-) Prävention zu beschäftigen, um dann im nächsten Punkt den Fokus auf Gewaltprävention in der Kindheit zu legen. Es ist festzuhalten, dass jede Prävention, in welchem Feld auch immer, drei verschieden inhaltliche und zeitlich geordnete Zugänge hat (vgl. Jäger 1999, S. 207). An dieser Stelle werden die drei Zugänge bereits speziell in Bezug auf Gewaltprävention vorgestellt.
Primäre Prävention „zielt darauf ab, Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß das problematische Verhalten überhaupt nicht auftritt.“ (Ebd.). Primärprävention ist darauf ausgerichtet das Einwirken von Risikofaktoren während der Kindheit und das Auftreten einer unerwünschten Entwicklung zu verhindern.
Eine universelle Prävention ist für alle Gruppen in einer Bevölkerung ausgelegt. Entscheidend dabei ist, dass sie unabhängig von vorhandenen Risikogruppen eingesetzt wird, denn bei einer konkreten Identifikation von Risiken, die verringert werden sollen, muss man genau genommen schon von Sekundärprävention sprechen (vgl. Cierpka 2008b, S. 61). Die Vorsorgeuntersuchung bei Schwangeren oder die genau terminierte Erstuntersuchen von Kindern beim Kinderarzt lassen sich als gute Beispiele für universelle Prävention heranziehen.
Bei selektiven Präventionen werden nur noch Subpopulationen wie zum Beispiel Alleinerziehende oder Scheidungskinder gefördert. Selektive Präventionen „zielen auf Individuen oder Bevölkerungsgruppen, die...im Vergleich zum Durchschnitt der Bevölkerung ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Störungen haben oder schon erste Symptome aufweisen.“ (Ebd.).
Darüber hinaus kümmert sich die indizierte Prävention um Personen, die bereits Symptome aufweisen, aber noch nicht die Kriterien für eine Diagnose erfüllen. Sie schließt beispielsweise die Förderung von Kindern, die eine Lese-Rechtschreibstörung entwickeln, ein (vgl. Ebd.).
Sekundäre Prävention hat zum Ziel, die Gefahr von Gewalthandlungen bei bereits eingetretenen Spannungs- und Konfliktsituationen zu reduzieren (vgl. Jäger 1999, S. 207). Anhand vorbeugender Maßnahmen bei bereits identifizierten Personengruppen wird zum einen Schadensminderung, aber auch Kompetenzförderung durch gezielte personen- und insitutionenbezogene Programme betrieben. Sekundärprävention versucht also die Auswirkungen von Stressoreneinwirkung, auch mithilfe von potenziell kompensatorisch wirkenden protektiven Faktoren, zu mildern und somit möglicherweise zu einer erhöhten Stressresistenz beizutragen (vgl. Cierpka 2008b, S. 61).
Tertiäre Prävention versucht das bereits eingetretene problematische Verhalten, „von dem angenommen wird, es kann nicht mehr zum Verschwinden gebracht werden, in seinen Auswirkungen zu begrenzen“ (Jäger 1999, S. 207), damit keine weiteren Opfer zu Schaden kommen. Sie beabsichtigt im Zuge dessen auch, durch spezifische rehabilitative oder resozialisierende Maßnahmen einen Rückfall in aggressive Verhaltensmuster zu verhindern.
2.2 Möglichkeiten der Gewaltprävention bei Kindern
Grundsätzlich gilt es, Anti-Gewalt-Programme dort einzusetzen wo potenziell Betroffene anzutreffen sind. Dies betrifft Orte, an denen sich Gewaltausübende aufhalten und dort wo es zu gewalttätigen Handlungen kommen kann (vgl. Jäger 1999, S. 216). Allgemein betrachtet, tritt das Problem der Gewalt am deutlichsten bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf. Wenn man jedoch genauer hinschaut wird schnell klar, dass aggressives und unsoziales Verhalten bereits in der (frühen) Kindheit beginnt (vgl. Cierpka 2009, S. 20). „Schwierigste Kindheitsbedingungen können die Entwicklung eines Menschen in vielfältiger Weise einschränken und Aggressivität und Gewalt provozieren.“ (Ebd., S. 23). Deshalb sollte eine effektive Prävention bereits in der Kindheit ansetzen, um möglichst allen Kindern die gleichen Entwicklungschancen zu geben (vgl. Ebd.). Da man zu diesem Zeitpunkt meist noch keine Risikogruppen feststellen kann, wird Gewaltprävention hier vorzugsweise universell eingesetzt.
Kindern ist es möglich bis zur Vollendung ihres 6. Lebensjahres eine außergewöhnliche Leistung bezüglich der Änderung ihres Verhaltens zu erbringen (vgl. Dollard u.a. 1971, S. 66). Gerade in diesen ersten Lebensjahren ist das kindliche Gehirn stark beeinflussbar und negative Erfahrungen, die ein Kind macht, schlagen sich leicht als Struktur im Gehirn nieder (vgl. Cierpka 2009, S. 23). Prävention sollte deshalb bereits in vorschulischen Institutionen beginnen und in der Schule fortgeführt werden, da sie über einen langen Zweitraum das Leben der Kinder bestimmen und somit einen starken Einfluss auf deren Entwicklung haben (vgl. Schick/Cierpka 2007). Je älter die Kinder werden, desto resistenter werden sie gegen Veränderungen in ihren gewaltbereiten Verhaltensweisen. Die Familie spielt in den ersten Lebensjahren, im seelischen Entwicklungsprozess eines Kindes, eine entscheidende Rolle. In diesem Zusammenhang haben die amerikanischen Autoren Brazelton und Greenspan (2002) sieben Grundbedürfnisse von Kindern herausgearbeitet: Das Bedürfnis nach Jede Familie sollte dazu beitragen, dass die Bedürfnisse ihrer Kinder befriedigt werden.
„Macht ein Kind in seiner Familie früh unzureichende und ungünstige (Bindungsund Beziehungs-) Erfahrungen, kann es für seine Entwicklung notwendige Fähigkeiten wie Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein, kommunikative und emotionale Kompetenzen und bestimmte soziale Fähigkeiten nur schwer erwerben.“ (Cierpka 2009, S. 22).
Erkenntnisse aus beispielsweise der Entwicklungspsychologie und der Bindungsforschung aus den letzten Jahrzehnten haben gezeigt, dass die seelische Entwicklung von Kindern in gewissem Maße nachreifen kann, die Stärkung der Beziehungen zu primären Bezugspersonen jedoch weiterhin eine wichtige Grundvoraussetzung bleibt (vgl. Ebd., S. 23). „Eine sichere Bindung gilt als wesentlicher Schutzfaktor und Puffer.“ (Ebd., S. 24).
Neben dem Aspekt der früh einsetzenden Prävention sollte eine Prävention auch altersadäquat sein, denn Kinder haben sehr unterschiedlich empfindliche Phasen, in denen sie auf die Umgebung reagieren und beeinflussbar sind. „So wie sich unterschiedliche Risikofaktoren über die unterschiedlichen Entwicklungsphasen von Kindern hinweg ganz unterschiedlich auswirken können, ist die Förderung von spezifischen protektiven Faktoren in bestimmten Altersphasen von Kindern günstiger oder weniger günstig.“ (Cierpka 2008b, S. 60).
Im Kleinkindalter geht es hauptsächlich um die Förderung von Kompetenzen in kognitiven und sozial-emotionalen Fertigkeiten in der Familie. In späteren Präventionen müssen auch andere Beziehungskontexte, wie Schule, Mitschüler und Freunde einbezogen werden. Die meisten Präventionskonzepte konzentrieren sich auf die seelische und körperliche Entwicklung der Kinder, die Stärkung der Beziehungen zu den primären Bezugspersonen, auf die Entwicklung des kindlichen Selbst. Da die in den Interaktionen mit den Bezugspersonen gemachten Erfahrungen verinnerlicht werden und für das Innenleben der Kinder strukturbildend sind, orientieren sich Präventionskonzepte inhaltlich an der Förderung von Bindung in den Herkunftsfamilien (vgl. Ebd., S. 62). Die Chance für die Gewaltprävention besteht darin, dass die Kompetenzen der Kinder in Bindungen und Beziehungen in verschiedenen Kontexten gefördert werden können. Maßnahmen können familienzentriert ausgelegt sein oder kindszentriert, außerfamiliär in Kindergärten und Schulen eingerichtet werden (vgl. Ebd., S. 63).
Im Folgenden werden die unterschiedlichen Ansätze und Möglichkeiten im Einzelnen erläutert und in Kapitel III konkrete präventiv ansetzende Programme zu den unterschiedlichen Ansätzen vorgestellt.
2.2.1 Personenzentrierte Prävention
Hier steht die Entwicklungsförderung der Kinder im Mittelpunkt, die durch die Förderung von Kompetenzen ausgezeichnet ist (vgl. Ebd.). Unter Kompetenzen eines Kindes versteht man ein integratives Konzept, das sich auf die Fähigkeit bezieht, angemessene Antworten auf Bedürfnisse und Anforderungen im kommunikativen Kontext zu generieren, flexibel zu koordinieren und im Miteinander auch anzuwenden (vgl. Waters/Sroufe 1983). Diese interpersonelle Intelligenz bezeichnet Daniel Goleman (2008) als „Emotionale Intelligenz“.
„In sozialen Interaktionen sind Kinder ständig dazu aufgerufen, die Intentionen des Gegenübers wahrzunehmen, zu interpretieren und entsprechend zu handeln. Kinder lernen von Beginn an, ihr eigenes Verhalten mit dem der Mitmenschen abzustimmen.“ (Cierpka 2008b, S. 63). Dieser Abstimmungsprozess kann sich in schwierigen, aggressiv getönten Situationen besonders sensibel gestalten. In kürzester Zeit müssen die Kinder herausfinden, was gerade passiert und versuchen die Situation zu verstehen: Hat mein Spielkamerad mich nur zufällig mit dem Ball getroffen oder war es seine Absicht? (vgl. Ebd., S. 63 f.). Dazu haben Crick und Dodge (1994) ein Modell zu sozialem Informationsaustausch entwickelt, in dem einzelne Schritte beschrieben werden, wie Kinder soziale Situationen begreifen lernen und sich in bestimmten Situationen zurechtfinden. Lemerise und Arsenio (2000) haben dieses zirkuläre Modell der sozialen Informationstheorie erweitert und wie folgt dargestellt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Kreisprozess der sozialen Informationsgewinnung
Lemerise und Arsenio weisen darauf hin, „dass die Emotionsprozesse als motivationale, kommunikative und regulatorische Funktionen die sozialen Kompetenzen erhöhen. In Kombination mit den kognitiven Prozessen...bestimmen sie ganz wesentlich das Durchlaufen der sozialen Informationsprozesse in Interaktionen mit. (...) Die Wahrnehmung, die Interpretation, die durchgespielten Alternativen und schließlich die Reaktion sind ebenfalls vom Ausmaß des emotionalen Erlebens abhängig.“ (Cierpka 2008b, S. 64).
Für die Prävention bietet das Kreismodell viele Möglichkeiten zur Intervention (s. Abbildung 4, fett hervorgehoben). Da neben der Kognition auch Emotionen die Interaktion mit anderen Menschen beeinflussen, regulieren und auf alle Schritte der sozialen Informationsgewinnung Einfluss nehmen, gibt es verschiedene Ansätze zur Intervention.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Möglichkeiten der Intervention im Kreismodell
Die individuelle Entwicklung eines Kindes ist stark mit den familiären und sozialen Prozessen verschränkt. Persönlichkeit, Beziehungsstrategien und das Verhalten entstehen auf Wechselwirkungsprozessen zwischen Individuum und Umgebung (Kreppner/Lerner 1989). Bei familienzentrierter Prävention steht die Bindungs- und Beziehungsförderung zwischen Kindern und Eltern im Vordergrund. Sie geht davon aus, dass Veränderungen bei Eltern und Familie zu entsprechenden Veränderungen bei den Kindern führen können. McCrosky und Meezan (1998) unterscheiden zwischen zwei Programmen. Zum einen gibt es Programme, die Familien bei der Erziehung unterstützen (family support) und zum anderen Programme, die Familien in HochrisikoKonstellationen schützen (family preservation). Grundsätzlich geht es bei Präventionsprogrammen, die am elterlichen Verhalten und an den Erziehungskompetenzen ansetzen, darum, Eltern anzuleiten ihre Kinder zu loben, in ihrem Verhalten zu bestärken und ihnen positive Rückmeldungen zu geben, wenn sie sich angemessen Verhalten. Ebenso wird dazu geraten, disziplinarische Maßnahmen zu ergreifen, wenn sie sich unangemessen und nicht altersgemäß verhalten (vgl. Cierpka 2008b, S. 67).
„Durch familienzentrierte Ansätze sollen jene Bedingungen innerhalb der Familie verändert werden, die zur Aufrechterhaltung des problematischen Verhaltens beitragen. Zu diesen Verfahren gehören Elternberatung, Elterntrainings sowie die Funktionale Familientherapie.“ (Kuschel/Hahlweg 2008, S. 162).
Ein Großteil der Programme und Maßnahmen ist für Eltern und Familien mit Kindergarten- und Grundschulkindern ausgerichtet und es zeigte sich bereits in vielen Studien eine hohe Effektivität dieser Elternprogramme.
Darüber hinaus haben sich in den letzen 20 Jahren Maßnahmen im frühkindlichen Alter durchgesetzt. Beckwith und Sigman (1995) sprechen hier von Frühprävention, die ihren Fokus auf Kinder in den ersten drei Lebensjahren gelegt hat, da gerade in dieser sensiblen Zeit das kindliche Gehirn stark beeinflussbar ist (Roth 2003). Es kann die Bindung zwischen Kind und primären Bezugspersonen gefördert werden, indem die Eltern lernen, angemessen auf Signale ihrer Kinder zu reagieren (vgl. Cierpka 2008b, S. 68). „Bindungsorientierte Programme zielen im Wesentlichen darauf ab, die Feinfühligkeit der Eltern zu erhöhen, um dem Kind zu einer sicheren Bindung zu verhelfen.“ (Ebd.). Durch die positive Beeinflussung der Eltern-Kind-Beziehung werden die elterlichen Kompetenzen und sozial-emotionalen Kompetenzen der Kinder gefördert. Zusätzlich ist es sinnvoll die frühkindliche Prävention mit Hausbesuchen zu verbinden, da somit auch Hochrisiko-Familien erreicht werden können.
Eine besondere Risikogruppe sind Kinder, die prä-, peri- oder postnatale Komplikationen erleiden, womit für das Neugeborene und seine Eltern viel Stress einhergeht (vgl. Ebd., S. 69)). Im Hinblick auf gesundheitliche Langzeitfolgen zählen Kinder von Alleinerziehenden ebenfalls zu den besonderen Risikogruppen. Whiteside und Becker (2000) fordern bereits im Zusammenhang mit einer Trennung oder Scheidung eine Pflicht-Beratung im Sinne einer ‘Mediationf Präventionsmaßnahmen sollten sich dann sowohl auf das betreffende Elternteil als auch auf die Förderung der kindgerechten Wahrnehmung der Elternfunktion konzentrieren. Im Falle eines fehlenden Vaters, vor allem bei Jungen, sollte der Fokus auf der Förderung männlicher Identifikationen liegen (vgl. Cierpka 2008b, S. 70). Die familienzentrierte Prävention hat bei diesen Hoch-Risiko-Familien mit Schwierigkeiten zu kämpfen, wenn sie sozial benachteiligt sind oder in Armut leben. Es ist vielen Eltern schlichtweg nicht möglich an den angebotenen Programmen teilzunehmen, oder wenn sie teilnehmen, brechen sie oft frühzeitig ab. In diesem Zusammenhang haben Prinz und Miller (1994) festgestellt, dass die ‘Responderrate‘ größer wird, „wenn nicht allein auf die Eltern-Kind-Interaktion geachtet wird, sondern die Familien zusätzliche Unterstützung am Arbeitsplatz, bei Gesundheitsproblemen oder Familienstreit und bei persönlichen Problemen erhalten.“ (Cierpka 2008b, S. 70 f.).
Die Gewaltkommission für die Kriminalpolitik hat viele Vorschläge zur Verfügung gestellt, die sich auf die Repression und Prävention von Gewalt beziehen und ein breites Spektrum kriminalpolitischer Interventionsmöglichkeiten entwickeln.
Vorschläge zur Eindämmung der Gewalt in der Familie (vgl. Schwind 1998, S. 264 ff.; Schwind u.a. 1990, S. 157 ff.)
- Normative Ächtung der Gewalt in der Familie durch das Verbot der körperlichen Züchtigung von Kindern.
- Flächendeckende Elternberatung zum einen mit dem Ausbau von Erziehungsund Familienberatungsstellen mit besonderer Hilfe für problembelastete Familien, zum anderen mit der Einführung von Beratungsstellen für Eltern deren Kinder straffällig geworden sind.
- Abbau sozialer Stressfaktoren und Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen anhand einer Verlängerung des Erziehungsurlaubes, einer Flexibilisierung der Erwerbstätigkeit der Eltern in Form von beispielsweise Teilzeitbeschäftigung oder die Erhöhung des Kindergeldes.
- Familienfreundlicher Wohnungsbau, sprich familienfreundliche Infrastruktur durch beispielsweise die Errichtung von Spielplätzen oder Erlebnisräumen, die die Fantasie der Kinder anregen.
- Ausbau des Opferschutzes durch Einführung gesetzlicher Melderechte für Ärzte und andere Berufsgruppe, die der Schweigepflicht unterliegen. Dadurch soll eine Früherkennung gefährdeter Familien ermöglicht werden. Auch eine finanzielle Förderung von Kinderschutzzentren, wie zum Beispiel der Deutsche Kinderschutzbund oder auch Frauenhäusern, dient dem Schutz der Opfer.
2.2.3 Außerfamiliäre Präventionsansätze
Trotz aller Bemühungen hat sich herausgestellt, dass familienzentrierte Maßnahmen alleine nicht ausreichen, um für Familien und Kinder die schlechten Lebensbedingungen zu verändern (vgl. Cierpka 2008b, S. 70). Sie müssen dringend durch außerfamiliäre Interventionen in Kindergärten und Schulen ergänzt werden, damit Kindern die Möglichkeit geboten wird in einem alternativen Kontext sozial-emotionales Verhalten zu erlernen. Viele Präventionsforscher fordern bereits eine flächendeckende Ausdehnung auf den schulischen Bereich, um breitenwirksam möglichst viele gefährdete Kinder zu erreichen. Gerade durch Überforderung von Familien und Gewalt in der Familie wird außerfamiliäre Sozialisation immer häufiger in Anspruch genommen. Vielen Kindern wird damit eine zweite Chance geboten (vgl. Ebd., S. 76).
Die unabhängige Regierungskommission der Bundesrepublik zu Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt fordert ein entsprechendes Umdenken.
„Die Schule muß sich auf ihren Erziehungsauftrag zurückbesinnen. Der Erziehungsaspekt und die Vermittlung gesellschaftlicher Normen müssen gegenüber der Wissensvermittlung wieder stärker in den Vordergrund treten. Lehrer müssen in ihrer Ausbildung wieder besser auf ihre Erzieherrolle vorbereitet werden.“ (Schwind u.a. 1990, S. 150 f.).
Kindergärten und Schulen bieten sich als Ansatzpunkt für primäre Prävention an, da dort alle Kinder erreicht werden und somit die Breitenwirksamkeit der Maßnahmen gewährleistet ist. Die Gruppensituation führt dazu, dass sich die Maßnahmen an alle Kinder „richten kann und kein Kind durch eine Sonderbehandlung ausgegrenzt wird.“ (Cierpka 2009, S. 42). Da Kindergärten und Schulen darüber hinaus sehr stabile Institutionen sind, können Präventionsprogramme langfristig angelegt werden. Ebenso entwickelt sich zwischen Lehrern beziehungsweise Erzieherinnen und den Kindern eine Beziehung, sodass jene zu Identifikationsfiguren werden und die Kinder dadurch ein anderes Beziehungsverhalten erleben und andere Erfahrungen machen können (vgl. Ebd., S. 43). „Außerfamiliäre Lernerfahrungen führen bei Kindern oft zu einem Alternativmodell für den Umgang mit konflikthaften Beziehungen.“ (Ebd.). Sozialemotionales Lernen dient auch dem Opferschutz, da Kinder, die oft unterdrückt oder verletzt werden, konfliktfähiger werden und ihnen Möglichkeiten vermittelt werden um sich bei der Problemlösung besser behaupten zu können (vgl. Berlinder/Conte 1990).
Auch für den Bereich Schule liefert die Gewaltkommission einige Ideen zur Prävention und Reduktion von Gewalt.
Vorschläge zur Eindämmung der Gewalt in der Schule (vgl. Schwind 1998, S. 266 ff.;
Schwind u. a. 1990, S. 150 ff.; Jäger 1999, S. 222)
- Stärkung der Verantwortlichkeit für und Identifikation mit der eigenen Schule: Verbesserung der Schulatmosphäre durch kleine Klassen und übersichtliche Gebäude- und Organisationsstrukturen oder die Förderung des ‘Wir-Gefühls‘ mit Hilfe von Schulchor und Schulsportvereinen. Schülern sollten erkennbare Mitwirkungsmöglichkeiten eingeräumt werden.
- Verringerung der leistungsbedingten Schulfrustration durch die erweiterte Förderung von schwachen Schülern, die Einrichtung berufspraktischer Programme und die Ausbildung von Beratungslehrern. Mehr Transparenz und eine eventuelle Neuregelung der Notengebung können dem Abbau schulischer Frustration dienen.
- Ausbau von Außenkontakten zu Drogen- und Erziehungsberatung, Jugendamt, Polizei und Justiz.
- Freizeiterziehung in Form von Besuchen in Einrichtungen der Jungendarbeit, Jugendzentren und Sportvereinen.
- Medienbezogene Maßnahmen, wie zum Beispiel medienpädagogische Unterrichtsprojekte.
Es konnte nun ein guter Eindruck darüber gewonnen werden, auf welchen Ebenen Gewaltprävention bei Kindern möglich ist. Das nachfolgende Kapitel beschäftigt sich ergänzend dazu, mit einer Einblick in bestehende Präventionsprogramme, den Stand der Forschung und deren Effektivität.
III STAND DER EMPIRISCHEN FORSCHUNG
1. FAMILIENZENTRIERTE PRÄVENTIONSPROGRAMME
Die medizinische und psychologische Wissenschaft, ebenso die Familienbildung, lenken ihr Interesse in den letzten Jahren immer mehr auf die Bedeutung der frühen Kindheit (vgl. Dorner 1999; Papousek 1997). Familien stehen zu Beginn der Elternschaft vielen neuen Herausforderungen gegenüber und Paare sind in der heutigen Zeit weitestgehen auf sich alleine gestellt, Rückhalt und Sicherheit von Unterstützungssystemen sind kaum noch gegeben. Im Zuge historischer Wandlungsprozesse hat sich die Bedeutung, die Kindern beigemessen wird, fortlaufend geändert und ist heute an einem Punkt angelangt, an dem sie von Geburt an als einzigartige, sich in ihrer Entwicklung frei entfaltende Persönlichkeiten angesehen werden. Der fehlende Rückhalt der Unterstützungssysteme soll durch Informationsvermittlung der Medien kompensiert werden, was jedoch einen gegenläufigen Effekt hat. Widersprüche der unterschiedlichsten Informationsquellen führen letztendlich zu mehr Verwirrung (vgl. Gregor/Cierpka 2008, S. 89; Gloger- Tippelt 1995).
„Die Idee, Eltern in der ersten Zeit des Beziehungsaufbaus mit ihrem Baby eine gesellschaftlich geförderte Begleitung und Unterstützung zu bieten, ist als logische Konsequenz der Ergebnisse jahrzehntelanger Forschung relativ junger Forschungsdisziplinen entstanden“. (Gregor/Cierpka 2008, S. 89).
Richtungsweisend waren dabei vor allem die Säuglingsforschung (Dornes 1993), die Bindungsforschung (Sroufe 2000), die Familienforschung (Minuchin 1985) sowie die Hirnforschung und die Neurobiologie (Braun 2001). In der Bindungsforschung gilt die Bindungsqualität als die wichtigste Voraussetzung für die Abstimmung zwischen Eltern und Kind. Außerdem beeinflusst die Bindungsqualität in der frühen Kindheit stark diejenige in späteren Lebensabschnitten (vgl. Gregor/Cierpka 2008, S. 90).
1.1 Programme der Frühprävention
Für Programme der Frühprävention leitet sich aus den oben aufgeführten Erkenntnissen ab, dass sie in hohem Maße beziehungsorientiert sein und dementsprechend sehr individualisiert erfolgen müssen, denn ein allgemein vorformuliertes Curriculum würde der individuellen Hilfestellung im Wege stehen (vgl. Suess/Kißgen 2008, S. 143). Ziel solcher bindungsorientierten Programme ist es, „Hilfen zur Verfügung zu stellen und Kompetenzen zu fördern, welche die Entwicklung einer positiven und sicheren ElternKind-Beziehung fördern“. (Gregor/Cierpka 2008, S. 91). Frühpräventive Projekte setzen bereits während der Schwangerschaft bis zum 3. Lebensjahr ein, zu einem Zeitpunkt bevor sich Störungen im Verhalten manifestieren können. Um die Beziehung zwischen Eltern und Kind in diesem Zeitraum zu fördern, müssen Eltern lernen, angemessen auf die Signale ihrer Kinder zu reagieren. „Bindungsorientierte Programme zielen im Wesentlichen darauf ab, die Feinfühligkeit der Eltern zu erhöhen, um dem Kind zu einer sicheren Bindung zu verhelfen.“ (Cierpka 2008b, S. 68).
In den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts sind in den Vereinigten Staaten zahlreiche Frühpräventionsprogramme entstanden, die den Bindungsansatz zugrunde legen. Um Familien zu erreichen, die am dringendsten Hilfe benötigen und in den meisten Fällen nicht aus eigener Initiative Hilfe in Anspruch nehmen, wurden selektive Programme entwickelt, die risikobelastete Bevölkerungsgruppen ansprechen. Hausbesuche gelten als höchst effektiv im Hinblick auf die gewaltpräventiven Wirkung (vgl. Gregor/Cierpka 2008, S. 92). Aufgrund der weiten Verbreitung, wissenschaftlicher Fundierung und der Grundlage für ähnliche deutsche Projekte, wird hier das Programm STEEP etwas genauer vorgestellt.
„STEEP“ - Steps Toward Effective, Enjoyable Parenting (Schritte zu einer effektiven, genussvollen Elternschaft) Entstehung: STEEP wurde 1986 durch Martha Farrell Erickson entwickelt und diente in erster Linie zur Verhinderung von Misshandlung, Vernachlässigung und der Förderung von Eltern-Kind-Beziehungen in Risikofamilien.
Ziel: „Das wichtigste Ziel bei der Betreuung der Klientel besteht in einer Sensitivitätssteigerung der Teilnehmenden gegenüber den Signalen ihrer Säuglinge“. (Gregor/Cierpka 2008, S. 94). Eltern soll der Beziehungsaufbau zu ihren Kindern ermöglicht, eine kritische Reflexionsfähigkeit und ein realistisches Elternbild gefördert werden (vgl. Suess/Kißgen 2008, S. 150).
Material: Es liegen ein Manual bestehend aus 27 Kapiteln und zwei Videobänder vor, die durch ein Handbuch ergänzt werden.
Schwerpunkt: Der Schwerpunkt bei der Arbeit mit STEEP liegt auf der Interaktion zwischen Eltern und Säugling einerseits, dem Aufbau einer respektvollen und partnerschaftlichen therapeutischen Beziehung zwischen dem STEEP-Berater und den Eltern andererseits. Das entstandene Klima des Vertrauens, des Respektes und der Wertschätzung soll dabei helfen auch unangenehme „Themen aus der eigenen Beziehungsvergangenheit, die mit Abwehr belegt sind, zu konfrontieren.“ (Ebd.). Im Mittelpunkt des Projektes steht jedoch die Freude am Kind, denn nur wenn der Umgang mit dem Kind auch Freude bereitet, kann eine sichere Eltern-Kind-Bindung entstehen (vgl. Ebd.).
Durchführung: Bereits während der Schwangerschaft beginnt das Programm durch die Kontaktaufnahme mit den werdenden Müttern. In 14-tägigen Abständen werden Hausbesuche durchgeführt und in familiären Settings, auch unter Einbeziehung von Verwandten und Freunden, Gespräche mit den Familien geführt, in denen Gefühle bezüglich der Schwangerschaft thematisiert werden und eine Vorbereitung auf die Elternschaft abgestrebt wird. Nach der Geburt werden diese Hausbesuche durch videogestützte Interaktionsberatung und Gruppentermine ergänzt, die ebenfalls 14-tägig im Wechsel mit den Hausbesuchen, für mindestens zwei Jahre, stattfinden. Des Weiteren können besonders heikle oder wichtige Themen in Einzelterminen vertieft werden (vgl. Gregor/Cierpka 2008, S. 93; Suess/Kißgen 2008, S. 151). Als zentrale Arbeitsweise zur Erreichung der Ziele dient die Videotechnik, die den Leitsatz „ Seeing is Believing „ (was man sehen kann, das glaubt man auch) zugrunde legt. Eltern und Kinder werden bei Hausbesuchen und auch bei den Gruppentreffen in realen Interaktionssequenzen aufgezeichnet. Die Aufzeichnungen werden anschließend zusammen mit den Eltern angesehen und besprochen.
In Deutschland ist das STEEP-Programm unter der Bezeichnung „Projekt Frühintervention„ bekannt (Suess 2003). Gerhard Suess übersetzte und führte es 1999 ein. Nach langjähriger Erfahrung in den Vereinigten Staaten wird nun in HamburgLangenhorn das „Projekt Frühintervention„ im Auftrag der Eltern-Kind- Bindungsförderung umgesetzt. Das Langenhorner Projekt ist im Gegensatz zu STEEP universell ausgerichtet. Die schwierige Rekrutierungsphase war schnell überwunden und die Mitarbeiter sind inzwischen durch eine hohe Inanspruchnahme der Hilfen stark ausgelastet.
Empirische Studien
Als STEEP 1987 erstmals durchgeführt wurde, war es ursprünglich auf ein Jahr angelegt. Die erste Studie, an der 77 Mutter-Kind-Paare teilnahmen, fand bis zu einem Jahr nach Abschluss der eigentlichen Intervention statt (Egeland 2002). Nach der ersten Erhebung konnten eine Verbesserung der mütterlichen Fürsorglichkeit bezüglich ihres Verständnisses kindlicher Entwicklung und ihrer Lebensgestaltungs und -bewältigungskompetenz festgestellt werden. Hervorzuheben ist jedoch, dass keine Verbesserung der Bindungssicherheit dokumentiert wurde (Egeland/Erickson 2004). Die späteren Daten, ein Jahr nach Abschluss der Intervention, zeigten, dass sich in der Kontrollgruppe viele Eltern-Kind-Beziehungen verschlechtert haben. Ein bedeutender Erfolg war im Vergleich dazu, die Stabilität der Eltern-Kind-Bindungen in der Interventionsgruppe.
Frühprävention verhindert demnach einen Abfall einmal erreichter Bindungssicherheit, der ohne STEEP durch die Herausforderungen des Alltags verursacht würde (vgl. Suess/Kißgen 2008, S. 145).
Ähnlich haben auch Marvin et al. (2003) in ihrer Interventionsstudie darauf hingewiesen, dass Bindungssicherheit nicht signifikant dokumentiert wurde, aber eine erkennbare Minderung von Bindungsdesorganisation erreicht wurde.
Insgesamt hat STEEP demnach kaum zu nachweisbarer Steigerung der Bindungsqualität geführt, dennoch wurde mit Hilfe der Erkenntnisse das Projekt modifiziert und zum aktuellen STEEP-Programm weiterentwickelt, dessen wesentlicher Unterschied die Dauer einer Intervention von mindestens zwei Jahren ist (vgl. Egeland/Erickson 2004).
1.2 Elternprogramme
Diese Form der familienzentrieten Prävention ist für Eltern und Familien mit Kindergarten- und Grundschulkindern vorgesehen. Im Mittelpunkt steht hier eine Reduktion der familiären Risikovariablen, die durch inkonsistentes Erziehungsverhalten, negative familiäre Kommunikationsmuster, Ehekonflikte, psychische Störungen der Eltern oder durch ungünstige sozioökonomische Faktoren, wie beispielsweise schlechte Wohn- und Schulverhältnisse, Armut oder Arbeitslosigkeit entstanden sind. Als Beispiel für einen Ansatz zur Unterstützung von Familie und Elternschaft wird das Programm Triple P vorgestellt.
„Triple P“ - Positive Parenting Program (Positives Erziehungsprogramm) Entstehung: Triple P wurde von Prof. Dr. Matthew Sanders und seinen Mitarbeitern in Brisbane, Australien am Parenting and Family Center der Universität von Queensland als präventives Elternprogramm entwickelt (vgl. Hahlweg/Heinrichs 2007, S. 176).
Ziel: Triple P ist ein Programm zur Unterstützung von Eltern bei der Kindererziehung, dessen wichtigstes Ziel es ist „Eltern Strategien nahe zu bringen, wie sie zu ihrem Kind eine positive Beziehung aufbauen, es in seiner Entwicklung fördern und wie sie effektiv mit problematischen Verhaltensweisen umgehen können.“ (Kuschel/Hahlweg 2008, S. 162).
Grundlagen: Das Elternprogramm „basiert auf dem aktuellen klinisch-psychologischen Forschungsstand und nimmt Bezug auf verschiedene theoretische Grundlagen.“ (Ebd.). Dazu gehören unter anderem Modelle sozialer Lerntheorie zur Eltern-Kind-Interaktion, besonders das Modell des Zwangsprozesses (Patterson 1982), verhaltensanalytische Modelle mit Fokus auf die Veränderung von Bedingungen, die Problemverhalten auslösen (Risley et al. 1976), operante Lernprinzipien, wie beispielsweise Belohnung oder Ignorieren (Sanders 1996) und die sozial-kognitive Lerntheorie von Bandura (1977).
Schwerpunkt: Wesentliches Konzept dieses Elternprogramms ist die Selbstregulation, die eine Vermittlung von Fertigkeiten beinhaltet, welche den Eltern dazu verhelfen soll, Probleme möglichst unabhängig und selbstständig zu lösen. Ein weiterer Schwerpunkt liegt darauf, möglichst individuell auf die Eltern einzugehen und die unterschiedlichen Konstellationen des Zusammenlebens der Familien, ihre jeweiligen Wünsche und Bedürfnisse zu beachten (vgl. Hahlweg/Heinrichs 2007, S. 177).
Inhalte und Materialien: Triple P umfasst fünf Interventionsebenen mit jeweils steigender Intensität an Unterstützung, da Eltern oft nicht in allen „Bereichen Defizite aufweisen und deshalb spezifische, auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnittene Interventionen nötig sind.“ (Kuschel/Hahlweg 2008, S. 165). Stufe 1 beinhaltet universelle Informationen über Erziehung, die mit Hilfe unterschiedlicher Medien vermittelt werden. Dazu zählen beispielsweise Artikel in Zeitschriften, eine 14-seitige Broschüre „Positive Erziehung„, die Erziehungsstrategien und Tipps beinhaltet („Kleine Helfer„), zahlreiche weitere Informationsblätter und eine Videoserie, die praktische Hilfen zur Lösung alltäglicher Erziehungs- und Entwicklungsproblemen zeigt. Bei Stufe 2 und 3 handelt es sich um Kurzberatungen. Diese umfassen zum einen bis zu vier Einzelberatungen für Eltern mit spezifischen Erziehungsproblemen und -fragen, die von Kinderärzten, Erziehern oder Lehrern durchgeführt werden. Zum anderen erhalten Eltern in vier Sitzungen ein aktives Training, in dem ein spezifisches Problem genannt, Ziele definiert, Strategien zur Problemlösung vermittelt werden und mit den Eltern in Rollenspielen aktiv eingeübt werden. Für Eltern von Kindern mit Verhaltensproblem bietet die 4. Stufe des Programms intensive Elterntrainings an. Diese Trainings sind als Gruppentreffen, Einzelterminen und als telefonisch unterstütztes Selbsthilfeprogramm möglich. Es handelt sich um ein intensives Programm mit Fokus auf Eltern-Kind- Interaktion und der Anwendung und Erweiterung von Erziehungsfertigkeiten. Mit Hilfe des Videos „Überlebenshilfe für Eltern“ und eines Arbeitsbuches wird den Eltern eine große Menge verschiedener Erziehungsstrategien vermittelt. Die letzte Stufe richtet sich an Eltern von Kindern mit deutlichen Verhaltensproblemen und Eltern, die nach der Teilnahme an Stufe 4 weiterhin Schwierigkeiten haben und vertiefende Unterstützung benötigen. Dazu wird bei Hausbesuchen die ganze Familie mit einbezogen. Außerdem liegt ein Modul zur Partnerunterstützung für Eltern mit Eheproblemen und ein Modul für individuelle Schwierigkeiten, wie beispielsweise Depressionen, Ängste oder Stress, der Eltern vor (vgl. Ebd., S. 165 f.)
Empirische Studien
Zahlreiche Studien zur Effektivität von Triple P, von denen einige bereits in den 80er Jahren veröffentlicht wurden (Sanders 1984; Christensen 1987), belegen die insgesamt positiven Effekte des Programms (vgl. Kuschel/Halhweg 2008, Z. 170; Schick 2010, S. 72). Der Großteil dieser Studien ist an die unterschiedlichen Interventionsstufen des Programms angelehnt.
Bei einer kontrollierten Studie von Sanders et al. (2000) steht beispielsweise die Effektivität einzelner Stufen bei Vorschulkindern mit sich ausbreitendem auffälligem Verhalten im Mittelpunkt. Nach der Intervention konnten auf den Stufen 4 und 5 weniger beobachtete und berichtete Verhaltensprobleme der Kinder festgestellt werden. Das Ausmaß von falschem Erziehungsverhalten konnte durch die Intervention verringert und die Erziehungskompetenz erhöht werden. Auch bei der Nachuntersuchung. ein Jahr später, blieb die Verhaltensveränderung der Kinder stabil. Es zeigte sich demnach, dass die intensiven Interventionen (Stufen 4 und 5) durchaus positive Effekte erzielten (vgl. Kuschel/Hahlweg 2008, S. 170 f; Sanders et al. 2000).
Über viele weitere Studien hinweg zeigten sich konsistente Ergebnisse. Dazu zählt vor allem „die bedeutende Abnahme kindlicher Verhaltensprobleme...sowie eine deutliche Verbesserung der elterlichen Befindlichkeit.“ (Kuschel/Hahlweg 2008, S. 172). Darüber hinaus ist eine hohe Zufriedenheit und Akzeptanz von den Eltern berichtet worden, die an den Interventionen teilgenommen haben.
Einziger Einwand, den man gegen die Studien machen kann, ist, dass die Effektivitätsbeurteilung fast ausschließlich auf Aussagen und Einschätzungen der Eltern basierten, kaum systematische Verhaltensbeobachtungen beinhalteten und keine Einschätzung von Lehrkräften und Erzieherinnen vorliegen (vgl. Schick 2010, S. 72).
In Deutschland wurde Triple P vom „PAG - Institut für Psychologie„ gemeinsam mit der Technischen Universität Braunschweig und der Christoph-Dornier-Stiftung für Klinische Psychologie in Braunschweig eingeführt. Die Broschüre „Positive Erziehung„, die „Kleinen Helfer„, das Gruppenarbeitsbuch ebenso wie Video und weitere Materialien liegen bereits in einer deutschen Fassung vor. Die PAG bietet Ausbildungen zum Triple-P-Trainer für Erzieherinnen, Lehrer, Sozial- und Diplompädagogen sowie Diplompsychologen an und inzwischen gibt es über 400 lizensierte Trainer, die in ganz Deutschland Kurse des Erziehungsprogramms anbieten. Die Eltern sind hoch motiviert bei der Anwendung des Programms; es ist eine besonders positive Resonanz zu vermerken (vgl. Kuschel/Hahlweg 2008, S. 172 f.).
Auch in Deutschland wurde die Wirksamkeit des Programms evaluiert und untersucht. Von der Deutschen Forschungsgemeinschaft wurde zum Beispiel eine Studie an den Standorten Braunschweig und Köln gefördert, welche die Effektivität von Triple P bei Familien mit Kindern im Vorschulalter überprüfte. Besonders auffällig war auch hier die hohe Akzeptanz bei den Eltern, die sehr motiviert bei der Sache waren und das Programm gerne weiterempfehlen (vgl. Ebd., S. 173).
Triple P erweist sich als ein wirksames Programm zur Unterstützung von Eltern bei der Kindererziehung und damit zur Prävention von gewaltbereitem Verhalten, weshalb es auch weiterhin in Deutschland angeboten und verbreitet werden sollte (vgl. Ebd., S. 172 f.).
2. AUSSERFAMILIÄRE PRÄVENTIONSPROGRAMME
Unsoziales Verhalten, Aggression und Gewalt von Kinder und Jugendlichen stellen in allen industrialisierten Staaten ein großes soziales Problem dar. Da Ursachen und aggressionsfördernde Prozesse schon in der frühen Kindheit entstehen, gewann das „Thema Prävention von oppositionellem und aggressiven Problemverhalten bei Kindern in den letzten Jahren nicht nur in der klinisch-psychologischen und pädagogischen Forschung, sondern auch in der Öffentlichkeit an Bedeutung, insbesondere im Zusammenhang mit dem vermuteten Anstieg an Gewalt in Kindergärten und Schulen.“ (Kuschel/Hahlweg 2008, S. 157).
Es liegt inzwischen eine Vielzahl von kindergarten- und schulzentrieten Präventionskonzepten vor. Schule und Kindergarten eignen sich vor allem deswegen für eine früh ansetzende Intervention, da sie sehr viele Kinder erreichen und Stigmatisierungsprozesse vermeiden (vgl. Schick/Cierpka 2008, S. 235). Grundsätzlich gibt es unterschiedliche Möglichkeiten um aggressivem Verhalten von Kindern präventiv entgegenzuwirken. Da sind zum einen strukturelle und organisatorische Maßnahmen, die eine Neugestaltung der räumlichen Umgebung oder organisatorische Innovationen beinhalten (vgl. Ebd., S. 236). Zum anderen liegen Ansätze zur Förderung gewaltpräventiver Kompetenzen der Erzieherinnen und Lehrkräfte oder aber Gewaltpräventionsprogramme vor, die speziell auf die Kinder, Schülerinnen und Schüler ausgerichtet sind. Die meisten dieser Programme sind soziale Trainingsprogramme für Kinder. Schwerpunkt dabei ist die Förderung der generellen Lebenskompetenzen, indem soziales Lernen und Problemlösen geübt werden. Zudem sind Kindergärten und Schulen hervorragend geeignet für die Durchführung langfristig angelegter Curricula und ermöglichen ein direktes und permanentes Umsetzen des Gelernten auf konkrete soziale Situationen (vgl. Henrich et al., S. 1999). Die bislang vorliegenden Ansätze und Curricula unterscheiden sich deutlich hinsichtlich ihres theoretischen Hintergrunds, ihrer inhaltlichen Schwerpunktsetzung und der Dauer der Maßnahmen. An dieser Stelle werden wir uns mit zwei Programmen etwas genauer beschäftigen.
„Fit und stark fürs Leben“ Ziel ist die Stärkung der Persönlichkeit von Kindern an Grundschulen zur Prävention von Aggression und zur Suchtprävention (Rauchen, Süßigkeiten, Fernsehen, Computerspiele).
Entstehung und theoretischer Hintergrund. „Fit und stark fürs Leben“ wurde 2000 von Fritz Burow, Martin Aßhauer und Dr. Reiner Hanewinkel, basierend auf Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), entwickelt.
„Aus Sicht der WHO sollten alle pädagogischen Möglichkeiten dahin gehend ausgeschöpft werden, Schülerinnen und Schüler zu befähigen, ihr Selbstwertgefühl zu entwickeln, ihren Lebensmut zu fördern, sie zu aktiver und kreativer Lebensgestaltung zu motivieren und sie konfliktfähig für die Bewältigung schwieriger Lebensphasen zu machen.“
(Burow/Aßhauer/Hanewinkel 2008, S. 9).
Schwerpunkt: Angelehnt an den Ansatz der WHO befasst sich das Projekt „Fit und stark fürs Leben“ mit sechs konkreten Bereichen von Lebenskompetenzen („Life skills„), die sich in den Hauptthemen widerspiegeln. Dabei geht es um die Verbesserung und Förderung der Fähigkeiten der Kinder in folgenden Punkten:
- Kommunikation
- Umgang mit negativen Emotionen
- Problemlösen/Kritisches Denken
Ablauf: Die 20 Unterrichtseinheiten folgen einem Ritual mit jeweils gleichbleibender Reihenfolge der Gliederungspunkte. Bei der Eröffnung der Einheit stehen zwei Lieder oder der Morgenkreis, eine Gesprächsrunde, bei der die Kinder zu einem vorgegebenen Thema Stellung nehmen können, zur Auswahl. Nach der darauffolgenden Hausaufgabenbesprechung folgt der Entspannungsteil. Dieser beinhaltet Atem- und Ganzkörperübungen, die sich mit der Körperwahrnehmung beschäftigen und sogenannten Fantasiereisen hinführen. Bei den Fantasiereisen kommen Spiele zur Anwendung, bei denen die Kinder die Augen schließen sollten, was wiederum Vertrauen in der Klasse schaffen soll. Im anschließenden Hauptteil werden die oben erwähnten Hauptthemen auf unterschiedliche Weise, beispielsweise durch Musik, Bewegung, Malen oder Basteln, erarbeitet. Die Bearbeitung der Themen in Kleingruppen und Rollenspiele sind ebenso Teil dieses Abschnitts. In Abhängigkeit vom jeweiligen Hauptthema beinhaltet der gemeinsame Abschluss, Gespräche über Alltagssituationen (vgl. Ebd., S. 18 ff.).
Material: Die Unterrichtseinheiten sind für erste und zweite, dritte und vierte, fünfte und sechste sowie siebte und achte Klassenstufen entwickelt worden und in separaten Manuals festgehalten. Das Manual für das erste und zweite Schuljahr beinhaltet theoretische Hintergründe zum Projekt selbst, eine konkrete Darstellung und Anleitung zu den 20 Unterrichtsabschnitten, detaillierte Beschreibungen zu den Übungen und Spielen sowie 39 Kopiervorlagen.
„Second Step“
Das in den Vereinigten Staaten und Europa (vor allem in den skandinavischen Ländern) verbreitete Programm „Second Step“ wurde 1988 von Beland entwickelt. Das Curriculum liegt in einer Version für Grundschulen vor, bestehend aus 51 Lektionen, die von der 1. bis zur 3. Klasse unterrichtet werden. Die drei Themenschwerpunkte Empathieförderung, Impulskontrolle und Umgang mit Ärger und Wut sind aus Forschungsbefunden und entwicklungspsychologischen Theorien zu den Defiziten aggressiver Kinder abgeleitet. „Second Step“ setzt an diesen Schlüsselkompetenzen an und hat zum Ziel, durch meist spielerisches Einüben neuer Verhaltensweisen, die Kinder darin zu unterstützen, sich in sozialen Situationen angemessen und erfolgreich zu verhalten.
Es ist ein sehr praxisorientiertes Programm, das von Lehrkräften, mit Hilfe eines Handbuches und Fotokartons mit entsprechender Anweisung zur Lektion, unterrichtet wird. Voraussetzung ist dabei die Teilnahme an einem Fortbildungsseminar, in dem die wesentlichen Inhalte und Strategien vermittelt werden (vgl. Schick/Cierpka 2008, S. 242 f.).
Basierend auf „Second Step“ liegt seit 2001 eine deutsche Fassung mit dem Titel FAUSTLOS vor. Weiterhin wurde daraus 2003 ein Curriculum für Kindergärten, bestehend aus 28 Lektionen, entwickelt.
Empirische Studien
Grundlegend ist hervorzuheben, dass es zwar eine Vielzahl gewaltpräventiver Programme gibt, jedoch nur wenige aussagekräftige Evaluationen vorliegen. Verglichen mit dem angloamerikanischen Sprachraum, der bereits zahlreiche Studien vorweisen kann, herrscht in Deutschland ein klares Forschungsdefizit (vgl. Lösel u.a. 2008, S. 207). In den Vereinigten Staaten konnte dank umfassender Evaluationen die aggressionsreduzierende und gewaltpräventive Wirkung einiger hoch strukturierten und langfristig angelegten Gewaltpräventionsprogramme im außerschulischen Bereich belegt werden (vgl. Schick/Cierpka 2008, S. 239). Dazu zählt auch „Second Step“ und FAUSTLOS. Beide werden kontinuierlich evaluiert, da begleitende Effektivitätsstudien integrativer Bestandteil der Programme sind (vgl. Schick/Cierpka 2005, S. 466).
Mit Präventionsprogrammen im Allgemeinen können „meist nur geringe Effekte erzielt werden...da die Mehrheit der unterrichteten Kinder nicht verhaltensauffällig ist und deshalb von vorneherein keine dramatischen Veränderungen zu erwarten sind.“ (Schick/Cierpka 2008, S. 248). Bereits in den Pilotstudien zu „Second Step“ von Beland (1988), im Schulbezirk Seattle, konnte jedoch gezeigt werden, dass sich das Programm äußerst förderlich auf die sozialen Kompetenzen der Kinder auswirkt. Die mit „Second Step“ unterrichteten Kinder waren empathischer und hatten deutlich bessere Problemlösungsfähigkeiten. Untersuchungen von Grossman et al. (1997), die auch direkte Verhaltensbeobachtungen beinhalteten und zur Bewertung des kindlichen Verhaltens, Angaben von Eltern und Lehrkräften heranzogen, zeigten, dass die Teilnahme am Programm körperliche und verbale Aggressionen der Kinder verminderte und zu einer Steigerung prosozialer und neutraler Interaktionen führte (vgl. Frey et al. 2000).
„Auch die Studie von McMahon et al. (2000) zur Kindergarten-Version belegt einen Rückgang verbaler und körperlicher Aggressionen und zeigt, dass 'Second Step Kinder' andere weniger häufig ablenkten oder störten, Gefühle besser identifizieren können und die Folgen von Handlungen besser vorhersagen konnten als Kinder ohne Second Step Unterricht.“ (Schick/Cierpka 2005, S. 466).
Mit der deutschsprachigen Version des Curriculums konnten ebenfalls positive Effekte nachgewiesen werden. FAUSTLOS wurde 1996/97 erstmals im Rahmen einer einjährigen Pilotphase in Göttingen an 8 Grundschulen und 3 Kindergärten erprobt. In dieser Studie zeigten die FAUSTLOS-Kinder bereits nach vier Monaten eine Verbesserung ihrer sozialen Kompetenzen und eine verstärkte Ablehnung aggressiver Verhaltensweisen als Mittel der Konfliktlösung (vgl. Hahlweg et al. 1998). Ergebnisse und Rückmeldungen dieser Studie flossen anschließend in die Überarbeitung der Materialien von FAUSTLOS ein.
In einer Dreijahres-Studie im Prä-Post-Kontrollgruppendesign (Schick/Cierpka 2003a) konnte dann dargelegt werden, dass FAUSTLOS angstreduzierend wirkt und den Transfer der erlernten sozialen Kompetenzen in den Alltag der Kinder unterstützt. (vgl. Schick/Cierpka 2008, S. 247). Bei dieser Untersuchung wurde ausgehend von den bereits vorliegenden Ergebnissen und Erfahrungen mit der Pilotstudie, das FAUSTLOSCurriculum für Grundschulen über einen Zeitraum von drei Jahren evaluiert (vgl. Schick/Ott 2002, S. 778). Insgesamt nahmen eine Experimentalgruppe aus 14 Grundschulen, 30 Klassen, und eine Kontrollgruppe bestehend aus 7 Grundschulen bzw. 14 Klassen teil. Ziel war es herauszufinden, ob die Kinder durch FAUSTLOS verschiedene Einstellungen und emotionale Handlungen verändern und ob FAUSTLOS generell zu Verhaltensänderungen führt. Dazu wurden LehrerInnen, Eltern und jeweils zwei Kinder pro Klasse befragt. Aus der Sicht der Eltern konnten Verhaltensveränderungen bei den Kindern festgestellt werden und hat FAUSTLOS eine angstreduzierende Wirkung. Da die Eltern hierbei nur das außerschulische Verhalten ihrer Kinder beurteilen können, lässt sich hier deutlich der Transfereffekt des Curriculums hervorheben. Auch die Kinder selbst schätzten ihre Fähigkeit mit beängstigenden Situationen umzugehen, besser ein. Ebenso fiel die Gesamtbeurteilung durch die Lehrkräfte sehr positiv aus. Sie schätzten die Eignung des Programms zur Verbesserung des Sozialverhaltens und zur Prävention aggressiven Verhaltens gut ein. Circa 77% der teilnehmenden Lehrkräfte gab an, FAUSTLOS auch in ihrer nächsten Klasse einzusetzen. Sie betonten, dass sich FAUSTLOS deutlich positiv auf das Klassenklima ausgewirkt hätte und empfanden es auch als „Hilfe und Bereicherung“ für sich selbst (vgl. Schick/Cierpka 2003b, S. 156 ff.; Schick/Cierpka 2004, S. 63).
„Die Studie zur Effektivität des Faustlos-Programms für Kindergärten, die mit der finanziellen Unterstützung der Landesstiftung Baden-Württemberg durchgeführt werden konnte, bestätigt diese Ergebnisse.“ (Schick/Cierpka 2005, S. 466). Die Evaluation des FAUSTLOS-Curriculums für Kindergärten fand im Zeitraum von Januar 2003 bis Oktober 2004 statt und hatte das übergeordnete Forschungsziel, die Effektivität des Programms zu überprüfen. Im Einzelnen sollte geklärt werden, ob gewaltpräventive, kognitive Kompetenzen und sozialkompetentes Verhalten gefördert und aggressives Verhalten der Kinder verhindert beziehungsweise reduziert werden kann (vgl. Schick/Cierpka 2004b, S. 5).
An der Untersuchung im Prä-Post-Kontrollgruppendesign nahmen in der Experimentalgruppe sowie in der Kontrollgruppe sieben Kindergärten im Raum Heidelberg und Mannheim teil. Bei der Erhebung wurden mittels Interviews die FAUSTLOS-Effekte aus der Perspektive der Kinder erfasst und anhand von Fragebögen die Einschätzung und Beurteilung von Eltern und Erzieherinnen ermittelt. Ergänzend dazu wurden, wie auch schon bei anderen Studien, Verhaltensbeobachtungen durchgeführt.
Effekte von FAUSTLOS aus der Sicht der Kinder waren unter anderem, dass sie Emotionen besser identifizieren konnten, mehr Lösungen für soziale Probleme generieren, häufiger sozial kompetent auf vorgegebene Situationen reagieren und mehr negative Konsequenzen aggressiven Verhaltens antizipieren konnten. Die Eltern hingegen konnten kaum Auswirkungen des FAUSTLOS-Unterrichts auf das Verhalten ihrer Kinder feststellen. Aus deren Perspektive zeigten sich lediglich eine minimale, kaum signifikante Verbesserung sozial-emotionaler Kompetenzen und ein geringer Rückgang der Aggressivität im Laufe des Untersuchungszeitraums. Ähnlich stellt sich die Beurteilung aus der Sicht der Erzieherinnen dar. Im Unterschied zu den Eltern jedoch, bemerkten sie einen Zuwachs an Impulskontrolle-Fähigkeit, der sich im Umgang mit anderen Kindern in der Gruppe feststellen ließ. Anhand der Verhaltensbeobachtungen haben sich deutliche FAUSTLOS-Effekte gezeigt. In der Experimentalgruppe ließen beispielsweise verbale Aggressionen in einem signifikanten Ausmaß nach und bei allen Kindern wurde eine positive Entwicklung auf der Ebene sozial kompetenter Verhaltensweisen beobachtet. Die Gesamtbeurteilung des Curriculums fiel sehr positiv aus und sowohl Erzieherinnen als auch Eltern gefiel FAUSTLOS gut bis sehr gut, sie würden FAUSTLOS weiterempfehlen (vgl. Ebd., S. 20 ff.).
IV FRAGESTELLUNG DER UNTERSUCHUNG
Wie aus den theoretischen Darstellungen hervorgeht, erhalten früh einsetzende Präventionsprogramme einen immer höheren Stellenwert. In Anlehnung daran und an die Einblicke in die Möglichkeiten der Gewaltprävention bei Kindern, soll der Fokus dieser Untersuchung auf ein ausgewähltes Programm zur Verhinderung und Reduktion von Gewalt gelegt werden. Das in Deutschland herrschende Forschungsdefizit hinsichtlich Präventionsansätze für Kinder im Vorschulalter, war ausschlagegebend für die Wahl des Untersuchungsgegenstandes.
Zentrale Zielsetzung der vorliegenden Untersuchung ist demnach die Evaluation des Gewaltpräventionsprogramms FAUSTLOS. Im Interesse der Forschung liegt hierbei die Informationsgewinnung und subjektive Bewertung des Curriculums für Kindergärten und Kindertagesstätten, woraus sich folgende Fragestellung ergibt: „ Wie nehmen Erzieherinnen das Gewaltpräventionsprogramm „FAUSTLOS“ wahr und wie beurteilen sie es?“
Basierend auf dieser Fragestellung lassen sich im Rahmen des Erkenntnisinteresses weitere Fragestellungen ableiten:
- Wie beurteilen die Erzieherinnen die Umsetzung des Programms?
- Welche Erfahrungen konnten während der Umsetzung gemacht werden?
- Wie beurteilen die Erzieherinnen die Inhalte des Programms?
- Wie wird die Wirksamkeit des Programms beurteilt?
- Welche Kritikpunkte wurden wahrgenommen?
- Ist FAUSTLOS / Gewaltprävention bereits im Kindergarten sinnvoll?
Gegenstand der Untersuchung ist der FAUSTLOS-Unterricht, der an Kindergärten und Kindertagesstätten stattfindet. Inhalt dieses Unterrichts ist das Thema Gewaltprävention. Dort werden die drei Einheiten Empathieförderung, Impulskontrolle und Umgang mit Wut und Ärger behandelt und Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Erweiterung des Verhaltensrepertoires von Kindern vermittelt. Das Programm wird an Kindergärten und -tagestätten durchgeführt, die zuvor an einer Fortbildung im Heidelberger Präventionszentrum teilgenommen haben und die Materialien zur Durchführung des Programms erworben haben.
In der Regel sollte der ca. 20 minütige Unterricht ein Mal in der Woche stattfinden.
Für die vorliegende Evaluation und die in diesem Zusammenhang stattfindenden Interviews ist nicht relevant ob FAUSTLOS zum Zeitpunkt der Befragung in der jeweiligen Einrichtung durchgeführt wird.
V BESCHREIBUNG DES PROGRAMMS “FAUSTLOS“
Entstehung und Ziele
FAUSTLOS ist ein Curriculum, das impulsives und aggressives Verhalten von Kindern vermindern und ihre sozialen und emotionalen Kompetenzen erhöhen soll (vgl. Krannich u.a. 1997). Es wurde für die Arbeit im Kindergarten und in der Grundschule entwickelt und basiert auf dem amerikanischen Ansatz „Second Step“, der vom Committee for Children in Seattle entwickelt wurde, in den USA bereits seit 15 Jahren erfolgreich Anwendung findet und vor allem in den skandinavischen Ländern weit verbreitet ist. In einem mehrstufigen Prozess wurden die Originalmaterialien übersetzt und in einem ständigen Feedbackprozess mit Lehrkräften und Erzieherinnen weiterentwickelt, evaluiert und somit dem deutschsprachigen Kulturraum angepasst (vgl. Schick/Cierpka 2008, S. 243). FAUSTLOS liegt in den deutschsprachigen Ländern in zwei separaten Versionen vor: als Grundschulversion seit 2001 und das speziell für den Kindergarten entwickelte Curriculum seit 2002 (vgl. Schick/Cierpka 2002). Mittlerweile wird das Präventionsprogramm bundesweit und auch in Österreich und der Schweiz in einer Vielzahl von Grundschulen und Kindergärten eingesetzt.
Übergeordnetes Ziel von FAUSTLOS ist die Erweiterung des Verhaltens- und Erlebensrepertoires von Grundschul- und Kindergartenkindern, damit sie flexibler auf verschiedene Situationen reagieren können und an Konfliktfähigkeit und Selbstbewusstsein gewinnen. Die zu Beginn erarbeiteten emotionalen und kommunikativen Basiskompetenzen werden dabei sukzessive um Handlungskompetenzen ergänzt und erweitert. Ziel ist es Kindern dabei zu helfen kompetent mit Gefühlen umzugehen, Gefühle und persönliche Grenzen zu erkennen und mitzuteilen. Sie sollen lernen Probleme konstruktiv zu lösen, andere effektiv um Hilfe zu bitten und konstruktiv mit Wut und Ärger umzugehen (vgl. www.faustlos.de)
Aufbau und Vorgehensweise
FAUSTLOS ist in die Einheiten Empathieförderung, Impulskontrolle und Umgang mit Ärger und Wut untergliedert und vermittelt Fähigkeiten und Fertigkeiten, die nachfolgend zusammengefasst dargestellt werden.
Baustein I Empathieförderung: „Faustlos versteht Empathie als ein „Set von Fähigkeiten und Fertigkeiten^ das die Fähigkeit, die Gefühle anderer wahrzunehmen, zu verstehen und zu beantworten, einschließt.“ (Cierpka 2009, S.38). Diese Fähigkeit entwickeln Kinder bereits zwischen dem 1. und 4. Lebensjahr. Da diese Fähigkeiten eine zentrale Bedeutung bei der Entwicklung von prosozialen Verhaltensweisen und Problemlösungsstrategien hat, bildet das Empathietraining die Basis des Programms. FAUSTLOS fördert die Empathiefähigkeit der Kinder, indem sie lernen, Gefühle anhand von Mimik und Gestik zu erkennen, Gefühle vorherzusagen, Sorge und Mitgefühl für andere auszudrücken und Regeln für Fairness in einfachen Situationen anzuwenden. Außerdem sollen sie lernen, wahrzunehmen, dass Gefühle sich ändern können, dass Menschen unterschiedliche Vorlieben und Abneigungen haben und in Bezug auf die gleiche Sache unterschiedliche Gefühle haben können (vgl. Schick & Cierpka 2002).
Baustein II Impulskontrolle: Impulskontrolle ist eine wesentliche Fähigkeit, die zur Reduktion von impulsivem und aggressivem Verhalten benötigt wird. „Faustlos fördert die Impulskontrolle mit Konzentration auf zwei Strategien: Das zwischenmenschliche Problemlösen wird gefördert und das Training sozialer Verhaltensfertigkeiten“. (Cierpka 2009, S. 38). Möglichkeiten zur Impulskontrolle werden in fünf Schritten vermittelt. Im ersten Schritt lernen die Kinder, Probleme zu beschreiben („Was ist das Problem?“). der zweite Schritt umfasst ein Brainstorming, das dazu dient verschiedene Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln („Welche Lösungen gibt es?“). Entscheidend ist hierbei nicht die Qualität der Vorschläge, sondern die Kinder sollen möglichst viele Lösungsstrategien entwickeln, ohne diese bereits zu bewerten. Im darauffolgenden Arbeitsschritt geht es darum, die Lösungsmöglichkeiten anhand von vier Fragen auszuwerten („Ist sie ungefährlich?“, „Wie fühlen sich die Beteiligten?“, „Ist sie fair?“, „Wird sie funktionieren?“). Der vierte Schritt verlangt von den Kindern sich für eine Lösung zu entscheiden („Entscheide dich für eine Lösung und probiere sie aus“) und im letzten Schritt des Problemlösungsprozesses überprüfen die Kinder die Wirksamkeit der gewählten Lösung und reflektieren über den gesamten Prozess („Funktioniert die Lösung?“, „Wenn nicht, was kannst du jetzt tun?“). Falls die Lösung nicht zum gewünschten Erfolg führt, beginnt der Prozess wieder bei Schritt zwei (vgl. Ebd., S. 47 f.).
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- Quote paper
- Linda Weidner (Author), 2010, Faustlos. Ein pädagogisches Konzept, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/161335
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