Der sexuelle Missbrauch von Kindern ist lange ein Tabuthema gewesen. Erst seit Beginn der 1980er Jahre ist die Problematik infolge der Frauenbewegung und den damit verbundenen Äußerungen betroffener Frauen zunehmend zum Gegenstand
gesellschaftlicher, wissenschaftlicher und politischer Diskussion geworden. Sowohl in der Wissenschaft als auch in der Gesellschaft setzt sich seither auf Basis zahlreicher Studien verstärkt die Erkenntnis durch, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern insbesondere eine Problematik des sozialen Nahbereichs darstellt; die Täter sind in den meisten Fällen den Kindern nicht fremd, sondern stammen aus deren sozialen und familialen Umfeld.
Doch auch wenn der sexuelle Missbrauch von Kindern in den letzten Jahrzehnten zunehmend in der Öffentlichkeit diskutiert wird, zeigen sich nach wie vor Unsicherheiten im Umgang mit dieser Problematik. Der Verdacht auf Missbrauch stellt das professionelle Helfersystem vor große Herausforderungen. Diese können die Aufdeckung eines
sexuellen Missbrauchs erschweren und somit dazu führen, dass die Hilfe für betroffene Opfer sogar ausbleibt. Eigene Erfahrungen haben bei mir zur Erkenntnis geführt, dass selbst in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern bis heute noch nicht von einer völligen
Enttabuisierung im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch gesprochen werden kann: Mangelndes
Wissen, eigene Ängste und Befürchtungen sowie strukturelle Bedingungen der jeweiligen Institutionen stehen einer Hilfe für die Opfer teilweise entgegen.
Aufgrund dieser Problematik beschäftige ich mich in der vorliegenden Arbeit mit der Bedeutung des sexuellen Missbrauchs von Kindern für die Arbeit in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf dem nnerfamilialen sexuellen Missbrauch von Mädchen durch (Stief-)Väter, da gerade der Missbrauch innerhalb familiärer Strukturen für die Opfer mit einem besonders schwer
wiegenden Vertrauensverlust und mit starken Ambivalenzen dem Täter gegenüber einhergeht. Doch auch für die soziale Arbeit ergeben sich in diesem Zusammenhang besondere Herausforderungen. Die Konzentration des Themas auf den sexuellen Missbrauch von Mädchen durch deren (Stief-)Väter soll keineswegs die Bedeutung von Jungen als Opfer oder Frauen als Täterinnen negieren; diese Schwerpunktsetzung dient vielmehr der Eingrenzung des komplexen Themenbereiches.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einführung in die Problematik des sexuellen Missbrauchs
1.1 Einleitung
1.2 Definition
1.2.1 Begriffliche Abgrenzung
1.2.2 Differenzierung der Definitionen hinsichtlich der Bedeutungsreichweite
1.2.3 Kategorisierungsversuche im Hinblick auf unterschiedliche Blickwinkel und Bedeutungsschwerpunkte
1.2.4 Gemeinsame Elemente
1.2.5 Fazit und für die Arbeit relevante Definition
2 Ursachen sexuellen Missbrauchs - Erklärungsmodelle
2.1 Traditionelle Erklärungsansätze
2.1.1 Grundannahmen
2.1.2 Bewertung und Kritik traditioneller Erklärungsansätze
2.2 Familiendynamische Ansätze
2.2.1 Grundannahmen
2.2.2 Bewertung und Kritik familiendynamischer Erklärungsansätze
2.3 Feministisches Ursachenverständnis
2.3.1 Patriarchale Gesellschaftsstrukturen, Geschlechtsrollen und sexuelle Gewalt
2.3.2 Bewertung und Kritik des feministischen Ursachenverständnisses
2.4 Modell der vier Voraussetzungen nach David Finkelhor
2.4.1 Motivation
2.4.2 Innere Hemmungen
2.4.3 Äußere Hemmungen
2.4.4 Widerstand des Kindes
2.4.5 Schlussfolgerungen und Bewertung
2.5 Drei-Perspektiven-Modell sexueller Gewalt
2.5.1 Handlungsmotivation und tatbeeinflussende Repräsentationen
2.5.2 Kosten- Nutzen-Kalkulation
2.5.3 Tabellarische Übersicht
2.5.4 Verhältnis zwischen patriarchalischer Gesellschaftsstruktur, Individuum und sexuellem Missbrauch
3 Epidemiologie sexuellen Missbrauchs von Kindern
3.1 Inzidenz und Dunkelziffer
3.2 Prävalenz
3.2.1 Forschungsmethodische Probleme
3.2.2 Wichtige Prävalenzstudien
3.2.3 Fazit
4 Umstände und Hintergründe sexuellen Missbrauchs von Kindern
4.1 Bekanntschaftsgrad zwischen Opfern und Tätern
4.2 Dauer bei innerfamilialem und außerfamilialem sexuellen Missbrauch
4.3 Art der sexuellen Übergriffe
4.4 Alter der Opfer
4.5 Soziale Hintergründe
4.5.1 Schichtzugehörigkeit
4.5.2 Elterliche Bildung
4.5.3 Regionale Herkunft
4.6 Familiäre Hintergründe
4.7 Regeln und Einstellungen innerhalb der Familie
5 Täterstrategien
5.1 Kontaktaufnahme und Auswahl der Opfer
5.2 Emotionale Zuwendung und körperliche Gewalt
5.3 Strategien der sexuellen Annährung
5.4 Täuschung der Wahrnehmung des Opfers
5.5 Sexueller Missbrauch als Geheimnis
5.6 Isolation und Schuldzuweisung
6 Psychodynamik des Opfers
6.1 Vertrauensverlust
6.2 Sprachlosigkeit
6.3 Schuld- und Schamgefühle
6.4 Angst und Ohnmacht
6.5 Die Beziehung zur Mutter - Ein Exkurs ins mütterliche Erleben innerfamilialen sexuellen Missbrauchs
6.5.1 Konfrontation mit dem Missbrauch
6.5.2 Soziale und ökonomische Konsequenzen
6.5.3 Wahrnehmung des Missbrauchs
6.5.4 Eigene Gewalt- und Missbrauchserfahrungen
6.5.5 Beziehung zwischen Opfer und Mutter
6.5.6 Erwartungen an die Mütter
6.6 Beziehung zwischen Opfer und Geschwistern
7 Intervention bei sexuellem Missbrauch
7.1 Voraussetzungen zur Intervention
7.2 Leitlinien und Vorgehen
7.3 Umgang mit dem betroffenen Kind
7.3.1 Das Gespräch mit dem Kind
7.4 Fazit
8 Prävention
8.1 Ebenen der Prävention
8.2 Konsequenzen bisheriger Überlegungen für die Präventionsarbeit
8.2.1 Ursachen sexuellen Missbrauchs von Kindern
8.2.2 Risikofaktoren
8.2.3 Zielgruppen und Zielrichtungen
8.3 Präventionsarbeit mit Kindern
8.3.1 Wandel der Präventionskonzepte
8.3.2 Vorbedingungen präventiver Arbeit mit Kindern
8.3.3 Zentrale Themenbereiche und Ziele präventiver Arbeit
8.3.4 Sexualerziehung und Thematisierung des Missbrauchs
8.4 Wirksamkeit der Prävention
8.4.1 Ergebnisse der Evaluationsstudien von Präventionsprojekten mit Kindern - Tabellarische Übersicht
8.4.2 Meta-Analyse
8.4.3 Zusammenfassung der Evaluationsergebnisse zur Wirksamkeit der Prävention mit Kindern
8.4.4 Ausblick
8.4.5 Kritik an Präventionsprogrammen mit Kindern
8.5 Präventive Elternbildung
8.5.1 Grundlagen der Elternbildung
8.5.2 Inhalte und Ziele der Elternbildung
8.5.3 Strukturelle und institutionelle Anforderungen
8.6 Täterprävention
8.6.1 Inhalte und Ziele der Täterprävention
8.7 Perspektiven der Prävention
9 Schlussbemerkung
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Merkmale einer Inzestfamilie
Abb. 2: Bekanntschaftsgrad zwischen Opfer und Täter
Abb. 3: Bekanntschaftsgrad zwischen Opfer und Täter
Abb. 4: Verwandtschaftsgrad der Täter bei innerfamilialem sexuellem Missbrauch
Abb. 5: Häufigkeit des erlebten sexuellen Missbrauchs differenziert nach Bekanntschaftsgrad
Abb. 6: Art des sexuellen Missbrauchs differenziert in Kategorien
Abb. 7: Schichtzugehörigkeit der sexuell missbrauchten Teilnehmerinnen
Abb. 8: Schulabschluss der Väter der sexuell missbrauchten Teilnehmerinnen differenziert nach Bekanntschaftsgrad zwischen Opfer und Täter
Abb. 9: Schulabschluss der Mütter der sexuell missbrauchten Teilnehmerinnen differenziert nach Bekanntschaftsgrad zwischen Opfer und Täter
Abb. 10: Regionale Herkunft der sexuell missbrauchten Frauen differenziert nach Bekanntschaftsgrad zwischen Opfer und Täter
Abb. 11: Herkunft aus „heilen“ Familien oder „broken homes“ der sexuell missbrauchten Frauen differenziert nach Bekanntschaftsgrad zwischen Täter und Opfer
Abb. 12: Einschätzung der Elternbeziehung durch missbrauchte und nicht missbrauchte Studienteilnehmerinnen im Vergleich
Abb. 13: Einschätzung der sexuell missbrauchten Frauen der Beziehung zu ihrer Mutter differenziert nach Bekanntschaftsgrad zwischen Opfer und Täter
Abb. 14: Einschätzung der sexuell missbrauchten Frauen der Beziehung zu ihrem Vater differenziert nach Bekanntschaftsgrad zwischen Opfer und Täter ...
Abb. 15: Einschätzung missbrauchter/nicht missbrauchter Frauen hinsichtlich der Frage, inwiefern ihr Vater der Aussage, dass Kinder ihre Eltern respektieren müssen, zustimmen würde im Vergleich
Abb. 16: Einschätzung missbrauchter/nicht missbrauchter Frauen hinsichtlich der Frage, inwiefern ihr Vater der Aussage, dass bei Familienentscheidungen die Meinung von Kindern gehört werden soll, zustimmen würde im Vergleich
Abb. 17: Einschätzung missbrauchter/nicht missbrauchter Frauen hinsichtlich der Frage, inwiefern ihr Vater der Aussage, dass Frauen keine beruflich bessere Position als Männer einnehmen dürfen zustimmen würde im Vergleich
Abb. 18: Bestrafungsmittel der Eltern der sexuell missbrauchten Frauen differenziert nach Bekanntschaftsgrad zwischen Täter und Opfer
Abb. 19: Täterstrategien bei innerfamilialem sexuellem Missbrauch von Mädchen
Abb. 20: Täterstrategien bei innerfamilialem und außerfamilialem sexuellen Missbrauch von Mädchen im Vergleich
Abb. 21: Differenzierung des Schweigegebots nach Bekanntschaftsgrad der Täter
Tabellenverzeichnis
Tab. 1: Tabellarische Darstellung des „Drei-Perspektiven-Modells sexueller Gewalt“
Tab. 2: Verwandtschaftsgrad der Täter bei innerfamilialem sexuellem Missbrauch von Mädchen
Tab. 3: Alter der weiblichen Opfer des sexuellen Missbrauchs-Studienvergleich ..
Tab. 4: Ergebnisse der Evaluationsstudien zur Präventionsarbeit gegen sexuellen Missbrauch mit Kindern
Tab. 5: Effektstärken (Cohens ‚d’) in der Meta-Analyse von Davis/Gidycz für ausgewählte Kontrollvariablen
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einführung in die Problematik des sexuellen Missbrauchs
1.1 Einleitung
„ Er zog mich an einem Nachmittag, als er frei hatte und Lou mit Mama in der Stadt war, am Arm in die Küche rein und machte die Vorhänge zu, da wußte ich schon, was kommt. Das war mein Signal, der Auftakt, bei mir ging der Vorhang nicht auf, sondern zu. Ich saß im Zwielicht vor ihm auf einem Stuhl und dachte, das müsse doch draußen einer sehen, da mußsich doch irgendein Mensch sorgen, wenn der Vorhang einer Küche tagsüber zugeht und nach einer halben Stunde wieder aufgeht, da mußdoch einer kommen und klingeln, mich befreien mit einem Ton [ … ] und der [Vater; D.H.] erzählte mir derweil mit seinem Gummigesicht, daßich mittlerweile ins Gefängnis kommen würde, mit dem, was ich da mit ihm mache, und er dann leider fortlaufen müsse und daßsie die Kinder wirklich hinter Gitter sperren, und ich stellte mir vor, wie meine Arme durch Eisenstäbe fuchteln. Aber die Gefahr sei nicht so groß, sagte er, wenn ich den Mund halten würde und ihm zeigen, wie lieb ich ihn hab, und er zeige mir dafür die schönsten Dinge, ich solle nur fein artig mein Höschen ausziehn und ihm meine Muschi zeigen. Ich lernte von meinem Vater, was ein Kitzler ist und wie man mit dem Finger daran spielt, und er freute sich so sehr wenn ich das tat, vor ihm, dass er mich seinen liebsten Schatz nannte. [ … ] Ich wußte nicht, warum das so war. Warum sich mein Vater zuweilen auflöste und meinen Mund voll Spukke [sic!] laufen ließ, warum es nicht klingelte und warum die Polizei schon auf mich lauerte. “ (Dirks 2008, S.56 f.; Einfügungen und Auslassungen: D.H.)
Der sexuelle Missbrauch von Kindern ist lange ein Tabuthema gewesen. Erst seit Beginn der 1980er Jahre ist die Problematik infolge der Frauenbewegung und den damit verbundenen Äußerungen betroffener Frauen zunehmend zum Gegenstand gesellschaftlicher, wissenschaftlicher und politischer Diskussion geworden.
Sowohl in der Wissenschaft als auch in der Gesellschaft setzt sich seither auf Basis zahlreicher Studien verstärkt die Erkenntnis durch, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern insbesondere eine Problematik des sozialen Nahbereichs darstellt; die Täter sind in den meisten Fällen den Kindern nicht fremd, sondern stammen aus deren sozialen und familialen Umfeld. Gerade auch das so genannte „Inzestdrama von Amstetten“ im Jahr 2008 hat die Öffentlichkeit auf die Thematik des Kindesmissbrauchs innerhalb familiärer Strukturen aufmerksam gemacht und zu vielfältiger Betroffenheit geführt: Elisabeth Fritzl wurde von ihrem Vater Josef Fritzl insgesamt 24 Jahre lang in einem Kellerverlies festgehalten und unzählige Male sexuell missbraucht; der Vater zeugte mit seiner Tochter sieben Kinder.
Doch auch wenn der sexuelle Missbrauch von Kindern in den letzten Jahrzehnten zunehmend in der Öffentlichkeit diskutiert wird, zeigen sich nach wie vor Unsicherheiten im Umgang mit dieser Problematik. Im Rahmen meiner Arbeit in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Tagesklinik bin ich mit der Thematik des sexuellen Missbrauchs von Kindern konfrontiert worden. Hierbei hat sich gezeigt, dass der Verdacht auf Missbrauch das professionelle Helfersystem vor große Herausforderungen stellt. Ein solcher Verdacht geht bei den professionell Tätigen mit starken Gefühlen und Verunsicherungen einher: Diese können die Aufdeckung eines sexuellen Missbrauchs erschweren und somit dazu führen, dass die Hilfe für betroffene Opfer sogar ausbleibt. Eigene Erfahrungen haben bei mir zur Erkenntnis geführt, dass selbst in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern bis heute noch nicht von einer völligen Enttabuisierung im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch gesprochen werden kann. Der Comic zu Beginn dieser Arbeit ist auf Basis solcher Erfahrung entwickelt worden und verdeutlicht diesen Zusammenhang auf überspitzte Weise: Mangelndes Wissen, eigene Ängste und Befürchtungen sowie strukturelle Bedingungen der jeweiligen Institutionen stehen einer Hilfe für die Opfer teilweise entgegen.
Aufgrund dieser Problematik beschäftige ich mich in der vorliegenden Arbeit mit der Bedeutung des sexuellen Missbrauchs von Kindern für die Arbeit in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf dem innerfamilialen sexuellen Missbrauch von Mädchen durch (Stief-)Väter, da gerade der Missbrauch innerhalb familiärer Strukturen für die Opfer mit einem besonders schwer wiegenden Vertrauensverlust und mit starken Ambivalenzen dem Täter gegenüber einhergeht. Doch auch für die soziale Arbeit ergeben sich in diesem Zusammenhang besondere Herausforderungen: So stellt sich bspw. die Frage, wie in Fällen innerfamilialen sexuellen Missbrauchs mit der jeweiligen Familie und dem betroffenen Kind umgegangen werden soll. Die Konzentration des Themas auf den sexuellen Missbrauch von Mädchen durch deren (Stief-)Väter soll keineswegs die Bedeutung von Jungen als Opfer oder Frauen als Täterinnen negieren; diese Schwerpunktsetzung dient vielmehr der Eingrenzung des komplexen Themenbereiches. Der Schwerpunkt wurde hierbei bewusst auf die genannte Thematik gelegt, da in dieser Opfer-Täter- Beziehung das darin bestehende Macht- und Autoritätsgefälle besonders deutlich wird: So zeigt sich dieses Machtgefälle nicht nur auf der Generationen- und Geschlechterebene, sondern auch auf der Ebene zwischen Elternteil und Kind.
Die Lektüre des Romans „Die liebe Angst“ von Liane Dirks bot mir einen ersten Zugang zur Auseinandersetzung mit der Thematik des innerfamilialen sexuellen Missbrauchs von Mädchen durch deren (Stief-)Väter. In diesem Roman setzt sich die Autorin mit
Die Bedeutung des innerfamilialen sexuellen Missbrauchs von Mädchen durch (Stief-) Väter für die Arbeit in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern ihren eigenen Missbrauchserfahrungen auseinander, indem sie aus der Perspektive der kleinen Anne berichtet, wie der sexuelle Missbrauch in einer nach außen hin unauffälligen Familie über Jahre hinweg zur Gewohnheit wird. Die deutlichen und ergreifenden Ausführungen von Liane Dirks werden in der vorliegenden Arbeit insbesondere in Bezug auf die Täterstrategien und das Erleben der Opfer Ausgangspunkte für theoretische Überlegungen bilden.
Eine an die Lektüre des Romans anschließende umfassende Literaturrecherche hat gezeigt, dass mittlerweile eine große Literaturvielfalt zur Thematik des sexuellen Missbrauchs zu finden ist. Allerdings stößt man hierbei vielfach auf recht unangemessene Literatur ohne jegliche wissenschaftliche Fundierung, die sich insbesondere die Angst vieler Eltern vor dem Missbrauch ihrer Kinder aus ökonomischen Interessen zu Nutze macht. Daher existieren gerade hinsichtlich der Präventionsmöglichkeiten sexuellen Missbrauchs vielfältige Programme, deren Konzepte nach genauerem Hinsehen eher als fragwürdig einzuschätzen sind. Neben diesen Einschränkungen befasst sich die vorliegende deutschsprachige Literatur überwiegend mit der Thematik des sexuellen Missbrauchs im Allgemeinen, mit den Folgen und Therapiemöglichkeiten für die Opfer und mit den Behandlungsmöglichkeiten der Täter. Literatur, die sich speziell mit dem innerfamilialen sexuellen Missbrauch von Kindern durch deren (Stief-)Väter befasst, lässt sich hierbei nur selten finden. In diesem Zusammenhang existieren lediglich wenige, insbesondere ältere Werke, die dem derzeitigen Forschungsstand nicht gerecht werden können. Aufgrund dessen sollen in der vorliegenden Arbeit aus den weit gehend allgemeinen theoretischen Ausführungen zur Thematik des sexuellen Missbrauchs Rückschlüsse auf besondere Aspekte des innerfamilialen sexuellen Missbrauchs von Mädchen durch deren (Stief-)Väter gezogen werden.
Auf Basis der intensiven Auseinandersetzung mit der vorliegenden Literatur und meinen eigenen Erfahrungen in der sozialpädagogischen Praxis hat sich die Frage ergeben, welche Bedeutung der Thematik des innerfamilialen sexuellen Missbrauchs von Mädchen durch (Stief-)Väter für die Arbeit in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern zukommt und welche Einflussmöglichkeiten sich in diesem Zusammenhang für die soziale Arbeit ergeben.
Um der Beantwortung dieser Fragen näherzukommen, sollen in der folgenden Arbeit zunächst Definitionsversuche zur Abgrenzung des Themenbereiches umfassend dargestellt werden, da sie bereits erste Rückschlüsse auf die praktische Arbeit im Umgang mit dem Verdacht auf sexuellen Missbrauch zulassen. Darauf aufbauend werden verschiedene Erklärungsmodelle zur Entstehung sexuellen Missbrauchs
Die Bedeutung des innerfamilialen sexuellen Missbrauchs von Mädchen durch (Stief-) Väter für die Arbeit in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern dargestellt: Das „Drei-Perspektiven-Modell sexueller Gewalt“ steht hierbei im besonderen Fokus, da in diesem Zusammenhang auf notwendige Aspekte der Intervention und Prävention verwiesen werden kann. Im Anschluss an die Erläuterung dieser Ursachenmodelle stehen die Hintergründe und Umstände des sexuellen Missbrauchs von Kindern im Vordergrund: Umfassendes Wissen über das Ausmaß sexuellen Missbrauchs, dessen Umstände und die angewandten Täterstrategien stellen eine Grundvoraussetzung zum adäquaten Umgang mit der Problematik in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern dar und sind somit von besonderer Bedeutung. Neben dem Wissen um die angewandten Täterstrategien ist zum angemessenen Umgang mit dem Opfer aber auch dessen Erleben der Missbrauchssituation wichtig: So verweisen im Rahmen der Psychodynamik des Opfers gerade auch Aspekte der Beziehung zu den anderen Familienmitgliedern auf die Besonderheiten des innerfamilialen sexuellen Missbrauchs von Mädchen durch (Stief-)Väter und die damit verbundenen besonderen Herausforderungen für die professionell Tätigen. Basierend auf diesen theoretischen Ausführungen sollen dann Konsequenzen für die praktische Arbeit mit Kindern in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern im Zentrum der Betrachtung stehen. So stellt sich in diesem Zusammenhang zunächst die Frage nach adäquaten Interventionsmöglichkeiten im Sinne von Grundsätzen der Intervention sowie nach Leitlinien für den konkreten Umgang mit potenziellen Opfern bei einem Verdacht auf sexuellen Missbrauch. Schließlich sollen Präventionsmöglichkeiten im Rahmen der sozialpädagogischen Arbeit dargestellt werden: Forschungsergebnisse zur Wirksamkeit der Prävention mit Kindern lassen Rückschlüsse auf notwendige Aspekte der Präventionsarbeit zu. Da sich die vorliegende Arbeit insbesondere auf die praktische Tätigkeit mit den Opfern konzentriert, sollen Ansätze der Elternbildung und der Täterprävention nur in ihren Grundlagen konkretisiert werden. Eine resümierende Schlussbemerkung im Sinne eines Ausblicks verweist basierend auf den komplexen Ausführungen der Arbeit auf Forderungen an die Tätigkeit in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern in Bezug auf den Umgang mit dem sexuellen Missbrauch von Kindern.
1.2 Definition
Sowohl in den Medien als auch in der wissenschaftlichen Fachliteratur findet man eine Vielzahl unterschiedlicher Termini zur Benennung des Problembereiches, die zum Teil synonym zu dem Begriff des „sexuellen Missbrauchs“ verwendet werden. Auch hinsichtlich der Definition des „sexuellen Missbrauchs“ selbst existieren vielfältige Definitionsansätze, die jeweils versuchen den Problembereich zu klassifizieren, indem sie spezielle Aspekte der Thematik in das Zentrum ihrer Betrachtung stellen.
Um diese Vielfalt an Definitionen und Termini überblicken zu können, liegt es nahe, den Begriff des „sexuellen Missbrauchs“ zunächst gegenüber den häufig verwendeten weiteren Bezeichnungen abzugrenzen. Die daran anschließende Diskussion und Darstellung verschiedener Definitions- und Klassifikationsversuche soll nicht die Möglichkeit einer scharfen Grenzziehung zwischen den Definitionen suggerieren, sondern eine gewisse Orientierung ermöglichen.
1.2.1 Begriffliche Abgrenzung
Zunächst werden die Begriffe „sexueller Missbrauch“, „sexuelle Gewalt“ und „sexuelle Ausbeutung“ häufig synonym verwendet. So dienen diese Begrifflichkeiten zum Beispiel Hartwig dazu, unterschiedliche Fassetten des Problembereiches in den Vordergrund zu rücken. Der Begriff der „sexuellen Ausbeutung“ wird hierbei angewandt, um die Intention der Handlung zu betonen, während der Terminus „sexuelle Gewalt“ in seiner Verwendung primär gesellschaftliche Bedingungen fokussiert. In Abgrenzung hierzu kommt bei Hartwig der Begriff des „sexuellen Missbrauchs“ dann zur Anwendung, wenn sowohl die Familie als auch deren Umfeld im Zentrum der Betrachtung stehen (vgl. Hartwig 1990). Als ein weiteres Argument für die Bezeichnung „sexuelle Gewalt“ wird angeführt, dass sie zum einen der Situation der Opfer durch die Betonung des Gewaltaspekts eher gerecht werde und sie zum anderen auf die gesellschaftlichen Bedingungen dieser Gewalt verweise (vgl. Bange 2002a, S. 48). Bezüglich der Verwendung des Begriffs der „sexuellen Ausbeutung“ wird oft ähnlich argumentiert: Auch hier stehe zunächst der gesellschaftliche Aspekt im Vordergrund. Finkelhor/Hotaling hingegen gebrauchen diesen Begriff insbesondere im Zusammenhang mit der Erzeugung von Kinderpornografie sowie mit der Vorführung von sexuellen Handlungen durch Kinder (vgl. Wipplinger/Amann 1997, S. 16).
Ein weiterer Begriff, der oft synonym zu dem des „sexuellen Missbrauchs“ angewandt wird, ist der der „sexuellen Kindesmisshandlung“, durch dessen Gebrauch auf die anderen Formen der Kindesmisshandlung verwiesen werden soll. Gegen diesen Gebrauch und den damit verbundenen Verweis auf andere Formen der Misshandlung wenden unter anderem feministisch orientierte Autorinnen ein, dass sich der sexuelle Missbrauch vor allem hinsichtlich der bewussten Planung und der Täterstrategien stark von der körperlichen Misshandlung unterscheide. Ferner verschleiere der Begriff der „sexuellen Misshandlung“ die gesellschaftlichen Aspekte (vgl. Bange 2002a, S. 48).
Auch die Bezeichnung „Inzest“ taucht besonders mit der in dieser Arbeit thematisierten Problematik des sexuellen Missbrauchs innerhalb des Familiensystems auf. Dieser Die Bedeutung des innerfamilialen sexuellen Missbrauchs von Mädchen durch (Stief-) Väter für die Arbeit in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern
„Inzest“-Begriff bezeichnet in der Regel jeden sexuellen Kontakt zwischen Verwandten unabhängig von dem jeweiligen Grad der Verwandtschaft. Daher erweist er sich nur begrenzt als nützlich zur Bezeichnung des „sexuellen Missbrauchs“ von Kindern: So existieren durchaus einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen Verwandten (gleichen Alters), die nicht als sexueller Missbrauch etikettiert werden können. Auch das Machtgefälle, welches von vielen Autoren als zentrales Definitionskriterium des Missbrauchs angeführt wird, findet bei der Inzest-Bezeichnung keine Berücksichtigung.
Neben den dargestellten Termini finden sich in der Literatur noch zahlreiche weitere Begriffe wie z.B. „familiäre Sexualdelinquenz“, „realer Inzest“, „Seelenmord“, „Beziehungsschande“ u.a., die an dieser Stelle nicht näher erläutert werden sollen.
Im Gegensatz zu den letztgenannten, eher selten angewandten Bezeichnungen hat sich in der Öffentlichkeit besonders der Begriff des „sexuellen Missbrauchs“ durchgesetzt, der am häufigsten Verwendung findet. Dies wird damit begründet, dass dieser Begriff Assoziationen entgegenwirke, die den Opfern eine Verantwortung für den Missbrauch zuschrieben und in der juristischen Terminologie angewandt werde. Doch der Begriff des „sexuellen Missbrauchs“ ist vielfach kritisiert worden: Kritiker verweisen darauf, dass die Bedeutung des Wortes „Missbrauch“ die Möglichkeit eines „legitimen Gebrauchs“ von Kindern im Zusammenhang mit Sexualität suggeriere (vgl. Bange 2002a, S. 47).
1.2.2 Differenzierung der Definitionen hinsichtlich der Bedeutungsreichweite
Die zahlreichen Definitionen des „sexuellen Missbrauchs“ in der Literatur lassen sich zunächst hinsichtlich ihrer Reichweite unterscheiden und somit in „enge“ und „weite“ Definitionen differenzieren. Während weite Definitionen versuchen alle als potenziell schädlich angesehene Handlungen als sexuellen Missbrauch zu bezeichnen, beziehen enge Definitionen in der Regel nur bereits als schädlich identifizierte oder nach einem sozialen Konsens normativ als solche bewertete Handlungen mit ein (vgl. Wetzels 1997, S. 62).
Enge Definitionen
Enge Definitionen setzen dabei zumeist den Körperkontakt zwischen Opfer und Täter voraus und erfassen somit nur Handlungen, die oralen, analen oder genitalen Geschlechtsverkehr beinhalten. Da sie eine trennscharfe Differenzierung zwischen sexuellem Missbrauch und anderen Handlungen sowie eine möglichst homogene und trennscharfe Stichprobe ermöglichen, dienen enge Definitionen häufig als Basis für
Die Bedeutung des innerfamilialen sexuellen Missbrauchs von Mädchen durch (Stief-) Väter für die Arbeit in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern empirische Forschungen. Hierbei finden sich häufig Altersbegrenzungen, die die Asymmetrie zwischen Erwachsenen und Kindern durch ein objektiv überprüfbares Kriterium festlegen, was jedoch bei verschiedenen Autoren unterschiedlich operationalisiert wird (vgl. Wipplinger/Amann 1997, S. 22). Die Schwierigkeit der engen Definitionen besteht vor allem darin, dass durch sie nicht alle Merkmale des sexuellen Missbrauchs erfasst werden: Opfern anderer sexueller Handlungen wie z.B. dem Zwang zur Kinderpornografie werde es so abgesprochen, einen sexuellen Missbrauch erlebt zu haben.
Weite Definitionen
Im Gegensatz zu engen Definitionen setzt das weite Missbrauchsverständnis keineswegs den Körperkontakt zwischen Täter und Opfer voraus: Vielmehr werden verbale Belästigungen, Exhibitionismus, die Anleitung zur Prostitution, die Herstellung pornografischen Materials etc. dem sexuellen Missbrauch zugerechnet. Eine solch weit gefasste Definition findet sich zum Beispiel bei Brockhaus und Kolshorn, die Vergewaltigungen und sexuellen Missbrauch an Kindern als Extrempunkte eines breiten Spektrums von möglichen sexuell gewalttätigen Vorfällen identifizieren. Dieses Spektrum umfasse hierbei „sowohl körperliche sexuelle Angriffe als auch verbale und visuell vermittelte (Exhibitionismus, Zeigen von Pornographie, anzügliche Gesten, Nachpfeifen u.ä.). Unter Vergewaltigung verstehen wir - abweichend vom Strafgesetz - sämtliche Formen von Penetrationen, d.h. vaginale, anale oder orale Penetration sowie die Penetration mit dem Penis, mit Fingern oder Gegenständen, außerhalb wie innerhalb der Ehe. Sexueller Missbrauch an Kindern bezeichnet sexuelle Gewalt, die von älteren oder gleichaltrigen Personen an Kindern ausgeübt wird. Eine exakte Altersgrenze setzen wir dabei nicht“ (Brockhaus/Kolshorn 1993, S. 29).
Die Autorinnen beziehen in ihr Begriffsverständnis auch verbale oder visuelle Übergriffe mit ein. Während sie Vergewaltigung vor allem im Zusammenhang mit dem Erwachsenenalter definieren, führen sie den sexuellen Missbrauch in Bezug auf Kinder an. Durch den Verzicht auf bestimmte Altersdifferenzen schließt diese Definition gleichaltrige oder gar jüngere Täter mit ein. Brockhaus/Kolshorn führen einige Situationen als Beispiele an, in welchen sexuelle Gewalt ihren Ausdruck finden kann. So nennen sie unter anderem die Situation eines Vaters, der in Gegenwart seiner 8- und 13-jährigen Töchter nackt durch die Wohnung läuft. Hierbei wird das weite Missbrauchs- bzw. sexuelle Gewaltverständnis der Autorinnen besonders deutlich:
Die Bedeutung des innerfamilialen sexuellen Missbrauchs von Mädchen durch (Stief-) Väter für die Arbeit in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern Zwar sehen sie diese Situation sicherlich nicht per se als Missbrauch an, doch betonen sie durchaus, dass „es sexuelle Gewalt sein kann “ (Brockhaus/Kolshorn 1993, S. 29, Hervorhebung im Original). Vor allem die Tatsache, dass Brockhaus und Kolshorn das Nachpfeifen oder einen abschätzenden Blick der sexuellen Gewalt zurechnen, ist oft kritisch hinterfragt worden. Dieser Kritik entgegnen die Autorinnen, dass sie diese Gesten als eine Grenzüberschreitung innerhalb des Gesellschaftssystems betrachten, in welchem sowohl deren Bedeutung als auch die Regelung, wer diese wem gegenüber ausführt, festgelegt sei. Im Rahmen der von ihnen vertretenen feministischen Sichtweise, verweisen sie hier auf die Abwertung der Frauen in der patriarchalischen Gesellschaft (vgl. Brockhaus/Kolshorn 1993, S. 30).
Die Definition von Brockhaus und Kolshorn verdeutlicht sowohl die Stärken als auch die Schwächen eines weiten Missbrauchsverständnisses: Weite Definitionen haben die Stärke, dass sie sich nicht in so genannten Kontakthandlungen erschöpfen, sondern ebenso Handlungen ohne unmittelbaren Körperkontakt umfassen. Die Schwierigkeit dieser Definitionen besteht allerdings darin, dass innerhalb ihres Rahmens eine Klassifikation einer Handlung als sexueller Missbrauch schwierig ist, wie die als Beispiel bereits angeführte Situation der Nacktheit des Vaters in Gegenwart der Kinder gezeigt hat. Definitionen des sexuellen Missbrauchs benötigen zur Klassifikation von Handlungen nicht nur die Handlungen selbst, sondern schwer operationalisierbare Kriterien wie zum Beispiel die Intention des Täters oder auch das subjektive Erleben des Opfers müssen ebenfalls Berücksichtigung finden (vgl. Wipplinger/ Amann 1997, S. 25).
1.2.3 Kategorisierungsversuche im Hinblick auf unterschiedliche Blickwinkel und Bedeutungsschwerpunkte
Neben der Darstellung der möglichen Einteilung der Definitionen bzgl. ihres Bedeutungsumfangs kann man zwischen unterschiedlichen Definitionsklassen differenzieren, die sich hinsichtlich ihrer Blickwinkel oder ihrer Schwerpunktsetzung unterscheiden. So finden sich bei normativen, gesellschaftlichen, klinischen, feministischen, entwicklungspsychologischen und Forschungsdefinitionen verschiedene Bedeutungsschwerpunkte, deren Darstellung nicht einer scharfen Abgrenzung voneinander, sondern einer gewissen Orientierung in der Fülle der Definitionen dienen soll.
Normative Definitionen
Bange unterscheidet zwischen normativen, klinischen und Forschungsdefinitionen. Unter normativen Definitionen versteht er zunächst solche, die „von vornherein vorgenommene, abstrakte Bewertungen von Handlungen oder Ergebnissen“ (Bange 2002a, S. 49) beinhalten und welche dann ihren Ausdruck bspw. in Gesetzen, Normen und Werten finden. Eine Handlung ist im Rahmen normativer Definitionen als sexueller Missbrauch zu klassifizieren, wenn dabei gesellschaftliche Normen, Werte oder Gesetze verletzt werden.
Klinische Definitionen
Während normative Definitionen sexuellen Missbrauch völlig unabhängig von den individuellen Folgen für das Opfer verstehen, steht in klinischen Definitionen gerade dieses subjektive Erleben im Zentrum. Wichtig für therapeutische Interventionen ist bspw. nicht, ob die Handlungen gegen soziale Normen verstoßen, sondern welche Konsequenzen sich dabei für das Opfer ergeben. Die Schwierigkeit bei dem Versuch, sexuellen Missbrauch in Abhängigkeit von den subjektiven Folgen für die Opfer zu definieren, besteht allerdings zunächst darin, dass bis zu einem Drittel der weiblichen Opfer subjektiv nicht unter Folgen leidet (vgl. Moggi 2002, S. 119). So gibt es zahlreiche Kinder, bei welchen sich negative Folgeerscheinungen des Missbrauchs nicht in dessen direkter Folge, sondern erst später manifestieren, wenn sie zum Beispiel erst als Jugendliche oder Erwachsene den Missbrauch im Rückblick als solchen erkennen und somit neu interpretieren. Infolgedessen darf sexueller Missbrauch keineswegs als lediglich punktuelles Ereignis im Lebenslauf verstanden werden: Sexuelle Missbrauchserlebnisse unterliegen einer gewissen Dynamik, in deren Prozess sie durch den Betroffenen umgeformt und neu interpretiert werden. Darüber hinaus ist menschliches Verhalten immer auch multikausal verursacht, sodass eine lineare Kausalität generell wissenschaftlich nicht möglich ist (vgl. Wipplinger/Amann 1997, S. 30). Das Folgekriterium als Aspekt einer Definition des sexuellen Missbrauchs erweist sich insofern als schwierig, als dass mögliche Folgeerscheinungen bzw. - symptome nie mit Sicherheit auf das traumatische Ereignis zurückgeführt werden können. Eine Definition, die sich ausschließlich an den Konsequenzen für die Opfer orientiert, würde den Kindern, „die über ausreichend positive Ressourcen und Bewältigungsstrategien verfügen, sodaß sie unter keinen negativen Folgen zu leiden haben, absprechen, einen sexuellen Missbrauch erlebt zu haben“ (Wipplinger/Amann 1997, S. 31). Insgesamt erweisen sich klinische Definitionen sexuellen Missbrauchs nur als wenig sinnvoll, da es keine eindeutigen Symptome gibt, die retrospektiv und kausal auf einen Missbrauch zurückführbar wären.
Forschungsdefinitionen
Forschungsdefinitionen beschreibt Bange als eine Art Sondergruppe, da sie sowohl an klinischen Erkenntnissen über die Schädlichkeit als auch an normative Bewertungen anknüpfen können (vgl. Bange 2002a, S. 49). Forschungsdefinitionen werden dabei besonders in Abhängigkeit von dem jeweiligen Erkenntnisinteresse und der Fragestellung der Untersuchung bestimmt.
Gesellschaftliche Definitionen
Vorhandene Gewalt- und Autoritätsstrukturen, die dem Erwachsenen im Kontakt mit Kindern zur Verfügung stehen, bilden in den gesellschaftlichen Definitionen das Zentrum der Betrachtung. Diese gesellschaftlichen Definitionen sehen primär die durch ein gesellschaftliches Machtgefälle geprägte Form der Beziehung zwischen Opfer und Täter als Kriterium zur Klassifizierung einer Handlung als sexuellen Missbrauch an. Im Rahmen dieser Argumentation werden Handlungen dem sexuellen Missbrauch zugerechnet, bei welchen eine Person1 Kindern sexuelle Handlungen gegen ihren Willen aufdrängt und dabei über mehr Ressourcen verfügt, ihre Interessen gegenüber der schwächeren Person durchzusetzen. Gesellschaftliche Definitionen haben sicherlich den Vorteil, dass sie das Machtgefälle und den damit verbundenen Machtmissbrauch zwischen Betroffenen und Tätern hervorheben. Allerdings dürfen sich Definitionen Wipplinger/Amann zufolge nicht in diesem Kriterium des Machtmissbrauchs erschöpfen, da so der sexuelle Missbrauch oftmals nur schwer zu fassen sei (vgl. Wipplinger/ Amann 1997, S. 26).
Feministische Definitionen
Feministische Definitionen sind den gesellschaftlichen Definitionen ähnlich, da auch sie das Autoritäts- und Machtverhältnis zwischen Opfer und Täter als zentrales Element sexuellen Missbrauchs ansehen. Hinzu kommt allerdings, dass feministische Definitionen den sexuellen Missbrauch in dem patriarchalischen Gesellschaftssystem begründet sehen und dabei insbesondere die geschlechtliche Zuweisung von männlichen Tätern und weiblichen Opfern betonen. Missbrauch wird somit als Ausnutzung des männlichen Autoritäts- und Machtverhältnisses verstanden; der Aspekt der männlichen Dominanz gegenüber weiblichen Opfern steht im Vordergrund. So gehen zum Beispiel Kavemann/Lohstöter davon aus, dass all die Handlungen dem sexuellen Missbrauch zuzurechnen sind, die ein Mädchen auf die Basis eines Sexualobjektes herabsetzen und den Eindruck der Möglichkeit eines Mannes vermitteln, frei über es verfügen zu können (vgl. Kavemann/Lohstöter 1986, S. 9).
Entwicklungspsychologische Definitionen
Zuletzt sind in diesem Zusammenhang die entwicklungspsychologischen Definitionen zu nennen, die die Opfer des sexuellen Missbrauchs von Kindern als entwicklungsmäßig unreife Personen ansehen, denen es aufgrund ihres Entwicklungsstandes an emotionalen, psychischen und/oder kognitiven Kompetenzen mangelt, die zum Verstehen der gesamten Tragweite der sexuellen Handlungen und zu einer Zustimmung zu diesen erforderlich wären. Die entwicklungspsychologischen Definitionen betonen, dass ein Kind - entgegen der Behauptung vieler Pädosexueller2
- aufgrund seiner entwicklungsbedingten Unreife nicht dazu in der Lage ist, die Bedeutung sexueller Handlungen sowie deren Folgen zu antizipieren, sexuellen Handlungen zuzustimmen oder sie sogar zu forcieren (vgl. Wipplinger/Amann 1997, S. 28 f.).
1.2.4 Gemeinsame Elemente
Trotz der vielfältigen Definitionen zu dem Problembereich des sexuellen Missbrauchs lassen sich bei genauerer Betrachtung zumindest bestimmte Kriterien identifizieren, die häufig zur Definition herangezogen werden.
So ist man sich im wissenschaftlichen Diskurs immerhin darin einig, dass all die sexuellen Handlungen dem sexuellen Missbrauch zuzurechnen sind, die durch Drohungen, körperliche Gewalt oder Ausnutzung bestehender Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse oktroyiert werden (vgl. Hartwig/Hensen 2003, S. 16).
„Gegen den Willen des Kindes“
Des Weiteren betonen zahlreiche Definitionen, dass die sexuelle Handlung gegen den Willen des Kindes erfolgt, wobei erste Schwierigkeiten und Kritikpunkte deutlich werden: So impliziert der Terminus „gegen den Willen des Kindes“ zunächst, dass sexuelle Handlungen - auch die zwischen Erwachsenen und Kindern - mit Einwilligung des Kindes möglich und legitim sind. Darüber hinaus besteht ebenfalls bei vielen Betroffenen ein Abwehrmechanismus, der durch die Betonung, alles sei im Rahmen des eigenen Willens geschehen, eine Strategie zum Aushalten der Erlebnisse darstellen kann. Gerade bei innerfamilialem sexuellen Missbrauch spielt dieser Abwehrmechanismus eine entscheidende Rolle: So befinden sich die betroffenen Kinder in der ambivalenten Situation, dass sie zum einen dem Täter vertrauen und ihm rechtlich unterstellt sind und dass sie zum anderen dessen Handlungen missbilligen. Um das Vertrauensverhältnis nicht zu zerstören und das „Idealbild“ des (Stief-)Vaters nicht gänzlich aufgeben zu müssen, nehmen viele Kinder die Verantwortung auf sich, was ihnen ermöglicht, die empfundene Hilflosigkeit umzudeuten und somit die belastende Situation besser zu ertragen.
Konzept des wissentlichen Einverständnisses
Eine Möglichkeit, dieses Dilemma des scheinbaren Einwilligens des Kindes zu lösen, besteht in dem Konzept des wissentlichen Einverständnisses. Dieses Konzept basiert auf der Annahme, dass Kinder den Tätern sowohl psychisch, kognitiv als auch sprachlich unterlegen sind und somit keine gleichberechtigten Partner - denen eine solche Einwilligung möglich wäre - sein können. Aufgrund des bereits mehrfach beschriebenen strukturellen Machtgefälles zwischen Opfer und Täter und der damit verbundenen Unfähigkeit, sexuellen Handlungen mit Erwachsenen wissentlich zuzustimmen, gilt jeder sexuelle Kontakt zwischen Erwachsenen und Kindern als sexueller Missbrauch (vgl. Bange/Deegener 1996, S. 96 f.).
Altersdifferenz
Einige Autoren haben das Konzept des wissentlichen Einverständnisses insofern modifiziert, als dass sie das Kriterium eines Altersunterschiedes (zumeist von fünf Jahren) ihrer Definition hinzufügen, um so einer Ausuferung des sexuellen Missbrauch Begriffs entgegenzuwirken. Die Schwierigkeit solcher Definition besteht hierbei allerdings vor allem darin, dass in ihrem Rahmen der sexuelle Missbrauch unter Gleichaltrigen keine Berücksichtigung findet (vgl. Bange 2008, S. 22).
Körperkontakt
Innerhalb der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Problembereich des sexuellen Missbrauchs wird weiterhin oft die Frage diskutiert, ob sexuelle Übergriffe ohne Körperkontakt - wie zum Beispiel Exhibitionismus oder sexualisierte Blicke - als sexueller Missbrauch gelten können. Während ein Teil der Autoren diese Übergriffe aus ihren Definitionen ausschließt, da sie diese als wenig traumatisierend einschätzen, erkennt ein anderer Teil das zumindest belastende Erleben dieser Übergriffe bei einem Teil der Kinder an und rechnet deshalb visuelle und verbale Übergriffe dem sexuellen Missbrauch zu.
Altersgrenzen
Während die Folgen des sexuellen Missbrauchs als Kriterium für Definitionen bereits im Zusammenhang mit klinischen Definitionen erörtert wurden, ist das häufig verwendete Kriterium einer Altersgrenze kritisch zu hinterfragen. Einige Autoren bezeichnen bspw. sexuelle Handlungen nur dann als Missbrauch, wenn sie mit Kindern vor dem vierzehnten Lebensjahr vollzogen werden, während andere wiederum das sechzehnte oder achtzehnte Lebensjahr als Altersgrenze festlegen. Dem zum Teil sehr unterschiedlichen Entwicklungsstand der Kinder wird hier keineswegs Rechnung getragen.
1.2.5 Fazit und für die Arbeit relevante Definition
„ Wie oft und wie heftig mußHand angelegt werden, damit es sich um Mißbrauch handelt? Eine Frau sagte zu mir, ich wünschte er (der Vater) hätte Hand angelegt. Sie hatte sich jahrelang die widerwärtigsten und ausgefeiltesten Phantasien anhören müssen, und immer wieder drohte er:
Morgen, morgen ist es soweit. Es waren nur Worte, aber sie hatten die Frau, das Mädchen, verrückt gemacht. Wie definiert man das? Wer misst das Leid? Die verbale Penetration der Unschuld eines Kindes, ist sie schon Mißbrauch oder noch nicht. “ (Dirks 2008, S. 154)
Die nähere Betrachtung der einzelnen Definitionsentwürfe hat deutlich gemacht, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern in der Fachliteratur keineswegs eindeutig definiert ist. Im Rahmen der Klassifikationsvorschläge standen jeweils einzelne Aspekte des Themenbereiches wie zum Beispiel der Entwicklungsstand der Opfer, die Folgen des Missbrauchs sowie die Art der sexuellen Handlung oder bestehende Macht- und Autoritätsverhältnisse im Vordergrund. Diese zum Teil recht unterschiedlichen Definitionsversuche sind immer in Abhängigkeit von dem jeweiligen Verwendungszweck sowie als Ausdruck der theoretischen oder weltanschaulichen Sichtweise des betroffenen Verfassers zu verstehen.
Zwar gibt es einzelne Kriterien, die in einer Vielzahl von Definitionen zur Bestimmung eines sexuellen Missbrauchs herangezogen werden, doch hat sich gezeigt, dass es eine allgemein akzeptierte Definition und Theorie zur systematischen objektiven Einordnung von Handlungen nicht gibt.
Aufgrund der beschriebenen Vielfalt und der mit den einzelnen Kriterien verbundenen Kritikpunkte fällt es schwer, eine einzige Definition von sexuellem Missbrauch an Kindern dieser Arbeit zu Grunde zu legen. Deshalb soll hier keine allgemeine Definition gebraucht werden; die verwendeten Begriffsbestimmungen sollen auf Basis der jeweiligen Zielorientierung bzw. des Entscheidungskontextes erfolgen, um so den Themenbereich möglichst umfassend darstellen zu können. So müssen natürlich vor allem die empirischen Daten bezüglich des Ausmaßes und der Prävalenz immer im Zusammenhang mit den zumeist eng gefassten Definitionen, auf welchen die Forschungen jeweils basieren, gesehen werden. Im Gegensatz dazu erscheint es gerade in Bezug auf die für die praktische Arbeit in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern relevanten Interventions- und Präventionsmöglichkeiten sinnvoll, diesem Teil der Arbeit ein eher weites Begriffsverständnis zu Grunde zu legen, das sexuelle Übergriffe ohne direkten Körperkontakt wie zum Beispiel Exhibitionismus mit einbezieht. Würde man in Bezug auf die Praxis eine sehr enge Definition wählen, so bestünde sicher die Gefahr, dass ein sexueller Missbrauch als solcher nicht erkannt werde und die benötigte Hilfe für das Opfer unterbliebe.
Der Begriff des sexuellen Missbrauchs von Kindern soll in der vorliegenden Arbeit - außer in Bezug auf empirische Daten, deren zu Grunde liegenden Definitionen jeweils explizit genannt werden - in einem weiten Sinn gebraucht werden. Somit verstehe ich unter dem Begriff des sexuellen Missbrauchs von Kindern alle Handlungen, bei welchen eine Person - die entweder aufgrund eines vorhandenen Macht- und Autoritätsgefälles oder aufgrund geringerer kognitiver, psychischer und/ oder körperlicher Ressourcen, die zum Verstehen der Tragweite der Handlungen notwendig wären, nicht fähig ist, sexuellen Handlungen wissentlich zuzustimmen oder diese abzulehnen - zur Befriedigung gewisser Bedürfnisse gebraucht wird. Diese Bedürfnisse sind - in Anlehnung an die Definition von Brockhaus/Kolshorn (vgl. Brockhaus/Kolshorn 1993, S. 29) - entweder sexuell oder nicht sexuell, finden aber dennoch in sexualisierter Form ihren Ausdruck. Es kommt dabei zu Handlungen, die kulturell mit Sexualität assoziiert werden. Hierzu zählen Tätigkeiten, die ohne Körperkontakt stattfinden, auch verbale und nonverbale Belästigungen. Darüber hinaus wird bei dieser Definition bewusst weder eine Altersgrenze noch ein Altersunterschied als Kriterium zu Grunde gelegt, weil in diesem Verständnis der sexuelle Missbrauch durch gleichaltrige oder jüngere Täter Berücksichtigung findet.
In der vorliegenden Arbeit soll auf der Grundlage dieser Definition der Schwerpunkt vor allem bei dem innerfamilialen sexuellen Missbrauch von Mädchen durch (Stief-)Väter liegen. Die Konzentration auf den Missbrauch innerhalb des Familiensystems ist darin zu begründen, dass dieser - mehr noch als der sexuelle Missbrauch im familiären Nahbereich oder gar durch unbekannte Täter - mit einer starken Gefühlsambivalenz und Abhängigkeit des Opfers vom Täter einhergeht. Diese Ambivalenz, die das bisherige Vertrauen infrage stellt, macht es dem Opfer besonders schwer, die sexuellen Handlungen als Missbrauch zu erkennen und sich dann anderen anzuvertrauen sowie sich somit Hilfe zu holen. Dabei spielen sowohl Schuldgefühle als auch Ängste vor eigener Bestrafung, Bestrafung des (Stief-)Vaters und vor allem die Verletzung und Enttäuschung der restlichen Familie (insbesondere der Mutter) eine zentrale Rolle. Auch die Schwerpunktsetzung auf (Stief-)Väter als Täter soll den Aspekt der Ambivalenz zu diesem betonen. Darüber hinaus soll die intensive Beschäftigung mit weiblichen Opfern der Tatsache Rechnung tragen, dass gerade im familiären Bereich überwiegend Mädchen von sexuellem Missbrauch betroffen sind. Diese Beschränkung ist allerdings keineswegs im Rahmen einer feministischen Argumentationsweise zu verstehen; die Bedeutung von sexuellem Missbrauch an Jungen durch Frauen als Täter soll dadurch nicht minimiert oder gar geleugnet werden.
In Anlehnung an die dieser Arbeit zu Grunde liegende Definition des sexuellen Missbrauchs kann der innerfamiliale sexuelle Missbrauch definiert werden. Hierbei lohnt sich vor allem die Betrachtung älterer Literatur: Hildebrand geht davon aus, dass man dann von Missbrauch in der Familie sprechen kann, wenn eine Person in einer Machtposition ein Bedürfnis bei einem anderen Mitglied der Familie durch Sexualisierung zu befriedigen versucht (vgl. Hildebrand 1986, S. 52). Sexualisierung könne demnach „alles sein, von der Liebkosung, dem Kuß, wiederholten verbalen Bemerkungen über Brüste oder andere Körperteile einer Person bis hin zu oralen, analen oder genitalen Geschlechtsverkehr“ (Hildebrand 1986, S. 52).
Somit sollen in dieser Arbeit unter innerfamilialem sexuellem Missbrauch von Mädchen durch (Stief-)Väter all die Handlungen verstanden werden, bei denen der (Stief-)Vater das bestehende Machtgefälle zur Tochter (die entweder aufgrund eines vorhandenen Macht- und Autoritätsgefälles oder aufgrund geringerer kognitiver, psychischer und/ oder körperlicher Ressourcen, die zum Verstehen der Tragweite der Handlungen notwendig wären, nicht fähig ist, sexuellen Handlungen wissentlich zuzustimmen oder diese abzulehnen) gebraucht, um ein oder mehrere Bedürfnisse (diese können sexuell oder nicht sexuell sein, finden ihren Ausdruck aber in sexualisierter Form) zu befriedigen. Hierzu zählen all die Handlungen, die kulturell mit Sexualität assoziiert werden, d.h. auch verbale Bemerkungen bis hin zum Geschlechtsverkehr.
2 Ursachen sexuellen Missbrauchs - Erklärungsmodelle
2.1 Traditionelle Erklärungsansätze
2.1.1 Grundannahmen
Traditionelle Erklärungsansätze zum sexuellen Missbrauch von Kindern werden heute noch häufig sowohl implizit als auch explizit in der Gesellschaft und von einigen Wissenschaftlern vertreten. Da diese Erklärungsmuster allerdings durch zahlreiche Forschungsergebnisse widerlegt und somit empirisch keineswegs haltbar sind, können sie zu den Mythen des sexuellen Missbrauchs gerechnet werden. Solche Mythen schwächen in der Regel die Situation der Opfer durch das Infragestellen ihrer Rolle und entbinden die Täter durch die Rückführung der Handlungen auf externe Ursachen weit gehend aus ihrer Verantwortung.3
Zunächst zeichnet sich das traditionelle Ursachenverständnis dadurch aus, dass sexueller Missbrauch als solcher häufig nicht erkannt wird, da er als Ausnahmeerscheinung und Einzelfall betrachtet wird. Das tatsächliche Ausmaß des sexuellen Missbrauchs an Kindern wird negiert, der Missbrauch nur innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Personenkreise vermutet. Besondere Eigenschaften und Abnormalitäten der Täter oder des Opfers stehen daher im Zentrum der Argumentation.
Sofern der Missbrauch als solcher erkannt wird, gilt er als gewalttätige Form der Sexualität und nicht als sexualisierte Gewalt (vgl. Brockhaus/Kolshorn 1993, S. 203). Infolgedessen werden die Ursachen primär im sexuellen Bereich gesucht.
Zur Erklärung sexuellen Missbrauchs ziehen traditionelle Erklärungsansätze daher biologische Faktoren der Täter heran: Während der männliche Sexualtrieb als von Natur aus aggressiv und auf Angriff ausgerichtet verstanden wird, wünschten sich Frauen -dieser Argumentation zufolge - Sexualität durch Gewalt und Dominanz des Mannes zu erleben. Die theoretische Basis für diese Annahme bildet das psychoanalytische Konstrukt des weiblichen Masochismus, worunter „die erotische Lust, die beim Erdulden von körperlichen oder seelischen Schmerzen entsteht“ (Brockhaus/Kolshorn 1993, S. 204) verstanden wird. Diese Eigenschaft der Frauen,
Befriedigung durch Erniedrigung und Gewalt zu erleben, wird als angeboren interpretiert. In diesem Zusammenhang wird dann der sexuelle Missbrauch von Kindern durch deren unbewusste sexuelle Wünsche und Bedürfnisse gedeutet. In traditionellen Erklärungsansätzen wird hierbei auf psychoanalytische Theorien zurückgegriffen: So träume das Kind von einer sexuellen Beziehung mit dem gegengeschlechtlichen Elternteil. Innerhalb dieser Argumentationsweise wird dem Kind unterstellt, dass es sich sexuelle Handlungen wünsche und somit eine (Mit)Schuld an Missbrauchshandlungen trage (vgl. Brockhaus/Kolshorn 1993, S. 205).
Des Weiteren gehen traditionelle Erklärungsansätze von einem - im Unterschied zu Frauen - viel stärkeren männlichen Sexualtrieb aus, welcher nach sofortiger Bedürfnisbefriedigung strebe und somit kaum kontrollierbar sei. Um in diesem Verständnis erklären zu können, warum manche Männer zu Tätern werden und andere wiederum nicht, bedarf es gewisser Zusatzannahmen. Mit dem Ziel, Männer, die keinen sexuellen Missbrauch begehen, von der potenziellen Täterschaft zu entlasten, wird im traditionellen Ursachenverständnis die These des stärkeren männlichen Sexualtriebs zugespitzt: Zum Täter werden demnach nur die Männer, die über einen sehr starken und krankhaften Sexualtrieb verfügen (vgl. Brockhaus/Kolshorn 1993, S. 206 f.).
Eng mit der Argumentation des krankhaft starken männlichen Sexualtriebes verbunden, wird heute noch in der Öffentlichkeit im Sinne eines traditionellen Erklärungsmusters häufig von einer sexuellen Frustration des Täters ausgegangen. Gerade im Rahmen des innerfamilialen sexuellen Missbrauchs seien Täter durch mangelnde Sexualkontakte zur Mutter oder zu anderen erwachsenen Partnerinnen dazu gezwungen, Kinder zur Befriedigung sexueller Triebe zu instrumentalisieren. Eine derartige Argumentation entbindet die Täter weit gehend aus ihrer Verantwortung, lässt sie selbst als Opfer erscheinen und weist der Frau des Täters die Schuld für den sexuellen Missbrauch von Kindern zu (vgl. Enders 2008, S. 41).
Diese Schuldentlastung des Täters setzt sich in dem traditionellen Ursachenverständnis bezüglich der Merkmale und dem Verhalten der Opfer fort: Während erwachsenen Opfern ein anzügliches, aufreizendes Auftreten unterstellt wird, wird bei kindlichen Opfern von einem den Täter anziehenden Äußeren ausgegangen. Somit wird die Verantwortung für die Tat erneut weit gehend dem Opfer zugeschrieben: Es provoziere den Täter regelrecht durch attraktives Aussehen oder aufreizendes Verhalten zu sexuellem Missbrauch (vgl. Brockhaus/Kolshorn 1993, S. 208).
Um zu erklären, warum nicht jeder Mann einen sexuellen Missbrauch begeht, werden den Tätern neben deren krankhaften Sexualtrieb andere psychische und soziale Auffälligkeiten unterstellt. Der sexuelle Missbrauch von Kindern resultiert dem traditionellen Erklärungsansatz zufolge aus der sexuellen Abweichung des Täters von der Norm, der psychischen und sozialen Auffälligkeit des Täters und der Provokation des Opfers (vgl. Brockhaus/Kolshorn 1993, S. 211).
2.1.2 Bewertung und Kritik traditioneller Erklärungsansätze
Doch auch die anderen Thesen des traditionellen Ursachenverständnisses sind empirisch nicht haltbar und durch zahlreiche Forschungsergebnisse widerlegt. So zeigen zum Beispiel Befragungen von Tätern und Opfern, dass bei dem sexuellen Missbrauch von Kindern nicht die Sexualität des Täters, sondern dessen Macht im Vordergrund steht (vgl. Heiliger/Engelfried 1995). Sexueller Missbrauch ist somit vor allem Missbrauch von Macht, den überwiegend Männer begehen. Ein besonders ausgeprägtes Machtgefälle zwischen Täter und Opfer findet sich gerade bei innerfamilialem sexuellem Missbrauch in der Vater-Tochter Beziehung: Gerade hier lassen sich Autonomiebestrebungen des Opfers leicht unterdrücken (vgl. Enders 2008, S. 40).
Allerdings lässt sich dann in den Fällen, in denen bei den Tätern hauptsächlich sexuelle Befriedigung im Vordergrund steht, fragen, warum Gewalt als angemessenes Mittel gewählt wird, um sexuelle Handlungen zu erzwingen. Traditionelle Erklärungsansätze verweisen zur Beantwortung dieser Frage auf einen starken Sexualtrieb oder auf sexuelle Frustration der Täter durch mangelnde Möglichkeit zur sexuellen Befriedigung innerhalb freiwilliger Sexualkontakte. Auch in diesem Zusammenhang zeigen Forschungsergebnisse, dass sexueller Missbrauch nicht aufgrund mangelnder Befriedigung, sondern zusätzlich zu freiwilligen Sexualkontakten erfolgt; bei dem sexuellen Missbrauch von Kindern steht das Interesse an Kindern im Vordergrund, d.h., sie werden nicht als Ersatz für erwachsene Sexualpartner instrumentalisiert (vgl. Kolshorn/Brockhaus 2002b, S. 665). Bezüglich des von traditionellen Erklärungsansätzen postulierten starken männlichen Sexualtriebes bleibt die Frage offen, warum sich der Täter nicht für gewaltfreie Formen der Befriedigung entscheidet (vgl. Kolshorn/Brockhaus 2002b, S. 665).
Ferner erweist sich die Annahme eines psychosozial auffälligen Täters empirisch keineswegs haltbar: Studien mit inhaftierten Tätern konnten verdeutlichen, dass die Mehrzahl der Täter nicht von der sozialen Norm abweicht, sondern sozial sehr angepasst ist (vgl. Kolshorn/Brockhaus 2002b, S. 656).
Generell bleibt bei den traditionellen Ansätzen zur Erklärung des sexuellen Missbrauchs grundsätzlich die Frage offen, warum Frauen (auch bei sexueller Frustration) weitaus seltener sexuellen Missbrauch begehen als Männer. So gehen diese Ansätze bezogen auf die Auffälligkeiten der Täter zum Beispiel von einem starken Alkoholkonsum mit enthemmender Wirkung aus. Unklar bleibt in dieser Argumentation allerdings, warum unter Alkoholeinfluss stehende Frauen nicht ebenso häufig sexuellen Missbrauch begehen wie Männer. Auch die Erklärung für sexuelle Gewalthandlungen im nüchternen Zustand des Täters fehlt in dieser Argumentation (vgl. Kolshorn/Brockhaus 2002b, S. 666).
Schließlich zeigt sich, dass die in traditionellen Erklärungsansätzen unterstellten Auffälligkeiten des Opfers nicht durch empirische Daten belegt werden können. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass sowohl Frauen als auch Kinder unabhängig von ihrem Äußeren oder ihres Alters Opfer eines sexuellen Missbrauchs werden können (vgl. z.B. Weis, 1982).
Traditionelle Ansätze zur Klärung der Ursachen des sexuellen Missbrauchs liefern schließlich eher Mythen sexueller Gewalt als eine theoretisch und empirisch fundierte Ursachenanalyse. Sie individualisieren das Phänomen des sexuellen Missbrauchs, indem sie den Täter pathologisieren und dem Opfer eine Mitschuld an der Tat zuschreiben. Der Täter wird so von seiner Verantwortung entlastet. Die angeführten Thesen, die von externen bzw. biologischen Ursachen wie zum Beispiel dem starken Sexualtrieb oder der sexuellen Frustration des Täters ausgehen, tragen zur Verharmlosung des sexuellen Missbrauchs bei, da er somit als nicht beeinflussbar angesehen wird.
Die Tatsache, dass jeder Opfer sexuellen Missbrauchs werden kann, wird negiert; die Schuld somit dem Opfer zugewiesen. Die im Rahmen dieser Problematik deutlich gewordenen Geschlechtsunterschiede werden im traditionellen Ursachenverständnis durch biologische Theorien nur unzureichend geklärt, wobei die Bedeutung der bestehenden Machtdifferenz sowie der gesellschaftlichen Gesichtspunkte keinerlei Berücksichtigung finden.
2.2 Familiendynamische Ansätze
2.2.1 Grundannahmen
Diese Unterstellung psychosozialer Auffälligkeiten des Täters musste dann allerdings durch das zunehmende Bekanntwerden von sexuellen Missbrauchsfällen bei gut angesehenen Familienvätern revidiert bzw. ergänzt werden: So wurde im Rahmen der familientheoretischen Ansätze von einer dysfunktionalen Familienstruktur bei innerfamilialem sexuellem Missbrauch ausgegangen. Während sich die Familie nach außen sehr stark abgrenze und isoliere, seien die innerfamilialen Grenzen in der Regel diffus, die Rollenverteilungen und Generationsgrenzen verwischt. So wird angenommen, dass bei innerfamilialem sexuellem Missbrauch die Tochter zum Beispiel die Rolle der Mutter und somit deren sexuelle Aufgaben übernehme (vgl. Brockhaus/Kolshorn 1993, S. 212). Die Basis des sexuellen Missbrauchs von Kindern innerhalb einer Familie seien demzufolge pathologische Familienstrukturen, wobei der sexuelle Missbrauch als Überlebensmechanismus der Familie verstanden wird: Dieser trage zum Erhalt des Familiensystems bei und verhindere zugleich die Offenlegung bestehender Konflikte. Alle Familienmitglieder sind in diesem Verständnis am sexuellen Missbrauch beteiligt und haben sogar einen Nutzen davon.
Diese Argumentation stellt den sexuellen Missbrauch nicht als eigentliches Problem, sondern als Symptom tief greifender Schwierigkeiten dar. Es wird davon ausgegangen, dass Familienprobleme nicht die Folge, sondern die Basis für sexuellen Missbrauch bilden. Die Schuld wird hiermit gleichmäßig auf alle Familienmitglieder verteilt; der Opferstatus des betroffenen Kindes wird vielfach negiert (vgl. Enders 2008, S. 36 f.). Den familiendynamischen Ansätzen liegt die Systemtheorie zu Grunde, die davon ausgeht,
„daß abweichendes Verhalten nicht auf Faktoren im Innern des Individuum zurückzuführen sei, sondern aus einem interpersonalen Kontext heraus entstehe, einem Netz von Beziehungen, in denen Menschen aus der Bahn gerieten. Als solches Netz wird die Familie gesehen“ (Rijnaarts 1988, S.157).
Die Interaktion und Kommunikation der Familienmitglieder steht hierbei im Zentrum der Betrachtung. Im Rahmen dieser familiendynamischen Argumentation kommt der Mutter eine erhebliche Bedeutung zu: Den Kindsmüttern wird unterstellt, dass sie durch die Verweigerung sexueller Handlungen den Ehemann zum Missbrauch der Tochter provozieren und dies beobachten (vgl. Brockhaus/Kolshorn 1993, S. 212).
Larson beschreibt aufbauend auf diesen Überlegungen den sexuellen Missbrauch innerhalb der Familie als Kreislauf:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Merkmale einer Inzestfamilie (vgl. Larson 1986, S. 107)
Familien, in denen es zum innerfamilialen sexuellen Missbrauch kommt, seien Larson zufolge durch soziale Isolation, Verwischung der intrapsychischen und interpersonellen Grenzen sowie durch die unklare Trennung von Generationsgrenzen gekennzeichnet. Diese zentralen Merkmale bedingten sich hierbei wechselseitig und führten zu einer dysfunktionalen Familienstruktur, in welcher der Missbrauch als Überlebensmechanismus der Familie eingesetzt werde. Der Missbrauch erscheint in familiendynamischen Erklärungsansätzen als eine komplexe Familienthematik und verteilt somit die Verantwortung auf alle Familienmitglieder.
2.2.2 Bewertung und Kritik familiendynamischer Erklärungsansätze
Zunächst lässt sich an den dargestellten familiendynamischen Ansätzen kritisieren, dass sie die ungleiche Machtverteilung, die in Familien zumeist zu Gunsten des Mannes ausfällt, weit gehend ignorieren und zugleich den Täter aus dessen Verantwortung entbinden. Hierbei wird bei innerfamilialem sexuellem Missbrauch eine Konstellation gleichgestellter Familienmitglieder postuliert; den Beteiligten wird jeweils ein gleich großes Interesse an dem Missbrauch zugeschrieben. Der Tatsache, dass zumindest in traditionellen Familien der Vater über die Mutter und die Eltern über die Kinder bestimmen, wird somit keine Rechnung getragen (vgl. Rijnaarts 1988, S. 157).
Auch die Gefährdung der Kinder bei innerfamilialem sexuellem Missbrauch findet innerhalb dieses Erklärungsmusters keine Berücksichtigung: Vielmehr werden diesem sogar familien- und systemstabilisierende Eigenschaften zugeschrieben. Darüber hinaus beziehen familiendynamische Ansätze weder den sexuellen Missbrauch durch andere Familienmitglieder (wie zum Beispiel durch Mütter oder Geschwister) noch durch systemfremde Täter mit ein und liefern somit gerade für den Missbrauch innerhalb des außerfamilialen Nahbereiches keine Erklärung.
Des Weiteren ist die Verlagerung der Schuld und Verantwortung vom Täter hin zur Familie und zum Opfer keineswegs zu akzeptieren. Dies schwächt die ohnehin schwierige Situation des Opfers und wirkt dessen Schutz durch Bestrafung des Täters entgegen. Doch die Annahme einer gestörten Familienstruktur ist zur Erklärung des sexuellen Missbrauchs unzulänglich: So konnten Studien belegen, dass eine Vielzahl der Täter sowohl ihre Kinder als auch Kinder außerhalb des Familiensystems sexuell missbrauchen (vgl. z.B. Abel/Rouleau 1990, S. 16).
Familiendynamische Ansätze entwickeln somit zwar ein differenziertes Bild des innerfamilialen sexuellen Missbrauchs über die Figur des Täters hinaus, doch sind sie sowohl für eine Genese als auch für eine Ätiologie des sexuellen Missbrauchs wenig dienlich, da sie sich nur auf den Teilbereich der Familie beschränken und die Schuldfrage nicht eindeutig klären (vgl. Hartwig/Hensen 2003, S. 25 f.).
2.3 Feministisches Ursachenverständnis
„ Eine Gesellschaft, die diese Täter hervorbringt, mußsich fragen, welchen Anteil sie daran hat. “ (Dirks 2008, S.156)
Im wissenschaftlichen Diskurs lassen sich zahlreiche, zum Teil recht unterschiedliche feministische Theorien identifizieren. Der Ursprung der feministischen Analyse sexuellen Missbrauchs ist zunächst in der Frauenbewegung der 70er Jahre zu suchen, als Frauen zunehmend offen über den erlittenen Missbrauch sprachen und somit erst das Ausmaß sexueller Übergriffe sowie das damit verbundene Leid publik machten. In der Folgezeit wurde das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs an Kindern - hierbei vor allem an Mädchen - durch Berichte betroffener Frauen deutlich (vgl. Kolshorn/Brockhaus 2002c, S. 109 f.). Auch wenn es eine Vielzahl feministischer Theorien gibt, so basieren doch alle darauf, dass sie sexuellen Missbrauch primär als Folge einer patriarchalischen Kultur verstehen und diesem zugleich einen Beitrag zu deren Erhalt bescheinigen. Nach diesem Verständnis sind der sexuelle Missbrauch von Mädchen und von Frauen keine vollkommen unterschiedlichen Phänomene, sondern verschiedene Ausprägungen eines Spektrums sexueller Gewalt (vgl. Brockhaus/Kolshorn 1993, S. 216 f.).
Unter dem feministischen Ursachenverständnis werden hier alle theoretischen Ausführungen und empirischen Daten verstanden, welche den sexuellen Missbrauch im gesellschaftlichen Kontext der Machtstrukturen zwischen den Geschlechtern verstehen.
In deutlicher Abgrenzung zu traditionellen Erklärungsansätzen betrachtet das feministische Ursachenverständnis sexuelle Gewalt4 keineswegs als Einzelfall oder Ausnahme: Vielmehr wird davon ausgegangen, dass der sexuelle Missbrauch ein solches Ausmaß habe, dass er nicht als Folge von individuellen Aspekten oder Eigenschaften interpretiert werden könne. Die Ursache sei nicht bei den Opfern, sondern im Rahmen des Gesellschaftssystems zu suchen. Darüber hinaus wird sexuelle Gewalt in diesem Verständnis als ein geschlechtsspezifisches Phänomen angesehen, da die Täter zumeist Männer und die Opfer überwiegend weiblich sind. Ein weiterer wichtiger Aspekt feministischer Theorien ist der der Macht, welchem eine entscheidende Bedeutung als Ziel oder Mittel zur Begehung sexuellen Missbrauchs zugeschrieben wird. Die sexuelle Gewalt wird dabei insbesondere als Herrschaftsinstrument betrachtet: Sie werde von Männern gezielt zur Festigung ihrer Vormachtstellung eingesetzt und diene weiterhin dazu, Frauen deren Grenzen aufzuzeigen (vgl. Kolshorn/Brockhaus 2002c, S. 110).
2.3.1 Patriarchale Gesellschaftsstrukturen, Geschlechtsrollen und sexuelle Gewalt
Feministische Ansätze schreiben der patriarchalischen Gesellschaftsstruktur eine entscheidende Bedeutung bezüglich der Entstehung sexueller Gewalt zu und stellen somit die im traditionellen Ursachenverständnis vernachlässigten gesellschaftlichen Aspekte ins Zentrum der Betrachtung. Patriarchalische Gesellschaften seien dabei durch einen institutionalisierten ungleichen Status der Geschlechter gekennzeichnet und durch den Glauben „an die Höherwertigkeit des männlichen und die Minderwertigkeit des weiblichen Geschlechts“ (Schenk 1979, S. 129) geprägt. Von zentraler Bedeutung sei die männliche Dominanz, welche ihren Ausdruck strukturell in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und ideell in den traditionellen Geschlechtsrollen finde. Dies impliziert die Feststellung, dass Frauen weitaus seltener Positionen gesellschaftlicher Macht besetzen und somit in der Regel über weniger materielle Ressourcen als Männer verfügen (vgl. Brockhaus/Kolshorn 1997, S. 93 f.). Diese Überlegenheit an Ressourcen erleichtere es Männern gegenüber Frauen und Kindern; Bedürfnisse und Macht gegen deren Willen durchzusetzen.
Die Vormachtstellung des Mannes wird im feministischen Verständnis allerdings nicht nur innerhalb des ökonomischen Bereiches, sondern innerhalb der Familienstrukturen gesehen: Auch im familialen Bereich lassen sich demnach in einer patriarchalischen Gesellschaft institutionalisierte Arbeitsteilungen finden, die der Frau vor allem unbezahlte, haushälterische Tätigkeiten und dem Mann den Gelderwerb zuschreiben.
Verdinglichung weiblicher Sexualität
Die sowohl im ökonomischen als auch im familialen Bereich häufig vorhandene geschlechtsspezifische Arbeitsteilung biete dabei die Basis für die Verdinglichung weiblicher Sexualität: Die aus der Arbeitsteilung häufig resultierende finanzielle Abhängigkeit der Frau führe dazu, dass ihre Sexualität sozusagen zur Ware werde, die sie neben ihrer Reproduktionsleistung gegen die ökonomischen Beiträge des Mannes austausche (vgl. Kolshorn/Brockhaus 2002c, S. 111). Somit bietet die Sexualität der Frau im Rahmen dieses Verständnisses einen Tauschwert, auf welchen der Mann aufgrund seiner ökonomischen Leistungen einen regelrechten Anspruch hat.
Darüber hinaus zeigt die Betrachtung der historischen Perspektive eine Degradierung der weiblichen Sexualität zur Ware. Der Geschlechtsverkehr galt lange als ein rechtskräftiges Mittel der Inbesitznahme, sodass Vergewaltigungen innerhalb der Ehe erst 1997 als solche strafbar wurden. Auch die formale Vormundschaft des Mannes über seine Frau wurde erst Ende der 1970er Jahre abgeschafft (vgl.
Kolshorn/Brockhaus 2002c, S. 112). Infolgedessen erscheint es nicht als ungewöhnlich, dass diese Art des Eigentums- und Verfügungsrechtes des Mannes über die Frau nach wie vor vielfach in den Denkweisen der Menschen vorhanden ist; dies kann zur Minimierung der moralischen Bedenken des Täters und des Ausmaßes sozialer Kontrolle beitragen.
Wert- und Normvorstellungen
Eng damit verbunden seien die gesellschaftlichen Wert- und Normvorstellungen bezüglich der Geschlechter: Während Mädchen und Frauen eher als passiv, schwach und gefühlsbetont gelten, werden Jungen und Männer als aktiv, stark, aggressiv und dominant beschrieben. Diese gesellschaftlichen Stereotypen gehen mit entsprechenden Verhaltenserwartungen einher und prägen zugleich Selbstbilder und Verhalten: Frauen sollen demnach sensibel auf die Wünsche anderer Rücksicht nehmen, während Männer ihre Ziele - zur Not auch aggressiv - verfolgen (vgl. Brockhaus/Kolshorn 1997, S. 95).
Nach diesem Verständnis entsteht sexuelle Gewalt in einer patriarchalen Gesellschaft dadurch, dass eine Verinnerlichung der in allen gesellschaftlichen Bereichen erkennbaren Geschlechtshierarchien als sexistische Vorstellungswelt erfolgt. Demzufolge üben traditionelle Geschlechtsrollen sowie die geltenden Mythen über sexuellen Missbrauch einen starken Einfluss auf die Wahrnehmung und Bewertung sexueller Übergriffe im gesellschaftlichen System aus und prägen letztlich auch das Verhalten (vgl. Kolshorn/Brockhaus 2002c, S. 111).
Des Weiteren wird die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung im Sinne traditioneller Rollenmuster auch bezüglich der Problematik des innerfamilialen sexuellen Missbrauchs thematisiert. Die häufige berufsbedingte Abwesenheit des Mannes habe in diesem Zusammenhang ein geringeres Empathiegefühl seinen Kindern gegenüber zufolge, was die Tat erleichtere (vgl. Kolshorn/Brockhaus 2002c, S. 112).
Der im feministischen Ursachenverständnis betonte Zusammenhang zwischen sexueller Gewalt und patriarchalen Strukturen wird durch empirische Studien5 gestützt. So untersuchten zum Beispiel Herman/Hirschmann (1981) die Struktur von 60 Familien, in denen es zu innerfamilialem sexuellem Missbrauch von Mädchen durch deren Väter kam. Unter sexuellem Missbrauch bzw. unter sexueller Ausbeutung wurden hier sowohl Handlungen mit als auch ohne Körperkontakt verstanden. Deutlich wurde dabei, dass alle Familien im Sinne einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung strukturiert und an traditionellen Geschlechtsrollen orientiert waren. Eine noch stärkere patriarchale Struktur fand sich in den Familien, in welchen sexuelle Ausbeutung Körperkontakt implizierte, während vor allem die Mütter in Familien mit sexueller Ausbeutung ohne Körperkontakt im Vergleich stärker und selbstsicherer waren (vgl. Brockhaus/Kolshorn 1997, S. 97).
2.3.2 Bewertung und Kritik des feministischen Ursachenverständnisses
Der feministische Ansatz zu den Ursachen des sexuellen Missbrauchs widerlegt sowohl theoretisch als auch empirisch traditionelle Erklärungsmuster, die sexuelle Übergriffe als ein individuelles Phänomen verstehen und somit den Täter aus seiner Verantwortung weit gehend entbinden. Die feministische Argumentation hat dazu geführt, dass sexueller Missbrauch von Kindern nicht mehr als Ausnahmeerscheinung gilt, sondern sowohl in der Wissenschaft als auch in der Öffentlichkeit als verbreitete und wichtige Problematik thematisiert wird. In deutlicher Abgrenzung von traditionellen Erklärungsansätzen gelingt es den feministischen Theorien, die gesellschaftliche Dimension des sexuellen Missbrauchs zu berücksichtigen. Dabei werden individuelle Faktoren nicht geleugnet, sondern immer im gesellschaftlichen Zusammenhang interpretiert und verstanden. Unklar bleibt dabei allerdings, wie sexuelle Gewalt durch weibliche Täterinnen erklärt werden kann. Überdies fehlt es feministischen Erklärungsansätzen an einer multifaktoriellen Theorie, die innerpsychische sowie interaktive Aspekte mit einbezieht.
David Finkelhor versucht im Rahmen seines „Four Preconditions Modell of Sexual Abuse“ einen derartigen Erklärungsansatz des sexuellen Missbrauchs zu liefern, indem er vielfältigen Ursachenfaktoren bezüglich des Täters vier Voraussetzungen zuordnet. Dieses Modell der vier Voraussetzungen soll im Folgenden kurz in seinen Grundzügen dargestellt und erläutert werden. Schließlich wird darauf aufbauend die Weiterentwicklung der Kernthesen Finkelhors im Sinne des von Kolshorn/Brockhaus erarbeiteten „Drei-Perspektiven-Modells“ sexueller Gewalt im Vordergrund stehen.
2.4 Modell der vier Voraussetzungen nach David Finkelhor
David Finkelhor versucht in seinem Modell der vier Voraussetzungen (Four Preconditions Model of Sexual Abuse) sowohl psychosoziale als auch kulturelle Faktoren in sein Ursachenverständnis mit einzubeziehen und somit einen multifaktoriellen Erklärungsansatz zur Problematik des sexuellen Missbrauchs von Kindern zu liefern.
Finkelhor nennt hierbei vier verschiedene Voraussetzungen, die zur Ausübung eines sexuellen Missbrauchs gegeben sein müssen:
1. Bei dem potenziellen Täter muss die Motivation zum Missbrauch eines Kindes bestehen.
2. Er muss innere Hemmungen gegen das Umsetzen dieser Motivation in die Realität überwinden.
3. Er muss äußere Hemmungen überwinden, die dem Missbrauch entgegenstehen.
4. Der kindliche Widerstand des Opfers muss überwunden werden (vgl. Finkelhor 1984, S. 53 ff.).6
2.4.1 Motivation
Die Motivation des Täters bildet die Basis sexuellen Missbrauchs. Hierbei differenziert Finkelhor wiederum zwischen drei Motivationskomponenten:
Zunächst umfasst die emotionale Kongruenz die Befriedigung eines wichtigen emotionalen Bedürfnisses durch die sexuelle Beziehung zu einem Kind. In Abgrenzung hierzu steht bei der zweiten Motivationskomponente, der sexuellen Erregung, die Sexualität des Täters im Vordergrund; das Kind wird als mögliche Quelle sexuellen Lustempfindens und sexueller Befriedigung betrachtet. Eine dritte Komponente der Motivation ist Finkelhor zufolge die Blockierung. Hierunter versteht er den Mangel an alternativen Möglichkeiten zur sexuellen Befriedigung oder das damit verbundene geringere Lustempfinden (vgl. Kolshorn/Brockhaus 2002d, S. 363).
In diesem Zusammenhang geht Finkelhor davon aus, dass zumindest eine der drei genannten Motivationskomponenten vorhanden sein muss, damit es zum sexuellen Missbrauch kommt. So muss bspw. ein Täter nicht unbedingt emotional bedürftig sein, um ein Kind sexuell zu missbrauchen. Die Motivation kann demnach ursprünglich sexuell bedingt sein, es kann sich aber zugleich um eine nicht-sexuelle Motivation handeln, die vom Täter selbst sexualisiert wird.
[...]
1 Das Alter des Täters spielt in gesellschaftlichen Definitionen keine Rolle. Wichtig zur Klassifikation ist dabei nur, dass der Täter dem Opfer aufgrund dessen Ressourcen zur Durchsetzung eigener Interessen überlegen ist.
2 Zum Begriff der Pädosexualität und zur Argumentationsweise der Pädosexuellen siehe Dannecker 2002, S.390 ff.
3 Zur Erläuterung der Mythen sexuellen Missbrauchs vgl. auch Kolshorn/Brockhaus 2002a. 16
4 Da im Rahmen des feministischen Ursachenverständnisses der Begriff ‚sexuelle Gewalt’ Anwendung findet, soll dieser auch zur Erläuterung der feministischen Argumentation verwendet werden. Die Definition ‚sexueller Gewalt’ wird hierbei in einem weiten Begriffsverständnis gebraucht und kann daher mit dem in dieser Arbeit verwendeten Begriff des ‚sexuellen Missbrauchs’ synonym verwendet werden.
5 Auswertungen zu weiteren Studien bzgl. des Zusammenhangs zwischen sexueller Gewalt und patriarchalen Gesellschaftsstrukturen in Brockhaus/ Kolshorn 1997, S. 96 ff.
6 Da der Originaltext von Finkelhor in englischer Sprache verfasst ist, wird in der folgenden Darstellung zur Vereinheitlichung der ins Deutsche übersetzten Begrifflichkeiten auch auf eine deutsche Darstellung des Modells durch Kolshorn/Brockhaus zurückgegriffen
- Quote paper
- Daniela Hammerschmidt (Author), 2010, Die Bedeutung des innerfamilialen sexuellen Missbrauchs von Mädchen durch (Stief-) Väter für die Arbeit in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/160229
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