Auf die Gesellschaft bezogen lässt sich feststellen, dass Tod und Sterben im Allgemeinen Themen sind, die lieber vermieden werden. Viele Menschen haben Angst vor einem eigenen qualvollen Sterben und fürchten ebenso den Verlust naher Angehöriger. Als Grund für diese Befürchtung kann die Säkularisierung angeführt werden, da der christliche Glaube an ein Leben nach dem Tod für viele Menschen nicht mehr als Trost und Hoffnung dient. Daneben ist aber auch der medizinische Fortschritt einhergehend mit einer zunehmenden Technisierung ein Grund dafür, dass sich das gesellschaftliche Meinungsbild zum Sterbeprozess modifiziert hat. Der Punkt, an dem Ärzte wie früher sagen konnten, „hier ist nichts mehr zu machen“ ist nicht mehr klar zu definieren, sondern ist zu einem diffusen Suchen nach weiteren Therapiemöglichkeiten geworden. In vielen Fällen bedeutet das Ausreizen von therapeutischen Möglichkeiten jedoch eine Verlängerung des Leidens- und Sterbeprozesses. Die unverzichtbaren medizinischen Techniken bringen die Paradoxie mit sich, dass sich der Patient entscheiden muss, ob und wie die Technik in seinem Fall angewendet werden soll.
In dieser Arbeit werden zunächst die für das Verständnis der Thematik notwendigen Begrifflichkeiten definiert und zugleich juristische Aspekte benannt. Dann sollen exemplarisch die Vorgehensweise der schweizerischen Organisation Exit und die Praxis der aktiven Sterbehilfe in den Niederlanden vorgestellt werden.
Um sich der ethischen Kontroverse anzunähern, bedarf es zunächst einer Untersuchung von sozialen Einflussfaktoren, die in der Debatte um Sterbehilfe häufig angeführt werden. Im Hauptteil der Arbeit erfolgt die ethische Auseinandersetzung mit aktiver Sterbehilfe und Suizidbeihilfe unter Bezugnahme auf die ethischen Werte Autonomie und Menschenwürde. In Ergänzung zu den ethischen Aspekten werden christlich-theologische Argumentationen zum Thema angeführt und Schlussfolgerungen für Kirche und Theologie abgeleitet. Da die Auseinandersetzung um menschenwürdiges Sterben immer in Abhängigkeit mit der klinischen Praxis stattfindet, sollen ebenso Konsequenzen für die Medizin und Pflege angeführt werden. Dabei liegt ein Fokus auf der Patientenautonomie und dem Fachbereich Palliative Care.
Ziel der Arbeit soll eine Betrachtung aus individualethischer Perspektive sein. Dazu gilt es befürwortende wie ablehnende Positionen aufzuzeigen. Im Fazit soll eine Entscheidung zur Sterbehilfe – wenn möglich – auf ethischer Ebene getroffen werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Begriffsbestimmungen und Rechtsgrundlagen
2.1 Sterbehilfe
2.2 Sterbebegleitung
3. Praktische Umsetzung
3.1 Die so genannte Sterbehilfeorganisation „Exit“
3.2 Das niederlandische Modell der aktiven Sterbehilfe
4. Soziale Einflussfaktoren
4.1 Arzt-Patient-Beziehung
4.2 Gesellschaftliche Einflusse und Folgen
4.3 Zwischenfazit: Orientierung fur den Einzelfall?
5. Ethische Argumentationen
5.1 Autonomie
5.1.1 Autonomie als normativer Anspruch
5.1.2 Autonomie und Sterben
5.2 Menschenwurde
5.2.1 Zum Begriff der Menschenwurde
5.2.2 Was macht den Menschen aus?
5.2.3 Menschenwurde am Lebensende
5.3 Zwischenfazit: Der Wunsch zu sterben - autonom und menschenwurdig!?
6. Theologische Aspekte
6.1 Theologisch-ethische Aspekte
6.2 Positionen der Kirchen
6.3 Beitrag von Kirche und Theologie
7. Konsequenzen fur Medizin und Pflege
7.1 Schutz der Patientenautonomie
7.2 Palliative Care
8. Fazit
9. Literaturverzeichnis
10. Abkurzungsverzeichnis
1. Einleitung
Wiederholt wird in Deutschland in den letzten Jahren uber die Selbstbestimmung im Sterbeprozess debattiert. Man diskutiert uber die Gultigkeit von Patientenverfugungen, rechtmaBigem Behandlungsabbruch und daruber, ob die Totung von unheilbar Kranken auf deren ausdrucklichen Wunsch hin nicht nur ausnahmsweise moglich, sondern ein ethisches Erfordernis sein kann.1 Das folgende Interview, veroffentlicht am 09.07.2008 auf Spiegel Online, verdeutlicht die Sicht einer Patientin mit aussichtsloser, sog. in- fauster Prognose:
„Seit 65 Jahren leidet Ingrid Sander an Kinderlahmung. Sie hat chronische Schmerzen, ihre Nerven sterben ab, die Muskeln schwinden. Die 70-Jahrige will selbstbestimmt sterben undfordert: ,Ein Arzt darf sich nicht strafbar machen, wenn er mir die notigen Medikamente verschreibt.’ [...]
Spiegel Online: Geht es Ihnen so schlecht?
Sander: Mein Korper ist vollig verbraucht, er wird vom Schmerz beherrscht. Vor einiger Zeit habe ich noch geglaubt, man brauche sich davon nur abzulenken und ein paar Pillen zu nehmen. Doch das funktioniert nicht mehr. [...]
Spiegel Online: Aber es gibt doch Schmerzmittel, die helfen, heifit es immer wieder.
Sander: Das ist eine dreiste Luge, wenn behauptet wird, mit Opiaten konne man alle Schmerzen in den Griff bekommen. Jeder, der damit zu tun hat, weiB das. Auch die Arzte in den Hospizen wissen es, sie sagen es nur nicht offentlich. Erst am letzten Wochenende hatte ich wieder so einen Schmerz- anfall, der springt einen plotzlich an wie ein Tiger. Das Morphin begann erst Stunden spater zu wir- ken, bis dahin macht man die Holle durch. [...]
Spiegel Online: Gibt es keine Aussicht auf Besserung?
Sander: Ich merke, dass es immer weniger wird, was ich machen kann, dass ich immer weniger Kraft habe. Meine Nerven sterben ab, meine Muskeln schwinden. Ich befinde mich auf einer schiefen Ebene, die zwangslaufig in den Tod fuhrt. Standig verschlechtert sich mein Zustand. Seit letztem Jahr kam Diabetes und ein Lymphstau hinzu. Ich muss nachts Sauerstoff inhalieren, mehrere Sturze zertrummerten das rechte Knie, den rechten Oberschenkel. Es ist nur noch ein verzweifeltes Rudern gegen den Strom. [...]
Spiegel Online: Wie mochten Sie sterben?
Sander: In einem Bett, zu Hause. Und nicht erst, wenn ich zum besinnungslosen Fleischklumpen mutiert bin. Ich mochte mein Ende bewusst gestalten. Ich will mich von meinen Kindern und Freun- den verabschieden und dabei diesen Cocktail trinken, um friedlich zu entschlummern. Wenn sie wol- len, dann sollten sie dabei sein konnen, ohne Angst vor Strafen.
Spiegel Online: Was hindert Sie daran, diesen Plan zu verwirklichen?
Sander: Ich komme weder legal noch illegal an einen solchen Cocktail. Ich habe auch keine 6000 Euro, um damit zum Sterben in die Schweiz zu fahren. Selbstbestimmtes Sterben mit Begleitung muss endlich auch hier in Deutschland legal werden. Ein Arzt darf sich nicht strafbar machen, wenn er mir die notigen Medikamente verschreibt. Es durfen ihm auch keine standesrechtlichen Sanktionen drohen, wie das jetzt noch der Fall ist. Der selbstbestimmte Tod muss endlich entmystifiziert werden. Niemand darf da durch neue Gesetze in eine Grauzone von Kriminalitat und Illegalitat hineinge- drangt werden.
Spiegel Online: Wann ist fur Sie der Tag zum Sterben gekommen?
Sander: Noch nicht heute oder morgen. Ich brauche ja Hilfe bei der Beschaffung und Einnahme meines Sterbetrankes. Das will gut vorbereitet sein. Ich bin bereit, ein Prazedenzfall zu sein, das ist mein gutes Recht. Vielleicht dauert es noch eine Weile. Bis dahin will ich noch jede gute Stunde ge- nieBen. Die Freuden werden kleiner, aber jede ertragliche Nacht lasst mich noch etwas langer leben. Ich bin ja nicht lebensmude, ich bin nur Realist und weiB, es geht irgendwann nicht mehr. Den Tag, an dem ich sterbe, mochte ich dann selbst bestimmen.“2
Die Patientin prognostiziert, dass ihr Leiden in Zukunft so ihre Lebensqualitat vermin- dern wird, dass sie andere um Hilfe bitten wird, ihr Leben beenden zu konnen. Aus ethi- scher Sicht ist fraglich, ob man ihr das Recht auf einen derart selbstbestimmten Tod zusprechen kann. Zeigt sich in der Bestimmung des eigenen Todeszeitpunktes die hochste Form der Autonomie des Individuums oder sind wir nicht gerade dann, wenn wir um Lebensbeendigung bitten, vollig unfrei, weil unser Leben durch ein schweres Leid fremdbestimmt wird?
Ein weiterer moralischer Aspekt bezieht sich auf diejenigen, die der Frau beim Suizid helfen bzw. wenn sie selbst nicht mehr dazu in der Lage ware, die die Totungshandlung an ihr vornehmen wurden. Wann darf man jemandem darin zustimmen, dass sein Leben nicht mehr lebenswert ist?
Auf die Gesellschaft bezogen lasst sich feststellen, dass abgesehen von den offentlichen Diskussionen Tod und Sterben im Allgemeinen Themen sind, die lieber vermieden werden. Viele Menschen haben Angst vor einem eigenen qualvollen Sterben und furch- ten ebenso den Verlust naher Angehoriger. Als Grund fur diese Befurchtung kann die Sakularisierung angefuhrt werden, da der christliche Glaube an ein Leben nach dem Tod fur viele Menschen nicht mehr als Trost und Hoffnung dient. Daneben ist aber auch der medizinische Fortschritt einhergehend mit einer zunehmenden Technisierung ein Grund dafur, dass sich das gesellschaftliche Meinungsbild zum Sterbeprozess modifi- ziert hat.3 Der Punkt, an dem Arzte4 wie fruher sagen konnten, „hier ist nichts mehr zu machen“ ist nicht mehr klar zu definieren, sondern ist zu einem diffusen Suchen nach weiteren Therapiemoglichkeiten geworden. In vielen Fallen bedeutet das Ausreizen von therapeutischen Moglichkeiten jedoch keine Verbesserung der Lebensqualitat, sondern eine Verlangerung des Leidens- und Sterbeprozesses. Gleichzeitig steht es auBer Frage, dass die medizinischen Techniken unverzichtbar sind. Dabei bringen sie allerdings die
Paradoxie mit sich, dass sich der Patient entscheiden muss, ob und wie die Technik in seinem Fall angewendet werden soll.5
In dieser Arbeit werden zunachst die fur das Verstandnis der Thematik notwendigen Begrifflichkeiten definiert und zugleich juristische Aspekte benannt (Kapitel 2), da die- se zur Definition beitragen. Dann sollen exemplarisch die Vorgehensweise der schwei- zerischen Organisation Exit und die Praxis der aktiven Sterbehilfe in den Niederlanden vorgestellt werden (Kapitel 3).
Um sich der ethischen Kontroverse anzunahern, bedarf es zunachst einer Untersuchung von sozialen Einflussfaktoren, die in der Debatte um Sterbehilfe haufig angefuhrt werden (Kapitel 4). Im Hauptteil der Arbeit (Kapitel 5) erfolgt die ethische Auseinanderset- zung mit aktiver Sterbehilfe und Suizidbeihilfe unter Bezugnahme auf die ethischen Werte Autonomie und Menschenwurde. In Erganzung zu den genuin ethischen Aspek- ten werden christlich-theologische Argumentationen zum Thema angefuhrt und Schlussfolgerungen fur Kirche und Theologie abgeleitet (Kapitel 6). Da die Auseinan- dersetzung um menschenwurdiges Sterben immer in Abhangigkeit mit der klinischen Praxis stattfindet, sollen ebenso Konsequenzen fur die Medizin und Pflege angefuhrt werden. Dabei liegt ein Fokus auf der Patientenautonomie und dem Fachbereich Palliative Care (Kapitel 7).
Die Entscheidung fur oder gegen assistierten Suizid oder aktive Sterbehilfe liegen so- wohl beim Patienten als auch beim Arzt.6 Da die Arbeit aber nicht in erster Linie auf Handlungsempfehlungen fur die Arzteschaft abzielt, sondern aus individualethischer Perspektive argumentiert, ob jemand prinzipiell uber den eigenen Todeszeitpunkt bestimmen darf, werden die Beihilfe zum Suizid und die aktive Sterbehilfe nicht durch- gangig differenziert und haufig allgemein als Sterbehilfe benannt. Wenn doch eine dif- ferenzierte Betrachtungsweise notig ist oder nur auf eine Mafinahme Bezug genommen wird, wird dies explizit benannt. Des Weiteren ist es unumganglich bestimmte Aspekte aus der Argumentation weitestgehend auszuklammern. So kann auf die prinzipielle Un- verfugbarkeit des menschlichen Lebens nur im Zusammenhang mit anderen Aspekten, jedoch nicht im Besonderen eingegangen werden. Desgleichen werden der moralische Unterschied zwischen Handeln und Unterlassen, das Dilemma des Sterbewunsches bei psychischen Erkrankungen sowie die Sterbehilfe in der Neonatalogie nicht naher analy- siert, da sie den Rahmen der Arbeit uberschreiten wurden.
Ziel der Arbeit soll folglich eine Betrachtung aus individualethischer Perspektive sein. Dazu gilt es befurwortende wie ablehnende Positionen aufzuzeigen. Im Fazit (Kapitel 8) soll eine Entscheidung zur Sterbehilfe - wenn moglich - auf ethischer Ebene getroffen werden. Zumindest soll auch anhand der sozialen, praktischen und theologischen As- pekte begrundet Stellung bezogen werden.
2. Begriffsbestimmungen und Rechtsgrundlagen
Auch wenn sich diese Arbeit in erster Linie mit den Bereichen der aktiven Sterbehilfe und der Beihilfe zum Suizid auseinandersetzt, ist es unumganglich auch weiterfuhrende Begriffe zu konkretisieren. Nur durch die Abgrenzung von anderen medizinischen und pflegerischen Mabnahmen am Lebensende konnen die aktive Sterbehilfe und die Beihilfe zum Suizid fur das Verstandnis der darauf folgenden Argumentationen hinreichend definiert werden. Nur schlagwortartige Bestimmungen reichen nicht aus, um die haufig synonym oder modifiziert verwendeten Begriffe7 zu verdeutlichen. Auberdem ist es nahe liegend, in diesem Zusammenhang gleichzeitig auf die juristischen Gegebenheiten einzugehen.
2.1 Sterbehilfe
Die Sterbehilfe bzw. das medizinisch assistierte Sterben meint medizinische Mabnahmen, die direkt oder indirekt, intendiert oder konzediert zum Tod eines Menschen fuh- ren, also eine Hilfe zum Sterben. Kritisiert wird vielfach der Terminus „Hilfe“, da hier- durch zum einen deutlich wird, dass Mediziner oder Pflegende als Handelnde dem Pati- enten zu etwas „verhelfen“. Zum anderen wird der Ausdruck als zu affirmativ fur die strafbare aktive Sterbehilfe angesehen. Die Bundesarztekammer spricht sich deshalb fur die Verwendung des Begriffes „Sterbebegleitung“ aus.8 In dieser Arbeit soll trotz der genannten Kritik der Terminus „Sterbehilfe“ verwandt werden, um eine einfache Ver- standlichkeit zu sichern.
Aktive Sterbehilfe (auch „Sterbenachhilfe“9 ) bezeichnet medizinische Mafinahmen bei Schwerkranken oder Sterbenden, die den Tod vorzeitig verursachen. Dies kann z.B. durch eine todliche Injektion erfolgen. Ziel der Mafinahmen ist die Beschleunigung des Sterbens bzw. die Lebensbeendigung.10 Im weiteren Verlauf der Arbeit soll primar die freiwillige Form11 der aktiven Sterbehilfe betrachtet werden, d.h. dass davon ausgegan- gen wird, dass der Patient um eine Totungshandlung bittet und er der Mafinahme be- wusst und ohne jeden Zwang zustimmen kann.12
Juristisch wird die aktive Sterbehilfe in Deutschland als Totung auf Verlangen bestimmt und damit ist sie strafbar. Es handelt sich hierbei um ein Totungsdelikt nach §216 StGB, bei dem die sog. Tatherrschaft beim Helfer liegt.13 Das Strafmafi wird jedoch verhalt- nismafiig gering gehalten (6 Monate bis 5 Jahre Freiheitsentzug14 ).
Wahrend in den meisten anderen Landern auch der Begriff Euthanasie fur aktive Sterbehilfe Verwendung findet, ist dieser Begriff in Deutschland seit dem Nationalsozialis- mus mit der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ behaftet und deshalb zu meiden.15 Etymologisch bedeutet der griechische Begriff soviel wie guter oder sanfter Tod („eu“ = gut, „thanatos“ = Tod) und in der Antike bezeichnete er ursprunglich die Idee eines wurdevollen und schmerzfreien Todes nach einem vollendeten Leben.16 Mit Roger Bacon (1219-1294) gewann der Begriff die Bedeutung der absichtlichen Herbeifuhrung des Todes auf Wunsch eines unheilbar kranken Menschen im Sinne der oben beschrie- benen aktiven Sterbehilfe.17
Im Dritten Reich fand ab 1939 eine Umsetzung der schon in der Weimarer Republik diskutierten Vernichtung „lebensunwerten“ Lebens statt. In einem vom Hitler-Regime geheim gehaltenen Euthanasieprogramm wurden in getarnten Vernichtungszentren mehr als 160 000 Kinder und Erwachsene getotet, deren Leben aufgrund von Behinde- rungen, psychischen Erkrankungen oder anderen Ursachen als „lebensunwert“ erachtet wurde18
Wegen dieser Vorgeschichte ist der Terminus Euthanasie hochst emotional besetzt und gibt u.a. Anlass zu Misstrauen in die Arzteschaft.19 Deshalb soil er auch in dieser Arbeit aufier in Zitaten keine Verwendung finden.
Passive Sterbehilfe lasst sich als das Zulassen von Sterben definieren. Lebenserhaltende MaBnahmen werden eingestellt oder gar nicht erst aufgenommen. Die medizinische Versorgung beschrankt sich auf eine Basisversorgung.20 D.h., „verzichtet werden kann insbesondere auf alle lebensverlangernden MaBnahmen wie insbesondere kunstliche Wasser- und Nahrungszufuhr, Sauerstoffzufuhr, kunstliche Beatmung, Medikation, Bluttransfusion und Dialyse.“21 Die Bundesarztekammer legt in ihren Grundsatzen zur arztlichen Sterbebegleitung fest, dass vorrangig keine Verlangerung des Leidens be- wirkt werden soll, wenn der Eintritt des Todes vorhersehbar ist.22
Auch wenn es mitunter aktive Handlungen des Behandelnden sind, wie z.B. das Ab- schalten des Beatmungsgerates, wird der Vorgang als passive Sterbehilfe definiert, da der Patient wieder dem ursprunglich ablaufenden Sterbeprozess uberlassen wird.23 Unter indirekter Sterbehilfe versteht man MaBnahmen bei Sterbenden und Schwerst- kranken, die dazu dienen, Leiden zu mindern. Als Nebenwirkung kann eine Beschleuni- gung des Sterbeprozesses in Kauf genommen werden. Z.B. kann die Verabreichung von Morphinen zur Schmerztherapie dazu fuhren, dass sich die Lebenserwartung verringert. Vorrangiges Behandlungsziel ist dennoch die Leidensminderung und nicht die Sterbe- prozessbeschleunigung.24
Als „terminale“ oder auch ,palliative“ Sedierung wird der Einsatz von sedierenden Me- dikamenten in der Sterbephase bezeichnet. Sedativa sind Medikamente, die das Schmerzempfinden reduzieren und eine Bewusstlosigkeit verursachen konnen. Von einer terminalen Sedierung im engeren Sinne kann nur gesprochen werden, wenn die Medikamente in der finalen Lebensphase eingesetzt werden und der Patient vor seinem Tod das Bewusstsein nicht wiedererlangt. Die Legitimitat einer Sedierung am Lebens- ende ist noch nicht hinlanglich geklart. Sofern sie der Leidensminderung dient, ist sie als indirekte Sterbehilfe zu klassifizieren und demnach erlaubt. Wenn sie das Ziel ver- folgt, das Leben vorzeitig zu beenden, ist sie als aktive Sterbehilfe illegitim.25 Passive und indirekte Sterbehilfe gelten in Deutschland juristisch als zulassig, vorausge- setzt der erklarte oder mutmabliche Wille des Patienten liegt vor und der Sterbeprozess hat begonnen oder es besteht eine infauste Prognose.26
An den dargestellten Terminologien wird kritisiert, dass eindeutige Unterscheidungen nicht in allen Fallen moglich sind und die Begrifflichkeiten sogar Verunsicherungen in der Arzteschaft hervorrufen. An der Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe wird beispielsweise beklagt, dass auch das Unterlassen von Handlungen eine aktive Entscheidung des Arztes voraussetzt bzw. dass das Einstellen von Mabnahmen u.U. auch eine aktive Handlung sein kann. Ebenso ist der Terminus der indirekten Sterbehilfe umstritten: Mit der Verabreichung von schmerzstillenden Medikamenten sei weder direkt noch indirekt der Tod des Patienten intendiert und somit werde die eigent- liche Mabnahme, die per se der Leidensminderung diene, mit dem Begriff nicht erfasst. Gleichwohl kann eine aktive Sterbehilfe als indirekte Sterbehilfe verschleiert werden.27 Die Beihilfe zur Selbsttotung/zum Suizid, die Freitodbegleitung bzw. der assistierte Sui- zid ist grundsatzlich ahnlich einzuschatzen wie die aktive Sterbehilfe, da es sich auch hier um Mabnahmen der sog. Sterbenachhilfe handelt, also Mabnahmen, die den Tod eines Menschen auf dessen Wunsch hin herbeifuhren sollen. Allerdings ist die Beihilfe zum Suizid systemisch anders zu klassifizieren: Hierbei liegt namlich die Tatherrschaft beim Suizidenten und dieser macht sich nach geltendem Recht in Deutschland mit einer Selbsttotung nicht strafbar. Auch derjenige, der dem Suizidenten bei den Suizidvorbe- reitungen hilft (meistens durch Beschaffung eines todlichen Medikaments), macht sich nicht strafbar, solange er nicht die Tatherrschaft ubernimmt.28 Allerdings kann er sich wegen unterlassener Hilfeleistung (§13 StGB) oder u.U. auch wegen Totung auf Ver- langen (§216 StGB) strafbar machen.29 Die Bundesarztekammer gibt an, dass eine Mit- wirkung bei einer Selbsttotung dem arztlichen Ethos widerspricht.30 Im europaischen Ausland sind die aktive Sterbehilfe und die Beihilfe zum Suizid unter bestimmten Bedingungen erlaubt. Da die dortigen Vorgehensweisen und Erfahrungen
immer wieder zur Debatte um Sterbehilfe in Deutschland herangezogen werden, sollen sie im dritten Kapitel beispielhaft vorgestellt werden.
2.2 Sterbebegleitung
Sterbebegleitung meint die Sterbehilfe im eigentlich arztlichen Sinn, namlich die Hilfe im Sterben. Sterben ist fur manche Menschen ein langwieriger und sehr schwerer Pro- zess, im dem sie viel Zuwendung benotigen. Wenn sich abzeichnet, dass ein Patient im Sterben liegt, also eine irreversible Krankheit oder ein Trauma mit infauster Prognose besteht, ist es die Pflicht aller Behandelnden, dem Sterbenden durch Beistand und Pfle- ge zu helfen.31
Mabnahmen der Sterbebegleitung konnen in den Bereich der passiven Sterbehilfe fallen. Arzte und Pflegende sind dazu verpflichtet, alles zu versuchen, um die Leiden des Patienten moglichst gering zu halten. Ob damit eine Beschleunigung des Sterbeprozes- ses erfolgt, ist in dem Fall zweitrangig. Aber nicht nur die physische Hilfeleistung ist geboten, der sicherlich wichtigste Aspekt der Sterbebegleitung liegt in der psychischen Betreuung. Viele Menschen haben Angst, in Einsamkeit zu sterben und gerade in der Ambivalenz zwischen dem Wunsch zu sterben und dem Wunsch geheilt zu werden, benotigen Sterbende Begleitung und Einfuhlungsvermogen der Betreuungspersonen.32 Zur Verbesserung der Sterbebegleitung dienen Palliativmedizin/-pflege und Hospize, bei denen Mabnahmen angewandt werden, die ausschlieblich die Symptome und nicht mehr die Ursachen einer Erkrankung therapieren. Das Behandlungsziel liegt im Erhalt einer moglichst hohen Lebensqualitat. Wahrend Palliativstationen meist in ein Kran- kenhaus integriert sind, sind Hospize eigenstandige Einrichtungen.33 In Hospizen befin- den sich die Patienten stets in der letzten Lebensphase, so dass hier auch von „terminal care“ gesprochen werden kann.34
3. Praktische Umsetzung
Die praktische Umsetzung von Beihilfe zum Suizid und aktiver Sterbehilfe kann im Rahmen dieser Arbeit nicht erschopfend ausgearbeitet werden. Deshalb sollen exempla- risch die schweizerische Sterbehilfeorganisation Exit, die Freitodbegleitungen (FTB) anbietet, und die niederlandische Praxis der aktiven Sterbehilfe vorgestellt werden. Fer- ner kann keine ausfuhrliche Kritik zu den Praktiken vorgenommen werden, da sich die Arbeit in erster Linie mit den ethischen Aspekten der Sterbehilfe befasst.
3.1 Die so genannte Sterbehilfeorganisation „Exit“
In der Schweiz ist die Beihilfe zum Suizid keine strafbare Handlung, sofern nicht aus selbstsuchtigen Motiven gehandelt wird. Aufgrund dieser gefestigten Rechtssprechung konnten sich mehrere Sterbehilfeorganisationen35 wie Exit, Dignitas und Suizidhilfe etablieren.36 An dieser Stelle soll die Organisation Exit vorgestellt werden, da sie bei- spielsweise im Vergleich zu Dignitas serioser erscheint und eine ausufernde Rezension praktischer Kritikpunkte vermieden werden soll.
Die schweizerische Organisation Exit wurde 1982 auf Initiative von Hedwig Zurcher und Walter Baechi gegrundet und stellt mit ca. 50 000 Mitgliedern die grobte Sterbehilfeorganisation in der Schweiz dar. Prasident dieser „Vereinigung fur humanes Sterben“ ist derzeit Hans Wehrli. Eine Mitgliedschaft ist nur fur Burger der Schweiz oder Aus- lander mit einem Wohnsitz in der Schweiz moglich und kostet jahrlich 35 CHF, eine Mitgliedschaft auf Lebenszeit kostet 600 CHF.37
In der Eigendarstellung betont die Organisation, dass die FTB nicht ihre wichtigste Ta- tigkeit ist. Das macht sie daran fest, dass sie durchschnittlich 150 Menschen pro Jahr eine FTB ermoglicht und dass dies in Relation zur Mitgliederzahl eine verhaltnismabig niedrige Anzahl ist.38
Als Voraussetzungen fur eine FTB gelten nach Exit:
- „Urteilsfahigkeit
- Wohlerwogenheit und Stabilitat des Todeswunsches
- Hoffnungslose Prognose, unertragliche Beschwerden oder unzumutbare Be hinderung.“39
Diese Voraussetzungen werden im Weiteren zwar noch konkretisiert, bleiben aber in- terpretierbar. Auberdem benennt Exit nicht eindeutig, ob sie auch Nicht-Mitgliedern sowie Menschen aus dem Ausland eine FTB ermoglicht. Sie distanziert sich zwar da- von, raumt aber Ausnahmefalle ein.40
Durchgefuhrt wird die FTB nach einem aufklarenden Vorgesprach. Wenn die Person als urteilsfahig befunden wird und der Todeswunsch sicher eruiert werden kann, wird durch den Hausarzt oder einen Vertrauensarzt von Exit das Barbiturat Natrium-Pentobarbital (NaP) verschrieben. Dieses wird zu einem selbstbestimmten Termin im individuellen Rahmen dem Sterbewilligen durch ein Mitglied des FTB-Teams in Anwesenheit eines Dritten uberbracht. Die eigentliche Applikation des Barbiturates muss jedoch durch den Sterbewilligen selbst erfolgen, d.h. er muss das in Wasser geloste Barbiturat trinken oder bei einer intravenosen Zufuhr den Infusionshahn offnen. Nach Eintritt des Todes erfolgt eine Legitimitatskontrolle durch die Polizei.41
In einer Studie des schweizerischen Nationalfonds „Suizidbeihilfe durch die Organisati- onen Exit Deutsche Schweiz und Dignitas“ unter der Leitung von Georg Bosshard wur- den Praktiken und Klientel der Sterbehilfeorganisationen von 2001 bis 2004 unter- sucht.42 Von den 147 Menschen, die in diesen Jahren von Exit in den Tod begleitet wur- den, waren 65% Frauen. Des Weiteren wurde nur in Ausnahmefallen (3%) Auslandern Suizidbeihilfe geleistet. Das Durchschnittsalter der Klienten lag bei 77 Jahren. Der An- teil derjenigen, die an einer Krankheit mit infauster Prognose litten, lag bei 67%. Bei den anderen 33% der Klienten ohne eine unheilbare Krankheit handelte es sich meist um altere Menschen mit multimorbiden Krankheitszustanden. Der Anteil dieser Perso- nengruppe ohne infauste Prognose lag zwischen 1990 und 2000 noch bei 22%, ist also deutlich gestiegen.43
In Einzelfallen wurde auch psychisch Kranken eine FTB ermoglicht, so waren es bei Exit drei Personen (2%), die an einer Depression litten.44 Auch wenn die Sterbehilfe- mafinahmen in diesen Fallen von begleitenden Arzten und Untersuchungsbehorden als rechtmafiig eingestuft wurden, sind sie doch aufgrund einer zweifelhaften Zurechnungs- fahigkeit der Klienten umstritten.
Dass eine Suizidbeihilfe vermehrt bei alteren Menschen mit schlechtem Gesundheitszu- stand jedoch ohne eine explizit lebensbedrohliche Erkrankung durchgefuhrt wird, liegt laut der Forschungsgruppe an einer seit den 1990er Jahren gelockerten Praxis von Exit.
Die Organisation hatte angekundigt, sich auch fur alte und lebensmude Menschen zu offnen.45
Die Kritik, der sich Exit vorrangig zu stellen hat, bezieht sich auf die Diagnosestellung und die Betreuung der Kranken. So konnte festgestellt werden, dass in manchen Fallen die Diagnosestellungen falsch oder ungenugend waren. So zeigte eine gerichtsmedizini- sche Untersuchung bei einer Suizidentin, dass sie nicht an einem Lungenkarzinom litt, wie es Exit im Vorfeld diagnostiziert hatte, sondern an einer chronischen Bronchitis.
Des Weiteren wird der Vorwurf erhoben, dass in vielen Fallen die Suizidbeihilfe zu voreilig durchgefuhrt wurde. In einigen Fallen zwischen 1992 und 1999 lagen weniger als sieben Tage zwischen dem ersten Kontakt zu Exit und dem assistierten Suizid. Ge- rade weil Erfahrungen aus der Palliativmedizin zeigen, dass ein Sterbewunsch bei guter Betreuung in den meisten Fallen nur vorubergehend ist oder ernsthafte Suizidversuche nur selten wiederholt werden, ist fraglich, wie gut die verzweifelten Menschen, die sich an die Sterbehilfeorganisationen wenden, tatsachlich beraten werden.46
3.2 Das niederlandische Modell der aktiven Sterbehilfe
Obwohl eine Totung auf Verlangen nach niederlandischem Strafgesetzbuch mit bis zu zwolf Jahren Freiheitsentzug strafbar ist, findet sie de facto statt.47 Grundlage dafur ist ein neues Gesetz vom 01.04.2002, dem schon Neuregelungen von 1994 und 1998 vo- rausgegangen sind und das Sterbehilfe unter bestimmten Bedingungen legalisiert.48 Das Gesetz soll dazu dienen, die Handlungen von Medizinern im Bereich der Sterbehilfe transparent zu machen, die Kontrolle der Praxis soll sichergestellt werden und die medizinisch sorgfaltige Ausfuhrung von lebensbeendenden Mafinahmen soll gefordert werden.
Gesetzeskonform ist eine Sterbehilfemafinahme nach diesem Gesetz, wenn der Patient die lebensbeendenden Mafinahmen wunscht und der Wunsch frei, reiflich erwogen und anhaltend ist. Dabei muss ein unertragliches Leiden bestehen, welches nicht mehr the- rapierbar ist. Arztliche Sorgfaltskriterien mussen eingehalten werden und ein weiterer Mediziner muss hinzugezogen werden. Aufierdem muss eine regionale Kontroll-Kom- mission bestehend aus einem Juristen, einem Arzt und einem Ethiker eingeschaltet wer- den, die den Fall bewertet. Der Arzt und der Leichenbeschauer mussen einen Bericht fur die Kommission anfertigen, aus dem hervorgeht, dass die Konditionen fur eine legale Sterbehilfe erfullt worden sind. Aufierdem muss der Leichenbeschauer Meldung an den Staatsanwalt machen. Im Fall eines ernsthaften VerstoBes darf der Staatsanwalt die Lei- che ohne weitere Untersuchungen nicht zur Bestattung freigeben.
Weiterhin legt das Gesetz fest, dass auch Minderjahrige zwischen zwolf und 16 Jahren Sterbehilfe erhalten konnen, wenn ihre Eltern einwilligen. Bei Minderjahrigen ab 16 ist die Einwilligung der Eltern nicht erforderlich, aber sie sollen in den Entscheidungspro- zess einbezogen werden. Auch wird geregelt, dass eine Patientenverfugung zur Legali- sierung der Sterbehilfe beitragen kann, wenn ein Patient darin - fur den Fall, dass er nicht mehr bei Bewusstsein oder unzurechnungsfahig ist - seinen Wunsch nach lebens- beendenden MaBnahmen festgehalten hat. Dennoch verpflichtet sie einen Arzt im Ein- zelfall nicht zur Sterbehilfe.49
Die niederlandische Regierung hat sich erhofft, mit der Legalisierung der aktiven Sterbehilfe die Zahl der illegal durchgefuhrten MaBnahmen eindammen und mehr Kontrolle erlangen zu konnen. Jochemsen stellt allerdings fest, dass eine angemessene Kontrolle der lebensbeendenden MaBnahmen nicht stattfindet. Falle von Sterbehilfe ohne aus- drucklichen Wunsch des Patienten werden nicht gemeldet und viele Handlungen der Lebensbeendigung oder intensiven Schmerztherapie lagen in einer Grauzone. Dennoch habe die Gesetzesanderung einen Einfluss auf die gesellschaftliche und arztliche Akzep- tanz der Sterbehilfe und sie signalisiere einen Umdenkprozess. Denn schlieBlich musste vor der Anderung der Arzt nachweisen, dass er legal gehandelt habe und nun sei der Staatsanwalt in der Position, dass er aufdecken muss, wenn ein Arzt illegal gehandelt habe. Zudem konstatiert Jochemsen, dass die Qualitat der Beratung von Sterbenden verbesserungsbedurftig sei und in zu vielen Fallen die Entscheidung uber Sterbehilfe beim Arzt liege.50
Das groBe MaB an Verantwortung des Arztes in der Entscheidung uber Sterbehilfe be- mangelt auch Koch, da Mediziner die Position innehaben, uber die Einhaltung der Sorg- faltskriterien zu beurteilen. Sie mussen bestimmen, ob der Patient seinen Wunsch nach Sterbehilfe tatsachlich ohne Druck von AuBenstehenden geauBert hat und ob ein uner- tragliches Leiden vorliegt. Diese Entscheidung ist vor allem deshalb so schwierig, weil Leiden immer subjektiv ist und auch bei Erkrankungen bestehen kann, die theoretisch nicht unmittelbar todlich verlaufen, wie z.B. bei chronisch obstruktiven Lungenerkran- kungen. Noch grofler ist die Verantwortung des Arztes bei psychischen Erkrankungen, wo der Todeswunsch ein Symptom sein kann, oder bei komatosen Patienten, bei denen die Unertraglichkeit des Leidens uber korperliche Reaktionen wie Stohnen oder Blin- zeln beurteilt werden muss.51
4. Soziale Einflussfaktoren
Wenn jemand den Wunsch nach Beihilfe zum Suizid oder aktiver Sterbehilfe auflert, ist das wohl nie eine Entscheidung ohne externe Beeinflussungen. Im Folgenden soll zum einen die Beziehung, die zwischen Arzt und Patient besteht, charakterisiert werden, da sie einigen besonderen soziologischen Beeintrachtigungen unterliegt. Zum anderen sol- len die Einflusse, die allgemein durch die Gesellschaft auf den Einzelnen einwirken konnen, betrachtet werden. Insgesamt fallen viele der sozialen Einflussfaktoren unter die Kategorie der sog. Dammbruchargumente. Es sollen aber ebenso grundsatzliche Schwierigkeiten im Umgang mit Patienten mit schwerer oder infauster Krankheit darge- stellt werden.
4.1 Arzt-Patient-Beziehung
Die Arzt-Patient-Beziehung unterscheidet sich nach Siegrist durch das Zusammenspiel von vier Merkmalen von anderen sozialen Beziehungen, sogar von anderen Dienstleis- tungsbeziehungen:
- Differenz zwischen Hilfesuchendem und Hilfegebendem,
- Begegnung mit auflergewohnlichen, z.T. tabuisierten Lebensbereichen,
- Eingriffsrecht des Arztes in den menschlichen Korper,
- arztliche Verantwortung fur therapeutische Entscheidungen.52
In der arztlichen Ethik sei das Schutzbedurfnis des Patienten von hoher Prioritat, denn aufgrund der Merkmale wurden menschliche Grundrechte wie die freie Entscheidung oder das Recht auf Selbstverwirklichung tangiert. Des Weiteren verweise das erhohte Schutzbedurfnis des Patienten auf die drei Machtdimensionen der Expertenmacht, der Definitionsmacht und der Steuerungsmacht, die der Arzt innehabe, und die das Verhalt- nis zwischen Arzt und Patient zu einer strukturell asymmetrischen Beziehung formie- ren. Dieses Machtgefalle und die Abhangigkeit des Patienten gelte es nach Normen der personalen Ethik zu reduzieren, um so die Autonomie des Patienten zu wahren.
Als wichtigstes Moment der Asymmetriereduktion ist sicherlich die Kommunikation und Information in der Arzt-Patient-Beziehung zu nennen. Nur, wenn der Arzt seiner Aufklarungspflicht nachgekommen ist und den Patienten ausreichend uber seine Optio- nen informiert hat, kann dieser seine Einwilligungserklarung leisten.53 Wahrend das traditionelle Arzt-Patient-Verhaltnis von paternalistischen Zugen gepragt war und die Fursorgepflicht des Arztes auch Entscheidungen uber den Patienten hinweg rechtfertigte, hat sich das Beziehungsverstandnis mit dem gesellschaftlichen Wandel zur Pluralitat ebenfalls modifiziert. Die Vorstellung eines partnerschaftlichen Verhaltnisses, bei dem der autonome Patient medizinische Mafinahmen bejahen oder ablehnen kann, hat Einzug gehalten.54
Diese Moglichkeit eines „informed consent“ gibt immer wieder Anlass zur Diskussion. So wird sie einerseits als Voraussetzung fur therapeutische Mafinahmen angesehen, andererseits gilt sie als ein „Mythos“, der nie erreicht werden kann. Denn ob ein Patient auch nach einer ausfuhrlichen Aufklarung genugend relevantes Wissen besitzt, um eine real autonome und qualifizierte Entscheidung treffen zu konnen, wird bezweifelt.55 Dass Ablauf und Qualitat von entsprechenden Kommunikationsprozessen nicht ange- messen sind, postuliert Siegrist anhand von Ergebnissen aus der Kommunikationsfor- schung im Krankenhaus. So werden die Informationsbedurfnisse gerade von schwer und infaust Kranken auf Seiten der Arzte nicht ausreichend erkannt. Aufierdem wird die Information, die stattgefunden hat, von Arzten und Patienten divergierend beurteilt. Viele Patienten fuhlen sich nur defizitar informiert, obwohl die Arzte meinen, eine hinlangli- che Information gegeben zu haben. Dies ist u.a. auf die unzureichende Dauer und Qualitat arztlicher Kommunikation zuruckzufuhren.56
Ein weiteres Element neben der Kommunikation ist fur das Verhaltnis des Patienten zum Arzt konstitutiv: Vertrauen. Arztliche Dienste werden vom Patienten unter der Voraussetzung in Anspruch genommen, dass der Arzt moralisch integer und fachlich kompetent ist.
[...]
1 Vgl. Woellert/Schmiedebach (2008), 7.
2 Wensierski (2008).
3 Vgl. Woellert/Schmiedebach (2008), 7.
4 Anm.: In dieser Arbeit findet ausschlieBlich aus Grunden der einfacheren Lesbarkeit bei Personen- und Berufsbezeichnungen das generische Maskulinum Verwendung. In den entsprechenden Fallen sind eben- so weibliche wie mannliche Personen impliziert.
5 Vgl. Romelt (2002), 4-6.
6 Anm.: Aus Patientenperspektive kann man so argumentieren, dass kaum ein Unterschied zwischen den MaBnahmen besteht. In beiden Fallen muss der Wunsch zur Sterbehilfe ernstlich und frei sein und ist an die Voraussetzung einer infausten Prognose oder eines unertraglichen Leidens gebunden (Vgl. Kapitel 3.1). Eine Totung auf Verlangen kann als eine „verlangerte Selbsttotung“ betrachtet werden. Zwar uber- nimmt derjenige, der sterben will, nicht die Tatherrschaft, aber dadurch, dass der Wunsch getotet zu wer- den, vom Opfer ausgeht, entspricht die Tat seinem Willen und kann wie eine Selbsttotung betrachtet werden (Vgl. Beckmann 2004, 227). Aus der Sicht des Arztes handelt es sich ethisch betrachtet jedoch um zwei unterschiedlich zu wertende Handlungen: Im Fall der aktiven Sterbehilfe fuhrt der Arzt die Totung selbst aus und er ubernimmt die Tatherrschaft. Beim assistierten Suizid liegt die Durchfuhrung beim Suizidenten, der Arzt tragt nur bedingt eine Verantwortung.
7 Vgl. Duttge (2006), 36-38.
8 Vgl. Woellert/Schmiedebach (2008), 17f.
9 Schara/Beck (1998), 445.
10 Vgl. Woellert/Schmiedebach (2008), 19.
11 Anm.: Davon zu unterscheiden ist die nicht-fTeiwillige Sterbehilfe, bei der der Patient sich krankheits- bedingt nicht aufiern kann und sein mutmafilicher Wille ermittelt werden muss, und die unfreiwillige Sterbehilfe, die ohne Berucksichtigung des Patientenwillens oder gegen diesen durchgefuhrt wird.
12 Vgl. a.a.O., 23.
13 Vgl. Heidemann (1992), 225.
14 Vgl. StGB, §216 Abs. 1.
15 Vgl. Eibach (1976), 245.
16 Vgl. Woellert/Schmiedebach (2008), 14.
17 Vgl. Heidemann (1992), 225.
18 Vgl. Benzenhofer (1999), 109-129.
19 Vgl. Eibach (1976), 245.
20 Vgl. Woellert/Schmiedebach (2008), 18f.
21 Schara (1998), 446.
22 Vgl. Bundesarztekammer (2004).
23 Vgl. Woellert/Schmiedebach (2008), 18f.
24 Vgl. ebd.
25 Vgl. Frewer (2005), 812.
26 Vgl. Woellert/Schmiedebach (2008), 29.
27 Vgl. a.a.O., 19f.
28 Vgl. Leicht (2005).
29 Vgl. Woellert/Schmiedebach (2008), 30.
30 Vgl. Bundesarztekammer (2004).
31 Vgl. Schara (1998), 445.
32 Vgl. Heidemann (1992), 232f.
33 Vgl. Woellert/Schmiedebach (2008), 80-82.
34 Vgl. Pichlmaier (1998), 234.
35 Anm.: Der Ausdruck Sterbehilfeorganisationen ist umstritten. Kritiker bemangeln, dass durch den Aus- druck der Vollzug der Beihilfe zum Suizid beschonigt werde. Dennoch soll er aufgrund seiner hohen Gebrauchlichkeit Verwendung finden.
36 Vgl. Schachter (2004), 262-267.
37 Vgl. Exit (2007), 5; 24. Anm.: An anderer Stelle der Homepage ist der Mitgliedsbeitrag mit jahrlich 45 CHF bzw. 900 CHF fur Mitgliedschaft auf Lebenszeit angegeben (Vgl. http://www.exit.ch/wDeutschold/. Stand: 19.08.2009).
38 Vgl. a.a.O., 14.
39 Ebd.
40 Vgl. a.a.O., 9f.
41 Vgl. a.a.O., 17.
42 Vgl. Blochlinger (2008).
43 Vgl. Bosshard (2008).
44 Vgl. Blochlinger (2008).
45 Vgl. Bosshard (2008).
46 Vgl. Fantacci (2004).
47 Vgl. Zimmermann-Acklin (2000), 346f.
48 Vgl. Jochemsen (2004), 235f.
49 Vgl. a.a.O., 238f.
50 Vgl. a.a.O., 240-245.
51 Vgl. Koch (2006), 88f.
52 Vgl. Siegrist (1998), 245.
53 Vgl. ebd.
54 Vgl. Siep/Quante (2000), 40.
55 Vgl. Feuerstein/Kuhlmann (1999), 11.
56 Vgl. Siegrist (1998), 245f.
- Quote paper
- Maria Pohlmeyer (Author), 2009, Beihilfe zum Suizid und aktive Sterbehilfe im Kontext von Menschenwürde und Autonomie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/160042
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