Das Spannungsverhältnis zwischen der moralisch und völkerrechtlich verpflichtenden Anerkennung und Beachtung der elementarsten Menschenrechte auf der einen Seite und dem fast absolut geltenden Gewalt- und Interventionsverbot auf der anderen trat nach dem Ende des Kalten Krieges offen zu Tage. Seit dem dreht sich die Diskussion im Völkerrecht verstärkt um die moralische und rechtliche Zulässigkeit der sogenannten Humanitären Intervention. Es gibt Tendenzen, dass im Extremfall einer drohenden massiven Verletzung der Menschenrechte die staatliche Souveränität und das Gewaltverbot ein Eingreifen nicht verhindern dürfen. Diskussionsbedürftig ist dabei einerseits das Verhältnis von (moralischer) Legitimität und der völkerrechtlichen Legalität solcher Interventionen und andererseits die Kompetenzzuweisung, also die Frage, ob allein die Vereinten Nationen in Form einer Sicherheitsratsresolution oder bei Versagen des multilateralen Systems auch einzelne Staaten zur Humanitären Intervention berechtigt sind.
Diese Arbeit geht aus rechtswissenschaftlicher Sicht der Frage nach, ob, und wenn ja, wie sich ein bewaffnetes Eingreifen in die Souveränität eines anderen Staates aus eventuell übergeordneten, humanitären Interessen rechtfertigen lässt. Aus politikwissenschaftlicher Sicht interessiert die politische Verantwortlichkeit für Menschenrechtsprobleme und ob sich aus den Ausführungen eine Pflicht für die politischen Entscheidungsakteure zur Humanitären Intervention ableiten lässt.
Sowohl aus ethisch-moralischer als auch aus völkerrechtlicher Perspektive lassen sich gute Gründe für die Zulässigkeit einer unilateralen humanitären militärischen Intervention finden. Aber nur wenn das universelle, in der Natur des Menschen veranlagte Recht auf Leben, Freiheit und körperliche Unversehrtheit systematisch gebrochen wird und massive inhumane Verbrechen unmittelbar bevorstehen oder anhalten, lässt sich eine humanitäre militärische Intervention rechtfertigen. Wenn die menschlichen Grundlagen auf dem Spiel stehen, wird eine Humanitäre Intervention zumindest zur moralischen Pflicht, aber ein völkerrechtliches Pendant zur unterlassenen Hilfeleistung bleibt leider vorerst Utopie.
Inhalt
1. Einleitung
2. Zum Verständnis von Humanitärer Intervention. Begriffliche und inhaltliche Dimensionen
3. Warum Humanitäre Intervention? Ethische und moralische Überlegungen
4. Die Frage nach der völkerrechtlichen Legalität der Humanitären Intervention
4.1 Das Gewalt- und Interventionsverbot der Charta der Vereinten Nationen und seine Ausnahmen
4.2 Menschenrechtsnormen und ihr Geltungsanspruch im modernen Völkerrecht
4.3 Rechtliche Argumente und Kriterien für die Zulässigkeit Humanitärer Interventionen
5. Politikwissenschaftliche Wertung und Zusammenfassung
Anhang: Literatur- und Quellenverzeichnis
1. Einleitung
Nach dem Zweiten Weltkrieg, der in der historischen Abfolge der leidbringenden Kriege den bis dahin traurigsten und grausamsten Höhepunkt darstellte, wagten sich die Siegermächte an die epochale Aufgabe, ein weltweites Gemeinschaftssystem zu entwickeln, das internationale Streitigkeiten friedlich beilegen und militärische Auseinandersetzungen zumindest wirksam eindämmen und unter ein übergeordnetes Gewaltmonopol zwingen könnte. Die Vereinten Nationen erhoben die schon vor dem Zweiten Weltkrieg entwickelten Grundsätze der völkerrechtlich gleichberechtigten Souveränität der Staaten und des Gewalt- und Interventionsverbotes zu ihren obersten Prinzipien; gleichzeitig begann mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte eine neue Ära des Völkerrechts, in dem die Würde des Menschen als der elementarste und zentralste Aspekt jeglichen politischen Handelns definiert wurde.
Dieses latente Spannungsverhältnis zwischen der moralisch und völkerrechtlich verpflichtenden Anerkennung und Beachtung der elementarsten Menschenrechte auf der einen Seite und dem fast absolut geltenden Gewalt- und Interventionsverbot auf der anderen trat offen zu Tage, als nach dem Ende des Kalten Krieges die Internationale Politik von ihrer Handlungsunfähigkeit der gegenseitigen Abschreckung erlöst und gleichzeitig in die Pflicht genommen wurde, sich um die verstärkt ausbrechenden Konflikte dieser Welt und die damit einhergehenden massiven Menschenrechtsverletzungen in Form von Bürgerkriegen, Vertreibungen und Genoziden zu kümmern.
Der Golfkrieg 1990 wurde durch eine breite internationale Zustimmung und eine völkerrechtliche Legitimation durch eine Sicherheitsratsresolution nach Kap. VII CVN[1] legitimiert. Auch in Somalia, Ruanda, Bosnien-Herzegowina, Ost-Timor und anderen Konfliktregionen wertete der UN-Sicherheitsrat die Situationen als Gefährdung bzw. Bruch des Friedens und gaben der militärischen Wiederherstellung des Friedens und der Verhinderung von genozidalen Verbrechen den Vorrang vor dem Gewalt- und Interventionsverbot.
Aber schon im Kosovo wurde das Dilemma des modernen Völkerrechts deutlich. Obwohl die politischen Motive und die Art der militärischen Mittel stark umstritten waren, kann kein Zweifel daran bestehen, dass die westlichen Staaten im Kosovo-Krieg die Verhinderung von Vertreibung, Völkermord und Kriegsverbrechen zum (vielleicht auch nicht einzigen) Ziel hatten und dies nur durch militärische Gewalt möglich war. Die weltpolitischen Umstände, Nachwirkungen des Kalten Krieges, verhinderten ein rechtzeitiges Eingreifen des UN-Sicherheitsrates und zwangen die Nato, ihren Krieg ohne eine Resolution nach Kap. VII zu führen und einen nach orthodoxer Lehre klaren Völkerrechtsbruch zu begehen.
Seit dem dreht sich die Diskussion im Völkerrecht bzw. „international public law[2] “ verstärkt um die moralische und rechtliche Zulässigkeit der sogenannten Humanitären Intervention. Es gibt Anzeichen, dass, obwohl es in den letzten Jahren keine normativen Veränderungen im Völkerrecht auf diesem Gebiet gegeben hat, immer mehr Rechtsexperten und Politiker zu der Überzeugung gekommen sind, dass im Extremfall einer drohenden massiven Verletzung der Menschenrechte die staatliche Souveränität und das Gewaltverbot ein Eingreifen nicht verhindern dürfen. Diskussionsbedürftig ist dabei einerseits das Verhältnis von (moralischer) Legitimität und der völkerrechtlichen Legalität solcher Interventionen und andererseits die Kompetenzzuweisung, also die Frage, ob allein die Vereinten Nationen in Form einer Sicherheitsratsresolution oder bei Versagen der multilateralen System auch einzelne Staaten zur Humanitären Intervention berechtigt sind.
Die vorliegende Arbeit soll sich einführend mit diesen Aspekten beschäftigen und aus rechtswissenschaftlicher Sicht der Frage nachgehen, ob, und wenn ja, wie sich ein bewaffnetes Eingreifen in die Souveränität eines anderen Staates aus eventuell übergeordneten, humanitären Interessen rechtfertigen lässt. Aus politikwissenschaftlicher Sicht interessiert die politische Verantwortlichkeit für Menschenrechtsprobleme und ob sich aus den Ausführungen eine Pflicht für die politischen Entscheidungsakteure zur Humanitären Intervention ableiten lässt. Zunächst geht es darum, den vielfach unterschiedlich verwendeten Begriff der Humanitären Intervention zu definieren und einzugrenzen. Anschließend sollen die ethische Wertvorstellungen in diesen Zusammenhang vorgestellt, die Menschenrechtsvertragslage skizziert und rechtliche Argumente diskutiert werden.
Als hauptsächliche Materialbasis dienten die Lehrbücher zum Völkerrecht von Knut Ipsen[3], Wolfgang Graf Vitzthum[4] und Otto Kimminich[5], ein Aufsatz zur Humanitären Intervention von Prof. Dr. Wilfried Fiedler[6], die Dissertation zum selbigen Thema von Uwe Rünger[7] sowie der Tagungsband des Instituts für Internationale Friedenssicherung zur Humanitären militärischen Intervention[8].
2. Zum Verständnis von Humanitärer Intervention. Begriffliche und inhaltliche Dimensionen.
Um sich dem Problemfeld der „Humanitären Intervention“ zu nähern, muss vorher eine genaue Klärung dieses Begriffs stattgefunden haben, um Missverständnisse zu vermeiden, die durch unterschiedliche Prämissen, normative oder ethische Ansichten und politische Grundüberzeugungen hervorgerufen werden könnten. Da auch in der orthodoxen Völkerrechtslehre keine einheitliche Definition anerkannt ist, soll vorab beschrieben werden, wie der Begriff in der vorliegenden Arbeit verwendet und verstanden werden soll.
Im klassischen als auch im modernen Völkerrecht ist der Terminus „Intervention“ klar abgegrenzt und entwickelte sich im Zuge der Ausformung der Nationalstaaten und der damit einhergehenden Idee der Souveränität. „Intervention“ ist die „Einmischung eines Staates in die inneren und äußeren Angelegenheiten eines anderen Staates.“[9] Relativ unumstritten ist, dass auch eine Einmischung der Vereinten Nationen oder anderer multilateraler Organisationen in die „domestic jurisdiction“ bzw. „domáin reservée“ eines Staates als Intervention bezeichnet werden kann. Problematisch ist die Reichweite dieser inneren Sphäre eines Staates. Die Charta der Vereinten Nationen definiert sie ziemlich unklar in Art. 2 (7) als „Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören“. Die Völkerrechtslehre spricht von „Angelegenheiten, die der ausschließlichen staatlichen Zuständigkeit obliegen“.[10] Allerdings schwankt dieser Bereich auch je nach Vertragslage[11] sowie zeitlicher und regionaler unterschiedlicher Anerkennung. Es ist z.B. heiß umstritten, ob der Schutz der Menschenrechte heute noch der alleinigen Zuständigkeit des Staates unterliegt und ob die Anwendung des Begriffs der „Humanitären Intervention“ überhaupt noch legitim ist.[12]
Die Art und Weise der Einmischung ist für die Eingrenzung des völkerrechtlichen Begriffs „Intervention“ zweitrangig. Im Kern bedeutet Intervention, dem betreffenden Staat einen anderen als seinen eigenen Willen aufzuzwingen. Nicht nur direkte militärische Aktionen oder indirekte militärische Unterstützung, sondern auch wirtschaftliche Beeinträchtigungen, subversive Aktivitäten[13] als auch aggressive politische Beeinflussungsversuche lassen sich unter diesem Begriff subsumieren. Es wird in der Lehre zwar unterschieden zwischen dem „klassischen“ Interventionsbegriff, der den Einsatz bzw. die Androhung militärischer Gewalt gegen die territoriale Integrität beinhaltet, und dem „erweiterten“ Interventionsbegriff, der andere Gewaltformen, wirtschaftliche, politische und sonstige Zwangsmaßnahmen umfasst.[14] Ob sich das völkerrechtliche Gewalt- und Interventionsverbot nur auf die erstgenannten Aktionen erstreckt, oder ob spätestens mit der „Declaration on the Inadmissibility of Intervention in the Domestice Affairs of States and the Protection of Their Independence and Sovereignty” vom 21.12. 1965 die Generalversammlung der Vereinten Nationen jegliche Einmischung unter das ius cogens[15] des Gewalt- und Interventionsverbotes gestellt hat, ist zwar unter Völkerrechtlern stark umstritten, aber für die folgenden Überlegungen unerheblich, da Art. 2 (4) in Bezug auf militärische Aktionen eindeutig ist.
Klar ist, dass das Verhalten von Privatpersonen oder privaten Organisationen hier begrifflich nicht erfasst wird, denn das Völkerrecht adressiert grundsätzlich[16] nur Staaten als Rechtssubjekte. Eine Ausnahme läge dann vor, wenn diese Privataktionen staatlich gefördert oder geduldet würden.[17]
„Humanitär“ ist der Terminus, der den Zweck oder das Ziel der Intervention beschreiben soll. Dabei ist es zunächst gleichgültig, ob es sich um reine Hilfsaktionen wie die Lieferung von Lebensmitteln, Medikamente etc., die Errichtung von Flüchtlingslagern bzw. Schutzzonen oder eben um ein gewaltsames Eingreifen zum Schutz vor Vertreibung, Massenmord oder anderer Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt.[18]
Wenn man diese beiden Komponenten einfach zusammensetzen würde, könnte man also jedes grenzüberschreitende Verhalten eines Staates, bei dem irgendwie menschenrechtlich geartete Motive eine Rolle spielen und das nicht die ausdrückliche Zustimmung des anderes Staates hat, als „humanitäre Intervention“ auffassen. In der völkerrechtlichen Diskussion und in den Debatten der internationalen Politik hat sich jedoch eine engere Eingrenzung durchgesetzt, im allgemeinen wird unterschieden zwischen der meistens akzeptierten „Humanitären Hilfe“, also der materiellen Hilfeleistung mit Zustimmung oder Duldung des betreffenden Staates und der „Humanitären Intervention“ im Sinne militärischer oder wirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen.
Im Rahmen dieser Arbeit soll der Begriff weiter eingeschränkt werden. Da sich wirtschaftliche Druckmittel als relativ ungeeignet herausgestellt haben, einen Staat zur Veränderung seines Verhaltens zu bewegen, und sie aufgrund ihrer indirekten und langfristig wirkenden Mechanismen schon gar nicht nutzbar sind, um kurzfristig massive Verbrechen wie Vertreibung, Folter oder Massenmord zu beenden, sollen sie hier außen vor bleiben. Es geht also ganz eindeutig um gewaltsame militärische Eingriffe in das Hoheitsgebiet eines anderen Staates zur Verhinderung oder Beendigung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ein weitere Vorab – Einschränkung ist die Frage nach der Kompetenzzuweisung für Humanitäre militärische Interventionen.
Das Gewalt- und Interventionsverbot, das sowohl in der Charta der Vereinten Nationen kodifiziert ist als auch nach allgemeiner Rechtssauffassung Eingang in völkerrechtliches ius cogens bzw. Gewohnheitsrecht gefunden hat, gilt nicht nur für einzelne Staaten, sondern auch für die Vereinten Nationen selbst.[19] Zwar zweifeln einige Rechtsexperten die Anwendbarkeit von Kap. VII für Humanitäre Interventionen an, da sich dieser angeblich auf die Erhaltung des (negativen) Friedens[20] beschränke, aber es hat sich jedoch in der Praxis gezeigt, dass die überwiegende Mehrzahl der Staaten militärische Eingriffe zum Schutz der Menschenrechte als legal ansehen, wenn sie vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nach Kap. VII legitimiert wurden, da nach allgemeiner Auffassung die Achtung der Menschenrechte nicht mehr zum Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Staaten gehört. Äußerst umstritten ist allerdings, ob sich ein Recht auf oder sogar eine Pflicht zur Humanitären Intervention trotz des Gewalt- und Interventionsverbotes auch ableiten lässt, wenn der Sicherheitsrat nicht aktiv wird und sich einzelne Staaten auf höherwertigere Rechtsgüter berufen können. Letztendlich beschäftigt sich diese Arbeit also mit unilateraler militärischer Humanitärer Intervention, mit der „Verwendung militärischer Mittel durch einzelne Staaten ohne vorhergehende Autorisierung der Vereinten Nationen im Territorium eines anderen Staates mit dem Ziel, die Beachtung eines internationalen Mindeststandards der Menschenrechte sicherzustellen.“[21]
3. Warum Humanitäre Intervention? Ethische und moralische Überlegungen.
Bevor auf einer rein normativ – rechtlichen Ebene die Legalität von Humanitären Interventionen diskutiert werden soll, muss zuvor die Frage nach der Notwendigkeit einer militärischen Einmischung in die Souveränität eines anderen Staates gestellt werden. „Die Frage nach der Zulässigkeit der Humanitären Intervention fordert einen moralischen Offenbarungseid ab.“[22] Wenn man fundamentale moralische Kategorien als dem rein positiven Recht vorgelagerte Legitimationsebene nicht grundsätzlich ausschließt, führen solche Vorüberlegungen betreffs der Zulässigkeit von Humanitären Interventionen direkt in den Bereich der Rechtsethik. Selbstverständlich lassen sich die Ergebnisse einer solchen Betrachtung nicht ohne weiteres auf die positiv-völkerrechtliche Ebene übertragen und dürfen nicht verwendet werden, um pauschal Aussagen über die Legalität von Humanitären Intervention zu machen, da ansonsten die Gefahr einer rechtlich – moralischen Relativierung des Völkerrechts bestünde. Aber trotzdem ist sie notwendig für das Vorverständnis der Motive einer Humanitären Intervention, darüber hinaus ist auch das moderne Völkerrecht keine abstrakte positive Rechtsordnung im moralfreien Raum, sondern basiert auf einer ethisch-philosophischen Grundnorm, aus der sich alle anderen Normen ableiten.[23] Das dahinterstehende Prinzip ist die „Kongruenz von Recht und Moral“, d.h., dass fundamentale gesellschaftliche Unwerturteile sich auch in rechtlichen Verboten niederschlagen müssen. Eine „moralische Delegitimierung einer grundlegenden Norm des Völkerrechts kann auf Dauer nicht ohne Konsequenzen für das positive Recht bleiben.“[24]
Das tiefe ethische Dilemma, vor dem sowohl Befürworter als auch Gegner der Humanitären Intervention stehen, ist der Widerspruch zwischen dem Anspruch, die fundamentalen Menschenrechte zu verteidigen und die Zivilbevölkerungen vor massiven Verbrechen zu gegen die Menschlichkeit zu schützen, und dem nach dem 2. Weltkrieg entstandenen tiefen Wunsch, jeglichen Gewalteinsatz zu verhindern.[25]
Der Gedanke, der der Humanitären Intervention zugrunde liegt, ist der Schutz des Menschen vor lebensvernichtenden Menschenrechtsverletzungen wie z.B. Völkermord, Vertreibung, Folter, zur Not auch gegen seine eigene Staatsgewalt. Er entspringt der naturrechtlichen und christlichen Idee der unzerstörbaren Würde und Bedeutung des Menschen, die philosophisch schon bei Augustin erwähnt, in der mittelalterlichen Scholastik entwickelt und im Humanismus und in der Moralvorstellung Kants modern ausformuliert wurde. Die naturrechtliche, also vorkulturelle Menschenwürde als höchstem Wert sämtlichen menschlichen Handelns ist also das ethische Fundament für die zu verteidigenden Menschenrechte.[26]
Der Rang der Menschenwürde als höchstem Gut ist rechtsmoralisch unstrittig, anders sieht es dagegen aus, wenn man fragt, ob es auch moralisch richtig oder sogar geboten ist, dieses Gut mit Gewalt zu verteidigen, auch wenn es nicht um das eigene Leben, also um Selbstverteidigung geht.[27] Auch hier hilft wieder ein Blick zurück in die Geschichte, um die ethische Argumentation zu verstehen. Die naturrechtliche Lehre vom Gerechten Krieg beinhaltete für die Verantwortlichen die Pflicht zur Achtung der Gerechtigkeit und Menschenwürde. Neutralität war in dieser Vorstellung kein Zeichen von noblem Pazifismus, sondern von Charakterlosigkeit, der Staat hatte die Aufgabe, dem Recht zu seinem Durchbruch zu verhelfen.[28]
Modern ausgedrückt gibt es dann eine moralische Pflicht zur Hilfeleistung, wenn die Menschenwürde in einer Weise verletzt wird, die mit dem „Weltgewissen“ nicht vereinbar ist. Dabei wird oft angeführt, dass nur ein „entschlossenes und rechtzeitiges Handeln“ auf der Basis wohlüberlegter Grundsätze[29] Abhilfe schaffen könne. Das Ziel muss neben der unmittelbaren Rettung von Menschenleben auch ein Signal an alle menschenverachtende Regimes dieser Welt sein, dass der Schutz der fundamentalen Menschenrechte nicht vor der staatlichen Souveränität Halt machen wird. Dass der Einsatz von Waffengewalt ultima ratio bleiben muss, ist dabei klare Vorbedingung.[30]
Auch wenn die Gültigkeit der angeführten Moralvorstellungen nicht bezweifelt wird, gibt es rechtsethisch aber durchaus Argumente, vornehmlich praktischer Natur, die Bedenken an der Zulässigkeit Humanitärer Interventionen hervorrufen.
Die Frage der Gleichbehandlung von Menschenrechtsverletzungen, oder aus kritischer Sicht ausgedrückt die Zweifel an den lauteren Motiven, erschwert die moralische Akzeptanz der Humanitären Intervention: Warum wird in einem Fall interveniert, in anderen nicht? Wird das Etikett „humanitär“ für andere Motive, etwa wirtschaftliche oder machtstrategische, missbraucht? Die Diskussion über den Kosovo-Krieg und die gleichzeitig stattfindenden massiven Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien zeigen, dass dieses Argument aus ethischer Sicht nicht akademisch ist. Zusätzlich kommt hinzu, dass vor Beginn einer Humanitären Intervention gar nicht klar ist, ob die Menschenrechte nach einem militärischen Eingreifen wirklich besser geschützt sind als vorher. Die Frage nach der Zuständigkeit für ein Eingreifen gegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist auch umstritten. Wenn nationalstaatliche Strukturen zerbrechen, Bürgerkrieg und Chaos ausbrechen, sind nach geltendem Völkerrecht die Vereinten Nationen in der Verantwortung. Die Dominanz von vorrangig politischer Beeinflussung des Sicherheitsrates und die fehlende Gleichbehandlung aller Staaten nagen an der moralischen Autorität der UN[31], aber darf man einzelnen Staaten das Recht zugestehen, allein über das Ausmaß von Menschenrechtsverletzungen und die Notwendigkeit Humanitärer Interventionen zu entscheiden? Vor allem: Welche Menschenrechte sollen überhaupt geschützt werden? Sind sie teilbar in „fundamentale“, die unbedingt eingehalten werden müssen, und „freiwillige“? Wo ist die Grenze? Welches Ausmaß an Menschenrechtsverletzung ist Vorraussetzung für eine Humanitäre Intervention? Ist ein Krieg nicht selbst ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Und selbst wenn man sich auf einen Kern menschenrechtlicher Mindeststandards einigt: Sind sie wirklich universell, wie Anhänger der Naturrechtslehre immer gern behaupten? Vor allem im asiatischen Kulturkreis ist eine solche Vorstellung völlig unbekannt, dort wird der kollektiven Harmonie ein weit höherer Wert eingeräumt, als den Individualrechten. Nicht zuletzt ist die bestehende Völkerrechtsordnung an sich ein ethischer Wert: Da zur Weiterentwicklung des Völkerrechts mit Hilfe des Gewohnheitsrechts permanente Völkerrechtsbrüche erst einmal notwendig sind, bestünde die große Gefahr der zunehmenden internationalen Gesetzlosigkeit.[32]
[...]
[1] CVN = Charta der Vereinten Nationen. Wenn bei Kapitel- oder Artikelangaben keine näheren Erläuterungen, ist die CVN gemeint.
[2] Der englische Begriff zeigt korrekter, dass es sich eben nicht um ein Recht der Völker handelt, sondern um ein Recht der Staaten. Der deutsche Begriff leitet sich etymologisch vom römischen ius gentium ab, welches allerdings eine Art imperiales Zivilrecht war.
[3] Ipsen, Knut: Völkerrecht.4., völlig neu bearbeitete Auflage, München 1999.
[4] Vitzthum, Wolfgang Graf (Hrsg.): Völkerrecht, 2., neubearb. und erw. Aufl., Berlin / New York 2001.
[5] Kimminich, Otto / Hobe, Stephan: Einführung in das Völkerrecht, 7., völlig überarb. und erw. Aufl., Tübingen / Basel 2000.
[6] Fiedler, Wilfried: Einführung: Die „Humanitäre Intervention“ im geltenden Völkerrecht, in: http://www.jura.uni-sb.de/FB/LS/Fiedler/Lehre/0102WiSe/Einführung.pdf, Download am 1.4.2003.
[7] Rünger, Uwe: Unilaterale Humanitäre Intervention (Diss.), Hamburg 2000.
[8] Gustenau, Gustav (Hrsg.): Humanitäre militärische Intervention zwischen Legalität und Legitimität. Tagungsband des Instituts für Internationale Friedenssicherung, Wien, 1. Aufl., Baden-Baden 2000.
[9] Ipsen, S. 955ff.
[10] ebd., vgl. auch Woyke, Wichard: Intervention, in: Woyke, Wichard (Hrsg.): Handwörterbuch Internationale Politik, 8. aktual. Auflage, Bonn 2000, S. 221.
[11] z.B. innerhalb der Europäischen Union gibt es kaum noch ausschließliche einzelstaatliche Kompetenzen.
[12] Vgl. die Ausführungen von Rünger, S. 138.
[13] z.B. grenzüberschreitende Propaganda.
[14] Ipsen, S. 955ff.
[15] i. S.d. Art. 53 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge. Danach ist ein ius cogens eine „zwingende Norm des Völkerrechts, die von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt wird als eine Norm, von der nicht abgewichen werden darf und die nur durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden kann.“
[16] Die neuesten Entwicklungen eines Völkerstrafrechts, das auch Individuen adressiert oder die oft vertretene Ansicht von individuell einforderbaren elementaren Menschenrechten sei hier außer Acht gelassen.
[17] Ipsen, S. 955ff.
[18] Stadler, Christian M.: Über Wesen und Wert der Humanitären Militärischen Intervention – eine Einleitung, in: Gustenau.
[19] Vgl. Kap. 4.
[20] Negativer Frieden meint hier die bloße Abwesenheit von Krieg. Die Bedrohung des Friedens, die Vorrausetzung für ein Handeln des Sicherheitsrates unter Kap. VII ist, durch schwerste Menschenrechtsverletzungen, oder eine eventuelle Vorrangbeziehung der elementarsten Menschenrechte vor der Erhaltung des negativen Friedens wird von diesen Rechtswissenschaftlern nicht (an-)erkannt.
[21] Rünger S. 1.
[22] Köck, Heribert Franz: Die Humanitäre Intervention, in Gustenau, S. 29.
[23] Vgl. Rünger S. 73ff.
[24] Vitzthum, Randziffer 30.
[25] Prost, Miriam R.: „Humanitäre Intervention“ – ein ethisches Dilemma, Ökumenischer Rat der Kirchen, in: http://www.wcc-coe.org/wcc/news/press/00/03feat-g.html, download am 1.4. 2003, S. 2.
[26] Stadler, S. 10.
[27] Ständiger Arbeitskreis im Sachbereich 2 „Politische Grundfragen“ des Zentralkomitees der deutschen Katholiken: Humanitäre Intervention? Rechtsethische Überlegungen. Thesenpapier, in: http://www.zdk.de/data/erklaerungen/pdf/Humanitaere_Intervention_2000_02_24_pdf_1021371728.pdf , download am 1.4. 2003. (ZdK) S. 5f.
[28] Köck, S. 30ff.
[29] ZdK, S. 3.
[30] ebd., S. 4.
[31] ZdK, S 18.
[32] Prost, S. 2ff.
- Arbeit zitieren
- Robert Rädel (Autor:in), 2003, Humanitäre Intervention. Die Legitimität und Legalität der Durchsetzung von Menschenrechten mit militärischen Mitteln, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/15770
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