Die vorliegende Dissertation untersucht durch eine komparative Studie über Hannah Arendt und Judith Butler neue Möglichkeiten der dekonstruktiven Subjektivität, der Performativität und der Zugehörigkeit als raumbezogener politischer Anliegen, um Mobilität und Immobilität als neue politikwissenschaftliche Konzepte zu entwerfen. Zu diesem Forschungszweck werden einerseits die Politiktheorien von Hannah Arendt und Judith Butler detailliert dargestellt und andererseits im Hinblick auf Mobilität und Immobilität rekontextualisiert: Judith Butler wird als Theoretikerin der Immobilität und Hannah Arendt als Theoretikerin der Mobilität herangezogen.
Mobilität wird dabei als eine Denkweise verstanden, bei der die Handlungsfähigkeit und die politische Kontingenz mit der bestimmten Bewegungsfähigkeit einhergehen sowie mit ihr zusammenwirken. Auf diese Weise richtet sich das souveräne, tugendhafte und sich und weltschaffende Subjekt der Mobilität auf die Freiheit aus. Im Gegensatz dazu charakterisiert sich Immobilität durch ein spezifisches Bleiben in verschiedenen Dimensionen.
Immobilität darf nicht als bloße Unfähigkeit zum Handeln oder als passive Tatenlosigkeit betrachtet werden. Vielmehr sollte sie als eine schwach performative, gewaltlose und zugleich aggressive Form des Widerstands interpretiert werden, insbesondere wenn Gewaltlosigkeit darin besteht, ohne Überwindung der Angst vor Gewalt trotzdem gemeinsam zu handeln und zu sprechen. Die Fähigkeit, das ungleiche Verhältnis der Interdependenz zu transformieren sowie einen neuen Rahmen der Interdependenz zu organisieren, liegt womöglich von Anfang an in der spezifisch passiven Gegenmacht der Immobilität. In diesem Sinn lässt sich Immobilität als eine Ambivalenz zusammenfassen, die auf die passiv-subversive, schwach performative Subjektivität hinweist, die häufig scheitert und immer noch prekär bleibt. Dennoch sind es genau diese verwundbare Immobilität und die daraus entstehende schwache Kraft, die uns verbinden und uns zu einer radikaleren Demokratie drängen.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Forschungsfragen
Wie lassen sich zwei Theoretikerinnen ins Gespräch bringen?
Ein Überblick: Mobilität und Immobilität
I. Arendts Politiktheorie als Grundlage zur Konzeptualisierung von Mobilität
1.1 Menschsein, Tätigkeiten und Raum
Arbeiten: Animalia laborantia als Insassen im privaten Bereich
Herstellen: Einsamer Homo Faber, öffentlich, aber nicht politisch
Handeln und Sprechen: Ein menschliches Vorrecht
Polis: Der politische Raum des Freiseins
1.2 Handeln, Pluralität und Macht
Zwei Züge des Handelns
Pluralität in Form politischer Freundschaft
Zwei Formen des Anfangs und der Pluralität
Einführung: Der Machtbegriff bei Arendt
Arendts Machtbegriff im Vergleich zu Habermas und Foucault
Für die lebendige Macht: Bewegung von Handeln und Pluralität
1.3 Herstellen, Isolierung und Gewalt
Instrumentalität und Berechenbarkeit der Gewalt
Sprachlose Gewalt und Herrschaft
Macht und Gewalt in der Verwobenheit
Strukturelle Gewalt gegen politische Fähigkeit
Politische Gewalt gegen Gewalt der Ungleichheit
II. Souveränität der Mobilität und ihre Ambivalenz
2.1 Erscheinung, Subjekt und Mobilität
Das Verborgene hinter der Erscheinung
Selbstschaffung des atomistischen und souveränen Subjekts
Mobilität und Sprechen
Infragestellung der Souveränität der Mobilität
2.2 Mobilität und ihre Grenzen
Wer sind wir? - zwei Arten des Volkes
Die geistigen Fähigkeiten und die Grenzen der politischen Erfahrung
Die Staatenlosen und ihre Unfähigkeit zur Mobilität
Aporien der Menschenrechte, Ambivalenz der Mobilität
III. Butlers Politiktheorie als Grundlage zur Konzeptualisierung von Immobilität
3.1 Dekonstruktion des Menschlichen und Matrix der Lebbarkeit
Die produktive Wirkungsweise der Matrix der Lebbarkeit
Die juridische und die prohibitive Wirkungsweise: Verbot und Kodierung der Position
Normen als Konvergenzpunkt von produktiv-generativen und juridisch-prohibitiven Wirkungsweisen
Intelligibilität des Menschen aus der Matrix der Lebbarkeit
Über die Unterscheidung zwischen sex und gender hinaus: Werden des Körpers
Zwischen Phantasma und Fantasie
3.2 Subjektivation: Das an Macht gebundene Subjekt
Einleitung: Das Konstituiertsein des Subjekts - ein Widerspruch?
Unterwerfung: Angewiesenheit auf die Matrix
Subjekt als Umkehrung der Macht
Trotzdem: Verstricktheit mit der Matrix
3.3 Subjektivität, Handlungsfähigkeit und Performativität
Einleitung: Performativität in der Spannung
Das Performative und die Sprache
Performativität des sprechenden Körpers
Butlers Performativitätsbegriff mit und gegen Bourdieu
Performativität mit Derrida denken: Iteration und Iterabilität
Butler und Foucault: Kritik und Entunterwerfung
IV. Die Charakteristika der Immobilität: Relationalität und Vulnerabilität
4.1 . Anerkennung in der Relationalität 132
Ausgangspunkte von Butlers Begriff der Anerkennung: Spinoza, Hegel und Foucault
Drei Modi der Anerkennbarkeit
i) Ausschluss
ii) Prägung in Bezug auf Konformität
iii) AnVerkennung und kritische Anerkennung
4.2 Verletzbarkeit, Prekarität und Vulnerabilität
Das verletzte Subjekt und seine Unverfügbarkeit
Butlers Begriff der Prekarität in Kontroversen
Totalitarismus als eine Facette der Biopolitik
Vulnerabilität, Körper und Immobilität
V. Butler mit Arendt, Butler gegen Arendt
5.1 Kontingente Zeitlichkeit und Subjekt der Gegenwart
Lücken in der kettenförmigen Zeitlichkeit
Bei Arendt: Neuanfang in Konstituiertem - Narrativ und Erinnerung
Bei Butler: Die gespaltene Zeit - Rückwirkende und antizipierende Gegenwart
Das denkende Subjekt der Mobilität: Eigene Gegenwart schaffen
Kontingente Selbstschaffung durch körperlosen Sprechakt
5.2 Raum und Inszenierung der versammelten Körper
Zwischen Arendt und Butler: Raumöffnung und Performativität
Weder Individuum noch Subjekt, sondern die Körper inszenieren sich
Butler gegen Arendt: Von der Pluralität zur performativen Versammlung
Recht auf Erscheinung vs. Recht auf Versammlung und Rechte auf Lebbarkeit
VI. Immobilität und Widerstand: Gewaltlosigkeit und Möglichkeit radikaler Demokratie
6.1 Mobilität und Immobilität
Eine nähere Betrachtung des Konzepts der Mobilität
Immobilität aus ontologischer Perspektive
Immobilität aus räumlicher Perspektive: Beharrliches Bleiben ohne Ankommen
Umkehrbarkeit: Unbewegliche Bewegung der Immobilität
6.2 Gewaltlosigkeit, Betrauerbarkeit und Immobilität: Zur radikalen Demokratie
Gewaltlosigkeit in Anbetracht von Verletzbarkeit und Interdependenz
Betrauerbarkeit als Ansatz für Gewaltlosigkeit
In-der-Trauer-beharrlich-Bleiben als eine Form des gewaltlosen Widerstands
Immobilität, Gegenmacht und die Möglichkeit radikaler Demokratie
Fazit: Immobilität als ein neues Dispositiv der Interdependenz
Abkürzungen
Literaturverzeichnis
Einleitung
Forschungsfragen
Kann aus der Un/Beweglichkeit, die in Wechselwirkung mit Handlungsfähigkeit, Subjektivität und politischer Kontingenz in den politischen Theorien von Hannah Arendt und Judith Butler steht, ein neues politikwissenschaftlichen Konzept von Mobilität und Immobilität entwickelt werden? Die Idee der Mobilität, politische Freiheit oder Souveränität im Zusammenhang mit Bewegungsfähigkeit zu denken, ist in der politikwissenschaftlichen und philosophischen Tradition nicht völlig fremd. Bereits Thomas Hobbes definiert Freiheit als einen Zustand, der durch die Abwesenheit von Bewegungshindernissen gekennzeichnet ist (vgl. von Redecker 2023, S. 9; UT, S. 318). William Blackstone erklärt in ähnlicher Weise, »dass individuelle Freiheit in [...] Fortbewegungsfähigkeit bestünde« (ebd.). Folglich kann der freie Wille, der als Grundlage der Freiheit gilt, ebenso als Wille zur Bewegung verstanden werden (vgl. ebd.). Hannah Arendt ist eine Politiktheoretikerin, die authentisch zeigt, inwieweit die politische Freiheit grundsätzlich mit Bewegungsfreiheit verbunden ist: In ihrer Politiktheorie wird das Gehenkönnen und das Verlassenkönnen nahezu mit dem Freisein gleichgesetzt (vgl. WiP, S. 44). Insbesondere einer ihrer zentralsten Begriffe, >Erscheinung<, beschreibt sowohl einen räumlichen Aufstieg als auch spezifische Bewegungen im politischen Handlungsraum. Die Konzeptualisierung von Mobilität gründet somit auf der grundlegenden Idee Arendts, dass die Dynamik des Politischen wesentlich im spezifischen Gehenkönnen liegt.
Im Gegensatz zur Mobilität verweist Immobilität, die durch die politische Theorie von Judith Butler thematisiert wird, auf die politische Möglichkeit, durch beharrliches In-der-Vulnerabilität- Bleiben subversive Performativität zu entfalten. Immobilität ist dabei nicht als bloße Unfähigkeit zur Bewegung zu verstehen, sondern als ein verletzliches, nichtsouveränes und radikales Performative, das »etwas ganz anders als destruktive Gewalt ist und sich in solidarischen Widerstandsbündnissen und Standfestigkeit manifestiert« (EP, S. 244). Immobilität lässt sich in verschiedenen Dimensionen begreifen. Zunächst ist sie als eine Seinsweise zu verstehen: In der Subjektivation manifestiert sich Immobilität als leidenschaftliche Wiederholung innerhalb normativer Machtverhältnisse, die stets die Möglichkeit in sich birgt, auf andere Weise zu wiederholen. Ontologisch betrachtet verweist Immobilität auf ein unausweichliches Bleiben in Relationalität und Interdependenz. Im Hinblick auf Handlungsfähigkeit und Performativität zeigt sich Immobilität als hartnäckiges Verharren in bestimmten Ereignissen oder an konkreten Orten - wie etwa in Räumen der Trauer, in denen die immobilen Subjekte inmitten des Ausgesetztseins der Polizei- oder Staatsgewalt die Spannung gegen Lust auf Gewaltanwendung aushalten. Zur Konzeptualisierung von Mobilität und Immobilität werden Arendts Begriffe des Handelns, der Erscheinung und der Pluralität mit Butlers Konzepten von Wiederholung, Subjektivation und körperlicher Inszenierung in Verbindung gebracht. Diese Untersuchung zielt nicht nur darauf ab, diese Begriffe miteinander zu vergleichen, sondern auch darauf, aufzuzeigen, wie sich Butlers Politiktheorie durch die Perspektive der Immobilität sowohl mit als auch gegen Arendt analysieren lässt.
Diese Arbeit, die das Ziel verfolgt, Mobilität und Immobilität als neue politikwissenschaftliche Begriffe zu konzipieren, setzt bei der Frage an, wer in unserer einen Welt verletzbare und performative Subjekte sind, die gemeinsam einen unerwarteten politischen Raum eröffnen können. Diese Leitfrage basiert auf drei zentralen Ansatzpunkten: Erstens ist hervorzuheben, dass der Raum des Politischen und das Subjekt in einer kompossiblen Beziehung stehen und sich gegenseitig konstituieren. In diesem Sinne darf der Raum nicht als leeres Mittel verstanden werden, in dem die Menschen etwas tun oder sprechen können. In einer gemeinsamen Welt, in der Verletzbarkeit, Prekarität und Betrauerbarkeit ungleich verteilt sind und bestimmten Gruppen weder politische Partizipation noch Schutz vor Gewalt gewährt wird, wird die Frage nach dem Raum zur politischen Kernfrage, die Subjekt, Anerkennung und Lebbarkeit betrifft: Wer wird in welchem Raum anerkannt und wer gilt als zugehörig, und wessen Sprechen kann in welchem Raum vernehmbar werden? Das Konzept der Immobilität richtet dabei den Fokus auf die politische Bedeutung des Körpers, der die menschliche Bedingung des räumlichen Aufenthalts darstellt (vgl. RK, S. 174). Der sich materialisierende Körper wird doch nicht als räumlich gegeben verstanden, sondern als konstitutiv in seiner Räumlichkeit und Zeit (vgl. MG, S. 344). Nach Butler hat der menschliche Körper »unweigerlich eine öffentliche Dimension« (ebd., S. 41). Weiterhin wird aufgezeigt, wie die körperlich-beharrliche Inszenierung selbst zu einem neuen politischen Raum werden kann, der nicht nur die Grenzen der Plualität erschüttert, sondern zugleich die Gleichheit der Lebbarkeit einfordert, indem Prekaritätsfragen und die Lebbarkeit unterschiedlicher Lebensformen öffentlich zur Debatte gestellt werden.
Der zweite Ansatzpunkt dieser Arbeit bezieht sich auf das Subjekt. In der heutigen globalisierten Welt, in der Bewegungsfähigkeit und Mobilität wie nie zuvor bejaht werden, taucht neue politische Frage auf: Wer wird als mobiles Subjekt anerkannt, wer hat das Recht auf Bewegung und unter welchen Bedingungen - und wer bleibt davon ausgeschlossen? Sowohl Arendt als auch Butler lehnen die moderne, essenzialistische Subjektivität ab, die als unabhängige Instanz des Wissens, Denkens und Handelns gilt. Ihre Ansichten über Subjektivität und Performativität unterscheiden sich jedoch grundlegend. In Arendts Politiktheorie >tritt< ein sich- und weltschaffendes Subjekt >in Erscheinung<, das auf Eigentum und verschiedenen geistigen und politischen Fähigkeiten basiert. Daraus lässt sich ableiten, dass ihre Politiktheorie auf einer eigenartig konstitutiven und spontanen Souveränität und Autonomie gründet, die in dieser Arbeit als Mobilität bezeichnet wird. Im Gegensatz dazu findet Immobilität im Grunde mit der Dekonstruktion des mobilen Subjekts statt, sofern Butlers Politiktheorie auf der inhärenten Vulnerabilität des Menschen basiert, die immer schon durch repetitive Unterwerfung in Gewalt verstrickt ist. Während die souveräne Konstruktivität der Mobilität auf bestimmten besitzindividualistischen Annahmen beruht, untersucht die Arbeit über Immobilität, wie das Verbleiben aus politikwissenschaftlicher Perspektive neu bewertet werden kann. Im Fokus steht die Frage, wie die immobilen Subjekte trotz oder gerade aufgrund ihrer Vulnerabilität eine passive, aber widerständige Performativität verkörpern können - eine Performativität, die sich aus dem hartnäckigen Verharren vulnerabler pluraler Körper ergibt, die bisher weder vollständig anerkannt noch betrauert wurden. Zudem hinterfragt Immobilität die Gewalt, die Lebbarkeit und Betrauerbarkeit ungleich verteilt, und zeigt auf, wie sie inmitten dieser Gewalt eine neue Form der Lebbarkeit und radikaldemokratischen Gleichheit erweitern kann.
Drittens wird das kleine, aber politisch bedeutsame Wort >unser< - etwa in der Formulierung >unsere Welt< - und die damit verbundene Frage der Zugehörigkeit thematisiert. Wer sind wir und mit wem teilen wir den gemeinsamen Zeit-Raum im Hier und Jetzt? Wer gehört in welcher Weise zu diesem menschlichen Gemeinsamen, und wer wird ausgeschlossen, dann aus welchen Gründen? Diese Fragen lenken den Blick auf die Ein- und Ausschließung, die nicht nur als Wirkung der Gewalt, sondern auch als politische Dynamik im Zusammenhang mit Mobilität und Immobilität verstanden werden. Im Hinblick auf die politisch-ethische Frage der Zugehörigkeit wird argumentiert, dass Mobilität nicht in der Lage ist, eine demokratische Pluralität hervorzubringen, insofern sie von einer Ungleichheit im Zugang zur Erscheinung ausgeht, die von Anfang an nicht für alle gleichermaßen offensteht. Dagegen zeigt Immobilität in Bezug auf Butlers jüngere Arbeiten auf, wie durch vulnerable Handlungsfähigkeit eine gemeinsame und körperlich-politische Pluralität entstehen kann, die nicht auf kultureller Nähe, sondern auf einer vermittelten und potenziell unbegrenzt ausdehnbaren Interdependenz basiert. Die immobile Widerstände richten sich letztlich auf die Forderung nach Gleichheit der Lebbarkeit, die eng mit der Frage nach bewohnbarem Raum verknüpft ist. Am Ende der Untersuchung wird somit die politisch-ethische Dimension der Kohabitation aufgeworfen: Wie können wir gemeinsam wohnen »als Weltbewohner, als Menschen, die die Welt konkret miteinander teilen - auch weil sie nicht unendlich ist und wir nicht von ihr fliehen können« (Kurbacher 2023, S. 9)?
Wie lassen sich zwei Theoretikerinnen ins Gespräch bringen?
Die Konzeptualisierung von Mobilität und Immobilität stützt sich auf zentrale Berührungspunkte, die die die Nähe und Unterschiede zwischen Arendt und Butler verdeutlichen. Die in den folgenden Kapiteln detailliert analysierten Debatten gründen auf einer grundlegenden Übereinstimmung zwischen beiden Theoretikerinnen: dem performativen Zusammenhang zwischen dem Politischen und der Ontologie des Menschen. Dieser chiastische Zusammenhang ergibt sich aus der bestimmten räumlichen Konfiguration, die sich in Form von Raumzuweisung, Grenzziehung und Grenzüberschreitung auf die Handlungsfähigkeit des Subjekts bezieht (Kap. I; III).
Diese Arbeit legt allerdings den Fokus auf die Unterschiede zwischen den beiden Theoretikerinnen, wobei die Ansatzpunkte - Raum, Subjekt und Performativität, die Frage der Zugehörigkeit - näher konkretisiert werden. In den einleitenden Kapiteln zu Arendt und Butler wird erläutert, wie beide den Menschen in Raum erfassen. Arendts Begriff der Politik beginnt damit, die menschlichen Tätigkeiten - Arbeiten, Herstellen und Handeln - in Relation zur Raumzuordnung zwischen privatem und öffentlichem Raum zu unterscheiden (Kap. 1.1). Darauf aufbauend betont sie, dass ein Anonymer durch das In-Erscheinung-Treten zu einem einzigartigen Subjekt werden kann (Kap. 1.2; 2.1). Zum Vergleich dieser politischen Raumstruktur bei Arendt wird in Butlers Politiktheorie die von mir entwickelte Konzeption der Matrix der Lebbarkeit als normative und räumliche Meta-
pher herangezogen (Kap. 3.1). Die Matrix der Lebbarkeit fungiert als ein produktiv-juristisches Dispositiv aus Normen, Diskursen, Gesetzen sowie Kulturellem und Institutionellem - ein Dispositiv, das das menschliche Leben ermöglicht, reguliert und bedroht, dabei jedoch auch einen Ausgangspunkt für Performativität und Widerstand bietet. Sie bewirkt die Unterscheidung zwischen dem Raum des Lebbaren und dem des Unlebbaren, indem sie den bestimmten Lebensformen Intelligibilität zuschreibt und andere gewisse Morphologien des Lebens als unlebbar einstuft. Die Dekonstruktion des Menschlichen bei Butler setzt an dieser Matrix der Lebbarkeit an: Das Menschsein wird weder als angeborener Neuanfang noch als intrinsisches Wesen verstanden, sondern als ein durch die »ein Sein konstituierende Macht epidemischer Gewalt« (Hark 2021, S. 92) dekonstruier- tes Konzept.
Kapitel V vertieft die Auseinandersetzung mit den politischen Dimensionen von Zeitlichkeit und Räumlichkeit in den Theorien Arendts und Butlers. Der Fokus liegt dabei auf der Gegenüberstellung der in den Unterkapiteln 5.1 und 5.2 behandelten Konzepte: der selbstschaffenden, atomistischen Gegenwart des mobilen Subjekts einerseits und der gemeinsamen Inszenierung der immobilen Körper als neuer politischer Handlungsraum andererseits. Zunächst wird der Kontrast zwischen Neuanfang und Wiederholung herausgearbeitet, um die unterschiedlichen Perspektiven von Arendt und Butler auf das >Jetzt< als kontingente Unterbrechung zu beleuchten (Kap. 5.1). Arendt begreift das >Jetzt< als radikalen Neuanfang, der die souveräne Zeitdimension der Mobilität prägt. Diese Zeitdimension wird durch ein eigenes >Jetzt< definiert, das sich aus dem denkfähigen, kämpferischen und sich körperlos bewegenden Subjekt konstituiert. Im Gegensatz dazu kann die alternative Jetztzeit bei Butler aus der Wiederholung hervorgehen, die sich in den gespaltenen Zeiten zwischen einer Zeit der Normen, die nicht immer frei verfügbar ist, und einer individuellen Zeit entfaltet. In diesen gespaltenen Zeitlichkeiten eröffnet Butlers Perspektive die Möglichkeit einer gemeinsamen Jetztzeit prekarisierter Körper, die sich mit der Performativität der Immobilität verbinden. Darauf aufbauend wird die körperlich-kollektive Dimension der Immobilität analysiert, die als widerständige Form des >Da-Bleibens< interpretiert wird (Kap. 5.2). Im Zentrum steht die Frage, wie und wo der öffentliche Raum durch Immobilität performativ eröffnet werden kann. Der Körperbegriff gewinnt hierbei als politische Räumlichkeit zentrale Bedeutung, insofern die Immobilität auf der Zusammenkunft verletzbarer, prekärer und stets mit der Sprache einhergehender Körper basiert. Die Untersuchung zeigt, wie Arendts Entkörperlichkeit des Politischen den widerständigen, immobilen Körpern gegenübersteht. Diese sich durch Verletzungen von Sprache und Normen materialisierenden Körper, diese stets mit dem Politischen verwobenen Körper ermöglichen eine gemeinsame Inszenierung, die als ein öffentlicher Ort zutage tritt. Immobilität lässt sich damit als gewaltlose Performativität verletzlicher, prekärer Körper begreifen, aus der eine radikaldemokratische Gegenmacht hervorgehen kann.
Zweitens stehen Subjekt und Performativität im Zentrum der Analyse, wobei insbesondere der Unterschied in der performativen Kraft des Sprechens bei Arendt und Butler betrachtet wird. Hier lässt sich vorab eine Schlussfolgerung ziehen: Je stärker die Spontaneität und das individuelle Tugend konkurrierende Handeln betont werden, desto deutlicher zeigt sich die Distanz zwischen der Konstruktivität der Mobilität und der Performativität der Immobilität. In Arendts Politiktheorie vollzieht sich die Erscheinung - ein räumlicher Aufstieg vom dunklen Bereich in den öffentlichen Raum und Bewegungen darin - durch die spezifische Form des Redeakts1. Dabei wird das arendtsche Subjekt nicht nur als ereignishaft und autonom betrachtet, sondern vor allem in zweifacher Hinsicht als konstruktiv beschrieben (Kap. 2.1): Zum einen tritt das Subjekt als selbstschaffend auf, indem es sich durch die Äußerung eigener Meinungen und Perspektiven in die Welt einschaltet - nahezu unabhängig von einer vorausgesetzten juridischen oder sozialen Autorität. Zum anderen zeigt sich die Handlungsfähigkeit des arendtschen Subjekts als sprachlich-konstruktiv, solange die Sorge um die politische Welt durch die Vielfalt öffentlicher Meinungen geprägt wird, welche die Einzigartigkeit und die politischen Tugenden jedes mobilen Subjekts umfassen.
Im Gegensatz dazu sind die Handlungsfähigkeit und Performativität bei Butler eng mit der Subjektivation verknüpft, die in drei nicht stufenweise oder hierarchisch aufgeteilten Momenten aufgefasst wird (Kap. 3.2): Unterwerfung und Angewiesenheit auf die Matrix der Lebbarkeit, Verleugnung dieser Abhängigkeit und schließlich Verstricktsein mit den Normen, das als eine spezifische Form der >Entunterwerfung< auf Immobilität bezogen ist (Kap. 3.3). Butler postuliert weder ein souveränes und selbstschaffendes Subjekt, insofern dieses immer schon auf normativen und verletzenden Sprache angewiesen ist und durch sie verletzbar bleibt, noch ein vollständig von der Matrix der Lebbarkeit determiniertes Subjekt. Vielmehr betont sie in vulnerablen Subjekten die Möglichkeit, die Macht der Normen durch deren ständige Wiederholung zu erschüttern. Die Macht der Sprache manifestiert sich in Butlers Politiktheorie nicht nur darin, dass sie ein Subjekt anrufen und hervorbringen kann, sondern auch darin, dass sie fehlangeeignet wird und ihrer ursprünglichen Absicht entgegenwirken kann. Zusammenfassend lässt sich sagen: Während das arendtsche Subjekt sprachlich innovativ handelt, wiederholt das butlersche Subjekt bestehende und funktionierende Normen durch deren Zitierung. Aus dieser ständigen Iteration, die bei Butler an die Stelle des Handelns tritt, entsteht Performativität. In diesem Sinne tritt bei Butler nicht ein Subjekt in Erscheinung. Vielmehr verschiebt sich das Subjekt an die Stelle der chiastischen Ambivalenz zwischen der Macht, aus der das Subjekt hervorgeht, und der Performativität, die es ausübt.
Drittens wird im Hinblick auf Zugehörigkeit das Thema Gewalt und Exklusion behandelt, wobei die unterschiedlichen Gewaltverständnisse bei Arendt und Butler den Kontrast zwischen Mobilität und Immobilität verdeutlichen. Arendt setzt der aus dem Handeln entstehenden Macht die politische und systematische Gewalt entgegen, die den öffentlichen Raum zerstört und die menschliche Bewegungsfähigkeit des In-Erscheinung-Tretens und damit die Möglichkeit zur Pluralität beraubt (Kap. 1.3; 2.2). Darüber hinaus zeigt die Untersuchung, dass hinter dieser politischen Gewalt eine tiefere, unsichtbare Gewalt liegt, die sich aus der Lebensnotwendigkeit und Verletzbarkeit des Menschen ergibt und mit der ungleichen Zugänglichkeit zum Erscheinungsraum verbunden ist. Die Hierarchisierung zwischen politischer Gewalt und Gewalt der Ungleichheit differenziert zwischen denen, die politischer Gewalt ausgesetzt sein können, und denen, deren Leid nicht als solche anerkannt wird. Im Gegensatz dazu konstatiert Butler, dass Menschen stets in unterschiedliche Formen von Gewalt verstrickt sind, die Prekarität und Verletzbarkeit, aber auch Betrauerbarkeit ungleich verteilen (Kap. IV). Immobilität wird in diesem Sinne als eine spezifische Komplizenschaft mit Gewalt verstanden, insofern sie aufzeigt, dass die Prekaisierten der Gewalt des Staates ausgesetzt sind, um durch diesen Staat vor Gewalt geschützt zu werden. Butlers Konzept der fragilen, gefährdeten Subjektivität, die durch Verletzbarkeit, Prekarität und Vulnerabilität gekennzeichnet ist, schließt jedoch nicht aus, dass das immobile Subjekt ethisch handeln kann. Mit Butlers Verständnis von Vulnerabilität rückt Immobilität vielmehr die Frage in den Fokus, wie die selbst unverfügbaren, nicht autonomen und ehr vulnerablen Subjekte sowie die Ausgeschlossenen durch aktiv-passive Widerstände den Bereich des lebbaren Lebens erweitern und ein neues Gemeinwesen schaffen können, ohne ihre Relationalität zu verlassen oder ihre Verletzbarkeit zu verleugnen (Kap. 5.2; 6.2). Diese Fragestellung verweist zudem auf die Themen Kohabitation und radikale Demokratie: Wie können wir in einer Welt gewaltlos und ethisch zusammen wohnen?
Ein Überblick: Mobilität und Immobilität
Wie werden Mobilität und Immobilität im Verhältnis von Räumlichkeit, Subjektivität und Performativität in den Politiktheorien von Hannah Arendt und Judith Butler konzipiert? Mobilität bezeichnet eine spezifische Form von Bewegungsfähigkeit, bei der Verlassen und Ankommen als Dynamik des Politischen fungieren und politische Handlungsfähigkeit ausdrücken. Arendts Politiktheorie stellt eine ausgeprägte Figur der Mobilität in ihrem Begriff der Erscheinung dar. Als mobile Bewegung umfasst Erscheinung einerseits den räumlichen Aufstieg, bei dem das eigene Bedingtsein überwunden wird, um in den Bereich des Politischen aufzusteigen - einen Aufstieg, der auf Arendts dualistischen Unterscheidung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen basiert (vgl. Arendt 1960, S. 43). Andererseits offenbart sich die Erscheinung als die Differenzierung des Lebens durch die sprachlich-agonalen Bewegungen im Erscheinungsraum, in dem das mobile Subjekt sich mit anderen ebenbürtigen mobilen präsentieren kann. Aus der Mobilität entsteht eine souveräne Pluralität, in der die mobilen Subjekte ihre politische Tugend mutig in Konkurrenz zueinander stellen, um eine politische Freundschaft zu schaffen und zur fortlaufenden Pluralisierung der Pluralität zu beitragen. Mobilität verweist somit darauf, dass die höchste Verwirklichung individueller Einzigartigkeit - verstanden als politisches Freisein, das sich vom bloßen Wohnen auf der Erde unterscheidet - in Einklang mit der Freiheit der Pluralität steht. Diese politische Freiheit gründet nicht auf vorgegebenen Autoritäten, sondern auf der Vielfalt der politischen Perspektiven.
Wenn Mobilität als die politische Autonomie verstanden werden kann, in der die individuelle Selbstschaffung mit der Weltschaffung und der Sorge um die Welt zusammenfällt, stellt sich die Frage, aus welchem Grund sie dennoch kritisch betrachtet werden sollte. Eine wesentliche Problematik liegt darin, dass das mobile Subjekt - trotz Arendts Betonung der Unvorhersehbarkeit und Unkontrollierbarkeit des politischen Handelns - nicht hinreichend als entsouverän konzipiert wird. Vielmehr präsentiert Mobilität in Arendts Politiktheorie das Bild eines atomistisch souveränen Subjekts, das sich von grundlegenden Bedürfnissen und Verletzbarkeit distanziert und sich mutig in der politischen Welt positioniert. Diese souveräne Subjektivität der Mobilität führt dazu, dass die von mobilen Subjekten gebildete Pluralität unausweichlich Prekarität und Vulnerabilität außer Acht lässt und diese sogar aus >ihrem< Politischen ausschließt - wie beispielsweise Arendts Kritik an der Französischen Revolution zeigt. Diese Dynamik offenbart eine Ambivalenz in Arendts Denken: Je stärker die Begriffe Handeln und Pluralität betont werden, desto unmöglicher wird es, gemeinsam zu erscheinen. Daraus ergeben sich die Fragen, nicht nur, inwiefern Mobilität als Ausdruck souveräner und tugendhafter Freiheit verstanden werden kann - insbesondere wenn diese im kritischen Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit betrachtet wird -, sondern auch, inwiefern die durch Mobilität entstehende Pluralität über ebenbürtige Ähnlichkeit und Zugehörigkeit hinaus erweitert werden kann.
Darüber hinaus sollte das Phantasma der Mobilität kritisch hinterfragt werden, insbesondere in Bezug darauf, wie Mobilität mit Besitzindividualismus verbunden ist und dadurch die Abhängigkeit vom Gemeinsamen negiert. Nach Arendts Politiktheorie bezieht sich die Souveränität des selbst- und weltschaffenden Subjekts nicht nur auf Handeln und Sprechen, sondern auch auf das Herstellen, das die Grundlagen der Mobilität bildet - etwa durch das Eigentum, das als ein privater Raum des Denkens eine kulturelle und geschichtliche Dimension besitzt, sowie durch die öffentliche Welt als >Mundus<, der als hergestellte von der naturhaften Erde unterschieden wird. Wenn Eigentum und Erscheinungsraum als Bestandteile der durch das Herstellen produzierten gemeinsamen Dingwelt verstanden werden, stellen sich weitere Fragen: Verhindert das Eigentum, das jeder Erscheinung atomistisch zugrunde liegt, nicht den gemeinsamen Zugang zur Öffentlichkeit und damit die Möglichkeit gemeinsamer Erscheinungen in Arendts Politiktheorie? Müssen nicht letztlich sowohl das Eigentum, das die individuelle Privatheit gewährleistet und gewissermaßen den Prozess der Unterwerfung in der Subjektivation substituiert, als auch der Erscheinungsraum doch als exklusiv betrachtet werden? Das Phantasma der souveränen und autonomen Mobilität entsteht nur dadurch, dass Mobilität ihre Abhängigkeit vom Kulturellen, dem Geschichtlichen und dem Gemeinsamen sowie von der zugrunde liegenden Infrastruktur leugnet und verschleiert. Besonders deutlich wird dies in der von Arendt beschriebenen Problematik der Geflüchteten: Ihre Unfähigkeit zur Mobilität offenbart exemplarisch, inwiefern die Bewegungsfähigkeit von der geschichtlich-räumlichen Grundlage abhängt, die nicht allein als besitzindividualistisch verstanden werden kann, sondern eine Bedingung bildet, ohne die Mobilität gar nicht möglich wäre.
Butlers Auffassungen von Verletzbarkeit, Prekarität und Vulnerabilität markieren einen charakteristischen Unterschied zwischen der in Anlehnung an Arendts Politiktheorie entwickelten Mobilität und der Immobilität. Immobilität ist als eine Seins- und Handlungsform zu verstehen, die sich nicht nur durch eine beharrliche Ortsgebundenheit auszeichnet - an einem Ort, an dem die verletzten Prekarisierten nicht vollkommen ankommen können -, sondern auch durch ein leidenschaftliches Verbleiben in der grundlegenden Relationalität, das in Form von Enteignung zum Ausdruck kommt. Im Gegensatz zur arendtschen, als agonal und souverän verstandenen Mobilität ist aus der Perspektive der Immobilität weder ein Aufstieg in eine andere, von vornherein als frei und öffentlich definierte Welt noch eine Selbstschöpfung möglich. Vielmehr existiert das immobile Subjekt als ein verletzliches, nicht abgeschlossenes und undurchsichtiges Subjekt, was jedoch nicht bedeutet, dass es ausschließlich passiv ist. Butler betont durch den Begriff >Vulnerabilität< das performative Potenzial der Verletzbarkeit und die Widerstandsmöglichkeit in der Prekarität. Das Verletzbar- und Ausgesetztsein beinhalten immer schon die Offenheit und Empfänglichkeit - eine Ambivalenz, die in dieser Untersuchung meist kurz als >aktiv-passiv< beschrieben wird. Immobilität lässt sich somit als widerständige, aktiv-passive Handlung verstehen, die von prekären Subjekten ausgeübt wird, indem sie die Souveränität der Mobilität - verstanden als ein reibungsloses Ereignis zwischen Verlassen, Ankommen und Eintreten im Sinne von Dazugehörigkeit - infrage stellt. In diesem Sinne stellt sie einen Denkversuch dar, der zentrale Fragen aufwirft: Wie kann eine neue Politik imagi- niert werden, die Widerstände inmitten und aufgrund prekärer Bedingungen ermöglicht? Und wie kann verletzbare und körperlich-plurale Handlungsfähigkeit als subversive Performativität anerkannt werden?
Butlers Körperverständnis verbindet die ontologisch verstandene, aktiv-passiv charakterisierte Performativität der Immobilität mit der Immobilität im räumlichen und widerständigen Sinne. Nach Butler existiert der Körper insofern als vulnerabel, als er sowohl den verschiedenartigen Gewaltsamkeiten ausgesetzt ist als auch von den unterschiedlichen Unterstützungen abhängig ist. Zugleich manifestiert sich der Körper durch die Relationalität als öffentlich, indem Butler ihn als einen zeitlichen Ort begreift, an dem unerwartete Offenheit und Empfänglichkeit sich überschneiden und miteinander verwoben sind. In diesem Zusammenhang hat der immobile Widerstand zwei weitere Effekte: Erstens wird der Ort der Besetzung nicht immer vorab festgelegt, sondern durch die wiederholte Praxis des beharrlichen Dableibens zu einem außerparlamentarischen und/oder alternativen Handlungsraum geformt, der im Gegensatz zum begrenzten und privilegierten Erscheinungsraum in Arendts Politiktheorie steht. Der Widerstand der Immobilität verdeutlicht zudem, dass die Versammlung vulnerabler Körper die Möglichkeit eröffnet, sich als ein neuer öffentlicher Raum zu manifestieren. Zweitens sollte Immobilität nicht als rein episodisches kontextbedingtes Ereignis beschränkt verstanden werden. Anhand von Butlers Konzepten der Übertragbarkeit und der Umkehrbarkeit von Nähe und Ferne wird erkennbar, dass die unbewegliche Bewegung der Immobilität in der interdependenten Relationalität das Potenzial birgt, eine grenzenlose Solidarität zu schaffen.
In Gegensatz zur Unmöglichkeit der Pluralität in der arendtschen Mobilität zeigt das Performative der Immobilität, wie ein neues Wir von den vulnerablen Körpern entstehen kann, das nicht nur für die Freiheit, sondern auch für die Gleichheit und radikale Demokratie kämpfen kann. In Anlehnung an Butler liegt der Fokus auf einer spezifischen Kollektivität, bestehend aus denjenigen, die mit den vorhandenen Kategorien der Anerkennungsnormen inkongruent sind, aber dennoch trotzig in der Matrix der Lebbarkeit verharren. Die performative Handlungsfähigkeit der Anverkannten sowie der prekarisierten Körper manifestiert sich in einer eigenartigen Komplizenschaft mit der Gewalt. Dies bildet eine schwache, aber unnachgiebige Strategie der Immobilität, die nicht nur die ungerechtige Gewalt des Status quo anprangert, sondern auch innerhalb dieser Gewalt einen neuen Bereich der Lebbarkeit eröffnet. Kyoung-Seok Park, ein bekannter Behindertenaktivist2 in Südkorea, der mit anderen Behindertenaktivistinnen für einen freien und sicheren Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln kämpft, sagte einmal in einem Interview: Wenn die Polizei die Aktivistinnen festnehmen wolle, »fliehen wir nicht bis ans Ende der Welt, denn wir haben weder Mittel, uns zu bewegen, noch das Bewegungsrecht. Wir bleiben einfach hier; wir sind in der U-Bahn-Station für die Demonstration, wie gewöhnlich.« in seinen Worten wird der vulnerable und zugleich passivsubversive Charakter der Immobilität deutlich. Immobilität ist eine hartnäckige Widerstandsform der Prekarisierten, wenn sie mit Gewalt konfrontiert werden - ohne die Möglichkeit, diese Gewalt zu vermeiden oder abzuschwächen -, und ihr dennoch gewaltlos Widerstand leisten. Die Demonstrantinnen mit Behinderungen appellieren an die Gewalt, die ihre Existenz unsichtbar macht und ihren Widerstand als illegal festlegt, um einen barrierefreien Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. indem die verletzten Entrechteten sich mit dieser Gewalt verstricken und auf sie angewiesen sind, schaffen sie es, sich als die Prekarisierten vor anderen zu exponieren, Widerstand zu leisten und ihre öffentliche Bedeutung wiederzuerlangen. Wenn ihre Nutzung der U-Bahn von der Polizei als illegal behandelt wird, während dieselbe Handlungen für Nichtbehinderte zum Alltagsleben gehören, bedeutet dies, dass die öffentliche Existenz von Menschen mit Behinderungen in gewissem Sinne noch nicht erlaubt wird und dass sie nicht als Mitglieder einer demokratischen Gesellschaft anerkannt sind. Daher sollte der Kampf der Behindertenaktivistinnen für einen barrierefreien Zugang zur U-Bahn nicht nur als eine Aktion für das Bewegungsrecht interpretiert werden, sondern vielmehr als ein performativer Widerstand für ihre Anerkennung und Öffentlichkeit. Die Erweiterung des Bereichs der Lebbarkeit zeigt zudem, dass im beharrlichen Verhaftetsein eine andere Zeit antizipiert werden kann, die nicht einfach mit einer progressiven Zukunft gleichzusetzen ist. Die prekären und immobilen Subjekte beharren auf einem anderen und gemeinsamen Jetzt. in diesem Sinne bleibt ihr Widerstand immer noch im Jetzt - er bleibt immobil.
Am Ende dieser Untersuchung werden Butlers Begriffe von Betrauerbarkeit und Gewaltlosigkeit thematisiert. immobilität wird dabei als eine konkrete Praxis und Strategie der gewaltlosen Politik dargestellt, insofern sie eine schwache, subversive Gegenmacht hervorbringen kann, die sich auf eine radikale Demokratie richtet. Butler entwickelt das Konzept der Betrauerbarkeit, das die Vermenschlichung und die Derealisierung des Menschen hinterfragt, insoweit die Definition dessen, wer als Mensch gilt, davon abhängt, welches Leben als betrauernswert anerkannt wird (vgl. GL, S. 36). Somit verweist die Hierarchie der Betrauerbarkeit auf eine Metrik des Lebens, die aufzeigt, wer in bewohnbarem Raum leichter ausgelöscht werden kann und benachteiligt betrauerbar wird. in diesem Zusammenhang untersucht die Arbeit, inwiefern das in der Relationalität leidenschaftlich verhaftete immobile Subjekt trotz und aufgrund seiner Vulnerabilität ethisch handeln kann und wie ein gewaltloses und radikaldemokratisches Zusammenleben über die Ähnlichkeit und Zugehörigkeit hinaus zustande kommen kann. Die Forderung nach gleicher Lebbarkeit und Betrauerbarkeit charakterisiert Butlers Verständnis von Radikaldemokratie, die zielt darauf ab, einen Dissens mit dem bestehenden Status quo hervorzurufen, um den Bereich des anerkennbaren Lebens auszudehnen, jedoch nicht im Sinne einer einfachen Integration der Ausgeschlossenen in eine bereits etablierte Ontologie (vgl. GL, S. 50). Eine solche Demokratie und ein alternativer öffentlicher Raum, in dem mehr Menschen gewaltlos koexistieren können, werden weniger von den mobilen, souveränen und selbstschaffenden Subjekten geschaffen, sondern vielmehr durch das leidenschaftliche Verharren der schwachen, verletzbaren und kollektiven Körper eröffnet.
1. Arendts Politiktheorie als Grundlage zur Konzeptualisierung von Mobilität
Zu Beginn dieser Untersuchung, die das Verhältnis von Räumlichkeit, Subjektivität und Performativität neu beleuchtet und dadurch Mobilität sowie Immobilität als neue politikwissenschaftliche Termini konzeptualisiert, wird zunächst Arendts Politiktheorie dargestellt. Das erste Kapitel, das dem Kapitel III über die Grundlagen von Butlers Theorie gegenübersteht, wird in drei Unterkapitel geteilt. In Kapitel 1.1 werden die elementaren Begriffe Arendts, die drei menschlichen Tätigkeiten Arbeiten, Herstellen und Handeln - in Bezug auf Arendts Raumtrennung zwischen Privatem und Öffentlichem erläutert. Dadurch stellen sich die Forschungsleitfragen, die zunächst nur skizziert und im Verlauf der Arbeit vertieft und präzisiert werden: Inwiefern setzt Arendt das Menschsein mit dem Politischen in ein enges Verhältnis? Wie funktioniert Arendts Kunst der Unterscheidung nicht nur als politische Dynamik, sondern auch als Grenze und Exklusion? Es ist wichtig zu bemerken, wie sich diese Fragestellungen später auf Butlers Theorie beziehen. Was hat Arendts Zusammenfallen des Politischen mit dem Menschsein mit Butlers Dekonstruktion des Menschen gemeinsam, der nicht nur durch die Matrix der Lebbarkeit hervorgebracht wird, sondern durch die ständige Wiederholung dieser Matrix an sich existiert? Worin unterscheiden sich die beide Theoretikerinnen - etwa in der Frage, wie kann man zum sprechenden Menschen werden? Wie lässt sich Arendts Raumstruktur mit dem Innen und Außen durch die Matrix der Lebbarkeit bei Butler vergleichen?
Im zweiten Teil dieses Kapitels werden Handeln, Pluralität und Macht thematisiert, um das triadische Verhältnis zu zeigen, mit dem sich gemäß dem Verständnis des Handelns der Charakter der Pluralität und Macht verändern lässt. Arendt definiert einen völlig neuen Machtbegriff3, indem sie zwischen ihrer Auffassung von Macht und der herrschenden traditionellen eine scharfe Grenze zieht, die die Konsequenz ihrer Distanzierung des Handelns vom Herstellen ist. Für sie ist Macht nicht mit dem Begriff der Souveränität identisch, der in der europäischen politiktheoretischen Tradition von Bodin über Hobbes und Rousseau bis hin zu Carl Schmitt entwickelt wurde. Laut ihnen sind »Politik, Staat, Macht, Gewalt, Herrschaft und Souveränität auf eine Instanz konzentriert, auf die des höchsten Staatsführers, der zugleich die letzte Entscheidungsgewalt innehat« (Grundenberg 1995, S. 92). Dagegen legt Arendt die Macht als ein Phänomen des menschlichen Handelns fest, das zwischen ebenbürtigen Subjekten entsteht. Arendts Macht erweist sich nicht nur als der Pluralität inhärent. Die aus dem sprachlichen und tugendkonkurrierenden Handeln entstehende Macht tritt als Freisein derjenigen zutage, die Macht hervorbringen. Dieses Verständnis Arendts von Handeln und Macht liefert ferner den Ansatzpunkt, der in Kapitel II ausführlich thematisiert wird: Wie werden bei Arendt durch das Handeln und Sprechen die konstruktive Sich- und Weltschaffung ermöglicht? Und wie bzw. warum wird die Mobilität als autonom und souverän konzeptualisiert?
Am Ende des ersten Kapitels wird Arendts Begriff der Gewalt zur Debatte gestellt. Arendt betont, dass Macht und Gewalt keine Gemeinsamkeit haben und darüber hinaus einen Gegensatz darstellen, durch den sich die Macht genauer verstehen lässt. Wie Macht, definiert sie die Gewalt ebenso aus ihrer einzigartigen Perspektive. Gewalt bezeichnet 1) den präpolitischen Zwang, der patria potestas ist, 2) Ungleichheit, insofern sie aus den »durch Herrschaftsverhältnisse aneinander gebundenen Hierarchiemitglieder[n] besteht« (Bajohr 2011, S. 55). Besonderes Augenmerk wird in dieser Arbeit auf ein drittes Merkmal von Arendts Gewaltbegriff gelegt, nämlich die strukturelle und politische Gewalt. Die politische Gewalt erweist sich bei Arendt im Grunde genommen als das, was die menschliche Fähigkeit zum Erscheinen und Neuanfangen hinwegnimmt, die Arendt als eine bestimmte Form der Bewegungsfähigkeit festlegt. Die systematische Gewalt ruft einen Zustand hervor, der sich in einer spezifischen Form des Verhaftetseins manifestiert. Für die weitere Auseinandersetzung mit den Politiktheorien von Arendt und Butler zwischen Mobilität und Immobilität ist besonders wichtig: Im Gegensatz zur Immobilität, die aus Butlers Politiktheorie und politischen Ethik heraus konzipiert wird, verbindet das Verhaftetsein sich mit der Gewalt und es lässt sich in diesem Nicht-Bewegen-Können nach Arendt keine politische Möglichkeit finden. Die Fragestellungen, wie Gewalt sich begreifen lässt, worauf diese politische Gewalt basiert und welche Rolle die Gewalt der Ungleichheit in Arendts Politiktheorie spielt, sind von besonderer Bedeutung. Denn durch sie lässt sich eine neue, alternative politische Möglichkeit des Widerstandes vorstellen. Somit ist nicht nur die Frage, wie Handeln und Macht sich definieren, sondern auch die Frage, wie Gewalt zu verstehen ist, ein wichtiger Angelpunkt zwischen Arendt und Butler.
1.1 Menschsein, Tätigkeiten und Raum
Die Politiktheorie Hannah Arendts hat eine architektonische und topografische Struktur, in der sich viele Begriffe kreuzen, einander verwandt nahestehen und sich vor allem voneinander unterscheiden sowie hierarchisieren. Um Arendts Politiktheorie näher zu erläutern, werden einleitend ihre Unterscheidung der Räume und die drei wesentlichen menschlichen Tätigkeiten vorgestellt: Arbeiten für das Leben, Herstellen in Bezug auf die Weltlichkeit und Handeln mit dem Politischen. Arendt stellt dem politischen Raum den privaten strikt gegenüber und jede menschliche Tätigkeit wird jeweils in einem bestimmten Raum verortet. Der Raum ist kein rein passiver Begriff, der als substanzielle Grundlage ontologisch gegeben ist und/oder »dem Handeln vorausgeht und politisches Handeln in unterschiedlichen Manifestationen ermöglicht« (Herb, Gebhardt, Morgenstern [Hg.] 2014, S. 12). In ihrer Politik erweist sich »der Raum als die politische Kategorie schlechthin« (ebd., S. 11). In diesem Kapitel werden Antworten auf die folgenden Fragen skizziert: Welche menschliche Tätigkeit soll an welchem Ort ausgeübt werden? Was kann sich durch welche Tätigkeit innerhalb eines bestimmten Raumes ereignen? Und schließlich: Wie kann man das Verhältnis zwischen der Raumunterscheidung und den menschlichen Tätigkeiten mit dem Menschenbegriff bei Arendt zusammenhängend verstehen?
Arbeiten: Animalia laborantia als Insassen im privaten Bereich
Arendt definiert das Arbeiten als eine Tätigkeit, »die nur dem Lebensunterhalt dient« (D, S. 366), insofern dessen Ziel die Reproduktion des menschlichen Lebens wie Ernährung und Erholung vom Alltagsgeschehen ist. Man muss arbeiten, um zu überleben. Aus diesem Grund bezeichnet Arendt den Arbeitenden als Animal laborans, der »in der Tat nichts wesentlich anderes sein [kann] als ein Tier, bestenfalls die höchste der Tiergattungen, die die Erde bevölkern« (VA, S. 102). Beim Arbeiten können die Arbeitenden sich nie voneinander differenzieren, vielmehr sind sie eine tierische Herde oder ein ununterscheidbares verschmolzenes Gattungswesen4 (vgl. D, S. 337, VA, S. 33). Sie können keine Wirklichkeit im arendtschen Sinne erringen: »Als Animal laborans erscheint der Mensch nur als Exemplar einer Spezies ohne jegliche Möglichkeit, eine individuelle Besonderheit zu erkennen. [...] [D]er Arbeiter [ist] austauschbar, da es für die Arbeit keiner besonderen Fertigkeit bedarf außer den jedem Menschen zukommenden Kräften« (Matzner 2013, S. 66). Die Animalia laborantia tragen zum menschlichen Leben bei, genau deswegen können sie Arendt zufolge weder als ein menschliches Sein existieren noch an dem menschlichen Zwischen teilnehmen.
Parallel zu » homines religiosi « wird Animal laborans unpolitisch oder antipolitisch bestimmt (vgl. D, S. 337, 497). Dann muss gefragt werden, warum diese Tätigkeit nach arendtscher Ansicht so sinnlos ist, konkret gefragt z. B., aus welchem Grund das Arbeiten bei Arendt weder ein Produkt noch ein politisches Subjekt noch eine Erinnerung hervorbringen kann (vgl. Penta 1985, S. 20). Eine mögliche Antwort auf diese Frage liegt darin, dass das Arbeiten nur durch eine Form der niemals fertigen »Wiederholung in dem immer wiederkehrenden Kreis« (VA, S. 117) ausgeübt wird, »den der biologische Lebensprozeß ihm vorschreibt und dessen >Mühe und Plage< erst mit dem Tod des jeweiligen Organismus ein Ende findet« (ebd.).5 6 Ihrer Definition nach ist Arbeit eine Tätigkeit, die weder klaren Anfang noch bestimmtes Ende hat, sondern einen rhythmischen Kreislauf zwischen dem Stoffwechsel und dessen Verzehr darstellt (vgl. VA, S. 126f.). Wenn man dieser weltlosen Wiederholung vielleicht eine Bedeutung zumessen kann, ist es gerade die Zeitfolge, die von Arendt im Gegensatz zu politischer Geschichte als das homogene Zeitkontinuum festgelegt wird.7 Die gewöhnliche Zeitfolge, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ohne
Unterlass aufeinanderfolgen, wird nach Arendt durch diese endlos homogene Alltagstätigkeit gebildet (vgl. LGD, S, 201). Somit stellt die Tätigkeit des Arbeitens nicht nur im räumlichen Sinne eine Bedingung für Öffentlichkeit und Freiheit dar, sondern auch im zeitlichen Sinne für ereignishafte und spontane Neuanfänge: Der private Bereich für Erscheinungs- und Handlungsraum, das homogene und immerwährende Zeitkontinuum für kontigenten Bruch durch das Handeln.
Daran anschließend lautet die zweite Antwort, dass aus der Perspektive Arendts - im Gegensatz zu Marx - das Animal laborans eigentlich nichts erzeugt, weder Produktion noch (Arbeits-) Identität. Im Unterschied zum Herstellen und Handeln kann die Arbeit in Form der Wiederholung »nichts objektiv Greifbares« (VA, S. 104) in der Welt hinterlassen. Ihre Ergebnisse können weder auf Dauer in der Welt bleiben noch zu einem Bestand der Welt werden (vgl. ebd., S. 139), da »das Resultat ihrer Mühe gleich wieder verzehrt wird und sie nur um ein sehr Geringes überdauert« (ebd., S. 104). Diese überflüssige Weltlosigkeit der Arbeit ist der Grund, weshalb das Animal laborans nach Arendt nicht als Mensch anerkannt werden kann (vgl. Marchart 2005, S. 81).8 Arendt weist andererseits darauf hin, dass sich diese homogene Wiederholung ohne Gewalt und Zwang nicht vollziehen lässt. Es ist gerade die Gewaltsamkeit der Notwendigkeit, die ein präpolitisches Phänomen ist, dass sie Gewalt und Zwang in Sphäre der Notwendigkeit rechtfertigt (vgl. VA, S. 41). Dieser Zwang und die Gewalt ziehen im privaten Bereich eine Grenze zwischen den Arbeitenden und ihren Herren, also den Freien. Im Gegensatz zu den Freien in ihrem Eigentum können Arbeitende den privaten Bereich nicht verlassen. Arendt bezeichnet sie daher als »Insassen eines Haushalts« (VA, S. 104).
In Anbetracht des Wortes >Insassen< tritt der erste arendtsche Zusammenhang zwischen der Tätigkeit und dem Ort hervor: das Arbeiten im privaten Bereich durch Gewalt und Zwang. Die Gewaltsamkeit des Arbeitens verweist nicht zuerst auf die Belastung oder Mühe der Arbeit (vgl. D, S. 374). Arendt begreift die Arbeit nicht allein als mühevolle Tätigkeit, sondern spricht ebenso von der »Arbeitsfreude« (VA, S. 126). Der Segen der Arbeit bringt zum Vorschein, dass die Menschen in dem Kreislauf der Arbeit die Vitalität ihres Lebens unmittelbar erfahren können, wobei »Mühsal und Lohn einander in dem gleichen regelmäßigen Rhythmus folgen« (ebd., S. 127). In diesem Sinne ist das Arbeiten für Arendt nicht nur die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse, sondern lässt sich eine Tätigkeit verstehen, die die Realität und Regelmäßigkeit des Lebens formt (vgl. Gündogdu 2015, S. 143). Dennoch will jeder Arbeit vermeiden oder muss sie vermeiden wollen, da der Fluch der Arbeit in Arendts Erklärung vor allem auf das Verhaftetsein im privaten Bereich hinweist: »Die eigentlich politischen Unterscheidungen zwischen privat und öffentlich, zwischen dem Haushaltsbezirk und dem öffentlichen Bereich, den Sklaven, die Haushaltsinsassen waren, und ihrem Herrn, der sich frei auf der Agora bewegte, zwischen Tätigkeiten, die im Verborgenen geübt, und solchen, die wert waren gesehen, gehört und erinnert zu werden« (VA, S. 102,8
Hervorh.: Choi). Die Wirkung von Gewalt und Zwang9 weist darauf hin, dass die Arbeitenden im Raum der Notwendigkeit und der Natur verbleiben und nicht in den öffentlichen Raum eintreten können wie ihre Herren. Während die Freien in Erscheinung treten und mit anderen Subjekten handeln und sprechen, besteht für die Animalia laborantia keine Chance, sich als Menschen von anderen zu differenzieren, öffentlich sichtbar und vernehmbar zu werden und kurzum, als Mensch in Erscheinung zu treten.
Herstellen: Einsamer Homo Faber, öffentlich, aber nicht politisch
Im Gegensatz zum Arbeiten, das von Arendt als »lebensnah und weltfremd« (D. S. 366) betrachtet wird, versteht sich das Herstellen als »lebensfremd und weltnah« (ebd.). Im Vergleich zur Weltlosigkeit des Animal laborans bezieht sich das Herstellen teilweise auf die Weltlichkeit, jedoch nur in einer mittelbaren Art und Weise. Den Begriff Herstellen als poiesis, der als das Verfertigen der Dinge und das Erbauen der Welt definiert werden kann, übernimmt Arendt von Aristoteles. Bei Arendt kommt es jedoch zu einer Umgewichtung von >poiesis (noinoi^)< und >techne (T£xvn)< zum Herstellen sowie von >praxis (npö^)< und »praktischem Denken< zum Handeln (vgl. VA, S. 161; Benhabib 1998, S. 188).10 Durch diese Umgewichtung hat Herstellen in Arendts Politiktheorie einen merkwürdigen Charakter, der sich weltschaffend und zum Teil öffentlich, dennoch nicht an sich politisch abzeichnet.11 12 Denn im Gegensatz zum Handeln legt Arendt das Herstellen von Beginn an als eine isolierte Tätigkeit fest: »Die Isoliertheit gegen die Mitwelt, das ungestörte Alleinsein mit einer <Idee>, d. h. mit dem inneren Bild des herzustellenden Gegenstandes, ist die unerläßliche Lebensbedingung der Meisterschaft« (VA, S. 191f.).12 Durch das Ausstellen und Austauschen seiner Werke kann der Homo Faber oder Hersteller sich manifestieren, d. h. im gewissen Grad kann er sich zeigen, trotzdem gelingt es ihm nicht, im menschlichen Zwischen zu erscheinen (vgl. ebd., S. 191, D, S. 740). Des Weiteren schlägt Homo Faber in Verbindung zwischen dem Herstellen und dem Wollen (zur Verwirklichung) auf das Ich zurück (vgl. FuP, S. 213). Die Isoliertheit und Ichbezogenheit und daraus resultierende gewaltsame Souveränität sind der Grund, warum Arendt das von Subjekt-Objekt-Kategorien ausgehende Herstellen nicht als politische Tätigkeit betrachtet.
Das Herstellen beweist an der vermittelten Eigenschaft zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen seine Relevanz. Arendt unterscheidet ihren Weltbegriff in zwei Aspekte: Dingwelt und Menschenwelt als Mitwelt: »Jede menschliche Tätigkeit spielt in einer Umgebung von Dingen und Menschen; in ihr ist sie lokalisiert und ohne sie verlöre sie jeden Sinn« (VA, S. 33). Als eine besondere Tätigkeit, die die Dingwelt erbaut, ist Arendts Begriff vom Herstellen in zweifacher Hinsicht geteilt. Anders als das Animal laborans, das sich nur um etwas Überflüssiges kümmert, fabriziert der Hersteller auf der einen Seite die objektiven Gegenstände und etwas Nützliches, »um die Arbeit zu erleichtern und die Arbeitszeit zu verkürzen« (ebd., S. 211). Daher trägt er zum Schaffen und Erhalten der menschlichen Umgebung bei. Insofern der Hersteller durch die Herstellung von nützlichen Dingen die Anstrengungen des Animal laborans unterstützt, bezieht sich das Herstellen auf Arbeiten. Es bezieht sich auch auf Handeln, insofern Homo Faber das in den öffentlichen Bereich gestellte Künstliche produziert, das sich von der Natur unterscheidet.
Auf der anderen Seite stellt Homo Faber z. B. Kunstwerke und Gebäude, Institutionen und Kultursachen her. Homo Faber erbaut die zweite Welt, indem er Getanes und Gesprochenes von Handelnden im Bezugsgewebe haltbar macht (vgl. VA, S. 33). Homo Faber versteht sich als Meister der Herstellung, insbesondere als Baumeister oder Architekt der Welt, insofern »[d]urch Herstellen die Welt der Kultur und der Wissenschaften, Techniken und Institutionen errichtet [wird], eine Welt, die gerade durch ihre Dinghaftigkeit das Element der Dauer verkörpert und daher der flüchtigen Existenz endlicher Individuen so etwas wie eine Heimat sein kann« (Nordmann 1994, S. 100). Er stellt die Dingwelt her, indem er über die reine Nützlichkeit hinaus menschliche Taten und Gedanken vergegenständlicht. »[D]ie Werke der Kultur bzw. der Kunst, welche die Zeiten überdauern und an die Vergangenheit erinnern, [verleihen] somit auch den vergänglichen politischen Taten des Menschen Dauer« (Schönherr-Mann 2006, S. 127). Die öffentliche Erinnerung an die großen politischen Ereignisse, die zum Bestandteil der Geschichte werden, wird durch die Tätigkeit des Herstellens erzeugt.13 Ohne diesen Verdinglichungsprozess von Homo Faber wird die Unberechenbares verschwunden, infolgedessen geraten die Taten und Reden von Menschen in Vergessenheit. Somit verleiht das Herstellen der Dingwelt den Charakter eines Erinnerungsraumes, z. B. avanciert »die Polis zum Ort der Erinnerung und des Andenkens, das die großen Taten immerwährend gegenwärtig hält« (ebd., S. 128). In diesem Sinne lässt sich argumentieren, dass das menschliche Lebendigsein gewissermaßen vom Herstellen abhängig ist. Ohne Verdinglichung und Haltbarkeit der menschlichen Gedanken, Taten und Worte gibt es kein menschliches Leben, das generationenübergreifend erinnert werden soll (vgl. Marchart 2005, S. 82).
Der vermittelte Charakter des Herstellens ist auch wichtig für das Verständnis von Eigentum in Arendts Politiktheorie. Das Eigentum befindet sich zwar im privaten Bereich, beruht auf dem Herstellen, insofern es sich als das verstehen lässt, was »Stabilität angesichts der Vergänglichkeit und Unzuverlässigkeit des menschlichen Seins [verleiht]« (Herb, Gebhardt, Morgenstern (Hg.) 2014, S. 14). Arendts Konzeption des Eigentums ist aber nicht mit dem Reichtum gleichzusetzen, den man durch seine Mühe anhäufen kann. Es bezeichnet vielmehr »eigene vier Wände« als einen Ort, der sich mit der von Menschen erbauten Welt verbinden kann (vgl. VA, S. 76f.). Eigentum führt zur spezifischen Behausung, durch die der Einzelne »Teil der Welt [wird], sie sich zu eigen [macht] und so seine Zugehörigkeit zu ihr [manifestiert]« (Herb, Gebhardt, Morgenstern (Hg.) 2014, S. 14). Das Eigentum stellt die Voraussetzung für das menschliche Freisein - da nur der Herr des Eigentums in den Erscheinungsraum eintreten kann - und zugleich die Bedingtheit des Menschen dar (vgl. VA, S. 77, Marchart 2005, S. 82).14 Wenn der Mensch sein Eigentum als einen notwendigen Rückzugsort gegen das »überhelle Licht des Öffentlichen« (VA, S. 250) verliert, »verliert er [im äußersten Falle] so die >human condition<« (D, S. 310; vgl. Morgenstern 2014, S. 144). In dem Sinne, dass das sich aus dem Herstellen ergebende Eigentum eine erste Heimat ist, die für den Eintritt in die zweite Heimat sorgt, erweist es sich als der erste verdinglichte Raum und somit als einen Anhaltspunkt für das menschliche Leben.
Vom Eigentum als den eigenen vier Wänden ausgehend kann man in die Welt eintreten. Die Dingwelt, die Homo Faber durch die Verdinglichung und Verleihung der Dauerhaftigkeit bildet, wird auch zu einer zweiten, aber eigentlich menschlichen Heimat für die handelnden Subjekte (vgl. VA, S. 161). Die zweite Heimat ist der Ort, an dem sich Handeln und Herstellen miteinander verbinden. »Politische Handlungen und Taten, sollen sie fortbestehen und erinnert werden, müssen in die Dingwelt eingehen. [...] Umgekehrt wäre eine Dingwelt, in die keine zusätzlichen Handlungen, d. h. Neuanfänge strömen würden und in der die bereits vorhandenen Dinge keine Anschlußhandlungen mehr ermöglichten, vollständig mortifiziert« (Marchart 2005, S. 85). In der Mit- und Dingwelt stehen das Handeln und Herstellen in einer wechselseitigen Beziehung, aber zugleich bedroht eine die andere.
Wie und weswegen bedroht das Herstellen das Handeln, Pluralität und die Politik? Warum verbindet sich das Herstellen mit der Gewalt? Nach Arendt »gehört [z]um Herstellen die Gewalt, wie die Macht zum Handeln gehört« (D, S. 470). Herstellen beginnt von Grund auf mit der Gewaltsamkeit, »Homo faber, der Schöpfer der Welt, kann sein Geschäft nur verrichten, indem er Natur zerstört« (VA, S. 165). Die Gewalttätigkeit des Herstellens ist deshalb in dessen Ausübung inhärent, weil im Mechanismus des Herstellens die Zweck-Mittel-Kategorie herrscht (vgl. VA, S. 167). Während Arbeiten sich als eine Tätigkeit der unendlichen Wiederholung begreift, gibt es beim Herstellen einen klaren Anfang und ein klares Ende. »Das hergestellte Ding ist ein Endprodukt, weil der Herstellungsprozeß in ihm an ein Ende kommt [...], und es ist ein Zweck, zu dem der Herstellungsprozeß selbst nur das Mittel war« (VA, S. 168 f.). Insofern »[d]er Vorgang des Herstellens ein linearer [ist]« (H. Bielefeldt 1993, S. 43), wird etwas Unerwartetes von dem fest vorbestimmten Prozess des Herstellens ausgeschlossen. Während Handeln als Selbstzweck in Erscheinung tritt, weist das Herstellen hingegen auf die Tätigkeit hin, außerhalb derer ein vorbestimmter Zweck liegt und die »nun sich stets unter Leitung eines Modells [vollzieht], dem gemäß das herzustellende Ding angefertigt wird« (VA, S. 166f.). Im Zweck-Mittel-Verhältnis ist es nicht nur wichtig, dass »der Zweck die Mittel rechtfertigt, [... ] er produziert sie nämlich überhaupt erst und organisiert sie« (VA, S. 181f.), sondern auch, dass der »Zweck die Gewalt [rechtfertigt]« (ebd.). In dieser Zweck-Mittel-Kategorie der Herstellung lässt sich eine verborgene politische Gefahr ablesen, die als eine beeindruckende begriffliche Konjunktion zwischen Herstellen, Wollen, Wissen und schließlich Befehlen besteht: Homo faber will mithilfe des Mittels einen Zweck verwirklichen und er weiß schon, was er tut und welches Ergebnis letztendlich hervortreten wird. Arendt kritisiert heftig, dass »die platonische Identifizierung von Wissen mit Befehlen und Herrschen und von Handeln mit Gehorchen und Vollstrecken von Befehlen gegen alle früheren Erfahrungen und Artikulierungen im politischen Bereich [durchgesetzt wird]« (VA, S. 285). Genau gegen diese Identifizierung, gegen den Versuch, das Politische und das Handeln durch Herstellen und das Befehl-Gehorsam-Verhältnis zu ersetzen, richtet sich die Politiktheorie Arendts. Herstellen, das auf der Zweck-Mittel-Kategorie beruht, steht dem Handeln in diesem Sinne gegenüber (vgl. D, S. 261, VA, S. 282 usw.).
Handeln und Sprechen: Ein menschliches Vorrecht
Handeln, das Arendt als eine selbst- und weltschaffende Tätigkeit festlegt, hat als »das ausschließliche Vorrecht des Menschen« (VA, S. 34) den höchsten Rang der Vita activa. Nach Arendt können nicht alle handeln, da weder Animalia laborantia als unterschiedslose Gattungswesen noch Homo Faber als isolierter Meister handeln kann. Handeln benötigt im Gegensatz zum Arbeiten und Herstellen keine anderen Mittel oder Gegenstände, um die Welt der Menschen zu erfüllen (vgl. ebd., S. 17), doch die Ergebnisse des Handelns wurden vom Homo Faber verdinglicht. Die Charakteristika der Mitwelt werden durch das menschliche Handeln geprägt, sodass »[d]er dingliche Aspekt der Welt also mit dem Handlungsaspekt der Welt in einem wechselseitigen Bedingungs- und dabei auch Begrenzungsverhältnis steht« (Marchart 2005, S. 85).
Arendts Begriff des Handelns verstrickt sich eng mit dem Sprechen: »Der Begriff des Handelns bildet eine interne Einheit von zwei Elementen: Tat und Wort« (Saavedra 2002, S. 32, Hervorh.: im Original). In dieser Hinsicht begreift sie Handeln als eine spezifische Form des Sprechens, das »für die Menschen das Medium der Verständigung und des Sichauszeichnens ist« (ebd., S. 31f.). Ohne Worte kann niemand handeln, denn »wo Sprechen verstummt« (D, S. 340), beginnt bereits die Gewalt, die Arendt im Gegensatz zur Macht definiert. Umgekehrt kann ohne Handeln das
Sprechen schlechthin zu leeren Worten werde.15 Ein bedeutendes Beispiel dafür, wie das Handeln in Arendts Politiktheorie als ein interaktives sprachliches Ereignis zutage tritt, ist die Erscheinung. Sie nimmt eine Form des Redeakts an, genauer gesagt eine Form der Antwort auf die Frage, »wer Du bist« (VA, S. 217). Somit deutet das In-Erscheinung-Treten bei Arendt darauf hin, Aufschluss über sich selbst zu geben. Durch diese Erscheinung kann der Mensch als ein Subjekt seine Einzigartigkeit entfalten, sich aktiv von anderen unterscheiden und sich schließlich in die Mitwelt einschalten. In diesem Sinne bezeichnet Arendt die Erscheinung als zweite Geburt (vgl. VA, S. 215).
Arendts Schlüsselwörter des Handelns werden im Vergleich mit den Begriffen Heideggers zusammengefasst. Interessanterweise kehrt sie manche Begriffe um: »Das Sein-zum-Tode wird durch die Natalität ersetzt, das isolierte Dasein wird von einer Bedingtheit der Pluralität abgelöst, und anstelle des instrumentellen Handelns taucht eine neue Kategorie menschlicher Tätigkeit auf: das Handeln, verstanden als Sprechen und Tun« (Benhabib 1998, S. 175f.). Durch ihre eigene Beschreibung von Pluralität, Selbstzweck und Natalität stellt Arendt heraus, dass die Autonomie des Politischen mit der Freiheit und Würde des Menschen zusammenfallen kann und muss.
Alle menschlichen Tätigkeiten basieren laut Arendt im Grunde genommen auf dem Zusammenleben. Dennoch hat das Handeln mit dem menschlichen Zwischen, der Pluralität als dem »Zusammen- und Miteinander-Sein der Verschiedenen« (WiP, S. 9) im Wesentlich zu tun. Der Unterschied des Handelns vom Arbeiten und Herstellen besteht ebenso darin, dass »Handeln [...] in Isolierung niemals möglich [ist]«, denn: »[J]ede Isoliertheit, ob gewollt oder ungewollt, beraubt der Fähigkeit zu handeln« (VA, S. 234). Dabei spielt das praktische Denken oder Denken-über beim menschlichen Zwischen eine wichtige Rolle (vgl. D, S. 10; Arendt 1960b, S. 177).16 Wenn man denkt, heißt dies bei Arendt, dass man weder an sich denkt noch im Denken zu sich selbst zurückkehrt. Vielmehr existiert der Denkende beim Denken bereits >alleine zu zweit<. Arendt legt das Denken als einen reflexiven und kommunikativen Vorgang fest, der »von vornherein als Dialogisch-mit-sich-selbst-Sein auf Andere bezogen ist« (D, S. 283; vgl. ebd., S. 459). In dieser Denktätigkeit wird der Denkende in die Lage versetzt, nicht nur die Existenz der anderen und ihre Verschiedenheit, sondern auch die öffentliche Welt vorzustellen und zu verstehen. Auf diese Weise öffnet das Denken einen Weg zur kommunikativen Pluralität und dem Politischen (vgl. Schönherr- Mann 2006, S. 159f.).
In Anlehnung an Aristoteles legt Arendt den Akzent darauf, dass das Handeln sich als Selbstzweck manifestiert und wirkt. Als reine Aktualität weist das Handeln auf eine Aktivität hin, die »keinen Zweck verfolg[t] [...] und kein Endresultat außerhalb ihrer selbst hinter[lässt] [...], deren volle Bedeutung sich vielmehr im Vollzug selbst erschöpft« (VA, S. 261).17 Das nicht utilitaristische Handeln in der Pluralität, das »das gemeinsame Beginnen von Neuem ins Zentrum stellt« (Bluhm 2012, S. 101), offenbart sich als die einzige Weise des menschlichen Freiseins und Sinn des menschlichen Lebens. Wie Arendt festhält, ist der Sinn der Politik Freiheit, der Zweck des Handelns ebenso (vgl. WiP, S. 28). Menschen handeln in radikaler Unberechenbarkeit, sie unternehmen etwas zusammen für die Freiheit und nur daraus entsteht das freie Zwischen, die Pluralität. Arendt setzt das politische Denken erneut mit dem Selbstzweck des Handelns ins Verhältnis, insofern das Denken als reine Tätigkeit »weder vom Wissendurst noch vom Erkenntnisdrang getrieben [werden kann]« (Arendt 1960b, S. 176f.). Aus dieser Gemeinsamkeit des Denkens und Handelns zieht Arendt eine bemerkenswerte Konsequenz: Weil Denken als eine reine Tätigkeit keinen Zweck und damit keine Gegenstände hat und darum keine bedingte Tätigkeit ist, erweist sich das Denken wie das Handeln als »die Quelle der Freiheit« (vgl. D, S. 261).
Die Fähigkeit des Handelns geht vom Geborensein des Menschen aus. Von Augustin übernimmt Arendt unter anderem das Argument, dass der Mensch »Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen« kann (VA, S. 215), da er selbst »ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist« (ebd.). Sie definiert das Merkmal des Handelns als >Wunderkräftigkeit< (vgl. FuP, S. 221). Im Unterschied zum Arbeiten, das weder Anfang noch Ende hat und im Kreislauf des Körpers gefangen ist, und auch zum Herstellen, das einen klaren Anfang und ein klares Ende hat, lässt sich Handeln damit gleichsetzen, etwas Unerwartetes anzufangen, in der Unwissenheit und der Unmöglichkeit des Widerrufs des Getanen (vgl. VA, S. 170). Der Handelnde kommt als ein Wundertäter zum Vorschein, der seine Eigenartigkeit und Vortrefflichkeit vor anderen zeigen will. Er trägt gerne sowohl diese Unsicherheit beim Handeln als auch die Verantwortung dafür, insofern die Kontingenz des Handelns den politisch-tugendhaften Mut in Anspruch nimmt. In diesem Sinne folgt Arendt Machiavelli in der Auffassung, dass »Handeln ein offener, nicht kalkulierbarer und nicht prognostizierbarer Vorgang mit diversen Rückkopplungsmöglichkeiten darstellt, bei dem man mutig und klug vorgehen muß« (Schönherr- Mann 2006, S. 130). Arendt erhebt zugleich einen Einwand gegen eine Tendenz, die das Handeln als das Führen oder das Herrschen verkennt. Wenn man diesem Missverständnis nachgeht, dann kann man nicht umhin, die >Anfangsvergessenheit< und die >Politikvergessenheit< zu betreffen. Arendts Interesse richtet sich genau entgegengesetzt darauf, wie sich in diesem Missverständnis der verborgene Neubeginn entdecken lässt und sich die Autonomie des Politischen in der Pluralität wiederum bejahen lässt (vgl. Marchart 2005, S. 78).
Neben dem Denken stellt Arendt Verzeihen und Versprechen als die Heilmittel gegen die Spontaneität des Handelns bereit: Vergeben gegen die Unwiderruflichkeit des Handelns und Versprechen gegen die Unvorhersehbarkeit des Handelns. Während das Versprechen eine Handlung für die Zukunft darstellt, beschreibt Arendt das Verzeihen als eine Handlung, sich von der Vergangenheit zu befreien (vgl. VA, S. 302f.).18 Die beiden Aktionen fasst Arendt als Fähigkeiten auf, die bereits im Handeln verankert sind. Ohne sie lässt sich Handeln als ein Neuanfang nicht erneut ins Leben rufen, insofern »Versprechen und Verzeihen [...] für Arendt als Modi der Ermöglichung von Einverständnis, das zum Handeln führt bzw. über die Handlungsfähigkeit gewonnen bzw. wiedergewonnen werden kann« (Bluhm 2012, S. 93), betrachtet werden. Arendts Politisches wird zunächst durch das Versprechen in Gang gesetzt, das auf eine bindende Kraft für die plurale Handlung hinweist (vgl. D, S. 135). Obwohl die Menschen in der Unvorhersehbarkeit des als Neuanfang gesetzten Ereignisses und der anderen handeln, können sich die Handelnden, so Arendt, auf sich selbst verlassen. Die Pluralität beruht auf dieser spezifisch politischen Verlässlichkeit, die »nur der Eine gewordene Mensch im Verkehr mit dem Anderen erfahren kann« (ebd., S. 74). Demgegenüber drückt das Verzeihen die spontane und produktive Fähigkeit aus, die über das Ergebnis des vergangenen Handelns hinaus einen neuen Anfang setzen kann. Durch Verzeihen ist der Mensch imstande, über den homogenen Kreislauf sowie eine automatische Reaktion der Rache hinaus mutig zu handeln. Bei Arendt ist Verzeihen insofern von Bedeutung, als es »die begonnene Handlung weiterführt], aber in eine Richtung, die nicht in ihr lag« (ebd., S. 312). Als das Vorrecht des Menschen lässt sich das Handeln nicht als eine unabhängige Fähigkeit ausüben. Handeln, das in seinem Vollzug das menschliche Freisein und die Macht verwirklicht, kann in Erscheinung treten, insoweit es mit den vielen Fähigkeiten wie Denken, Versprechen und Verzeihen, ferner vor allem Urteilskraft und mit den bestimmten Bedingungen wie dem Eigentum und dem Erscheinungsraum einhergeht.
Polis: Der politische Raum des Freiseins
Am Ende des Kapitels wird erneut hervorgehoben, inwiefern Arendts Politiktheorie in einem wesentlichen Verhältnis zu Raum und Räumlichkeit steht. Als ein spezifisches Phänomen, mit dem das menschliche Lebendigsein zusammenfällt, muss die Politik bei Arendt in einem bestimmten Raum lokalisiert werden, und dementsprechend kann die Freiheit ebenso in Bezug auf die bestimmte Räumlichkeit verwirklicht werden. Arendts Politiktheorie, die mit der Unterscheidung des Privaten und des Öffentlichen einhergeht, baut auf der räumlichen Unterscheidung zwischen oikos und polis auf. Diese räumlich-politische Distinktion spielt eine entscheidende Rolle, insofern sich das Politische bei Arendt als »dynamische Übergangsmodalitäten aus der Notwendigkeit in die Freiheit, aus dem Dasein in das Sein« (Perica 2016, S. 110f.) verstehen lässt, insbesondere als Mobilität.
In Arendts Politiktheorie finden sich verschiedene räumliche Metaphern wie »Tisch als Bild des Zwischen (VA, S. 65) oder die Mauern, die die Einhegungsfunktion des vopo^ [nomos]« (Bajohr18 2011, S. 137), und verschiedene Raumbegriffe wie der private Raum oder Erscheinungsraum und schließlich die (Mit-)Welt. Die Welt, die im Gegensatz zur natürlich gegebenen Erde als etwas Hergestelltes oder Verhandeltes betrachtet wird, bezeichnet Arendt als mundus (vgl. Marchart 2005, S. 34). Der Mundus wird als der Ort von Wirklichkeit und Öffentlichkeit verstanden, auf den sich das Handeln bezieht und in dem sich »die »Konfrontation mit der Pluralität« ereignet« (Perica 2016, S. 111). Das viel zitierte Beispiel der Mitwelt ist für Arendt die Polis der Antike.19 Für Arendt deutet die Polis nicht schlechthin auf eine historische und geografische Tatsache, sondern vielmehr auf einen bestimmten menschlichen Lebensstil wie eine Organisationsstruktur oder einen »Modus des Miteinanderredens« (D, S. 397; vgl. VA, S. 249f.). Sie beschreibt die Polis als einen eingegrenzten und agonalen Raum der Freiheit (vgl. Bluhm 2012, S. 94). In ihrem Verständnis ist sogar gewissermaßen In-einer-Polis-leben und »Freisein« ein und dasselbe (vgl. WiP, S. 38)20, »denn wer die [P]olis verlässt, >verliert den Raum, in dem er allein frei sein konnte«« (ebd., S. 41; ÜR, S. 354) (Bajohr 2011, S. 128). Wenn man Arendt als eine Theoretikerin, »die von der antiken Welt der Griechen fasziniert ist« (Rebentisch 2022, S. 50), betrachtet, vernachlässigt man, »dass die Zurückwendung auf die antike Polis für Arendt vor allem einen heuristischen Wert hat« (ebd., S. 50f.). Die Betonung der Polis lässt sich als ein theoretischer Versuch Arendts verstehen, die Frage zu beantworten, wie nach dem Aufstieg der Konsumgesellschaft sowie des Totalitarismus, nach dem Niedergang des Nationalstaates eine politische Freiheit konzipiert werden kann, »die zu ihrer Realisierung von der Etablierung und Erhaltung eines plural und dynamisch verfassten öffentlichen Raums abhängt« (ebd., S. 51).
Wenn sowohl die Freiheit als auch die Öffentlichkeit zu ihren Realisierungen auf einen bestimmten Raum wie die Polis angewiesen sind, stellt sich die Frage, wie man einen Handlungsraum eröffnen und darin eintreten kann, und ferner, wie man das Verhältnis zwischen Raum und Handeln auffasst. Grob gesagt lassen sich die verschiedenen Auffassungen vom Handeln in folgende Kategorien unterscheiden: das an den festgelegten, bestimmten Raum gebundene Handeln, das die menschliche Wirklichkeit und Öffentlichkeit gewährleistet, im Gegensatz zum im räumlichen Sinne als hoch transponibel betrachteten Handeln, das sich vielmehr auf die Spontaneität, die Bewegung und das Anfangen bezieht (vgl. TV, S. 99). Im Begriff des Raums der Freiheit wirft diese Unterscheidung die Frage auf, ob Polis entweder als spontan emergent, phänomenologisch verstanden werden soll oder hingegen als der durch Institutionen sichergestellte, vor dem Ereignis bereitgestellte Raum betrachtet werden soll (vgl. ebd., S. 127).21 Die ausführliche Diskussion über den Begriff Handeln wird im nächsten Kapitel und die über die Räumlichkeit Arendts in 5.2 vertiefend geführt.
Was hier allerdings betont werden muss, ist, dass der Raum nicht allein eine Vorbedingung des politischen Handelns ist. Vielmehr sind sowohl das Handeln als auch die sich daraus ergebende Subjektivität von Raum, Raumunterscheidung und vom Verständnis der Räumlichkeit abhängig. Somit muss die Raumfrage als politische Frage behandelt werden. Als ein Handlungsraum wird die Polis von Arendt als ein strikt begrenzter Ort für diejenigen bestimmt, die Gleiche unter Gleichen sind. Es fällt auf, dass die Freiheit der Polis sich nicht auf die Offenheit, sondern vielmehr auf die Begrenztheit bezieht. Denn Arendt grenzt von Gleichheit die politische Isonomie ab, die weder darauf hinweist, »daß alle vor dem Gesetz gleich sind, noch daß das Gesetz das gleiche für alle ist« (WiP, S. 40). Als eine spatiale Konkretion Arendts, mit der gemeint ist, »dass >die politische Öffentlichkeit einen Ort hat, an dem sie erscheint«« (Bajohr 2011, S. 129), enthüllt die Polis ihr Defizit und stellt das Raum-Politik-Verhältnis zur Diskussion: Wenn der Zugang zum politisch freien Raum nur bestimmten Menschen wie Hausherren geöffnet wird und wenn nur denjenigen, die über die Gesetzmauer hinausgehen können, der Anspruch auf politische Tätigkeit, etwa das In-der- Polis-miteinander-Reden zur Verfügung steht, was bedeutet folglich unter diesen Voraussetzungen die Politik und das freie Subjekt? Wer in welchen Raum wie eintreten kann, ist in der heutigen Welt eine entscheidende politische Frage, die sich mit der Zugehörigkeit und Wirklichkeit des Menschen verbindet. Arendt hat diese Frage geöffnet, die immer noch umstritten ist.
1.2 Handeln, Pluralität und Macht
Um Arendts Politik genauer zu verstehen, wird in diesem Kapitel auf die Begriffe Handeln, Pluralität und Macht ausführlich eingegangen. Der Zusammenhang dieser drei Begriffe bildet nicht nur die grundlegende Dynamik des Politischen in Arendts Politiktheorie. Daraus lässt sich ferner ein charakteristischer Begriff ableiten, nämlich die Mobilität, die beschreibt, dass sich in Arendts Politiktheorie die politische Handlungsfähigkeit in Form der Bewegungsfähigkeit des mit anderen Subjekten um politische Tugend konkurrierenden Subjekt ausübt. Die politische Dynamik bei Arendt schlägt sich im Erscheinungsraum nieder, der bei Arendt ebenso der Raum der Macht ist: Er kann aus dem Handeln entstehen und weiter existieren, solange die Menschen sich in Form der Pluralität versammeln. Dieses Kapitel ist nach den multiplen Verhältnissen zwischen Handeln, Pluralität und Macht gegliedert. Die Eigenschaften der Macht resultieren aus dem Handeln und der Pluralität. Das heißt, dass der arendtsche Machtbegriff von den Interpretationen des Handlungsund Pluralitätsbegriffs abhängt. Dies weist darauf hin, dass der Begriff des Handelns ein Ansatzpunkt für das Verständnis der arendtschen Politiktheorie ist. Somit fokussiert sich dieses Kapitel erstens auf den Begriff des Handelns, jedoch weniger darauf, was Handeln ist, sondern vielmehr darauf, wie Handeln sich offenbart und durch welche Eigenschaften Handeln zunächst charakterisiert wird. Zweitens geht es um die Form und Funktionsweise der Pluralität, insbesondere um das Verhältnis zwischen der Form der Pluralität und der Machtentstehung. Danach werden die wesentlichen Eigenschaften der Macht dargestellt und Arendts Machtbegriff wird mit dem anderer Theoretiker wie Habermas und Foucault verglichen. Statt einer Zusammenfassung wird am Ende dieses Kapitels der Bezug zwischen Handeln, Pluralität und Macht noch einmal aufgegriffen und es wird gefragt, wie Macht aus dem agonalen und kommunikativen Handeln mit welcher Form der Pluralität ins Verhältnis gesetzt werden kann und soll.
Zwei Züge des Handelns
In der Arendt-Forschung gibt es ausführliche Diskussionen zur Frage, wie der Begriff des Handelns verstanden werden kann. Im Folgenden werden die Auseinandersetzungen von Maurizio Passerin d’Entreves, Seyla Benhabib, Dana Villa, Rahel Jaeggi und Oliver Marchart behandelt, um herauszustellen, wie sich deren Verständnis des Handlungsbegriffs jeweils unterscheidet. Auf den ersten Blick bestehen zwei wesentliche Aspekte in dieser Auseinandersetzung darin, wie Katrin Meyer zusammenfasst, dass sich »das kommunikative Element in Arendts Politik- und Machtverständnis vom konflikthaft-agonal-expressiven unterscheidet« (Meyer 2016, S. 89).
Maurizio Passerin d’Entreves fasst Arendts Handlungsbegriff als begriffliche Spannung zwischen dem kommunikativen und dem expressiven Handeln auf. Bei ihm ist das kommunikative Handeln durch symmetrische Wechselseitigkeit der Menschen charakterisiert, während das expressive Handeln als Selbstverwirklichung - seine Einzigartigkeit zu zeigen - betrachtet wird (vgl. Passerin d’Entreves 1994, S. 85). Er betont, dass diese grundlegende Doppelsinnigkeit des Handlungsbegriffes in der arendtschen Politiktheorie im Zentrum steht. Tendenziell verschiebt sich seine Betonung jedoch auf das kommunikative Modell, wodurch ein kollektives >Wir< als politisches Subjekt konstituiert werden kann. Ihm zufolge spielt dabei das Narrativ eine besondere Rolle, denn eine politische Gemeinschaft kann durch das Zitieren und Nachahmen des Narrativs, das das Getane und Gesprochene erhält und erinnert, von den Subjekten und Beteiligten gebildet werden. Indem Passerin d’Entreves das kommunikative Handlungsmodell höher bewertet, zeigt sich bei ihm ebenso, dass die Konstitution einer kollektiven Identität als zentrale politische Praxis bei Arendt auf dem kommunikativen Handlungsmodell aufbauen könnte (vgl. Passerin d’Entreves 1994, S. 75 f., 155 ff.).
Statt der Unterscheidung zwischen kommunikativem und expressivem Handeln setzt Seyla Benhabib das narrative Handeln mit dem agonalen in Beziehung (vgl. Benhabib 1996). Schon im Modell des öffentlichen Raums (1991) versuchte sie, Arendts Handlungsbegriff im Hinblick auf ihre antimoderne Haltung zu unterscheiden. »Die Unterscheidung zwischen dem >agonistischen< und dem >Assoziations<-Modell entspricht der zwischen der griechischen und der modernen Erfahrung von Politik« (Benhabib 1991, S. 152). Von Benhabib wird das agonale Handeln bezüglich des Erscheinungsraumes, z. B. der Polis, so definiert, dass sich »moralische und politische Größe, Heroismus und Außengewöhnlichkeit offenbar« (Benhabib 1991, S. 151) zeigen. In diesem Sinne ist der Erscheinungsraum ein Ort des Wettbewerbs, »in dem man um Anerkennung, Vorrang und Beifall konkurriert« (Benhabib 1991, S. 151). Im Gegensatz dazu präsentiert sich das Assoziationsmodell von Benhabib derart, dass dessen Kern Einverständnis, nämlich Überredung ausmacht.22 Sowohl beim Assoziationsmodell als auch bei dem narrativen Handeln, »durch das
>Erzählen einer Geschichte< und >das Weben eines Gewebes aus Geschichten< charakterisiert« (Benhabib 2006, S. 202), spielen die Sprache wie das Überreden eine entscheidende Rolle, wodurch die menschliche Pluralität gebildet werden kann (vgl. Benhabib 2006, S. 204).23
Im Gegensatz zur Position von Passerin d’Entreves und Benhabib, die das kommunikative und normative Konzept des Handelns in der arendtschen Politiktheorie betonen,23 24 bezeichnet Dana Villa Arendt als Antiplatonistin und hebt einen antiessenzialistischen und performativen Handlungsbegriff hervor. Nach Tobias Matzner setzt Villa Benhabibs Position entgegen, »dass für Arendt viel mehr als nur Deliberation eine Rolle spiele: >performance and persuasion, deliberation and invitation, agonism and agreement.< Durch Benhabibs von Habermas inspirierte, konsensorientierte Lesart falle die Hälfte davon weg« (Matzner 2013, S. 81). Er lehnt deutlich das expressionistische Handlungsmodell ab, das einen Kern des Inneren voraussetzt. In Anlehnung an Nietzsche nimmt er dagegen an, dass das arendtsche Handeln, das sich von der sklavischen Feindlichkeit gegen Pluralität und Handeln entfernt, als ein spontanes Ereignis ohne schon vorgegebenes Subjekt definiert wird. Die Identität oder Kohärenz des Handelnden, nämlich das Subjekt des Handelns, wird durch eigene Handlung, und zwar durch die Erscheinung, konstruiert.25
Diese die performativen und spontanen Eigenschaften des Handelns betonende Interpretation teilt Villa mit Rahel Jaeggi und Oliver Marchart. In ihrem Buch Welt und Person fasst Jaeggi Arendts Handlungsbegriff als ein konstituierendes und performatives Konzept in ähnlicher Lesart wie Villa auf und betont, dass es vor dem Handeln »keine >Hinterwelt< (Nietzsche) [gibt], wirklich ist, was erscheint« (Jaeggi 1997, S. 58). Jaeggi betrachtet das arendtsche Handeln, das ohne vorherigen Maßstab ausgeübt wird, vor allem als innovativ (vgl. ebd., S. 33f.).26 Eine der zentralen Behauptungen in diesem Buch, die auch für das Verständnis der Mobilität von relevanter Bedeutung ist, lautet, dass durch das innovative Handeln sowohl die Selbstgestaltung des Individuums als auch der Aufbau der Welt zugleich konstituiert werden können. Diese doppelseitigen und gleichzeitigen Gestaltungen sind keineswegs vorbestimmt oder vorhersehbar. Jaeggi differenziert die Selbstgestaltung von der Selbstverwirklichung, die ein kohärentes und inhärentes Inneres voraussetzt.26 27 Wenn sich das Hauptmerkmal des Handelns als innovativ versteht, soll folgerichtig das Politische bei Arendt ebenso als etwas Innovatives begriffen werden, weil das Politische beinah allein auf dem Handeln beruht. Jaeggi spricht somit davon, »daß politisches Handeln in diesem Sinne >einen Anfang machen< bedeutet, daß es die Bedingungen, unter denen Normalität sich konstituiert, erst setzt, die Paradigmen des Handelns erst schafft« (Jaeggi 1997, S. 37). In einer vergleichbaren Herangehensweise betont Oliver Marchart mit seinem eigenen Wort >quasi-transzendental< den kontingenten und performativen Charakter des Handelns und des Politischen bei Arendt. Sein Fokus auf den arendtschen Begriff des Handelns zeigt sich verkürzt im Wort >Neubeginn<, wie der Titel seines Buches lautet. Bei ihm ist das Handeln nichts anderes als >Einen-Anfang-in-die-Welt-setzen< und es ist im Prinzip immer möglich, insofern Arendt feststellt, dass die Fähigkeit zum Neuanfang in der Tatsache der menschlichen Natalität besteht: »Natalität - als die selbst nicht weiter ableitbare Instanz des Anfangs (die Faktizität unserer Geburt) - ist, quasi-transzendental gefasst, die Bedingung der Möglichkeit des Neubeginns im Handeln« (Marchart 2007, S. 350f.). Insofern der Handlungsbegriff prinzipiell nicht als episodenhaft und rarifiziert, sondern als allgegenwärtig gilt, wie er selbst die >Ubiquität< des Handelns und die >Profanisierung des Außergewöhnlichen< im Anschluss an Walter Benjamin erwähnt,28 hat sein Verständnis einen bestimmten Vorteil: die Ausweitung der Möglichkeit des Handelns. Aufgrund seines Verständnisses vom Handlungsbegriff stellt sich der Begriff des Politischen bei Marchart auch als dynamisch dar, nach ihm können die aktuellen Sozialbewegungen in vielen Bereichen als >Dosierung< des Handelns oder als eine Mikrorevolution im Sinne Arendts verstanden werden (vgl. Marchart 2007, S. 353f.).
Alle dargestellten Versuche, Arendts Begriff des Handelns zu fassen, sind zwar je nach individuellem Schwerpunkt unterschiedlich, jedoch keine ganz unvereinbaren Lesarten. Hier findet man eine Oszillation des Verständnis des Handlungs-Begriffs: Entweder versteht sich das Handeln als gemeinsame Kommunikation sowie Kraft des Narrativen - wie z. B. bei Passerin d’Entreves und Benhabib - oder als eine Tätigkeit von antiessenzialistischer Maßstabslosigkeit - wie bei Villa, Jaeggi und Marchart. Warum bzw. woraus entstehen die Pole zwischen dem Handeln als bestimmter Form des Sprechens und dem Handeln als Neuanfang? Denn, wie Marco E. Saavedra in Anlehnung an Leo Joseph Penta zusammenfasst, die Frage nach dem Verhältnis von Handeln und Sprechen bleibt in Arendts Politiktheorie offen. Es ist immer noch umstritten, ob »>action< [entweder: Choi] pars pro toto für das Begriffspaar >speech and action< stehen kann« (Saavedra 2002, S. 32), oder >action< »allein im Gegensatz zum Sprechen für Tat oder >deed< gebraucht wird« (ebd.). Es fällt auf, dass die Oszillation des Handlungsbegriffs mit arendtscher Unterscheidung zwischen sprachlich-deliberativem Öffentlichem und dem unberechenbaren Politischen zu vergleichen scheint. Die Öffentlichkeit und das Politische verwendet Arendt selbst oft nicht so strikt, aber in den kurzen Textpassagen in Was ist Politik? erfolgt ihre Unterscheidung des Öffentlichen vom Politischen. Zuerst ist Öffentlichkeit die Wirklichkeit im arendtschen Sinne, dass Menschen gegenseitig gesehen und gehört werden, wenn sie in einen Raum des Lichts eintreten (vgl. VA, S. 62f.). Diese Wirklichkeit beruht auf der Anwesenheit der anderen, und zwar der Ebenbürtigen, die miteinander über öffentliche Angelegenheiten diskutieren können. Unter dem Aspekt des öffentlichen Handelns erweist sich die Welt als »das öffentliche Gemeinsame« (Jaeggi 1997, S. 58) und als die »phänomenale und öffentlich-gemeinsame Realität« (ebd.), die gegen »die vom Verdacht der >Unwirklichkeit< bedrohte Sphäre des Privaten, Innerlichen gesetzt [wird]« (ebd.).
Andererseits lässt sich zu Recht sagen, dass der Vorrang des Politischen sich aus dem Handeln ergibt, das als ein Neuanfang zutage tritt. Arendt stellt das Miteinander-Reden als konstitutiv dar, durch den Austausch der Meinungen Einzigartigkeit zu zeigen und die Welt zum Ort der Vielfältigkeit zu machen. »Wir erschaffen eine gemeinsame Welt, indem wir sie mit Bedeutungen >aufladen<« (Jaeggi 1997, S. 62). In diesem Sinne kann »dem arendtschen >Gesamtentwurf ein Primat der Sprachlichkeit der politischen Tätigkeit nachgewiesen werden«« (Saavedra 2002, S. 32), »und zwar derart, daß Sprache sowohl Macht wie auch Handeln entscheidend überformt« (ebd.). Trotzdem ist »Freiheit der Meinungsäußerung« mit der »eigentlichen Freiheit [des Handelns: Choi], einen neuen Anfang zu setzen« (WiP, S. 50f.), nicht vollkommen identisch. Arendt unterscheidet »die Freiheit der Spontaneität« des politischen Handelns von der Freiheit des öffentlich-sprachlichen Handelns dadurch, dass für das politische Handeln die Pluralität, nämlich die Anwesenheit der anderen als Voraussetzung nötig, aber nicht immer notwendig ist (vgl. WiP, S. 51). Bei Arendt verankert sich die Fähigkeit zum politischen Handeln als Neuanfang in der Natalität des Menschen, weswegen die Möglichkeit des politischen Handelns eigentlich beim Einzelnen, d. h. beim Individuum, liegt (vgl. WiP, S. 51).
Der Versuch, das Spektrum der Verständnisse des Handelns zu skizzieren, kann in gewisser Weise von Bedeutung sein, um zwei begriffliche Zusammenhänge - einerseits das sprachliche und deliberative Handeln in Verbindung mit der Öffentlichkeit und andererseits das spontane und innovative Handeln als Neuanfang in Bezug auf das Politische - zu bilden. Um Arendts Handlungsbegriff näher zu verstehen, ist allerdings darauf aufmerksam zu machen, wie man über die dualistischen Perspektive zwischen dem öffentlichen und gewaltfreien Sprechakt und dem kontingenten und agonalen Neuanfang hinaus Arendts Handeln denken kann. Ist es nicht sinnvoll, der Frage nachzugehen, inwiefern Arendt die agonale Sprache im Zentrum ihres Handlungsraums stellt? Wie lässt sich die politische Tugend durch konkurrenzfähige sprachliche Formen konkretisieren? Lässt sich nicht vorstellen, dass die politische Autonomie, in der die individuelle Selbstschaffung mit der Weltschaffung und der Sorge um die Welt zusammenfällt, durch den Redeakt ermöglicht wird, der die Verletzbarkeit und Prekarität des Menschen ausschließt? Das von der Erscheinung ausgehende autonome Politische und die Mobilität, die sich als solche definieren lässt, dass die politische Handlungsfähigkeit eine bestimmte Form der räumlichen und auch sprachlich-agonalen Bewegungsfähigkeit darstellt, werden in Kapitel 2.1 ausführlich thematisiert.
Pluralität in Form politischer Freundschaft
Im Verständnis des arendtschen Handlungsbegriffes schwingen der Pluralitäts-, Freiheits- und schließlich der Machtbegriff mit: Handeln kommt in Form der Pluralität zustande (vgl. WiP, S. 9) und die Macht tritt als ein spezifisches Phänomen des Handelns im Zwischen zutage. Pluralität ist nach Arendt sowohl der einzige Lebensstil, in dem das menschliche Freisein verwirklicht werden kann, als auch die Form des Politischen, in der die Selbstschaffung durch die intersubjektive Perspektivendifferenz als Zugang zur Welt funktioniert.29 Hier wird Arendts Begriff der Pluralität in engem Bezug zum Handeln thematisiert: Wie kann Pluralität geschaffen werden und welche Rolle spielt sie beim Politischen und gleichzeitig beim Menschsein? Pluralität wird durch verschiedene Meinungen und parallel vorhandene unterschiedliche Handlungen gebildet und sie ist ein Prozess, der die Homogenisierung des politischen Bereichs verhindert und das Verschiedensein koordiniert und aneinander angleicht. Darum sagt Arendt, dass »Politik ja von vornherein die absolut Verschiedenen im Hinblick auf >relative< Gleichheit und im Unterschied zu > relativ< Verschiedenen [organisiert]« (WiP, S. 12). Im Gegensatz zur weltlosen Beziehung wird erstens die politische Freundschaft als eine konkrete Form der Pluralität erläutert. Zweitens wird die inhärente Begründung und Dynamik der arendtschen Pluralität im Anschluss an die zwei Perspektiven von Meyer erfasst: den gemeinsamen Anfang und den als souverän gesetzten Anfang. Des Weiteren werden die Eigenschaften der Macht thematisiert, die mit den Eigenschaften des Handelns und der Pluralität einhergehen.
Die Pluralität setzt eine strikte Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem voraus. Arendt hält fest, dass der private Raum und der öffentliche Raum nicht nur keine Gemeinsamkeit haben, sondern vielmehr deutlich abgegrenzt werden müssen. In dieser Perspektive muss Pluralität, die aus den verschiedenen Meinungen von Menschen und deren Einzigartigkeit besteht, zunächst von intimen, privaten und selbstbezüglichen Liebesbeziehungen wie Nächstenliebe30 deutlich unterschieden werden. Arendt legt die private Liebe31 als »das Welt zerstörende Prinzip« (D, S. 373) fest, dass »[d]ie Liebe, durchschlägt wie der Blitz das Zwischen, d. h. den Welt-Raum zwischen den Menschen [verbrennt]« (ebd., S. 372). Die Liebenden sind unfähig, über etwas beiden Gemeinsames, über die Welt zu sprechen.32 Daher muss der Begriff Pluralität deutlich von der Vorstellung abgegrenzt werden, dass der Staat als eine große Familienstruktur betrachtet wird: Die Pluralität, die auf politisch mutigen Handlungen basiert, differenziert sich von der Nation, die sich insbesondere nach der Blutlinie, Rasse oder körperlichen Merkmalen orientiert. Arendt versucht, das Missverständnis zu vermeiden, das politische Gemeinwesen entweder als eine kooperative, übereinstimmende Gemeinschaft oder als eine gigantische Ganzheit zu betrachten, und zwar als »die Familie als die Urform der menschlichen politischen Gemeinschaft« (D, S. 38). Denn durch die Vermischung von Privatem und Politischem münden die Gewalt und Herrschaftsbeziehung des Privaten in den politischen Bereich der Freiheit. Wenn der Staat unter dem Recht des Vaters mit seiner Gewalt beherrscht wird, verwandelt sich dieser politische Bereich in ein Verhältnis von Befehlen und Gehorsam, auf dem beruhend die Gewalt funktioniert. Andererseits spielt der pervertierte Staat weniger für das menschliche Freisein eine Rolle, sondern für die Sicherheit oder Wohlfahrt, also für die Sorge für die Lebensbedürfnisse. Genau gegen diese Tendenz, Politik als das Mittel zur Regierung anzusehen, wendet sich Arendt.
Als ein Beispiel des Modus der Pluralität führt Arendt die politische Freundschaft33 an, die sie von Aristoteles übernimmt: »Das freundschaftliche Miteinander-Sprechen läßt die Menschen erst zu Bürgern werden, indem sich derart eine öffentliche Sorge um die gemeinsame Welt äußert« (Schönherr-Mann 2006, S. 134). Im Handlungsraum entsteht politische Freundschaft aus den auftretenden Subjekten, die im Zusammenhang mit Arendts Konzept des Verzeihens steht. Politische Freundschaft manifestiert sich als die konstruktiven Beziehungen, die Freiheit ins Leben rufen. Durch diese spezifische Beziehung können sich die handelnden Subjekte von der Folge dessen befreien, was sie getan haben oder was sie von der Vergangenheit übernommen haben. Unter der strikt begrenzten Rolle des Gesetzes >entbindet sich< jedes Subjekt in der Freundschaft von der Rache, die »in der Form der Re-aktion handelt und daher an die ursprüngliche, verfehlende Handlung gebunden bleibt« (VA, S. 306). Sowohl einer, der verzeiht, als auch anderer, dem verziehen wird, >verbinden sich< neu miteinander als diejenigen, die einen Neuanfang setzen können, und dieses gegenseitige Sich-Entlassen re-aktualisiert immer neu bzw. erneut. Was der Verzeihende und der, dem verziehen wird, in der politischen Freundschaft empfängt, ist in diesem Sinne die Freiheit, etwas Unerwartetes zu beginnen.
Andererseits wird in der politischen Freundschaft eine politische Ebenbürtigkeit gestaltet, die der Gleichheit unter dem Gesetz vergleichbar ist. Die Gleichheit unter dem Gesetz geht von einem Rechtsverfahren aus, in dem der Richter als ein mächtiger Dritter - nur ein Bürger in einer Gemeinschaft kann Richter sein - die zwei Parteien zu gleichen Bürgern macht. Arendt äußert skeptische Bedenken gegenüber der Idee, dass die Politik in enger Verbindung mit dem Gesetzlichen eine Gleichheit der Bürgerschaft herstellen kann. Im Hinblick auf das Verständnis des griechischen nomos, der als Gesetzmauer die polis schützt und begrenzt, dennoch nicht beherrscht, wird Isonomie durch das gegenseitige Sich-Entlassen zwischen den ebenbürtigen Subjekten unmittelbar begründet und bewahrt. Somit erweist sich die arendtsche Isonomie als eine phänomenologische, sprachlich-praxisbezogene und selbstschaffende Pluralität. Durch die politische Freundschaft kann die Pluralität der Freiheit und der Ebenbürtigkeit zutage treten, eine Freundschaft, die nur die Handelnden genießen können (vgl. Marchart 2005, S. 142).
Die Voraussetzung für diese spezifische Freundschaft liegt in der Vielfältigkeit der eigenen Standpunkte und der konkurrierenden Umstrittenheit zwischen den Perspektiven. Die Freundschaft bietet den handelnden Subjekten eine Bühne, auf der sie ihre eigene Perspektive erweitern, der Kritik anderer aussetzen und die anderen überreden können. Dies weist bei Arendt auf die »»politische Relevanz< der Freundschaft« (Rebentisch 2022, S. 115f.) hin und ermöglicht es, die politische Tugend des Individuums öffentlich zu zeigen.34 Arendts Pluralität offenbart sich somit durch das »Spiel von Nähe und Distanz« (Meyer 2016, S. 62), das nach ihr bereits politisch ist, da von hier aus Macht entsteht und Menschen die Welt verändern können. Dieses Spiel der Distanzierung besteht durchaus in der Unberechenbarkeit, insofern die politische Freundschaft sich von dem Wissen, Befehlen und der Gewalt des Herstellens unterscheidet. Wer die Unberechenbarkeit der Pluralität besiegt, ist der platonische Herrscher, dem die arendtsche Pluralität gegenübersteht.35 Außerdem braucht die Freundschaft des Handelns gegenseitiges Vertrauen, obwohl sie »der Nähe und der Intimität nicht bedarf« (VA, S. 310). Arendt sieht in dieser Verlässlichkeit das menschliche Vermögen, sich zu versammeln. Sie bezeichnet diese Fähigkeit als Versprechen (vgl. ebd., S. 313): »[D]as Großartige am Versprechen ist, dass es gerade im Material des Unberechenbaren, zu dem man selbst noch gehört, etwas Verlässliches aufstellt« (D, S. 136). Trotz der Unberechenbarkeit und Spontaneität handeln und sprechen die Subjekte miteinander und zeigen zugleich ihre Einzigartigkeit sowie Vortrefflichkeit. Darum nennt Arendt dieses mutige und gegenseitig verlässliche Verhältnis die politische Freundschaft, in der aus dem »horizontalen Sich-aneinadner-Binden [Macht entsteht]« (Marchart 2005, S. 142), die selbst die Form des politischen Bündnisses annimmt.
Zwei Formen des Anfangs und der Pluralität
Die Verhältnisse zwischen Handeln, Pluralität und Macht sind in Arendts Politiktheorie komplex und ambivalent: Handeln und Sprechen, die an sich Arendt zufolge mit dem Politischen gleichgesetzt werden können, sind im Prinzip in der Pluralität möglich, doch durch Handeln und Sprechen wird die Pluralität erst hervorgebracht. Die Pluralität lässt sich bei Arendt nicht als ein Unterbau bezeichnen, auf dem sich das Politische entwickeln kann. Im Folgenden werden die Verhältnisse von Handeln und Pluralität näher erläutert, indem mithilfe von Katrin Meyer die zwei Formen des Handelns untersucht werden: zum einen als gemeinsamer Anfang und zum anderen als souverän gesetzter Anfang.
Ein spezifisches Leitbild der Pluralität bei Arendt ist die Revolution, insoweit Revolution als »die gemeinsam gemachte Erfahrung der existenziellen Fähigkeit zum Neubeginnen« (Marchart 2005, S. 69) verstanden werden kann.36 Im Moment der Revolution, der nicht mit einem Urbeginn gleichgesetzt wird, manifestiert sich nach Arendt »ein historischer Neubeginn handgreiflich« (ÜR, S. 264). Durch das revolutionäre Pathos, das die gemeinsam Handelnden in einer »Erfahrung des In-Freiheit-Handelns« (vgl. ÜR S. 40) teilen können, entsteht »eine spezifische Form von Interaktion, die ergebnisoffen ist und durch diese nicht-instrumentelle Offenheit alle Beteiligten gleichberechtigt am Interaktionsprozess teilhaben lässt« (Meyer 2016, S. 44). Die Pluralität aus dem gemeinsamen Anfang erweist sich als eine kennzeichnende Art der Pluralität, in der die Trennung zwischen dem Anfänger und den Vollziehenden keine Gültigkeit mehr haben kann. Als das Ereignis, in dem Handeln als Neuanfang mit dem Freisein zusammenfällt, erweist sich Revolution - insbesondere nach Arendts republikanischer Ansicht - als eine Konstitution, wie in einem Verfassungsakt (vgl. FuP, S. 218): Es ist eine Handlung des Volkes, »das eine Regierung konstituiert« (ÜR S. 188). Dieser gemeinsame Verfassungsakt weist auf die Transformation von Handeln und Macht hin, insofern in der Revolution das gemeinsame Handeln, das auf der handlungstheoretischen Ebene liegt, in die Institutionen und Verfassungen versetzt wird.37 Somit wird die Pluralität, die zu einem gemeinsamen konstitutionellen Neuanfang geführt hat, nicht nur als kontingent betrachtet. Sie drückt sich vielmehr als eine beständige Struktur aus, die die Freiheit zum gemeinsamen Neuanfang bewahren und erweitern kann.
Arendt definiert Revolution als einen Bruch des Status quo durch einen gemeinsamen Anfang, der »außerhalb der Zeit steht« (Marchart 2005, S. 64f.). Ein solcher revolutionärer Bruch wird durch Spontaneität charakterisiert, die bei Kant als eine Fähigkeit bestimmt wird, »eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen« (FuP, S. 220). Er ist völlig unberechenbar und »überhaupt nicht eigentlich abzuleiten« (ÜR, S. 265), trotzdem unterscheidet sich die Kontingenz der Revolution von der Arbitrarität oder Mystifizierung (vgl. Marchart 2005, S. 64f.; Meyer 2016, S. 64). Diese Erfahrung, die >in Freiheit handelnde< Gruppe zu bilden und zu dieser revolutionären Gruppe zu gehören, findet man in der Geschichte eigentlich nur selten. Arendts Pluralität wird zweitens oft als Form des souverän gesetzten Anfangs gebildet, »dass ein Einzelner oder eine Einzelne eine Initiative startet, die in einem zweiten Schritt von einer Gruppe von Menschen aktiv unterstützt wird« (Meyer 2016, S. 42). Genau betrachtet ist der souverän gesetzte Anfang kein gemeinsamer Anfang von Handelnden wie eine Revolution, sondern eher die »gemeinsame Fortführung des Begonnenen, nachdem andere diesem Einzelnen zu Hilfe gekommen sind« (Marchart 2005, S. 77). Im souverän gesetzten Anfang besteht daher eine Trennung zwischen dem Anfänger bzw. den Anfängern und den Vollziehenden. Darauf folgt eine Reihe von Fragen: Wer sind die Helfenden? Sind sie im arendtschen Sinne ebenso die Handelnden? Arendt selbst warnt davor: »Wenn man Handeln als Ausführen des gesprochenen Befehles versteht, entsteht eine Kluft zwischen Reden und Handeln, die identisch ist mit der Kluft zwischen Befehlenden und Gehorchenden« (D, S. 399). Steht diese Unterscheidung nicht im Widerspruch zum Handlungsbegriff, wenn Arendt ihren eigenen Handlungsbegriff vor allem gegen Plato entwickelt? Besteht keine Gefahr, dass sich das Handeln während des souverän gesetzten Anfangs in ein Verhältnis von Befehl und Gehorsam verwandelt? Schließlich: Aus welchen Gründen kann man den souverän gesetzten Anfang als Arendts Begriffe von Handeln und Pluralität noch bestätigen?
Arendt stellt deutlich heraus, dass »man nur mit der Hilfe der anderen und in der Welt [handeln kann]« (FuP, S. 224). Was Arendt stärker betont als die Unterscheidung zwischen dem Anfänger bzw. den Anfängern und den Helfenden, ist, dass im souverän gesetzten Anfang »Anfangen und Vollbringen ineinander [übergehen]« (ebd.). Um die Kluft zwischen dem Anfangsetzen und dem Fortführen aufzulösen, kann die Idee vom theatrum mundi, eine Metapher des Theaterspiels bei Arendt, hilfreich sein: »Die Bühne des Theaters ahmt in der Tat die Bühne der Welt nach, und die Schauspielkunst ist die Kunst handelnder Personen«« (VA, S. 233). Mit dieser Theatermetapher hebt Arendt zwei gegensätzliche Ideen gleichzeitig hervor. Einerseits stellt sie die politisch-mutige Tugend des Anfängers in den Vordergrund, andererseits stellt sie dar, dass sowohl die räumliche Trennung zwischen der Bühne des Handelns und dem Zuschauerraum als auch die Rollentrennung von Schauspieler und Publikum nicht fixiert ist. Nach ihr kann im Erscheinungsraum jedes Subjekt zugleich Zuschauer und Mithandelnder sein (vgl. VA, S. 249). Des Weiteren hält Arendt die Rolle der Zuschauer nicht für rein passiv und nebensächlich, insofern die Wirksamkeit des Ereignisses nicht allein beim Handelnden liegt. Indem Arendt den Begriff Mut38 verwendet, versucht sie, den souverän gesetzten Anfang von der Souveränität in der Gewalt abzugrenzen. Während die Gewalt der Souveränität im Prinzip auf der vom Mittel-ZweckVerhältnis ausgehenden Isolierung basiert, kann sich das Mutigsein in der Pluralität präsentieren. Deswegen ergibt sich eine unerwartete Verschiebung: Sowohl die Deutung als auch die Wirksamkeit des Handelns entstehen in den Zuschauern, die das politische Geschehen beobachten, interpretieren und miteinander darüber reden.39 Der Akteur ist auf die Zuschauer angewiesen, er ist nicht Herr seines eigenen Tuns. Er muss die anderen Zuschauer zu seiner Perspektive, die zwischen bisher in keinen Zusammenhang stehenden zwei Dingen verbindet, überreden. Und der Akteur »muß sich nach den Erwartungen der Zuschauer richten« (LGD, S. 99), da »das endgültige Urteil über seinen Erfolg oder Misserfolg bei ihnen [liegt]« (ebd.) und der Ruhm und »der kostbare Lohn für >große Taten und große Worte<« (ebd., S. 132) »dem Akteur nur vom Zuschauer gespendet werden [konnte]« (ebd.). Hingegen sind die Zuschauer die Helfenden, die das Begonnene gemeinsam weiterführen, sowie die Affizierten, die nicht reine automatische Reaktionen ausüben, sondern auch eigene Anfänge setzen (vgl. VA, S. 237). Insofern das Handeln aus Tun und Affiziertwerden - oder Erleiden40 - besteht, hängt der Handlungsbegriff bei Arendt mit der Pluralität zusammen.
Die zwei Formen der Pluralität - die auf dem gemeinsamen Anfang basierende Pluralität und die von dem souverän gesetzten Anfang ausgehende Pluralität - offenbaren die wesentlichen Fragen in Arendts Politiktheorie: Was ist Arendts Handeln und wie bezieht sich Handeln auf die Pluralität? Im Fall des souverän gesetzten Anfangs bewahrt der Mut des Anfängers laut Arendt eine Distanz zur Souveränität im Herstellen und zu Herrschaftsverhältnissen, da aufgrund des Affiziertwerdens der sogenannte ursprüngliche Anfang seine Priorität verliert. Trotz Arendts Darstellung des Verhältnisses von Pluralität und Handeln bleibt die problematische Spannung zwischen dem Handeln als Neuanfang und dem Handeln, zu dessen Vollbringen die Rolle der Pluralität im Vordergrund steht, dennoch unlösbar. Dem Handeln wohnt das menschliche Freisein inne, insofern es einen Neuanfang setzt. In diesem Sinne entspricht dem Handeln eine gewisse Souveränität. Hier wird herausgearbeitet, dass die Autonomie des Politischen bei Arendt auf einer gewissen souveränen Handlungsfähigkeit des Anfangenkönnens basiert und ferner darauf, dass diese wundertätige Handlungsfähigkeit in Form der spezifischen Bewegungsfähigkeit zutage tritt - im Gegensatz zur Immobilität, die auf der Wiederholung, Vulnerabilität in Butlers Politiktheorie basiert. Darüber hinaus wird darauf hingewiesen, dass Arendt die Beziehung zwischen den initiativen und den helfenden Zuschauern nicht als die durch Gesetze garantierte bürgerliche Gleichheit, sondern als Isonomie, eine politische Ebenbürtigkeit, festlegt. In der Pluralität stehen die Initiativen und die Helfenden zueinander nicht in hierarchische Beziehung, da sowohl der Anfänger als auch der Helfende, die am bereits gesetzten Anfang teilnehmen und in dem begonnenen Ereignis einen eigenen neuen Anfang setzen (können), bereits ihresgleichen sind (vgl. FuP, S. 225). Mit anderen Worten lässt sich sagen: Diese Art von Pluralität kann dadurch zustande kommen, dass nicht nur der Platz des Anfängers bzw. der Anfänger, sondern auch die Plätze der Helfenden von Anfang an begrenzt sind. In diesem Sinne manifestiert sich und funktioniert Isonomie als eine Grenze des Politischen. Somit trifft der Begriff des Handelns auf die schwierige Herausforderung, wie sich eine Pluralität, die zwar auf mehrdimensionalen Grenzziehungen basiert, dennoch als ein Spiel der Differenzierung zwischen den handelnden und sprechenden Subjekten lebendig entfalten kann.
Einführung: Der Machtbegriff bei Arendt
Arendts Begriff der Macht steht in der ambivalenten Wechselbestimmung von Handeln, Pluralität und Raum. Einerseits »[macht] Macht das Handeln erst möglich; Handeln aber geniert Macht« (Penta 1985, S. 100). Andererseits hängen die Eigenschaften der Macht folgerichtig von denen des Handelns und von ihrer Lokalisierung, nämlich von dem Erscheinungsraum ab, Insofern die Macht aus dem Handeln in der Pluralität41 entsteht. Darüber hinaus kann Macht in dem Erscheinungsraum entstehen, den sie doch überhaupt ins Dasein ruft und am Dasein erhält. Dieses Verhältnis von Handeln, Macht und Raum in Bezug auf Macht ist bei Arendt als die Grundlage der politisch-kontingenten Dynamik zu verstehen. Einleitend versteht sich Macht als eine Erscheinungsform gemeinsamer Handlungen. Sie offenbart sich als reine Aktivität und als ein spezifisches Phänomen des Handelns (Meyer 2016, S. 10), insoweit Arendts Machtbegriff durch die antike Begrifflichkeit von dynamis und potentia geprägt wird: »Macht ist immer ein Machtpotential« (VA, S. 252), da sie »keine vorgegebene Potentialität [darstellt], die es nur zu verwirklichen gilt« (Penta 1985, S. 99).42 Macht wird somit im Gegensatz zur Gewalt nicht als haltbar, besitzbar oder akkumulierbar43 betrachtet (vgl. VA, S. 252f.).
Andererseits erscheint Macht als etwas, das auf die Pluralität, auf die lebendigen Taten und Worte des Volkes angewiesen ist (vgl. MuG, S. 42). Das Verhältnis zwischen Macht und Pluralität lässt sich durch zwei Aspekte beschreiben - die Abhängigkeit von der Anzahl der Beteiligten einerseits und Organisationsgrad der Meinungsgruppen andererseits. Nach Arendt hängt Macht von der Anzahl der Beteiligten ab, welche jedoch weder mit wortloser Zustimmung noch mit einer bloßen Mehrheitsherrschaft gleichzusetzen ist. Die Anzahlabhängigkeit der Macht bezieht sich vielmehr auf die Stabilität der Macht und des Politischen (vgl. MuG, S. 43). Darüber hinaus sind für die Erzeugung und Wirkung von Macht eine gute Organisation und starke Solidarität von entscheidender Bedeutung.44 Ein passendes Beispiel hierfür ist der zivile Ungehorsam. Arendt betrachtet zivilen Ungehorsam nicht als eine Handlung aus einem inneren Gewissen, sondern definiert ihn als eine an einer bestimmten Meinung orientierte Handlung einer Aktionsgruppe, die ihre Meinung öffentlich machen und dadurch die Welt verändern möchte (vgl. Arendt 1970b, S. 131). Ziviler Ungehorsam zeigt somit auf, wie gut organisierte Minderheiten »sich selbst dann gegen die Politik der Regierung stellen« (ebd., S. 123) können, obwohl eine Mehrheit diese Regierung unterstützt.
Weil Arendt Macht als im Gegensatz oder im Vergleich mit anderen Begriffen beschreibt, lässt sich ihr Machtbegriff durch die Differenzierungen zwischen den verwandten Begriffen wie Kraft, Stärke und Autorität präzisieren (vgl. Penta 1985, S. 105). 1) Arendt betrachtet Kraft nicht als einen politikwissenschaftlichen Begriff, da sie eigentlich »in der Begriffssprache für >Naturkräfte< vorbehalten bleiben [sollte]« (MuG, S. 46). 2) Der Unterschied zwischen Stärke und Macht liegt im Wesentlichen darin, dass Stärke im Gegensatz zu Macht eine »individuelle Eigenschaft« (ebd., S. 45) darstellt. Arendt beleuchtet, dass sich der Starke als der Mächtige nicht verkennen lässt, weil er »die Macht der Vielen« (ebd., S. 45) nicht ertragen kann. 3) Autorität, die »ja einen objektiv gültigen, von allen geglaubten Inhalt hat« (D, S. 185), kann bei Arendt sowohl von einzelnen Personen als auch von Ämtern ausgeübt werden und als solche gibt es persönliche und amtliche Autorität. Was Autorität von anderen verwandten Begriffen unterscheidet, ist »die fraglose Anerkennung seitens derer, denen Gehorsam abverlangt wird; sie [Autorität] bedarf weder des Zwangs noch der Überredung« (MuG, S. 46).45 Entscheidend ist, dass die Macht, die sich aus dem Handeln und der Pluralität ergibt, im strikten Gegensatz zur Gewalt steht, die auf Herstellen beruht. Nach Arendts Unterscheidung stehen Macht und Gewalt in keiner dialektischen Beziehung und sie können ebenso ohne einande erzeugt werden. Diese Abgrenzung ist ihre zentrale Behauptung entgegen der traditionellen politischen Philosophie. Arendts vollkommen »positives Verständnis politischer Handlungs- und Wirkungsmacht, in dem Dimensionen von Ungleichheit und Übermacht eliminiert sind« (Meyer 2016, S. 15), lässt sich daher weder mit der Herrschaft bzw. Befehls- und Regierungsgewalt noch mit den Strategien der Regierung gleichsetzen (vgl. D, S. 273). In Arendts Worten: »Wenn das Wesen der Macht in der Wirksamkeit des Befehls besteht, dann gibt es in der Tat keine größere Macht als die, welche >aus den Gewehrläufen< kommt« (MuG, S. 38). Die Macht, die aus von Arendt niemals als Mittel zum Zweck betrachtetem Handeln entsteht, manifestiert sich vielmehr als ein Phänomen der Pluralität und Selbstzweck (vgl. ebd., S. 52f.). Wenn Freiheit nach Arendt nur durch Handeln und Sprechen im öffentlichen und politischen Raum entstehen kann und umgekehrt Handeln und Sprechen in der Freiheit zustande kommen können, folgt daraus, dass sowohl die Tätigkeiten, auf denen Freiheit beruht, als auch die Erscheinungsform von Getanem und Gesprochenem kein Mittel zum Zweck sein dürfen. Macht bezieht sich nach Arendt demnach auf das Freisein als das politische Leben, das durch gemeinsames Handeln im öffentlichen und politischen Raum errungen werden kann. Darauf bezieht sich Gewalt jedoch nicht.
Arendts Machtbegriff im Vergleich zu Habermas und Foucault
Im folgenden Abschnitt wird die Auseinandersetzung mit Arendts Machtbegriff vertieft, indem ihre Machttheorie mit den Ansätzen von Jürgen Habermas und Michel Foucault verglichen wird. In Bezug auf den Machtbegriff und den von ihm ausgehenden Politikbegriff teilen Arendt, Habermas und Foucault Gemeinsamkeiten, doch sind die entscheidenden Unterschiede zwischen ihnen hervorzuheben.
Beim Vergleich mit Arendt ist unter anderem von Bedeutung, dass der Machtbegriff von Habermas sich an einer normativen und einer kommunikativen Deliberation orientiert.46 47 Hauke Brunkhorst stellt die Gemeinsamkeit zwischen Arendt und Habermas wie folgt dar: »Nur das >im Miteinander sich bildende Machtpotential< kann auf Dauer die Existenz und die Legitimität einer politischen Ordnung gewährleisten (VA, S. 195)« (Brunkhorst 1999, S. 131). Die politische Macht bei Habermas entsteht aus der kommunikativen Macht, die ohne administrative Macht keine Auswirkungen hat, insofern die politische Macht von Habermas auf die Staatsorganisation bezogen ist und sich als Rechtscode in den Grundrechten zeigt (vgl. Habermas 1992, S. 169). Es ist jedoch darauf aufmerksam zu machen, dass der habermassche Machtbegriff gewissermaßen dem arendtschen entgegengesetzt ist.47 Habermas fasst den arendtschen Machtbegriff derart auf, dass »die kommunikativ erzeugte Macht gemeinsamer Überzeugungen darauf [zurückgeht], daß sich die Beteiligten an Verständigung orientieren und nicht am jeweils eigenen Erfolg« (Habermas 1979, S. 289). Zu Recht bemerkt er, dass Praxis und Sprache im Zentrum des arendtschen
Machtbegriffes stehen, und diese Lesart ist gerade der Grund für seine Kritik an Arendt.48 Denn ihm gemäß kann die (moderne) Politik »nicht, wie bei Hannah Arendt, mit der Praxis derer, die miteinander reden, um gemeinschaftlich zu handeln, identisch sein« (ebd., S. 301). Er argumentiert, dass die arendtsche Machttheorie nur die Erzeugung der Macht erläutere, nicht das gesamte politische System. In diesem Sinne kritisiert Habermas Arendt in drei Punkten: »daß sie erstens alle strategischen Elemente als >Gewalt< aus der Politik ausblendet; daß sie zweitens die Politik aus den Bezügen zu ihrer ökonomischen und gesellschaftlichen Umwelt, in die sie über das administrative System eingebettet ist, herausnimmt; und daß sie drittens Erscheinungen struktureller Gewalt nicht fassen kann« (ebd., S. 296).
Im Gegensatz zum habermasschen Verständnis, das Arendts Machttheorie als die von Handlungsfähigkeit ausgehende und gewaltfreie Deliberation resümiert, schlägt Julia Schulze Wessel eine andere Interpretation vor. Ihrer Ansicht nach ist arendtsche Macht nicht nur vielschichtig, d. h. strategisch und strukturell, sondern vor allem >neutral<. Sie betont, dass es in Arendts Konzeptualisierung von Macht in der Tat keine normative Orientierung gibt: »Macht würde begründen und hervorbringen, ganz unabhängig von der politischen Ausrichtung der jeweiligen Ordnung, ganz unabhängig von den jeweiligen Akteuren und ihren Zielen [...]« (Schulze Wessel 2013, S. 44). Stattdessen wird das Merkmal der arendtschen Macht Schulze Wessel zufolge allein durch die Gemeinschaft festgelegt. Wenn ihre Perspektive ernst genommen wird, garantiert arendtsche Macht gar nicht notwendig, dass sie an sich beispielsweise auf Normativität oder Demokratie bezogen ist.
Katrin Meyer übernimmt zu einem gewissen Grad die Interpretation von Schulze Wessel, insofern sie die Macht bei Arendt nicht allein als deliberative Ermöglichungsmacht fasst.49 Meyer lenkt ihre Aufmerksamkeit darauf, dass sich arendtsche Macht >gegen< etwas richten kann.50 Insofern die Spannung zwischen Konflikt und Deliberation dem Handlungs- und Machtbegriff inhärent ist, betrachtet Meyer arendtsche Macht sowohl als durchsetzungsfähig wie auch zugleich als möglichst gewaltfrei (vgl. Meyer 2016, S. 88, 91). Um dies zu verdeutlichen, bringt Meyer Arendts Unterscheidung zwischen Konsens und Konsent ins Spiel. Im Gegensatz zum Konsens bezüglich Rousseaus Begriffes des Allgemeinwillens weist der Begriff Konsent auf »die vielfältigen Prozesse des Meinungsaustausches [...] und der daraus sich ergebenden begrenzten Übereinstimmung«« (ÜR, S. 96) hin. Macht aus Konsent nimmt die Form agonaler Konflikte an, »[die] [...] den Sieg und die Fixierung einer Mehrheitsposition so provisorisch halten [müssen], dass künftige Auseinandersetzungen nicht verunmöglicht werden« (Meyer 2016, S. 119). Meyer behauptet, dass Macht in Form von Konsent in staatliche Instanz und Zivilgesellschaft51 geteilt bleibt und folglich eine offene politische Dynamik in dem Sinne behält, »dass der Konflikt für das Politische konstitutiv ist, ohne ihn aber antagonistisch zu radikalisieren« (ebd., S. 113).
Aus verschiedenen Perspektiven ist Arendts Machtbegriff mit dem Foucaults vergleichbar. Bei beiden Theoretikerinnen wird Macht nicht »in Aneignungskategorien begriffen« (Lemke 2005, S. 331), daher nicht als ein Gut oder eine Substanz verstanden, die besessen, übertragen oder getauscht werden kann (vgl. ebd.) Macht verweist für beide vielmehr auf »ein Interaktionsverhältnis, das auf der potenziell widerständigen Kooperations-, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit aller Beteiligten beruht« (Meyer 2016, S. 146f.).52 Dieser begriffliche Vergleich soll im Hinblick auf die folgenden drei Punkte näher betrachtet werden: die positive Machtkonzeptualisierung, Macht als Potenzial und die Generierungs- und Funktionsweise der Macht.
Amy Allen gemäß teilen Arendt und Foucault ein Verständnis von Macht, das einem juridischen Modell oder dem Befehl-Gehorsam-Verhältnis entgegengesetzt ist (vgl. Allen 2002, S. 132, 142). Erstens verstehen beide Macht nicht als »eine Instanz des Verbots oder der Behinderung individueller Freiheit« (Saar 2004, S. 336)53, sondern konzeptualisieren sie als eine konstituierende und ermöglichende Kraft. Macht bei Foucault bringt Lebens- und Deutungsmuster und das reagierende Subjekt hervor, bei Arendt entstehen der Erscheinungsraum und die menschliche Freiheit aus der Macht (vgl. ebd.). Zweitens lässt sich sowohl die phänomenologische Macht bei Arendt als auch die strategisch-funktionierende Macht bei Foucault als latente oder wirkende Kraft der Möglichkeit begreifen. Foucaultsche Macht erzeugt »sich in jedem Augenblick und an jedem Punkt - oder in jeder Beziehung zwischen Punkt und Punkt« (Foucault 1976, S. 94). Die Machtverhältnisse bei Foucault verlaufen daher nicht »von oben nach unten, von einer zentralisierten Instanz ausgehend durchziehen sie [auch nicht] die Gesellschaft« (Lemke 2005, S. 331). Stattdessen zeigt sich bei Foucault, dass »die Macht überall [ist]« (Foucault 1976, S. 94). In gewissem Sinne lässt sich die arendtsche Macht ebenso durch ein ubiquitäres Potenzial charakterisieren (vgl. Marchart 2007, S. 354), da bei Arendt Macht fast unmittelbar aus dem menschlichen Zwischen - aus den voneinander unterscheidbaren Meinungsgruppen - entsteht.54 Als ein Potenzial ist Macht mehr als etwas, aus dem sie entsteht. Die vorhandene und funktionierende Macht beinhaltet immer eine Möglichkeit einer anderen Form, Entstehung und Funktion der Macht zu entfalten.
Im Hinblick auf die Generierungs- und Funktionsweise der Macht muss betont werden, dass Macht von beiden Theoretikerinnen als ein nicht teleologisches und unvorhersehbares Zusammenspiel betrachtet wird. Wie Meyer erläutert, existiert und funktioniert Macht in Arendts Politiktheorie als eine Machtteilung auf öffentlicher Ebene, wo viele Akteursgruppen und des Weiteren Gesetz, Ordnung oder Institutionen Zusammenwirken (vgl. Meyer 2016, S. 112f.). Bei Foucault basiert Macht auf der »Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren« (Foucault 1976, S. 93). Somit lässt sich knapp zusammenfassen: »[B]ei [Arendt und Foucault] ist Macht ein relationaler und produktiver Begriff und keiner, der einem Individuum zugeordnet werden kann und der in der repressiven Funktion aufgeht« (Schulze Wessel 2013, S. 44; Allen 2002, S. 142).55 56 Doch der zentrale Unterschied der Machtkonzeption zwischen Arendt und Foucault besteht in dieser Relationalität. Welche Relation generiert Macht bei Arendt und Foucault? Woraus besteht diese Relationalität der Macht?
Zunächst ist festzuhalten, dass das Verhältnis von Macht und deren Bedingung bei Arendt grundlegend enger gefasst ist als bei Foucault. Während die Macht in Arendts Politiktheorie nahezu unmittelbar aus der Interaktion zwischen den Menschen entsteht, legt Foucault die Erzeugung der Macht vor allem in bzw. aus dem Dispositiv von Wissen, Diskursen, Techniken und Institutionen fest. Er übersieht nicht, dass bestimmte Subjekte wie Schüler, Arbeiter und Soldaten oder die Bevölkerung als Gegenstand der Macht innerhalb der gegenseitigen Machtbeziehungen hergestellt werden und somit die kollektiven Handlungen der Subjekte ebenfalls bei der Ausübung der Macht eine gewisse Rolle spielen (vgl. Allen 2002, S. 133ff.). Dennoch weist das Dispositive der Macht in Foucaults Theorie, aus dem sich die Macht ergibt, nicht direkt auf die menschlichen Beziehungen hin. Insofern sich Macht bei Foucault als Effekt von Machtbeziehungen an sich verstehen lässt, offenbart sich foucaultsche Macht den Machtverhältnissen als immanent und zugleich als anonym. In diesem Kontext stellt Martin Saar die Rolle der Handlungsfähigkeit in der foucaultschen Machttheorie infrage, dass »er zumindest terminologisch den Erscheinungsweisen von potentia agendi, agency oder menschlicher Handlungsfähigkeit wenig Platz eingeräumt und somit bewusst oder unbewusst den Anschein einer theoretischen Position ohne großes Interesse an der Perspektive politischer Akteure erweckt hat« (Saar 2013, S. 166).56
Arendt definiert dagegen Macht als den in die Erscheinung tretenden Handelnden inhärent. Insoweit Macht als das »Urphänomen der Pluralität« (vgl. D, S. 160) verstanden wird, nämlich Macht beinah direkt aus den menschlichen Fähigkeiten zum Handeln, Sprechen und verschiedenen geistigen Fähigkeiten hervorgebracht wird, gibt es bei Arendt kein anonymes Überschreiten der Machtstruktur. Machtbeziehungen sind bei ihr nichts anderes als spezifisch politische Beziehungen zwischen Handelnden. Doch interessanterweise liefert dies einen Grund, Saars Frage an Foucault ebenso an Arendt zu richten: die Frage nach dem Subjekt. Der Rolle des Subjekts wird bei Arendt eine geringe Bedeutung beigemessen, nicht nur, wenn die Macht zuallererst als das menschliche Zwischen darstellt wird, sondern auch, wenn sie wesentlich mit Handeln und Pluralität verbunden ist. Ein blinder Fleck besteht in Arendts Macht- und Politiktheorie darin, dass es keine Theorie der Subjektivation gibt. Arendt stellt nicht die juridischen oder sozialen Individuen, sondern die Meinungsgruppen oder - genauer gesagt - die Interaktionen zwischen den Menschen als ihre politischen Träger in den Mittelpunkt. Daraus ergeben sich folgende Fragen: Was ist das Subjekt (in) der Pluralität von Arendt? Welche Form der Subjektivität entfaltet der Erscheinende in der Pluralität? In Arendts Politiktheorie ist eine Spannung zu erkennen, die zwischen der Hervorhebung der Pluralität und dem Mangel an Subjekttheorie oszilliert. Diese Spannung spielt eine besondere Rolle, die vielleicht einen zentralen Punkt bei Arendt verdeckt: Wie kann man befähigt werden, zur Pluralität zu gehören und ferner eine Pluralität zu bilden? Mit dieser Frage wird sich Kapitel II ausführlich auseinandersetzen.
Für die lebendige Macht: Bewegung von Handeln und Pluralität
Die Macht entsteht aus dem Handeln und der Pluralität. Umgekehrt lässt sich feststellen, dass sich nach Arendt die Eigenschaften von Handeln und Pluralität in der Macht niederschlagen, wodurch die interaktive, agonale und kommunikative Macht als die Macht der selbstzweckhaften Freiheit offenbar wird. Als ein Phänomen der reinen Aktivität gibt es bei Arendt einerseits die spontane Macht, die aus den agonalen Konkurrenzen der politischen Tugend hervorgeht und sich nicht nur auf die Freiheit richtet, sondern aufgrund ihrer Agonalität auch strukturell und durchsetzungsfähig funktionieren kann. Andererseits wird arendtsche Macht als ein Phänomen der Pluralität betrachtet, da sie sich den Interaktionen zwischen den Subjekten und den Verschiedenheiten der Meinungen und Zustimmungen verdankt. Die Verhältnisse zwischen Handeln, Pluralität und Macht sind nicht schlechthin einseitig. Wie kann die Souveränität und Autonomie des Handelns, aus dem die Macht entsteht, kontinuierlich auf die Freiheit der Pluralität ausgerichtet bleiben? Diese Frage rückt erneut den Begriff der Pluralität in den Mittelpunkt, da die Pluralität, die auch die Macht entscheidend charakterisiert, nicht nur eine Vorbedingung der Macht ist. Somit wird die oben gestellte Frage umgeformt: Wie kann verhindert werden, dass Pluralität nicht in eine Form der Massengewalt ausartet, sondern stattdessen als eine kontinuierlich aktive Pluralität der Macht existiert, wenn »der Genitiv sowohl die >Zugehörigkeit< zur Macht wie die >Ausübung< der Macht bezeichnet« (PM, S. 18)?
Es muss wiederum betont werden, dass nach Arendt das Handeln, durch das eine Pluralität erhalten wird und das die Macht hervorbringt, kommunikativ und zugleich agonal charakterisiert wird. Um die lebendige Macht, die sich auf Freiheit richtet, zu unterstützen, konfrontiert das Handeln selbst mit einer Herausforderung: Wie kann das Handeln ständig als ein Neuanfang in Erscheinung treten und dazu beitragen, die Welt fortlaufend zu regenerieren? Macht tritt im Zuge der >Politisierung< des Handelns hervor und unterstützt die öffentliche Welt, in der das Handeln sich weiter lebendig entfalten kann. Der Neuanfang manifestiert sich und funktioniert als ein weltlicher und weltschaffender Redeakt, der zum Prozess der Transformation führt, der die bisher nicht per se als politische Angelegenheiten betrachtete Frage im öffentlichen Raum behandelt (vgl. Jaeggi 2007, S. 247).57 Das Handeln, das als innovativ betrachtet wird und sich durch die politische Tugend des Subjekts zeigt, bemüht sich daher darum, nicht nur neue Bereiche und Sprachen der Politisierung zu entdecken, sondern auch diese unerwarteten Verbindungen zur Diskussion zu bringen und andere davon zu überzeugen. Dieser agonal-sprachliche Neuanfang bringt einen unvorhersehbaren Transformationsprozess in Gang, der die Erweiterung der Freiheit fördern kann.
Es ist dennoch nicht der Fall, dass die aus dem politisch-innovativen Handeln entstehende Macht über die Pluralität hinausgeht oder die Politisierung des Handelns sich frei von der Pluralität allein nach der Logik des Handelns bewegen kann. Pluralität erscheint - mit anderen Worten: funktioniert - in Arendts Politiktheorie nicht nur als die Voraussetzung, sondern auch als die Vollzugsform des Handelns. Nach Arendt kann Macht aktiv geteilt und zugleich vermehrt werden, indem die Pluralität nicht einstimmig erstarrt, sondern sich selbst durch verschiedene Perspektiven und Bewegungen fortwährend differenziert. Denn in welchem Verhältnis steht das agonal- sprachliche Handeln, das eine neue Transformation in Gang setzt, zur Pluralität?
Die Politisierung nach Jaeggi geht über die bloße Frage dessen hinaus, was als das Politische behandelt werden sollte. Sie gewinnt besonders an Bedeutung, insofern sie Pluralität als eine Form politischer Agonalität re-aktiviert, »die sich aus der Konkurrenz um die gemeinsam beste Lösung und aus der prinzipiellen Unabschließbarkeit von Entscheidungsprozessen, die das gemeinsam beste Leben betreffen, speist« (Jaeggi 2007, S. 247). Durch die Politisierung pluralisiert sich die Pluralität - sie ermöglicht es, eine neue Perspektive in den öffentlichen Raum einzubringen oder durchzusetzen, ferner neue Meinungsgruppen zu fördern bzw. vorhandene Gruppen neu zu organisieren. Pluralität erscheint als »Pluriperspektivität « (Marchart 2005, S. 142), wenn sie selbst als die Form der Transformation existiert und sich weiterentwickelt. Indem die Pluriperspektivität der Pluralität sich vor der Gefahr der Homogenisierung schützt, die die Pluralität zur einstimmigen Ganzheit machen könnte, kann es im öffentlichen Raum im Prinzip kein fixiertes Zentrum geben, sondern es gibt »eine Vielfalt von Machtzentren« (Marchart 2005, S. 142). Macht entsteht aus allen diesen Punkten, wo sich die Pluriperspektivität offenbart, oder anders ausgedrückt, wo sich die Differenzen konflikthaftig, aber gewaltfrei mobilisieren.
Die Verhältnisse zwischen Handeln und Pluralität, Handeln und Macht sowie Pluralität und Macht können nicht als Tautologie gesehen werden. Vielmehr sind sie Arendts Art und Weise, die Dynamik des Politischen nicht nur zu bewahren, sondern auch in kontingenter Weise weiterzuentwickeln. Handlungsfähigkeit, Subjektivität und Freiheit des Politischen hängen von diesen dynamischen und multiplen Verhältnissen ab, die die Grundlage von Arendts politischer Theorie bilden. Es gibt jedoch eine kritische und inhärente Schwierigkeit, die Politisierung durch Handeln und die Pluralisierung der Pluralität zu verhindern. Hier geht es um die Grenze des Politischen bei Arendt: Inwiefern kann eine neue Verbindung zwischen dem bisher Nichtpolitischen und der bestehenden Politik der privilegierten Wenigen zustande kommen und politisiert werden? Inwieweit kann die Vielfalt der Perspektiven in einer ebenbürtigen Gemeinschaft von den Hausherren erweitert werden, die von ihrem Eigentum ausgehend agonal, politisch und konkurrierend handeln? Sind die Politisierung und Pluriperspektivität nicht eine zu optimistische Antwort auf diese Fragen? Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Strategie der Politisierung und Pluriperspektivität der politischen Theorie Arendts in gewisser Weise entgegensteht. Somit wird im nächsten Kapitel die Frage nach Gewalt, politischer Gewalt und der Gewalt der Ungleichheit thematisiert.
1.3 Herstellen, Isolierung und Gewalt
Arendts Verständnis von Macht als Phänomen der Pluralität deutet darauf hin, dass auch ihr Gewaltbegriff eine vollkommen neue Definition erfordert. Ernst Vollrath hebt hervor, dass Arendt Gewalt nicht allein terminologisch von Macht unterscheidet (Penta 1985, S. 61). Mit dieser Trennung verdeutlicht sie ihren Einwand gegen die herkömmliche politikphilosophische Tradition, in der die Gründung der politischen Organisation von der Gewalt ausgeht und »[d]er Staat nicht der Gewalt [entkommt], sondern sie als seine Basis [organisiert und legitimiert]« (ebd.). Die Trennung von Macht und Gewalt erweist sich daher bei Arendt in reellem Sinne als absolut und gegensätzlich, da »Macht und Gewalt keine gemeinsame Wurzel haben, sondern völlig unabhängig voneinander definiert werden und keinen Übergang von der einen zur anderen gestatten« (ebd., S. 60).58 Gewalt steht insofern der Macht entgegen, als Gewalt »Praxis in Technik, kommunikative Vernunft in instrumentelle Rationalität, Freiheit in Souveränität [transformiert]« (Meyer 2014, S. 20). Arendts Gewaltbegriff lässt sich als das Phänomen festlegen, das »Macht im Sinne freiheitlicher und pluralistischer Politikformen zerstört« (ebd.). Schließlich funktioniert Gewalt bei Arendt als das, was die Möglichkeit zur Erscheinung und zur Pluralität ausrottet. Im Extremfall manifestiert sich die strukturelle Gewalt, die die politisch begabte Fähigkeit zum Stillstand bringt, die ohne vorbestimmte Maßstäbe etwas Unerwartetes ins Leben ruft und die dadurch die Freiheit erweitern kann.
Dieses Kapitel beschäftigt sich ausführlich mit Arendts Gewaltbegriff und setzt ihn in verschiedener Weise in Bezug zur Macht. Dabei wird deutlich, dass die Beziehung zwischen Macht und
Gewalt nicht einfach als gegensätzlich oder symmetrisch konträr betrachtet werden kann. Darüber hinaus wird aufgezeigt, dass Gewalt nicht immer apolitisch oder antipolitisch ist und dass Macht nicht als Zustand der Gewaltlosigkeit59 betrachtet werden darf. Dieses Kapitel ist in drei große Teile gegliedert: Zunächst werden die wichtigsten Eigenschaften der Gewalt erläutert, um anschließend das verwobene, nicht sauber trennbare Verhältnis von Macht und Gewalt zu untersuchen. Im zweiten Teil wird das Charakteristikum der Gewalt, das die Pluralität und Öffentlichkeit konsequent zerstört, als strukturelle Gewalt aufgefasst, die sich als Verhinderung oder Grenze der Bewegungsfähigkeit erweist, die bei Arendt als Fähigkeit zum Handeln betrachtet wird. Am Ende dieses Kapitels wird der politischen Gewalt die Gewalt der Ungleichheit gegenübergestellt, und es wird nicht nur das Verhältnis zwischen Macht und Gewalt, sondern auch das Verhältnis zwischen Gewalt und Widerstand untersucht.
Instrumentalität und Berechenbarkeit der Gewalt
Im Gegensatz zur Entstehung der Macht aus dem Handeln in Form der Pluralität beruht die Gewalt nach Arendt auf der verselbstständigten oder sich verselbstständigenden Zweck-Mittel-Kategorie (vgl. Penta 1985, S. 62). Denn »sie [löst] sich sowohl von der Anzahl der Instrumentenführenden wie auch von deren individueller körperlicher Kraft und ihr Potential [entfaltet sich] unabhängig davon« (ebd.).60 Im Hinblick auf die Instrumentalität werden die folgenden drei konkreten Merkmale der Gewalt beleuchtet.
Der Gewaltbegriff bei Arendt wird nicht allein als grausam und zerstörerisch beschrieben. Vielmehr kann Gewalt erstens rational und berechenbar funktionieren, was den Unterschied zwischen Macht aus dem Handeln und Gewalt aus dem Herstellen kennzeichnet. In Bezug auf die Unvorhersehbarkeit des Neuanfangs kann Macht eine Revolution auslösen, während rationale Gewalt für Reformen geeignet ist (vgl. MuG, S. 78f.), da der Befehlende das für ihn geeignete Mittel annimmt: »Da Gewalt ihrem Wesen nach instrumental ist, ist sie in dem Maße rational, als sie wirklich dazu dient, den Zweck, der sie rechtfertigen muß, zu erreichen. Und [...] Gewalttätigkeit [ist] in dem Maß rational, nämlich den Grundbedingungen menschlicher Existenz adäquat, als sie kurzfristige Ziele verfolgt« (ebd., S. 78). Während Macht bei Arendt sich als Selbstzweck offenbart, bedarf die auf dem Mittel-Zweck-Verhältnis beruhende Gewalt der Rechtfertigung durch einen höheren Zweck, dem sie untergeordnet ist. Hingegen bedarf Macht keiner Rechtfertigung, sondern der Legitimation.61 Arendt betont, dass die Legitimität der Macht durch ihren Ursprung, d. h. ihre Pluralität gewährleistet wird, in der die Vielen einen unerwarteten Neuanfang in Gang setzen (vgl. Grundenberg 1995, S. 87).
Die politisch große Gefahr der Gewalt liegt bei Arendt darin, dass die von der Befehl-GehorsamBeziehung ausgehende Gewalt die Rolle wie die Funktion der Macht in Besitz zu nehmen versucht. Gewalt intendiert und wirkt sich aus, indem sie das Politische begrenzt und »die Tat und das Wort instrumentalisiert und deren Kapazität zu Kommunikation, differenzierter Identitätsbildung, Beziehungsetablierung und Sinngebung den auf Erfolg ausgerichteten Strategien der tätigen Gewalt subordiniert« (Saavedra 2002, S. 35).62 Somit funktioniert zweitens diese »Kontamination des Handelns durch Herstellen« (Penta 1985, S. 63) als die Gewalt, die dazu führen kann, dass etwas rückgängig gemacht wird. Das Herstellen schafft nicht nur etwas Flüchtigem eine dauerhafte Gestalt oder fabriziert etwas Nützliches. Die Gewalt des Herstellens kann auch dieses Hergestellte zerstören, wie Gesetze und Institutionen, politische oder gesellschaftliche Ordnungen für die Erhaltung und Erweiterung der Freiheit, welche aus dem Vollzug des Herstellens resultieren.63 Die entscheidende Funktion des RückgängigmachenKönnens weist darauf hin, dass Gewalt einen apolitischen oder antipolitischen Zustand, in dem die Möglichkeit des spontanen Handelns erheblich eingeschränkt oder verhindert wird, »durch Mittel der Gewalt [normalisiert], also berechenbar [macht]« (Solmaz 2016a, S. 133). Wenn die Gewalt des Rückgängigmachens sich radikalisiert, wird die Fähigkeit zum Neuanfang durch vorbestimmte Prozesse ersetzt. Dabei nimmt die Gewalt eine spezifische Form und Vollzugsweise an: eine geschlossene und vorhersagbare Wiederholung, deren Ziel außerhalb ihres Vollzuges liegt (vgl. VA, S. 167).
Wenn die Gewalt des Rückgängigmachens und der Wiederholung dem Freisein entgegensteht, das im Vollzug des Handelns innerhalb der Pluralität entsteht, führt diese Gewalt drittens zu den weiteren Problemen der Zeitdimension und Erinnerung. Während die aus dem politischen Handeln entstehende Macht die Kontinuität zwischen Vergangenheit und Zukunft unterbricht und sie somit eine Gegenwart als die Zeit der pluralen Ereignisse eröffnet, verlieren die Menschen unter der Gewalt die Zeitdimension von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart. In der Herrschaft der Gewalt gibt es weder eine Gegenwart als Unterbrechung des Neuanfangs, in dem Menschen ihr Leben im Hier und Jetzt führen können, noch unvorhersehbare Zukunft. Stattdessen bringt die Gewalt einen homogenen und kontinuierlichen Zeitverlauf vorbestimmter Wiederholungsprozesse hervor, obzwar sich ihr Ziel in der vermeintlichen Zukunft befindet. Arendt betrachtet die Unterscheidung von Macht und Gewalt nicht nur als gegensätzlich, sondern als asymmetrisch. Die Auswirkungen der Gewalt, nämlich die Verhinderung der Entstehung der unberechenbaren politischen Gegenwart und Zukunft, erweisen sich daher als Unvermögen der Gewalt, als ihre unvermeidliche Ohnmacht. Darüber hinaus gehen innerhalb der instrumentalen Wiederholungsprozesse das Recht auf Erinnerung und das Recht darauf, unsterblich zu werden, verloren. In diesem Fall büßt man eine bestimmte Art der Vergangenheit ein, die man als überlieferte Ereignisse zitieren kann, wenn einem etwas Erinnertes in der Gemeinschaft entzogen wird. Indem Gewalt die Zeitdimensionen von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart ausblendet, gibt es in diesem homogen wiederholten Zeitlauf keine Geschichte und ohne Geschichte kann niemand erinnert werden und unsterblich sein.
Sprachlose Gewalt und Herrschaft
Zweitens wird Gewalt durch den Zusammenhang von Stummheit-Isolation-Gewalt als Herrschaft charakterisiert, der im Gegensatz zum Zusammenhang von Sprache-Pluralität-Macht steht. In Anlehnung an Aristoteles findet Arendt die politische Fähigkeit des Menschen in seinem Wesen, das sprechen kann (vgl. UT, S. 615). Macht offenbart sich als ein Phänomen des Miteinander-Redens über die Welt, daher sind vom Sprechen-über sowohl die Realität des Menschen als auch die öffentliche Welt abhängig. Das Sprechen in der Pluralität ist bei Arendt bereits die politische Handlung und Fähigkeit. Denn Reden, Überreden und das Zur-Diskussion- Stellen menschlicher Angelegenheiten und des öffentlichen Lebens erweisen sich als der weltschaffende und welterhaltende Redeakt, der sich durch ein >Sich-aneinander-Messen< vollziehen kann (vgl. Solmaz 2016b, S. 179).64 Die Gewalt beginnt hingegen, »wo Sprechen verstummt« (D, S. 340). Arendt definiert Gewalt als sprachlos und sprachunfähig, da Gewalt als das auftritt, was die Pluralität des Miteinander-über-die-Welt-Redens und die partikularen Meinungen abschafft (vgl. WiP, S. 98). Im Gegensatz zur auf der Meinungsfreiheit basierenden Macht, die ferner die Pluralisierung der Perspektiven im öffentlichen Raum unterstützt, führt die stumme Gewalt zum Verlust der Wirklichkeit des Menschen (vgl. D, S. 134). Die Betroffenen, die unter der Gewalt leiden, werden dabei »mundtot in des Wortes eigentlicher Bedeutung« gemacht (UT, S. 615). Folglich lässt sich sagen, dass die Gewaltsamkeit der Gewalt im Entzug der Sprachfähigkeit besteht, »nicht im Beherrschtwerden oder Gehorchen per se« (D, S. 397).
Die sprachlose, auf Isolation basierende Gewalt, die daher ferner zu Sprachunfähigkeit führt, ist umso problematischer, wenn sie mit der Herrschaft verbunden ist. Wie im Kapitel 1.1 erwähnt wurde, wird bei Arendt die Gewalt durch Befehlen, Wissen und Wollen geprägt, welche mit dem Herstellen eine enge Beziehung aufweisen. Der Begriff des Willens bildet eine Brücke, um die Isoliertheit und Souveränität im arendtschen Gewaltbegriff zu verknüpfen. Arendts Konzept des Willens hat zwei gegensätzliche Bedeutungen: Einerseits gibt es das zum arendtschen Politischen einen entscheidenden Beitrag leistende Wollen, das ein Anfangenkönnen in der nicht vollständig determinierten Welt ermöglicht (vgl. Schönherr-Mann 2006, S. 164).65 Diesen Willen beschreibt Arendt als ein Vermögen, das ein Noch-nichts vergegenwärtigt, und als ein Organ für die Zukunft, die sich auf Kontingenz bezieht (vgl. LGW, S. 276). Wenn es bei Arendt Willensfreiheit gibt, dann ist sie eine Freiheit, die mit der Kontingenz verbunden ist - nämlich das eigene Leben mutig in die unvorhersehbare Offenheit zu werfen. Arendt unterscheidet streng zwischen dem Einen- Neuanfang-setzen-Wollen und der unbedingten Autonomie des Individuums oder der souveränen Herrschaft. Dennoch findet sich noch ein anderer Begriff des Willens, der bei Arendt ein Merkmal der Gewalt darstellt. Wenn das mit dem Herstellen einhergehende Wollen sich auf ein singuläres Ich richtet, das wie Homo Faber eigene Ziele gegen andere durchsetzen >will<, dann liefert die Durchsetzungsmacht aus dem Zweck-Mittel-Verhältnis eine strukturelle Analogie zwischen Herrschaft und Souveränität (vgl. Meyer 2013, S. 237), die auch bei Carl Schmitt auf dem Wollen und Befehlen beruht (vgl. Rosenmüller 2013, S. 58). »Wer allein zu handeln versucht, vertraut nicht mehr auf Macht, sondern auf Instrumente der Gewalt« (Penta 1985, S. 81). Die souveräne und ichbezogene Gewalt steht somit in diametralem Gegensatz zum Zusammenhang von Macht und politischer Freiheit.
Bezieht Arendt die Gewalt auf die Souveränität, kehrt sie die traditionelle Vorstellung von Gewalt und Souveränität um. Der souveräne Herrscher, der als isolierter Einzelner die Gewalt besitzt, ist nach Arendt stark, dennoch ohnmächtig. Was er erlebt, ist keine Macht, sondern vielmehr Ressentiment, da der Alleinherrscher kein Lebendigsein oder Lust auf Handeln erleben kann. Im Befehl-Gehorsam-Verhältnis der Gewalt erschöpft sich der Bereich des Sprechens. Somit können aus der ohnmächtigen Gewalt weder die Partizipation an den menschlichen Angelegenheiten noch öffentliche Wettbewerbe um Vortrefflichkeit, schließlich auch keine politische Welt hervorgebracht werden (vgl. D, S. 160). Interessanterweise zeigt Arendt hingegen auf, dass die Vielen als Unterdrückte im Gegensatz zum allein Starken kein Ressentiment hegen. Denn nach ihrer Auffassung liegt die Chance zur Konstruktion der Pluralität eher auf der Seite der Vielen und die Macht kann aus dieser Pluralität entstehen: »Macht liegt nicht im Befehlenden und nicht im Befehl, sondern entspringt dadurch, dass der Befehl ein Zusammen und damit das Zwischen, wo Macht entspringt, stiftet« (ebd., S. 162). Wenn sie sich nicht isolieren, sondern miteinander zusammen sprechen - im Sinne von handeln - können, haben die Vielen die Möglichkeit, dass sie nicht nur der Rolle des Gewaltmittels entkommen können, sondern ferner das als ein politisches Phänomen festgelegte Freisein erleben können (vgl. FuP, S. 201).
Macht und Gewalt in der Verwobenheit
Arendt hebt die absolute Gegensätzlichkeit von Macht und Gewalt hervor, sodass bei ihr Macht und Gewalt zueinander in einem inkompatiblen Verhältnis stehen, da »die Gewalt genau auf der Grenze zum eigentlich Politischen liegt, ja selbst diese Grenze ist« (Penta 1985, S. 64; vgl. ÜR, S. 19).66 Trotzdem lässt sich nicht schlussfolgern, »daß zwischen ihnen kein Bezug besteht« (Saavedra 2002, S. 74). Wie Arendt in Macht und Gewalt beschreibt, treten Macht und Gewalt nicht selten zusammen auf (vgl. MuG, S. 48, 53). Daher muss parallel zu ihrem Versuch, Macht von der Gewalt trennscharf zu unterscheiden, der komplementäre und asymmetrische Bezug zwischen Macht und Gewalt ebenso untersucht und hervorgehoben werden. Um die Gründe für diese Verwobenheit von Macht und Gewalt aufzuzeigen, werden im Folgenden die Ansichten von David Strecker und Katrin Meyer diskutiert.
Beide sprechen von der Überlappung oder einer gewissen Ununterscheidbarkeit der arendtschen Macht und Gewalt, doch der Schwerpunkt ihrer jeweiligen Argumente liegt auf einer anderen Ebene. Während Meyer auf eine bestimmte Überschneidung von Macht und Gewalt und deren spezifische Rolle eingeht, sieht Strecker Arendts Unterscheidung als einen missglückten Versuch an. Strecker stellt heraus, dass sich unter dem Aspekt der klaren Unterscheidung zwischen Macht und Gewalt die vielschichtigen Phänomene von Macht und Gewalt, nämlich die »gewaltförmige Macht und machtsteigernde Gewalt« (Strecker 2014, S. 113f.) nicht fassen lassen. Er zieht drauf den Schluss, »dass Arendts Versuch, Macht und Gewalt radikal voneinander zu entkoppeln, scheitert. Ihre Beschreibung der Machtbasis verklärt diese lediglich, indem sie gewaltförmige Macht invisibilisiert. Macht und Gewalt sind enger miteinander verknüpft, als ihr normativ überfrachteter Machtbegriff zu erkennen erlaubt« (ebd., S. 110). Diesbezüglich argumentiert er mit vier Punkten (vgl. ebd., S. 108ff.):67 Gewalt kann wie Macht autotelisch sein (1) und umgekehrt kann Macht wie Gewalt repressiv fungieren (2). Bei Arendt gibt es eine begriffliche Unklarheit bei der Unterscheidung zwischen Macht und Gewalt (3). Schließlich können Zustimmung und Einvernehmen, welche nach Strecker von Arendt als Machtbasis bestimmt werden, unverlässlich sein (4).
Wie lässt sich dann gegenüber David Strecker Arendts Versuch der Unterscheidung von Macht und Gewalt noch verteidigen? Über das Überschneiden von Macht und Gewalt nachzudenken, weist nicht direkt darauf hin, dass die arendtsche Unterscheidung abgeschafft werden sollte. Zunächst muss infrage gestellt werden, ob Strecker Arendts gegensätzliche Konzeptualisierung von Macht und Gewalt in gewisser Hinsicht nicht vereinfacht resümiert. Er fasst Arendts Begriffe von
Macht und Gewalt dahingehend zusammen, dass »erstere durch Konsens und Übereinstimmung, letztere dagegen durch Konflikt und Unterdrückung gekennzeichnet sei« (Strecker 2014, S. 108). Übersieht Strecker vielleicht die komplexen Momente arendtscher Macht, indem er diese allein in die Kategorie der kommunikativen und deliberativen Handlungsmacht einordnet? Das agonale, tugendwettbewerbsfähige und dynamische Moment von Arendts Macht, das ebenso von mit der politischen Tugend konkurrierenden Bewegungen der Pluralität ausgeht, wird von ihm stillschweigend ausgeblendet (vgl. ebd., S. 108; Brunkhorst 2007, S. 2ff.).68 Wenn Macht im strikten arendtschen Sinne nicht einfach als die Abwesenheit der Gewalt betrachtet wird, muss jedoch betont werden, dass die Generierung der Macht auch nicht mit dem reinen Prozess der Übereinstimmung gleichzusetzen ist. Die Entstehung und Funktion der Macht, der situative Vorgang zwischen Handelnden zeigt sich selbst antagonistisch und agonal. Macht entsteht, wenn die Perspektiven über die Welt und die Differenzen zwischen den Subjekten vielfältiger werden. Insofern Strecker Arendts Betonung der agonistischen und dynamischen Momente von Handeln und Pluralität außer Acht lässt, scheint er zu dem Schluss zu kommen, dass Arendts Versuch der Ausdifferenzierung von Macht und Gewalt gescheitert sei.
Anders als David Strecker konzentriert sich Katrin Meyer auf eine funktionsspezifische Überlappung von arendtscher Macht und Gewalt. Ihrem Verständnis nach kann Arendts Gewalt nicht nur eine zerstörende, sondern auch eine politisch positive Rolle einnehmen, insofern man in der arendtschen Politiktheorie einen Moment der quasi-»machtsteigernde[n] Gewalt« findet. Gewalt, die sich entweder als rational bzw. berechenbar oder als spontan und emotional versteht, »kann durchaus dazu dienen, Mißstände zu dramatisieren und die öffentliche Aufmerksamkeit auf sie zu lenken« (MuG, S. 78; Meyer 2014, S. 23).69 70 Diese aus der dramatisierenden Gewalt hergestellte Öffentlichkeit lässt sich als eine Unterbrechung verstehen, die den Status quo zu stören versucht, jedoch bei Arendt vom Neuanfang unterscheidbar ist. Ein Beispiel dafür findet man in Über die Revolution, eine Unterscheidung zwischen der Revolution als Konstitution und der Befreiung von der Zwangsherrschaft, dem Elend und der gesellschaftlichen Unterdrückung (vgl. ÜR, S. 34f.).70 Es ist auch anzumerken, dass Arendt selbst auf eine Gefahr der Akzentverschiebung der Revolution auf die Befreiung als gewalttätiges Geschehnis aufmerksam macht.71 Die von dramatisierender Gewalt ausgehende Öffentlichkeit wird nicht als ein für alle Mal notwendige Stufe für die Entstehung der Macht betrachtet. Darüber hinaus hat die dramatisierende Gewalt, im Gegensatz zu Handeln und Macht, noch einen instrumentellen Charakter. Wenn nach der Unterbrechung durch dramatisierende Gewalt kein fortlaufendes gemeinsames Handeln stattfindet, wird die daraus resultierende Öffentlichkeit außer Kraft gesetzt. Es lässt sich also sagen, dass der politische Beitrag der dramatisierenden Gewalt beschränkt ist. Es gibt zwischen dem Handeln und der Macht einerseits sowie der dramatisierenden Gewalt und der daraus folgenden Öffentlichkeit andererseits einen qualitativen oder quantitativen Unterschied.
Obwohl Arendt feststellt, dass »[z]wischen Macht und Gewalt es keine quantitativen oder qualitativen Übergänge [gibt]« (MuG, S. 58) und man »weder die Macht als den sanften Modus der Gewalt noch die Gewalt als die eklatanteste Manifestation der Macht« (ebd.) betrachten kann, überschneiden sich dennoch ihre Begriffe von Macht und Gewalt. Zum Beispiel kann nach Katrin Meyer eine gewisse Öffentlichkeit durch die dramatisierende Gewalt geschaffen werden, und Macht kann durch ein agonistisches Sich-aneinander-Messen zustande kommen. In diesem Sinne muss die Perspektive von David Strecker, der die Ununterscheidbarkeit zwischen Macht und Gewalt betont, mit einem gewissen Vorbehalt behandelt werden, da zu seiner Kritik die dynamische Agonalität von Arendts Politischem hinzugefügt werden muss. Die Bezüge von Macht und Gewalt deuten darauf hin, dass beide in Arendts Politiktheorie keinen gleichrangigen Gegensatz bilden. Das Verhältnis zwischen Macht und Gewalt versteht sich einerseits als hierarchisch und ungleichmäßig, andererseits als abhängig, sogar voneinander.
Insofern Macht in gewissem Sinne auf das Herstellen angewiesen ist, das sich nicht nur auf Handeln und Macht, sondern vielmehr eng auf die Gewalt bezieht (vgl. Rosenmüller 2013, S. 424), ruft diese Angewiesenheit zunächst eine Kontamination der Macht durch Gewalt hervor. Das Funktionieren des Herstellens - die flüssigen Handlungen und Worte dauerhaft zu verdinglichen und Gesetze sowie Institutionen zu setzen, Geschichte zu schreiben - bildet die Bedingung oder den Hintergrund des Handelns. Dem Herstellen, das im oder vor dem Handeln schon (voraus)gesetzt ist, sind das Handeln und die Macht zwar übergeordnet, aber nicht völlig unabhängig von ihm. Macht, die mit der Funktion des Herstellens einhergeht, birgt daher bereits die Gefahr, dass sich die auf dem Handeln basierende Machtbeziehung ins Gewaltverhältnis verwandelt oder darüber hinaus sich die Macht gewissermaßen mit der Gewalt verbündet, entgegen Arendts Behauptung.
Doch der hauptsächliche und prinzipielle Grund der Verwobenheit von Macht und Gewalt, die Arendts Politiktheorie zugrunde liegt, ergibt sich aus der Priorität oder »Aszendenz der Macht über Gewalt« (Penta 1985, S. 68). Die Macht steht zur Gewalt im vorrangigen oder grundlegenderen Verhältnis, da das Handeln gemäß Arendts hierarchischer Unterscheidung der menschlichen Tätigkeiten zwei unterschiedlichen Rolle übernimmt. Handeln und die aus den gemeinsamen Handlungen entstehende Macht zeigen sich einerseits als das Ziel des >menschlichen< Lebens, insofern der Mensch während des Handelns und durch die gemeinsame Generierung der Macht frei sein kann. Andererseits legt Arendt Handeln und die auf dem Handeln basierende Macht als eine Basis des Menschenlebens fest, nämlich als human condition. Somit erweist sich die Macht als ein inhärentes Element im menschlichen Miteinander und als Grundlage des menschlichen Zusammenlebens, Gewalt jedoch nicht.72 Aus arendtscher Perspektive gibt es keine Gewalttaten ohne zumindest eine geringe oder passive Teilnahme, denn »kein einzelner Mensch [hat] ohne die Unterstützung von anderen je die Macht, die Gewalt wirklich loszulassen« (MuG, S. 52). Ein grausames Kriegsverbrechen wird nicht allein von einem starken Diktator begangen, sondern hinter ihm stehen zahlreiche Helfer, darunter zivile Mitläufer und Militärs, die aus Überzeugung verbrecherische Befehle umsetzen, Propagandisten sowie Unterhaltungskünstler und alle, die den Krieg offen unterstützen. Ein Beispiel hierfür ist die russische Invasion in der Ukraine, bei der massenhaft ukrainische Kinder deportiert wurden. Die Kinder wurden aus den eroberten Gebieten verschleppt, in Heime gebracht und in Familien umerzogen, nicht von einem, nämlich Putin, sondern von vielen Beteiligten, die sich ihrer Handlungen bewusst sind.73 Arendts extreme Konstellation - »alle gegen einen« im Fall der Macht und »einer gegen alle« im Fall der Gewalt - lässt sich nicht als zwei symmetrische Seiten einer Medaille verstehen. Macht kann ohne Gewalt reibungslos in Gang gesetzt werden. Ein Umkehrschluss dieser Gegenüberstellung, Gewalt ohne Machtbasis, ist hingegen Arendt zufolge von Natur aus unmöglich und unzugänglich. Schließlich lässt sich feststellen, dass die asymmetrische und hierarchische Konzeptualisierung von Macht und Gewalt der Grund des arendtschen Widerspruches ist, der die Unterscheidung und zugleich die Überlappung von Macht und Gewalt zeigt: Gewalt ist in der Praxis von der Macht abhängig, insofern schon immer Macht hinter der Gewalt steht (vgl. MuG, S. 50, Penta 1985, S. 68).
Strukturelle Gewalt gegen politische Fähigkeit
Arendt setzt sich intensiv mit der Abgrenzung von Macht und Gewalt auseinander und betont, dass Politik weder als bloße Herrschaft noch als Kunst der Regierung missverstanden werden darf. In ihrer Analyse beleuchtet sie kritisch die strukturellen und systematischen Auswirkungen der Gewalt auf den politischen Bereich. Das wesentliche Merkmal der systematischen Gewalt liegt nach Arendt nicht nur darin, dass sie bestimmte negative Freiheiten wie bürgerliche Rechte beschränkt oder beseitigt. Vielmehr entfaltet strukturelle Gewalt ihre Wirkung in Form von Deprivation, indem sie den Menschen all das wegnimmt, »was sie nach Arendt allererst zu Menschen macht« (Rebentisch 2022, S. 71). Damit strukturelle Gewalt funktioniert, ist eine Isolierung erforderlich, die den Zugang zum öffentlichen Raum verhindert und das menschliche Miteinander beeinträchtigt. Solche Isolierung führt systematisch dazu, dass Menschen sprachlos, heimatlos und letztendlich überflüssig werden, wodurch jede Individuen in diesem Gewaltregime Standlosigkeit und Verlassenheit erfahren und »auf ihre unvermittelte biologische Verschiedenheit zurückgestoßen werden« (ebd., S. 68). Diese Form der Gewalt lässt sich deswegen als strukturelle Gewalt bezeichnen, da sie als strukturelle Hemmung des menschlichen Potenzials zur Mobilität wirkt. Ohne die spezifische Bewegungsfreiheit, die Arendt mit dem Freisein gleichsetzt, können weder das Selbst noch die politische Welt geschaffen werden, insofern das politische Gehenkönnen das Recht auf Zugehörigkeit zum Ankunftsort impliziert. Im letzten Teil dieses Kapitels werden die systematische Isoliertheit und Unterdrückung der Spontaneität anhand dreier Beispiele von Arendt thematisiert: Tyrannei, Bürokratie und Totalitarismus.
Das erste Beispiel der strukturellen Gewalt ist Tyrannei, die Arendt als »eine Kombination von Ohnmacht und Gewalt« (VA, S. 255) definiert, welche durch wechselseitige Isolierung hervorgerufen wird. In der wechselseitige Isolierung offenbaren sich das Isoliertsein und die von dieser Isolierung ausgehende Ohnmacht als Resultat. Die Unfreiheit sowohl des Tyrannen als auch seiner Untertanen beruht auf der Isolierung, die »durch eine Art systematischer und organisierter Verbreitung gegenseitiger Furcht und allseitigen Misstrauens zustande kommt« (ebd., S. 256). In der Tyrannei werden Menschen nicht nur von vertikalen gesellschaftlichen Bezügen abgeschnitten, sondern auch von horizontalen Beziehungen zueinander isoliert. Der Herrscher ist von seinen Untertanen isoliert, da »der Alleinherrscher das Recht zu handeln für sich monopolisiert hat« (ÜR, S. 167). Dadurch wird er jedoch selbst ohnmächtig, denn ohne Pluralität kann niemand handeln und frei sein. Arendt betont, dass der Mensch »nur >unter seinesgleichen frei sein [...]; daher konnte weder der Tyrann, der noch tun und lassen konnte, was er wollte, noch der Despot, der über Menschenmassen herrschte, die noch nicht einmal wußten, was Freiheit ist, [...] frei genannt werden« (ebd., S. 36f.). Im Gegensatz dazu werden die Untertanen in der Tyrannei »aus dem öffentlichen Bereich in die private Sphäre des Haushalts« (ebd., S. 167) verbannt, wo »sich jeder außer ihm selbst nur um seine Privatangelegenheiten kümmert« (ebd.). Beide Formen der Isolierung führen zum gleichen Ergebnis: Die Untertanen der Tyrannei sind ebenso ohnmächtig, da ihnen kein öffentlicher Raum zur Verfügung steht, in dem sie in Erscheinung treten können. Die Unterdrückung der Tyrannei besteht somit nicht allein in ihrer Grausamkeit. Viele Menschen in der Tyrannei können in dem stummen und homogenen Frieden leben, in dem es keine Spontaneität und kein Ereignis74 gibt, der jedoch nicht mit dem Freisein in der Öffentlichkeit gleichgesetzt werden kann. In der Tyrannei beschleunigen sich diese gegenseitigen Auswirkungen der Gewalt von Isolierung und Machtlosigkeit.
Das zweite Beispiel der strukturellen Gewalt findet sich laut Arendt in der Bürokratie75, die durch eine vielschichtige Isolierung dazu neigt, »die Einzelnen tendenziell solange vom eigenverantwortlichen Handeln [zu entbinden]« (Rebentisch 2022, S. 208). Als ein Zeichen des Niedergangs der Politik funktioniert Bürokratie lediglich als Administration oder Management des Volks. Im Vergleich zur Gewalt des Tyrannen, der als Alleinherrscher von der ohnmächtigen und stummen >Ich<bezogenheit geprägt ist (vgl. UT, S. 321), ist die Gewalt der Bürokratie durch ihre instrumentelle Funktion charakterisiert. Ämter dienen rein als Mittel des komplexen bürokratischen Systems, innerhalb dessen »man keinen Menschen mehr, weder den Einen noch die Wenigen, weder die Besten noch die Vielen, verantwortlich machen kann« (MuG, S. 39). So erscheint die Bürokratie als »eine Tyrannis ohne Tyrannen« (ebd., S. 80). Die Besonderheit der Bürokratie liegt in ihrer Anonymität und Niemandsherrschaft, die keineswegs mit >Nicht-Herrschaft< gleichzusetzen ist (vgl. VA, S. 57). Vielmehr zeigt sich die bürokratische Herrschaft »als eine der grausamsten und tyrannischsten Herrschaftsformen« (ebd., S. 51), da sie eine Herrschaft der Verordnungen oder die von Beamten, Experten oder Fachmännern ist, die als die sachgerechten und >exekutiven Räder< des Regimes auftreten. Der Alltag in der Bürokratie wird somit von Verordnungen beherrscht, die nicht nur von gesetzgebenden und gesetzauslegenden Tätigkeiten der politischen Eliten losgelöst sind, sondern auch von den konkreten Meinungsgruppen oder den gesetzgebenden Versammlungen (vgl. UT, S. 526f.). Daraus resultiert eine Herrschaft, in der sowohl der Herrscher anonym bleibt, sodass die Bürger gar nicht wissen können, »was oder wer sie eigentlich regiert« (ebd., S. 518), als auch die Bürger einander anonym gegenüberstehen. Unter der Bürokratie verlieren die Bürger nicht nur den öffentlichen Raum, in dem ihre politische Bewegungsfreiheit zum Ausdruck kommen könnte, sondern auch die Möglichkeit zur Diskussion und Meinungsbildung. Stattdessen sind sie nur innerhalb exekutiver Verfügungsmacht und der Vergesellschaftung hin- und hergerissen und darin gefangen: »Es ist daher immer ein Zeichen bürokratischer Herrschaft, wenn der Rechtsweg nur noch für die Beherrschten und ihren Protest offengelassen ist, alles eigentlich politische Handeln sich aber auf dem Verordnungswege vollzieht« (ebd., S. 527). Die Gewalt der Bürokratie führt zusammenfassend dazu, dass die gegenseitig isolierten Menschen ihrer politischen Bewegungsfähigkeit zur spontanen Selbst- und Weltschaffung beraubt sind und in der Falle der Regelkonformität gefangen bleiben.
Der deutlichste Fall der strukturellen Gewalt, wie von Arendt beschrieben, ist der Totalitarismus, der sich auf die gänzliche Vernichtung des politischen Raums und der menschlichen Fähigkeit zum Anfangenkönnen abzielt. Der Endzweck der totalitären Gewalt verweist auf »die Transformation der menschlichen Natur selbst« (UT, S. 940f.). Arendt erläutert diese Transformation durch ihre Rädchentheorie76: Im totalitären Regime wird jeder zu einem Bestandteil der strukturellen Gewalt, wodurch die als politisch begabte Wesen geborenen Menschen auf austauschbare, bloß berechenbare Reaktionsbündel reduziert werden (vgl. ebd., S. 907).77 Ähnlich wie bei Tyrannei und Bürokratie ist ebenso im Totalitarismus eine extreme Isolierung die Voraussetzung für die Auswirkungen systematischer Gewalt. Die totalitäre Gewalt unterscheidet sich jedoch von den anderen Formen struktureller Gewalt dadurch, dass sie über die Abwesenheit von anderen hinaus die Zwiespältigkeit des Selbst, und zwar die Möglichkeit des Zwiegespräch mit sich selbst vernichtet (vgl. ebd., S. 970, 975ff.; Penta 1985, S. 22). Diese radikale Entfremdung, die »aus Menschen Funktionäre und bloße Räder im Verwaltungsbetrieb [macht]« (EJ, S. 59), knüpft an der grundlegenden Verlassenheit an. Der Mensch wird der Herrschaft des Totalitarismus, den Fähigkeiten zum Denken78, Urteilen und schließlich Handeln entzogen, sodass das menschliche Lebendigsein fast vollständig zum Stillstand kommt.
Das totalitäre Projekt, ein neues Menschengeschlecht zu schaffen (vgl. UT, S. 948f.), wird durch Terror und Konzentrationslager vorangetrieben. Die Angst vor Terror und Lager führt dazu, dass die Menschen die Befehle des Totalitarismus verkörpern und ihn exekutieren (vgl. UT, S. 948f., 953; K. Braun 2007, S. 14). Einerseits wird Terror eingesetzt, um Widerstand gegen das totalitäre Regime auszuschalten und die Anhänger zu vereinigen (vgl. Schönherr-Mann 2006, S. 65). Andererseits zeigen die Vernichtungs- und Konzentrationslager, die als das Außen des Gesetzes die Willkür der totalitären Gewalt herausstellen, dass unter dieser Herrschaftsform jeder in die Lager eingeliefert werden kann.79 Das Prinzip der »Willkür der Einlieferungen« (UT, S. 928) verleiht dem totalitären Regime eine Art biopolitischer Souveränität80, indem es Menschen so beherrscht, dass es von den Bürgern diejenigen ausscheidet, die als schädlich, minderwertig und schließlich als lebensuntauglich markiert werden.
Die Konzentrationslager dienten »dem totalitären >Experiment<, >Spontaneität als menschliche Verhaltungsweise abzuschaffen und Menschen in ein Ding zu verwandeln, das sich unter gleichen Bedingungen immer gleich verhalten wird< (UT, S. 908)« (Rebentisch 2022, S. 70). Die Lager sind ein Raum, in dem die Insassen »selbst wenn sie zufällig am Leben bleiben, von der Welt der Lebenden wirksamer abgeschnitten sind, als wenn sie gestorben wären« (UT, S. 915). Nach Arendt sind die Insassen der Lager >lebende Leichname<, in denen menschliche Besonderheiten wie Sprachfähigkeit nicht mehr zu finden sind. Sie sind völlig überflüssig geworden in dem Maße, dass ihnen das Recht auf Erinnerung entzogen wird. Selbst ihr Tod kann von ihren Familien und Freunden nicht betrauert werden, da »die Konzentrationslager den Tod selbst anonym machten« (ebd., S. 930). Die Lager erweisen sich daher als ein vollkommener Negativraum des Erscheinens (vgl. Rebentisch 2022, S. 71f.). Insofern der Totalitarismus als eine historisch beispiellose Gewalt verstanden wird, die die politische Bewegungsfähigkeit, die etwas Unerwartetes hervorbringen kann, vollständig ausrottet, führt das Leben unter totalitärer Herrschaft in der Tat in eine Sackgasse: Entweder wird der Mensch zum Bestandteil der totalitären Gewalt oder er wird als lebender Leichnam inhaftiert. In beiden Fällen werden die Menschen verlassen und überflüssig. Somit nimmt Arendt in Bezug auf diese extreme totalitäre Gewalt ausnahmsweise eine pessimistische Position ein. Da totale Herrschaft alle Menschen zu Komplizen »aller von dem totalitären Regime unternommenen Aktionen und begangenen Verbrechen« (UT, S. 975) macht, sollte sich der Mensch in einem derart radikal ungerechten Regime dafür entscheiden, nicht in Erscheinung zu treten, um zu vermeiden, selbst als Gewaltmittel der totalitären Herrschaft zu dienen und darum ein Teil ihrer Gewaltwirkung zu bleiben.81 82 Es ist die grausamste Gewalt des Totalitarismus, die nicht nur den öffentlichen Raum und das zwischenmenschliche Miteinander zerstört, sondern lässt auch keinen Weg offen, unter totalitärer Herrschaft menschliche Würde zurückzugewinnen.
Politische Gewalt gegen Gewalt der Ungleichheit
In Arendts Politiktheorie wird der Gewalt ein sekundärer Rang zugewiesen, was zur Verdeutlichung ihres Machtbegriffs beiträgt: Im Gegensatz zur Gewalt, die eine wortlose, auf dem berechenbaren Zweck-Mittel-Verhältnis beruhende »Technik der Verfügung [ist], um Menschen einen fremden Willen aufzuzwingen« (Meyer 2014, S. 20), offenbart sich Macht als etwas, das in Form der Pluralität einen spontanen Neuanfang ins Leben ruft. Macht ist eine Ausdrucksform des Lebendig- und Freiseins der Menschen. Gewalt ist dagegen die Verwüstung der Freiheit, die Zerstörung des menschlichen Zwischen und die Hemmung der Bewegungsfähigkeit, die Arendt mit dem Freisein gleichsetzt (vgl. WiP, S. 44). Obwohl Arendt die sich gegenseitig ausschließenden Definitionen von Macht und Gewalt betonen, muss darauf hingewiesen werden, dass beide sich wechselseitig durchdringen können. Einerseits besteht eine asymmetrische Angewiesenheit der Gewalt auf die Macht, insofern nach Arendt ohne Macht oder zumindest ohne Vollzugsform der Macht Gewalt nicht ins Werk gesetzt werden kann. Andererseits besteht eine Gefahr der Kontamination der Macht durch Gewalt. Diese Gefahr ist in Arendts politischer Theorie inhärent, insofern Macht mit Herstellen zusammenwirkt, was das Fundament der Macht und Gewalt liefert - durch Verdinglichung, Instrumentalisierung und Technik. Infolgedessen erweist sich die arendtsche Macht, die als Phänomen des pluralen Handelns definiert ist, im Gegensatz zur Gewalt aus den Mitteln als fragil.
Im vorherigen Kapitel wurde der strukturelle Charakter arendtscher Gewalt herausgearbeitet. Diese Form der Gewalt zielt darauf ab, die menschliche Fähigkeit zum Neuanfang systematisch zu zerstören, indem sie die Menschen mehrdimensional voneinander isoliert und ihnen den Zugang zur Öffentlichkeit verwehrt. Das deutlichste Beispiel der strukturellen Gewalt ist nach Arendt die81 82 totale Herrschaft, die durch die Bedrohung von Terror und Lager fast vollkommen von der Vielfältigkeit der Meinungen des Volks getrennt funktioniert. Unter dem totalitären Regime finden die Menschen gar keine Möglichkeit, ihre menschliche Fähigkeit zum Handeln und Sprechen zu entfalten. Stattdessen werden sie auf vorhersagbare und austauschbare Reaktionsbündel reduziert und schließlich nicht nur vogelfrei in Konzentrations- und Vernichtungslagern, sondern auch in ihrem eigenen Lebensraum überflüssig gemacht. Es ist dennoch zu betonen, dass die bisher dargestellte strukturelle Gewalt, als deren Beispiele Tyrannei, Bürokratie und Totalitarismus thematisiert wurden, im arendtschen Sinne die »politische Gewalt< darstellt, die im Gegensatz zur aus dem Handeln entstehenden Macht steht. Es lässt sich wohl darstellen, dass in Arendts Politiktheorie eine noch grundlegendere, jedoch unsichtbare Gewalt liegt, die sich aus der Lebensnotwendigkeit und Verletzbarkeit des Menschen ergibt und eng mit der ungleichen Zugänglichkeit zum Erscheinungsraum verbunden ist. Die Hierarchisierung zwischen politischer Gewalt und der Gewalt aus der Notwendigkeit führt zu einer weiteren Differenzierung zwischen denjenigen, die von politischer Gewalt betroffen sein können, und denjenigen, die ihr Leid nicht als politische Gewalt anerkannt werden können. Arendt setzt voraus, dass es Menschen gibt, die hinter den in Erscheinung tretenden Subjekten gesellschaftlich und wirtschaftlich dazu gezwungen sind, im Verborgenen die Lebenslast anderer zu tragen und deshalb vom Zugang zur Freiheit ausgeschlossen sind (vgl. ÜR, S. 145): Wie sie selbst offenlegt, basiert die arendtsche Politik der Erscheinung auf der Sklavenwirtschaft. Die Ungleichheit, Ausbeutung und die daraus resultierende Prekarisierung sind jedoch nicht nur ein Problem der Antike, sondern verstärkt auch auf globaler Ebene gegenwärtig.83 Wer trägt die Last, damit andere ihre freie Bewegungsfreiheit im Alltagsleben erweitern können? Jene Menschen, die vom Erscheinungsraum ausgeschlossen bleiben, werden nach Arendt wegen ihrer Nichtteilnahme oder ihres Ausgeschlossenseins als sozial unsicher und minderwertig betrachtet werden. Wenn Last und Leid nicht nur ungleich verteilt, sondern ungleich anerkannt werden, funktioniert Gewalt - ebenso wie Macht - als Kriterium, das im strikt arendtschen Sinne Menschen von Nichtmenschen unterscheidet.
Im Folgenden werden drei Perspektiven auf die arendtsche Gewalt kritisch zusammengefasst und in Kontrast zur Butlers Vorstellung der Widerstandsmöglichkeit durch verletzliche Körper gestellt. Erstens zeigt sich die Gewalt der Ungleichheit als eine tiefere Verwobenheit von Macht und Gewalt. In Arendts Politiktheorie besitzt die Gewalt von Anfang an einen wesentlichen Bezug zur Macht und zur Freiheit, insofern das Freisein derer, die als Hausherren ihre Vortrefflichkeit unter Beweis stellen können, auf der Gewalt der Ungleichheit basiert. Zweitens stellt sich die Frage: Wie lässt sich die Gewalt der Ungleichheit, die von Arendt als die vorpolitische Gewalt bestimmt wird, genauso zur Diskussion stellen wie die politische Gewalt, die Pluralität und die menschliche Fähigkeit zur Freiheit zerstört? Wie lässt sich verdeutlichen, dass beide Formen der Gewalt miteinander verbunden sind? Ein grausamer Aspekt der politischen Gewalt besteht darin, dass sie sowohl die erzwungene Bürde der Ausgeschlossenen als auch die privilegierte Aneignung des Kulturellen durch mobile Subjekte unsichtbar macht - eine spezifische Aneignung, die auf einer ungleich verteilten Möglichkeit des Erscheinens beruht. In einem gewissen Sinne lässt sich festhalten, dass nicht nur Macht, sondern auch die politische Gewalt auf der Gewalt der Ungleichheit beruhen. Diese Gewalt verhindert, dass die Probleme der Ungleichheit in arendtscher Weise als politische Angelegenheiten im politischen Bereich behandelt werden. Mit anderen Worten: Diese Wirkung von Gewalt der Ungleichheit verhindert, dass Prekarität und Verletzbarkeit als politische Themen in Erscheinung treten können. Kritisch ist daher zu fragen, wie bestimmte Bevölkerungsgruppen bei Arendt ihr Leid und ihre Demütigung >politisieren< können, wenn die Gewalt der Prekarisierung im Alltag nicht als politische Gewalt öffentlich anerkannt wird. Gibt es - im Gegensatz zu den Überlegungen von Rahel Jaeggi oder Oliver Marchart - bereits eine Grenze des innovativen Handelns, die gemäß arendtscher Politik der Erscheinung die Unmöglichkeit der Politisierung markiert? Zielt Hannah Arendt tatsächlich darauf ab, eine Freiheit zu ermöglichen, die für alle gleichermaßen gilt und insbesondere für alle die Gleichheit von der Last der Notwendigkeit bewerkstelligen (vgl. Rebentisch 2022, S. 218)?
Drittens: Im Rahmen der Gewalt als Gegensatz zur Macht entsteht ein kritisches Problem in Arendts Politik: Obwohl die Fähigkeit zum Handeln und Sprechen von der Natalität des Menschen ausgeht, scheint die Unmöglichkeit, der Gewalt der Ungleichheit und der extremen politischen Gewalt zu widerstehen, unüberwindbar (vgl. Gündogdu 2015, S. 154). Die Deprivation dieser Widerstandsfähigkeit weist auf zwei Dinge hin. Zum einen ist die politische Fähigkeit, sich zu zeigen und Freiheit zu schaffen, nicht nur von der Pluralität, sondern von der Räumlichkeit abhängig, die wesentlich mit Herstellen verbunden ist. Zum anderen kann dieser politische Raum, der für die politische Handlungen unerlässlich ist, nach Arendt weder als tragbar noch als ganz transponibel betrachtet werden - überdies wird im Kapitel V weiter thematisiert. Wenn die Gewalt den Handlungsraum zerstört, in dem der Neuankömmling als Subjekt in Erscheinung treten kann, stellt sich die Frage: Wie kann das arendtsche Subjekt dann sein Menschsein wiedererlangen? Oder anders formuliert: Wie kann derjenige, der durch totalitäre Gewalt als lebensuntauglich stigmatisiert wird, als gedemütigter, nach Arendt wortloser und inhaftierter Körper der Entmenschlichung widerstehen?
Ein kontrovers diskutiertes Beispiel ist hierfür der Protest des Lippenzunähens im Jahr 2002, bei dem 60 inhaftierte Asylsuchende im australischen Lager Woomera ihre Lippen vernähten, um gegen die restriktive Einwanderungspolitik zu protestieren (vgl. Gündogdu 2015, S. 160).84 Das Lippen-sich-Zunähen hat sich weltweit als eine neue Protestform unter inhaftierten Geflüchteten verbreitet, insofern es als eine Möglichkeit des Widerstands unter extremen Bedingungen angesehen wurde. Aus arendtscher Perspektive kann dieser selbstbeschädigende, körperliche Protest doch kaum als politische Handlung gelten. Es bleibt zudem fraglich, ob eine solche Form des Widerstands für alle, die unter extremer Gewalt leiden, angemessen ist. Ohne Worte ist es nach Arendt unmöglich, sich öffentlich zu erscheinen und politisch zu handeln. So in diesem Beispiel der Geflüchteten versuchten die Geflüchteten jedoch, ihre Aktion politisch zu kontextualisieren, indem sie drei Briefe veröffentlichten, die die Bedeutung ihres Protests erläuterten. Dieses Beispiel offenbart die Ambivalenz des Politischen bei Arendt und die Grenze der Politik der Mobilität: Sie können weder sprachlos-performative sowie körperliche Handlungen erklären, noch konzipieren, wie ein körperlich-politischer Raum neu eröffnet werden kann, wenn der Erscheinungsraum durch extreme Gewalt zerstört oder der Zugang zu ihm verwehrt wird.
Im Gegensatz zur arendtschen Politik der Erscheinung und der darauf basierenden Politik der Mobilität stellt Butler eine Möglichkeit des politischen Widerstandes heraus, der in einer radikal gewaltsamen Situation oder am Rand der Lebbarkeit stattfinden kann. Nicht Arendt, sondern Butler vertritt die Ansicht, dass Menschen durch Gewalt nicht vollständig mundtot gemacht werden und ein menschliches - im Sinne von öffentliches und politisches - Leben durch extreme Gewaltwirkungen nicht auf das biologisches Minimum reduziert wird. Menschen sind niemals »in den Zustand des >nackten Leben< [...] [zurückversetzt], da Leben schon immer in unumkehrbarer Form ins politische Feld eingelassen ist« (Bernhard 2017, S. 203). Nach Butler gelten die Inhaftierten, wie etwa die Geflüchteten im Lager von Woomera, nicht als vollständig Ausgeschlossene, die keine Fähigkeit entfalten können, sich zu versammeln oder Widerstand zu leisten (vgl. TV, S. 60). Butlers Interpretation der Gedichte aus Guantanamo lässt sich in diesem Sinne mit der Position Arendts auseinandersetzen, um zu zeigen, wie man in der extremen Isolation dennoch handeln und sprechen kann. Butler legt die Gedichte85 aus Guantanamo als eine politische Handlung fest, insoweit die Formulierung der Gedichtverse mit der Überlebensfähigkeit verbunden ist. Ein besonders hervorstechendes Beispiel ist ein Gedicht, das explizit die Frage aufwirft, wie man »nach dieser Demütigung Wörter formen kann« (RK, S. 59).86 Diese Art von Poesie, »in der [...] [die] Fähigkeit zum Schreiben von Lyrik [infrage gestellt wird]« (ebd.), bietet eine unerwartete Widerrede gegen die stumme Gewalt und Narrenfreiheit bei Arendt. Die Lyrik, die auf einen Styroporbecher in Guantanamo geritzt wurde, stellen für Butler einen Appell dar, der erklärt, dass es auch Menschen innerhalb der Lager gab und gibt, die ebenso lebenswert sind wie die Menschen außerhalb der Lager. Durch diese poetische Anrede kann das Lager nicht mehr als ein Außen des Politischen abgegrenzt werden, insofern die Gedichte die Stummheit des Lagers durchbrechen.
Butler verknüpft die politische Möglichkeit der Überlebensfähigkeit, die im Gegensatz zum auf Redeakten basierenden politischen Freisein bei Arendt steht, mit dem Körper. Bei Butler steht der Körper niemals im Gegensatz zur Sprache. Vielmehr existiert der Körper als ein sprechender Körper, der Bedeutung verkörpert - nicht als vorpolitische oder eigene abgeschlossene Einheit, sondern als »eine lebendige Menge von Beziehungen« (TV, S. 88) sowie selbst »Vektor dieser Beziehungen« (RK, S. 57). Ihrer Ansicht nach wird die Formulierung körperlicher Verletzungen und Demütigungen in solchen Situationen zu einer Form des politischen Widerstands, indem der verletzte und beleidigte Körper in poetischer Form mit anderen verbunden wird und sich in die Wörter hineinatmen lässt (vgl. ebd., S. 63). Bevor die drei Briefe ihre Aktion erklärten, sprachen die zugenähten Lippen der Inhaftierten bereits von etwas - von ihrem Leid, ihrer Sehnsucht nach Freiheit und ihrer Forderung, dass niemand monatelang oder sogar jahrelang hinter Stacheldraht einsperrt sein sollte (vgl. Gündogdu 2015, S. 160). Diese körperliche Deklarationen können darüber hinaus einen neuen Erscheinungsraum öffnen, wenn die zugenähten Lippen sich zusammenstehen, also die Geflüchteten ihren demütigenden Körpern der souveränen Gewalt aussetzen. Diese verletzte Art des Körper-Sprechens, das nicht allein von immer schon öffentlichem und beziehungsabhängigem Körper ausgeht, findet man in Arendts Politiktheorie sowohl in ihrem Gewaltbegriff als auch im Begriff der Macht kaum wieder.
II. Souveränität der Mobilität und ihre Ambivalenz
In diesem Kapitel geht es um das Politische der Mobilität, die aus der spezifischen Bewegungsfähigkeit und mehrdimensionalen Grenzziehungen entsteht. Die Mobilität in Arendts Politiktheorie weist darauf hin, dass die politische Handlungsfähigkeit als eine bestimmte Form der Bewegungsfähigkeit betrachtet wird, die zuerst bedeutet, das eigene Bedingtsein sowie »den engen Bezirk des Hauses zu übersteigen und aufzusteigen in den Bereich des Politischen« (VA, S. 43). Dabei wird auch die Art und Weise untersucht, wie das mobile Subjekt mit seiner Welt und Pluralität in Verbindung steht. Die Mobilität macht auf die spezifische Koinzidenz aufmerksam, dass nicht nur die Selbstschaffung des Lebens, sondern auch die Politik »als >Modus< der sichtbaren Verwirklichung menschlicher Würde und Freiheit« (Bielefeldt 1993, S. 87) auf die verschiedenen Bewegungsfähigkeiten angewiesen ist. Mit anderen Worten: In Gestalt der Mobilität kann das souveräne und autonome Freisein mit der Würde des Politischen zusammenfallen.
Das Konzept der Mobilität, Bewegungsfähigkeit mit der menschlichen Freiheit und politischer Souveränität gleichzusetzen, stellt eine faszinierende politisch-emanzipatorische Idee dar, die nicht nur in hobbesschen Worten oder in der Politik der Erscheinung bei Arendt zu finden ist, sondern auch in Konzepten wie der Multitudo bei Antonio Negri und Michael Hardt oder dem >Anteil der Anteillosen< bei Rancière. Das Konzept der Mobilität eröffnet uns, dass Politik ein Selbstzweck ist, der durch die spezifisch sprachliche Bewegung das menschliche Freisein verwirklichen kann, das sich auf keine vorgegebenen Autoritäten außer zwischenmenschlichen Multiperspektiven verlässt. Arendt verknüpft die Selbstzweckhaftigkeit des Politischen mit der politischen Tugend des Subjekts, die darauf hinweist, dass die Eröffnung der Öffentlichkeit und das Zustandekommen der Freiheit das eigene lebendige Sein ins Leben rufen. Die Souveränität der Mobilität nimmt in diesem Sinne eine Form des Befehls an, dem nicht jeder folgen kann: >Sei selbst Neuanfang, damit du als Sterblicher unsterblich wirst. Sei ehrgeizig, nicht aus Eigeninteresse oder Sicherheit, sondern für politischen Ruhm und gemeinsame plurale Freiheit.< Die Mobilität in Arendts politischer Theorie stellt diese politische Tugend heraus, die in der postmodernen und neoliberalen Welt fast vollständig verloren gegangen ist.
Im Zusammenhang mit der Mobilität wird Arendts Begriff der Erscheinung ein besonderer Stellenwert eingeräumt, sodass sich ihre Politiktheorie weniger als Politik der Pluralität, sondern vielmehr als Politik der Erscheinung versteht. Arendt argumentiert, dass nur durch die Erscheinung man über die Anonymität87 der Gattungswesen hinaus die Wirklichkeit der konkreten und einzigen Individualität gewinnen und an der Öffentlichkeit teilnehmen kann (vgl. VA, S. 250f.; Kristeva, S. 275f.). Diese Darstellung liefert uns eine Sichtweise der Räumlichkeit, dass die Mobilität auf Arendts dualistischer und durch die »Kunst der Grenzziehungen« (Sigwart 2014, S. 69) gebildeter
Welt basiert. Handlungsfähigkeit und Sprache, Anerkennung und Subjektivität, schließlich Macht88 und Freiheit gewinnen Bedeutung in dem bestimmten Raum. Daher spielen die Begriffe von Raum und Räumlichkeit bei der Konzeptualisierung der Mobilität eine essenzielle Rolle.
Der erste Teil dieses Kapitels bemüht sich um die Erscheinung, die als ein beispielhaftes Moment der Mobilität thematisiert wird (Kap. 2.1). Der Fokus liegt zunächst darauf, wie die arendtsche phänomenologische Betonung sich mit der Selbstschaffung des mobilen, souveränen und autonomen Subjekts verbindet. Somit wird Erscheinung nicht nur als ein einmaliges Ereignis, sondern als ein politisch tugendhafter Lebensstil betrachtet, der in der Spannung zwischen Performativem und Expressivem besteht. Im zweiten Teil wird die Schattenseite der Mobilität vertieft und gefragt, inwiefern die Autonomie des Politischen durch die verschiedenen Grenzen wie oikos / polis, die nationalstaatliche und/oder rechtliche Grenze und die durch die geistigen Tätigkeiten gesetzte Grenze der Erfahrung besteht (Kap. 2.2). Des Weiteren wird die Figur der Staatenlosigkeit als ein Gegenbeispiel zur Mobilität analysiert, das auf die Grenzen der Mobilität hinweist - wie die Selbstschaffung und die politische Kontingenz in sich zusammenfallen, wenn die Bewegungsfähigkeit von Verlassen und Ankommen stillsteht. Diese katastrophale Inkompossibilität, die der Deutung und Funktion der Mobilität entgegengesetzt ist, verbirgt sich grundlegend in der Mobilität selbst. Am Ende des Kapitels wird untersucht, inwiefern die auf den ersten Blick souverän und autonom erscheinende Mobilität in der Tat auf die kulturellen Umgebungen angewiesen ist. Es wird dargelegt, dass die phantasmatische Souveränität der Mobilität von der vulnerablen, performativen Immobilität unterschieden werden muss und dass der Fokus auf das politische Potenzial der Immobilität - welches im abschließenden Abschnitt behandelt wird - gerichtet werden sollte.
2.1 Erscheinung, Subjekt und Mobilität
Arendts Frage, was der Mensch ist, ist nicht eine philosophische Frage, die sich damit beschäftigt, wie der Mensch definiert werden kann, sondern eine politische Frage - wie man erscheint und frei lebt. Arendt legt Freiheit nicht als einen Zustand fest. Freiheit ist vielmehr ein dynamischer Lebensstil, durch den man ohne den kontinuierlich leidenschaftlichen Prozess der Unterwerfung sich selbst als einen freien Menschen schaffen kann. Daher verwirklicht diese Lebensweise die Autonomie des Politischen nach Arendt. Arendt lehnt nicht nur das Bild des singulären, isolierten Subjekts eindeutig ab, sondern auch den Begriff des Subjekts, das durch Unterwerfung oder ein Moment der Degradierung im Inneren geprägt wird (vgl. Kurbacher 2023, S. 15). In Arendts Politiktheorie befindet sich streng genommen keine Subjektivation, in der ein handlungsfähiges Subjekt durch ständige Wechselwirkung mit den Diskursen, Normen und Machtbeziehungen in der Unterwerfung entstehen kann. Dies weist in vergleichender Weise darauf hin, dass das Subjekt bei Arendt als ein solches begriffen werden soll, das sich ohne Negativität oder Gewaltwirkungen wie Unterwerfung oder Subjekt-Objekt-Spaltung schaffen kann, so wie Arendt versucht, Konstitution und konstituierende Macht von der nichtweltlichen Gewalt zu trennen. Es lässt sich dennoch argumentieren, dass man mit und gegen Arendt das souveräne Subjekt in ihrer Politiktheorie interpretatorisch herausarbeiten kann. Kann man sich beim Bild des Menschen, der die Freiheit verlangt und sich für die Freiheit engagiert, nicht ein Subjekt vorstellen? Liegt in Arendts Gedanken nicht bereits ein Subjekt, mit dem sich die Welt mitschaffen lässt und dessen Freiheit und Subjektivität mit dieser Weltgestaltung gleichzeitig existieren können? Bevor die Probleme der Grenzen und Ausschließung, nämlich die Gewalt der Mobilität, detailliert erläutert wird, konzentriert sich dieses Kapitel zunächst auf den Begriff der Erscheinung in Bezug auf Mobilität - die Mobilität, die als ein Ereignis verstanden wird, durch das das Subjekt sich in die Welt einschaltet und charakterisiert wird. Untersucht wird, inwieweit Arendts phänomenologischer Ansatz in Verbindung mit der Handlungsfähigkeit steht, die bei Arendt als Bewegungsfähigkeit verstanden wird, sowie die Frage, wie das Subjekt in Erscheinung tritt, und schließlich, inwieweit dieses mobile, sprachliche und entkörperte Subjekt als souverän und autonom betrachtet werden kann. Diese Fragestellungen sind hier von besonderer Relevanz, da sie im Kontrast zum Verständnis von Judith Butler stehen: die Mobilität der arendtschen Politiktheorie gegen die Subjektivation, Wiederholung und Immobilität bei Butler. Eine ausführliche Darstellung dieses Vergleichs zwischen Arendt und Butler folgt in den Kapiteln V und VI.
Das Verborgene hinter der Erscheinung
Wenn man den Subjektbegriff in Arendts Politiktheorie entdecken möchte, gewinnt der Begriff der Erscheinung an Bedeutung. Arendt kehrt nicht nur die »alt[e] metaphysisch[e] Zweiteilung in (wahres) Sein und (bloße) Erscheinung« (LGD, S. 33) um, sondern etabliert eine neue Hierarchisierung zwischen der vielfältigen, öffentlichen und daher weltlichen Erscheinung und dem der indifferenten und notwendigen Leistung zugeordneten Inneren (vgl. ebd., S. 39). In Arendts phänomenologischem Ansatz liegt ein Drang zur Selbstdarstellung als ein grundlegendes Bestreben, das wohl mit dem Conatus, dem selbstzweckhaften Selbsterhaltungsstreben, vergleichbar ist (vgl. ebd.). Sie unterscheidet ferner in politischer Hinsicht von dieser allgemeinen Selbstdarstellung das spezifisch menschliche Charakteristikum des Sich-Präsentierens, das zeigt, wie man in Tat und Wort erscheinen möchte, was man wahrgenommen wissen möchte und was nicht (vgl. ebd., S. 43; Bajohr 2011, S. 118). Daraus resultierend ergibt sich die zentrale Frage nach dem Politischen bei Arendt: Wer kann erscheinen und wie erscheint man - während die entscheidende Frage der Subjektivation in Butlers Politiktheorie lautet, wie man wiederholt.
Der Vorrang der Erscheinung zeigt sich als die bemerkenswerte Konstruktivität, die als das Charakteristikum von Arendts Subjekt implizit und explizit verstanden werden kann. Arendt betrachtet den Menschen nicht als vorbestimmtes Wesen, sondern vielmehr als jemanden, der »dieses Wesen überhaupt erst hervorbringen, eben durch seine Handlungen seine Existenz gestalten [muß]« (Schönherr-Mann 2006, S. 165; vgl. D, S. 304). In diesem Sinne versteht sich die Erscheinung als ein Ereignis, bei dem der natürliche, sprachlose homo im dunklen Bereich zum Bürger modifiziert, der sowohl Rechte als auch Pflichten von den öffentlichen Angelegenheiten erhalten hat (vgl. ÜR, S. 135f.). Ihre Betonung des Vorrangs der Oberfläche und des antiessenzialistisch betrachteten Erscheinens verbindet sich auch mit Nietzsches Standpunkt89, dass >es kein Seiendes hinter dem Tun gibt< und somit, dass »[e]s für sie keine Welt hinter der Welt [gibt]« (Kurbacher 2023, S. 12). In diesem Kontext scheint Arendts Begriff der Erscheinung dem expressiven Modell entgegengesetzt zu sein90, wie Dana Villa in Betracht zieht. Dennoch lässt sich argumentieren, dass Arendts Begriff der Erscheinung nicht ganz harmonisch als poststrukturalistische Kritik am Essenzialismus verstanden werden kann. Als die ereignishafte Konstruktion des Subjekts erweist sich die Erscheinung nicht ausschließlich als performativ, insofern die Selbstoffenbarung, die sich als das Überqueren zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen auffassen lässt, noch Bezug auf das Private und das Verborgene nimmt.
Es ist wichtig anzumerken, dass in der Erscheinung ein Zwist zwischen dem Konstruktiven und dem Expressiven besteht. Die Einzigartigkeiten des Subjekts werden nicht als angeboren, biologisch oder vorpolitisch festgelegt. Sie bestehen vielmehr in der Art und Weise der Erscheinung und der eigenen Besonderheit der Selbstkonstruktion. Die Einzigartigkeit des Subjekts bezieht sich im Wesentlichen auf die Öffentlichkeit und Kontingenz, da sie darauf hinweist, >wie< man in Erscheinung tritt, wie ein Subjekt in einem unvorhersehbaren Ereignis handelt und spricht, also wie es auf das weltliche Ereignis re-agiert. Im strengen Sinne ist jede Eigenschaft eines einzelnen Subjekts eine politische Eigenschaft, die mit der politischen Tugend verbunden ist. Somit steht das konstruktive Verständnis der Erscheinung im Gegensatz zum essenzialistischen Ansatz, bei dem sich die Erscheinung als ein Ereignis versteht, in dem das nackte oder bloße Selbst in der Öffentlichkeit reflektiert wird. Denn wer bei Arendt erscheinen und sich als öffentliches und politisches Subjekt einschalten möchte, muss eigene Masken tragen, die die Doppelfunktion91 erfüllen, und dementsprechend hat Erscheinung auch einen Doppelcharakter. Das Tragen einer Maske bedeutet einerseits, dass ein Mensch durch eine bestimmte Art des Sprechens einen eigenen Standpunkt in der Welt einnehmen, sich als öffentliche Person präsentieren kann. Die Maske dient also dazu, die eigene Stimme vernehmbar zu machen, sich Gehör zu verschaffen, d.h. seine Stimme als öffentlich intelligibel und politisch relevant durchklingen zu lassen (vgl. Gündogdu 2015, S. 104).
Die andere Funktion der Maske besteht darin, das Innere und Verborgene zu verdecken. Im Vergleich zum Notwendigen, das sich auf Lebensbedürfnisse bezieht, und dem für alle als identisch betrachteten Innerlichen gibt es bei Arendt etwas Verborgenes, das »durch einen bewußten Rückzug von den Erscheinungen zustande kommen [kann]« (LGD, S. 81), aber zur Erscheinung führt. In dem Verborgenen, das im Gegensatz zu Arendts antiessenzialistischen Darstellungen steht, ist vor der Erscheinung bereits »alles auf die weltlichen Belange abgestimmt, eingestellt und dafür ausgestattet« (Kurbacher 2023, S. 20). Wird dann dieses Verborgene tatsächlich durch die Maske verdeckt? Gibt es bei Arendts Politik der Erscheinung nicht etwas Verborgenes, das ein Subjekt dazu zwingt, dass es »so-und-nicht-anders-[erscheinen]« kann (vgl. VA, S. 233)? Wenn etwas Verborgenes bei der Erscheinung zum Ausdruck kommt, lässt sich daraus folgern, dass das Subjekt bei Arendt teilweise bereits als determiniert in Erscheinung tritt. Das Subjekt ist nicht völlig unabhängig vom Verborgenen, insofern die Maske der Selbstoffenbarung bereits mit dem Verborgenen gestaltet wird.
Als das Verborgene bleiben die geistigen Tätigkeiten von Arendt wie Denken, Wollen und Urteilen unsichtbar, ebenso »bei vollständiger Aktualisierung nicht sichtbar« (LGD, S. 78). Sie erscheinen nicht an sich, sondern finden in dem Wesen statt, das in Erscheinung treten und unter den anderen Menschen sein will (vgl. ebd., S. 81). Die Geistestätigkeiten leisten einen entscheidenden Beitrag zu der Erscheinung, denn »die Grundsätze, nach denen wir handeln, und die Kriterien, nach denen wir urteilen und unser Leben führen, hängen letzten Endes vom Leben des Geistes ab« (ebd., S. 77).92 Das Verstehen93 beispielsweise, das »quasi eine Einheit von Denken und Urteilen dar[stellt]« (Heuer 2012, S. 257), erweist sich als eine Geistestätigkeit, die es uns ermöglicht, die Wirklichkeit der Welt zu erfassen (vgl. D, S. 317). Es gibt nicht >die< singuläre oder gegebene Wirklichkeit, da die Wirklichkeit der Mitwelt dem Menschen »in der Weise des Es- scheint-mir« (LGD, S. 47) vorkommt.94 Somit erweist sich das Verstehen als eine individualistische und politisch-privilegierte Fähigkeit, insofern man durch sie die Wirklichkeit in >dieser, seiner < Welt annehmen und »in der Welt zu Hause [sein]« (Heuer 2012, S. 258) kann.95
Die Angewiesenheit der Erscheinung auf das Verborgene lässt sich anhand des Verhältnisses zwischen Denken und Eigentum erörtern. Arendt definiert das Denken als eine geistige Fähigkeit, die ein unsichtbares und tonloses, aber schier sprachliches Zwiegespräch zwischen Ich und Mir darstellt. Durch diese politische Einbildungsfähigkeit, die es ermöglicht, anstelle der abwesenden Anderen zu denken96, wird die Meinung formuliert, die sowohl die Maske für die Erscheinung als auch der eigene Standpunkt des Subjekts in der öffentlichen Mitwelt bildet.97 Dabei stellt sich beim Denken ein ähnliches Problem wie beim Verstehen: Obwohl Arendt das Denken nicht als »Vorrecht der wenigen, sondern [als] eine stets bereitliegende Fähigkeit jedes Menschen« (LGD, S. 190) festlegt, wird es durch eine strikte Voraussetzung eingeschränkt. Um das öffentliche und politische Leben in der Pluralität zu erringen, bedarf man eines Eigentums - eines verborgenen Ortes des Denkens, den Arendt als >Nirgends< bezeichnet.
Arendt spricht vom Eigentum als etwas, das dem privaten Bereich98 zugeordnet ist, jedoch im Unterschied zum lebensnotwendigen Wohnraum nicht zum Notwendigen zählt. Es unterscheidet sich auch vom Besitz nach seinen Tauschwert, indem es als örtlich gebundener Gebrauchswert spezifische Unantastbarkeit, Geborgenheit und somit Verborgenheit impliziert (vgl. VA, S. 77; Marti 1992, S. 514). Wird Eigentum als der von Arendt definierte Raum des Denkens erachtet, erhält es einen spezifisch topologischen Wert, der von Arendts Betonung der Pluralität abweicht. Im materiellen Sinne erweisen sich die eigenen vier Wände als ein besonderer Lebensraum, der es ermöglicht, sich der grausam strahlenden Öffentlichkeit zu entziehen und das Alleinsein für das Denken zu gewährleisten. (vgl. VA, S. 77).99 Es lässt sich somit konstatieren, dass das Privileg der Erscheinung auf dem Recht basiert, Eigentum zu besitzen, in dem durch die Geistestätigkeit das Handeln und Sprechen vorbereitet und ermöglicht wird. Daraus resultierend wird die Politik der Erscheinung sowie die Mobilität durch den Besitzindividualismus geprägt und gleichzeitig bringt dieser Probleme mit sich. Das Eigentum zieht nicht nur eine politische Grenze gegenüber denjenigen, die nicht in der Lage sind, ein Eigentum als Raum des Denkens zu privatisieren, das als Teil der kulturellen oder geschichtlichen Produkte des Herstellens100 vom Hausherren angeeignet wird (vgl. Redecker 2023, S. 47). Das Eigentum, das sowohl als spezifischer Raum wie auch als geistiges und historisch-kulturelles Erbe betrachtet wird, erweist sich als entscheidender Faktor, der vor dem Erscheinungsgeschehen den Stil der Erscheinung bestimmt - einen Stil, die auf Charakteristika der Meinungsmaske hinweist. Damit wirkt das Eigentum nach arendtscher und gegenarendtscher Ansicht als die Vorbedingung und die Grenze der Erscheinung.
Das verborgene Eigentum beeinflusst schließlich den Charakter der Pluralität. Es deutet sich an, dass die Wirklichkeit der Welt einer bestimmten Klasse von Personen, wie Hausherren, zugeschrieben wird. Dies birgt die Gefahr, dass Pluralität auf die Pluralität der Eigentümer-Denker reduziert wird, die unter sich ihresgleichen bleiben (vgl. Rebentisch 2022, S. 198). Noch kritischer ist, dass die öffentlichen Angelegenheiten - entgegen Arendts Feststellungen - von der unsichtbaren, verborgenen und nicht gemeinsam wahrgenommenen Tätigkeit hinter der Öffentlichkeit geprägt werden. Arendt erklärt nicht ausführlich, woraus die Fähigkeit zum Denken über die Welt und andere entsteht oder wie man dazu befähigt werden kann. Dieser Prozess der Subjektivation bleibt bei Arendt verborgen. Die Existenz und Funktion des >Nirgends des Denkens< lässt uns demnach den Schluss ziehen, dass das selbstkonstruktive Ereignis des In-Erscheinung- Tretens des Einzelnen nicht als vollständig indeterminiert und damit auch nicht als völlig performativ betrachtet wird.
Selbstschaffung des atomistischen und souveränen Subjekts
Insofern die Erscheinung aus dem Handeln entsteht, lässt sie sich nicht nur als ein großartiges Ereignis ansehen. Im Gegensatz zur Geworfenheit in die Welt bei Heidegger verbindet Arendt die Fähigkeit von Handeln und Sprechen mit der Natalität des Menschen. Daher kann bei Arendt »kein Mensch des Sprechens und des Handelns ganz und gar entraten« (VA, S. 214), die Geburt des Menschen ist >ein initium <, sodass »Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen [können]« (ebd., S. 215). Allerdings kann man ebenso einen Gegenschluss ziehen, den Arendt vielleicht nicht gerne in den Vordergrund stellen würde, dass nämlich die Erscheinung ihrer Eigenschaft nach nicht für alle erlaubt ist und nicht alle als Erscheinende die Empfindung des Lebendigseins erleben können (vgl. LGD, S. 128).101 Dieser Widerspruch der Erscheinung entsteht daraus, dass es in der Tat die unfassbar breite Vielfalt des Handlungsbegriffs »von glanzvollen politischen Heldentaten bis zu völlig unpolitischen und trivialen Aktivitäten« (Brunkhorst 1999, S. 123) gibt.102 In Arendts Denken gibt es tatsächlich ein Spektrum der Erscheinung, das sich nicht einfach auf die gegensätzlichen Pole von Erscheinung und Dunkelheit reduzieren lässt (vgl. LGD, S. 78)103 - z. B. liegt zwischen Erscheinung und Anonymität das Manifestieren, das Arendt definiert als »das, was sich zeigt, ohne in Erscheinung zu treten« (D, S. 740). Somit beinhaltet der Begriff der Erscheinung nicht nur den öffentlichen Zutritt zur Mitwelt und die Einschreibung, bei der man sich anderen als öffentliche Person zeigt, sondern vielmehr eine Figur des Wundertäters, in der etwas Neues wettbewerbsfähig initiiert wird und dadurch Macht erzeugt wird (vgl. VA, S. 219). Im Folgenden geht es nicht nur darum, wie sich Arendts Begriff der Erscheinung als eine Subjektkonstitution, die jedoch ohne Unterwerfung stattfindet, interpretieren lässt, sondern auch darum, was im strengen Sinne von Arendt bedeutet, als Wundertäter durch Handeln und Sprechen in Erscheinung zu treten. Wie kann man das gewisse öffentliche Manifestieren von dem wirklichen Freisein unterscheiden, in dem bei Arendt Sein und Erscheinen dasselbe sind? Um diesen Fragen nachzugehen, muss der Begriff Erscheinung in Bezug auf das Konzept der Mobilität genauer untersucht werden. Erscheinung wird im engen und strikten Sinne durch Bewegungsfähigkeit und Atomisierung charakterisiert, folglich funktioniert sie entgegen dem erwarteten Verständnis von Pluralität.
Erstens muss auf die spezifische Bewegung eingegangen werden, die zum wesentlichen Sinn der Erscheinung gehört. Diese politische Beweglichkeit der Erscheinung, welche mit der Räumlichkeit104 und Subjektivität in Zusammenhang steht, wird durch das Konzept der >Mobilität< erfasst. Mobilität zeichnet sich zunächst durch die spezifische Fähigkeit des Gehens aus, die es ermöglicht, den Bereich der Gewalt zu verlassen und als ein autonomes und souveränes Subjekt aufzutreten.105 Die Fähigkeit zur Bewegung erweist sich sowohl als Vorausbedingung wie auch als Privileg, einen Neuanfang setzen zu können und damit die Freiheit zu begründen, ohne den Zwang äußerer Maßstäbe (vgl. WiP S. 44). Von dieser konstruktiven Bewegung ausgehend besitzt das mobile Subjekt die selbstschaffende und autonome Eigenschaft. Die Bewegungsfähigkeit, die über die Mauer des Gesetzes hin zur öffentlichen Welt eintritt, bewirkt nach Arendt die Differenzierung des Lebens vom bloßen Leben zum öffentlichen Leben in der Pluralität, und zwar zum politisch Sinnhabenden und erinnerbaren Leben in der politischen Geschichte. Das bewegungsfähige Subjekt, das nicht allein mit der »Freiheit >von< Politik« (ÜR S. 360) zufrieden bleibt, ist im strikten arendtschen Sinne das einzige Subjekt der Freiheit, von dem ausgehend die Politik als die unvorhersehbare lebendig bestehen kann. Denn das Freisein kann nach Arendt insofern eine politische Bedeutung nur dann annehmen, wenn das Subjekt in der Unvorhersehbarkeit umhergeht (vgl. WiP S. 52). Die politische Dynamik aus der Mobilität verbindet sich ferner damit, dass das gehende Subjekt sich als verantwortlich für die Welt präsentiert. Die Erscheinung weist daher über die individuelle Einschaltung in die Welt hinaus auf die Art und Weise hin, wie der Mensch an der Welt teilnimmt und sie bereichert. Und insofern das Sich- Konstituieren zur Sorge für die Welt führt, erweist sich der Vorrang der Bewegungsfreiheit als Kardinaltugend. Es lässt sich somit sagen, dass der Selbstzweck in Arendts Politiktheorie sich in der Form der Mobilität niederschlägt.
Im phänomenologischen Sinne führt die Erscheinung zum unfasslichen und fragilen »Pluralitätsgeschehen« (Rebentisch 2022, S. 34), das sich »aus der gleichzeitigen Anwesenheit zahlloser Aspekte und Perspektiven, [...] für die es keinen gemeinsamen Maßstab und keinen Generalnenner je geben kann« (VA, S. 71), ergibt. Die Erscheinung des Einzelnen ist an die anderen, denen man erscheint, und an die vielfältigen Meinungen von anderen gebunden. Die Wirklichkeit des Menschen beruht auf der gegenseitigen Angewiesenheit zwischen den ebenbürtigen Subjekten und wird durch sie gewährleistet, wie Arendt sagt, dass »[m]ein >Selbst< qua Identität gerade ich von Andern [empfange]« (D, S. 734). Dennoch hat die Erscheinung eine Kehrseite, in der sie sich auf die bestimmte Gewalt der Subjektivität bezieht. Im Gegensatz zur arendtschen Feststellung, dass sie den Zusammenhang des Handelns, der Erscheinung und der Pluralität in den Mittelpunkt stellt, wird die Selbstkonstruktion als atomistisch betrachtet, und zwar nicht nur vor der Öffentlichkeit, sondern auch in der Öffentlichkeit. Als ein Übergehen vom privaten Bereich zur politischen Mitwelt ergibt sich die Erscheinung aus dem Individuum als eigenem Täter des Neuanfangs, jeder muss »in diese Sphäre der Öffentlichkeit als schon fertig konstituiertes Subjekt ein[treten]« (Jaeggi 1997, S. 82). Pluralität erweist sich in diesem Sinne als ein Ergebnis jeder einzelnen Erscheinung, die niemals mit den anderen geteilt werden kann. Der atomistische Charakter der Erscheinung und davon ausgehend die Subjektivität Arendts werfen die Fragen auf, was die Pluralität in Arendts Politiktheorie genau bedeutet und »wie sich hier eine reziproke Interaktion ergeben kann« (ebd., S. 82), da sie »bezüglich des »gemeinsamen Handelns< von Arendt nicht wirklich beschrieben [wird]« (ebd.).
Der atomistische Charakter der Erscheinung hat ferner mit dem Verhältnis zwischen Mobilität und Räumlichkeit zu tun. Die Polis ist ein von Arendt bevorzugtes Beispiel dafür, dass das menschliche Freisein sich darin niederschlagen kann, wo man sich von Gewalt sowie Zwang, Furcht oder Scham und politischer Unreife befreit. Sie offenbart sich als ein gewaltfreier und vollkommen als positiv betrachteter Erscheinungsraum in Bezug auf den Affekt, beispielsweise die Lust auf Handeln (vgl. Marchart, Oliver, 2007, S. 355), die politische Freundschaft (vgl. VA S. 310) oder Amor Mundi, e nergeia ( vgl. LGD, S. 128 ), die sich als ein grundlegender, vorausgesetzter Affekt für das arendtsche Handeln betrachten lassen. Eine derartige Darstellung des Erscheinungsraums ist eine Konsequenz davon, dass Arendt zwar von Aristoteles ihren zentralen Begriff des Handelns übernimmt, jedoch nicht die Begriffe, die mit tugendhafter Praxis einhergehen, namentlich die Angst und die Scham. In Aristoteles’ Denken spielen beide deshalb eine zentrale Rolle, weil man sich aus Angst vor Schande in der Polis in der »Mitte zwischen Angst und Zuversicht« (Selk 2016, S. 62) verhalten kann106 und jeder somit »das richtige Maß des Angstempfindens« (ebd., S. 60) entdeckt. Indem Angst und Scham im Erscheinungsraum gereinigt werden und die Erziehungsbeziehung oder Erziehungsfunktion der Polis in Arendts Denken ebenso ausgeblendet werden (vgl. ebd., S. 63), lässt sich Arendts politischer Raum nicht nur als politisch mündig und selbstständig, sondern auch als individuell beschreiben (vgl. EP, S. 53, 59). Die Fähigkeit des Neuanfangs - das unberechenbare Gehenkönnen - wird nach und nach als die Art und Weise verstanden, die eigene Bewegungsfähigkeit im Handlungsraum immer wieder neu unter Beweis zu stellen. Die politische Mündigkeit, die als radikal phänomenologisch und experimental betrachtet wird, weist darüber hinaus auf die Grenze der politischen Erfahrung hin, mit wem das mobile Subjekt den Neuanfang teilt und mit wem nicht. Die Frage nach den Grenzen der Pluralität zeigt eine Ambivalenz der Politik der Mobilität. Da jeder nur seinen eigenen Anfang mutig wagen kann und muss, ist er außerstande, gemeinsam in Erscheinung zu treten.
Wie lässt sich erklären, dass die Subjekte in Arendts Denken reziprok und zugleich atomistisch handeln? Wenn dem so ist, was lässt sich dann bei Arendt als das Zwischen der Erscheinenden verstehen, das im eigentlichen Sinne auf Pluralität hindeutet? Das Zwischen, das in Form der politischen Freundschaft107 zustande kommt, entsteht durch eine bestimmte Kommunikation, die weder der Intimität noch der Einfühlung zwischen den Kommunikationspartnern bedarf. Dieses sprachliche Zwischen gehört nicht ausschließlich einem der beiden Subjekte an, sondern es existiert als etwas Gemeinsames nur für die Erscheinenden, die daran teilhaben und ihre eigene Perspektive einbringen. Arendt erklärt dieses spezifische Zwischen als Isonomie, eine ebenbürtige Beziehung zwischen den Menschen, die verschieden sind und unterschiedliche Meinungen haben, aber weder herrschen noch beherrscht werden. In der radikalen Unberechenbarkeit der Pluralität stellt das Subjekt bei Arendt als eigenständiges Individuum eine isonomische Beziehung zu anderen her, die das gleiche Recht haben, zu sprechen (vgl. Gündogdu 2015, S. 158). Arendts Subjekt vertraut in diesem Sinne auf die anderen, die fähig sind, »das erbarmungslos[e] Ausgesetztsein der Person« (VA, S. 45) zu ertragen, und es ist auf die anderen als ihresgleichen angewiesen, mit denen es eine Kette der Ereignisse fortsetzen und zwischen denen die eigene Virtuosität gezeigt werden kann. Isonomie, die auf dem Zwischen bei Arendt beruht, ist eine politische Arena. Somit sollte Pluralität weniger als gemeinsames Handeln oder Zusammenhandeln betrachtet werden, sondern vielmehr als das Handeln inmitten der Distanzen und Differenzen, denn gemäß Arendt handelt jeder > allein im Zwischen<, in diesem Sinne ist ihr Subjekt in der Pluralität >monologisch< (vgl. Jaeggi 1997, S. 82).
Die Welt der unberechenbaren Ereignisse ist der Raum des je einzelnen bewegungsfähigen Subjekts. Jeder muss sich seinen Mut selbst beweisen, und umgekehrt, weil die Erscheinung das Ereignis ist, in dem ein Subjekt sich inauguriert, hat Arendts Subjekt den Mut, ohne den nichts Unerwartetes in der Welt hervorgerufen wird. Das mobile Subjekt kann die Kette der Ereignisse nicht unter Kontrolle bringen, doch es wird weder als prekär noch als entsouverän betrachtet. Diese spezifische Unsicherheit der Pluralität fasst Juliane Rebentisch als Offenheit108 auf. Die Subjekte erfahren sie in jenen Momenten, in denen sie »dazu gebracht werden, zu ihren bisherigen Überzeugungen - und das heißt nicht zuletzt: zu ihren einsozialisierten Selbst- und Weltverhältnissen - Abstand zu nehmen und diese gegebenenfalls zu korrigieren« (Rebentisch 2022, S. 246). Die so dargestellte Offenheit dient nicht zu einer Enteignung oder zu einem Ausgeliefertsein an den anderen. Im Gegenteil: Die Tatsache der Offenheit weist auf einen Prozess hin, in dem man seinen Mut und seine Fähigkeit der Selbstbestimmung aufzeigen kann, indem »man seine Meinungen dem Widerspruch und Tadel [...] exponiert« (Saavedra 2002, S. 138). Die Offenheit des Subjekts hat somit mit der tugendhaften Souveränität und Autonomie des Subjekts zu tun, wie ein Subjekt erneute oder neue Distanz halten und sie kontrollieren kann, und zwar wie es »einen Standort in der Welt [einnimmt], der nicht der meinige ist, und [...] von diesem Standort aus eine eigene Meinung [bildet]« (WuP, S. 342). In diesem Sinne weist die Offenheit darauf hin, inwiefern ein mobiles Subjekt über das >So-und-nicht-anders-Sein< hinaus anders sein kann, ohne seine eigene Identität aufzugeben (vgl. ebd.), also auf eine Repositionierung, die eine Erweiterung der eigenen Welt bedeutet.
Zudem ist zu betonen, dass Arendt das Subjekt so bestimmt, dass es trotz der Unkontrollierbarkeit mutig handelt und die unvorhergesehene Konsequenz des gemeinsamen Handelns auf sich nimmt. Es tritt über »das Verweilen in der Bequemlichkeit eines rein privaten Lebens« (Gebhardt 2014, S. 219) hinaus und wagt sich mit Freude in die riskante Unkontrollierbarkeit. Indem das Subjekt niemals auf sein Recht auf Bewegungsfreiheit verzichtet, werden die ständigen, nicht vorgefertigten Bewegungen zum einzigen Ausdruck des eigenen Muts und der eigenen Exzellenz. Die Mobilität, die bei Arendt mit dem sinnhabenden und lebendigen Sein identisch ist, lässt sich als der einzige Maßstab des Politischen Arendts betrachten, für das es keine vorbestimmten, determinierten Distanzen außerhalb des Handelns gibt. Wenn die Ausübung von Mobilität zum Selbstzweck und zum Inhalt des Politischen wird, lässt sich feststellen, dass die Subjektivität in der arendtschen Politiktheorie nicht die Souveränität verleugnet, sondern im Gegenteil: Die arendtsche Subjektivität bezeichnet den Mut des Handelnden und die Würde des Politischen, und zwar in atomistischer Weise.
Mobilität und Sprechen
Inwieweit das mobile Subjekt weniger als performativ, sondern vielmehr als selbstschaffend, souverän und atomistisch verstanden wird, hängt von Arendts spezifischem Begriff des Sprechens ab, das eine politisch-anthropologische und subjektstiftende Rolle einnimmt. Nach Arendt ist das Sprechen »offenbar besser geeignet, Aufschluß über das Wer-einer-ist zu verschaffen, als Taten« (VA, S. 218). Die Erscheinung nimmt hierbei eine Form der Antwort auf die Frage »Wer bist Du?« (ebd., S. 217) an. Der eigene Aufschluss über sich und die Welt formuliert Meinung, die nicht als Ausdruck angeborener Eigenschaften, Talente oder Defizite verstanden werden darf (vgl. ebd., S. 219). Vielmehr bildet sich die Meinung aus der Reflexion des denkenden Ichs als Mitglied einer öffentlich-politischen Welt - ohne dabei vollkommen unabhängig von den Charakteristika des individuellen Eigenen zu sein. Die Meinung fungiert im Ereignis der Erscheinung als Maske, die das Notwendige und Natürliche des Subjekts verdeckt - sogar als stilvolle Maske, insbesondere wenn sie aus verschiedenen und innovativen Meinungen geformt wird. Diese Maske dient dem Subjekt dazu, das Sehen und Gesehen-Werden, Hören und Gehört-Werden in der Pluralität zu ermöglichen und seine individuelle Identität zu erringen (vgl. D, S. 539). Dies heißt mit anderen Worten, dass das Subjekt sich durch die öffentliche Äußerung eigener Meinung in der politischen Mitwelt platziert. So betrachtet lässt sich die Erscheinung einerseits als eine souveräne Entscheidung interpretieren, die dafür entscheidet, wie der Handelnde öffentlich erscheint. Andererseits lässt sich Erscheinung als selbst- und weltschaffender Redeakt109 begreifen, der eine Selbst-Inauguration fungiert und zur fortlaufenden Pluralisierung der Pluralität beiträgt, indem die Meinungen im Austausch mit anderen geteilt und heftig diskutiert werden (vgl. Villa 1995, S. 91; Rebentisch 2022, S. 34).
Während sich das mobile Subjekt im Moment des In-Erscheinung-Tretens durch die eigene Antwort manifestiert, kommt seine Souveränität in der Pluralität des Erscheinungsraums durch die dichterische Rhetorik110 zum Ausdruck, um Vortrefflichkeit und Mut aufzuzeigen. Dieser spezifische Redeakt zeigt demnach, dass das mobile Subjekt eng mit der individualistischen Heldenhaftigkeit verbunden ist, insofern es als Einzelner erscheint, der ohne Angst »mit eigener Stimme spricht« (Butler 2019b, S. 103). Arendt zufolge führt das politische Sprechen zu einen metaphorischen Übergang zwischen Unsichtbarem und Sichtbarem, der allerdings nicht zwischen ähnlichen Dingen, sondern zwischen unähnlichen verbindet (vgl. LGD, S. 108). Die agonale Rede offenbart sich in dem Sinne als ein Neuanfang, in dem ein Subjekt eine innovative, bisher fremde Beziehung behauptet und sie zwischen den anderen umstritten macht. Das heißt: Das mobile Subjekt >will< durch die eigene Metapher seine Tugend als Beispiel vor den anderen zeigen, in der unkontrollierbaren Pluralität die anderen affizieren und sie als Zuschauer mobilisieren - oder wie Arendt sagt: »Jeder Handelnde wünscht, dass man ihm nachfolge. Die Tat ist immer auch ein Beispiel.111 [...] Verantwortung heisst im Wesentlichen: wissen, dass man ein Beispiel setzt, dass Andere >folgen< werden; in dieser Weise ändert man die Welt« (D, S. 644). Es ist das souveräne Moment der Mobilität, möglichst Teil der Initiative zu werden und den »eigenen Aspekt durch[zu]setzen« (ebd., S. 391) und dadurch »wahrgenommen und anerkannt und gepriesen sein [zu wollen]« (ebd., S. 748f.). Erhält eine bestimmte Handlung politische Gültigkeit als Beispiel, so ist sie nach Arendt »gar nicht durch Beweisgründe bestimmbar« (Straßenberger 2005, S. 87), außer durch Bestätigung von anderen Erscheinenden. Dies ist die Macht der Mobilität, die sich als sprachlicher Neuanfang erweist, der sich nicht mit dem Körper äußert. Die metaphorische Rhetorik weist darauf hin, dass nicht nur das mobile Subjekt mit der Maske der Meinung in den
Erscheinungsraum treten, sondern es sich auch in der Tat durch seine schöpferische Rede im Erscheinungsraum bewegen kann.
Infragestellung der Souveränität der Mobilität
Das bisher Dargestellte lässt sich zusammenfassen: Im Hinblick auf die Mobilität soll Arendts Politiktheorie weniger als Politik der Pluralität oder der Deliberation, sondern vielmehr als Arena der Erscheinung betrachtet werden. Arendts Begriff der Erscheinung verweist auf ein kontingentes Ereignis, in dem ein Subjekt entsteht, dessen menschliche Wirklichkeit sowie Handlungsfähigkeit mit dem politischen Freisein in Übereinstimmung stehen (vgl. LGD, S. 30, 32f.). In diesem Kapitel wurde erstens versucht, die Erscheinung, und zwar das spezifische Zusammenfallen von Selbst- und Weltkonstitution durch räumliche Wanderung, als Mobilität neu zu konzeptualisieren. Demnach ist das mobile Subjekt vor allem ein Subjekt der selbst- und weltschaffenden Bewegung und somit ein Träger der Bewegungsfreiheit (vgl. WiP, S. 44). Zweitens wurden die Charakteristika des Subjekts der Mobilität beleuchtet. Die arendtsche phänomenologische Sichtweise verbindet den Handelnden mit der autonomen und souveränen Subjektivität, insofern das mobile Subjekt durch die Erscheinung, die stets Risiken und Wagnisse birgt, als die produktive Kontingenz des selbstzweckhaften Politischen in die Öffentlichkeit tritt. Hierbei ist hervorzuheben, dass die Mobilität in Form des Redeakts in Gang gesetzt und ausgeübt wird. Der Aufstieg vom privaten Bereich zum öffentlichen geschieht durch das mutige, individualistisch Ausdrücken der eigenen Perspektive und ist als souverän zu betrachten, da dieser Aufschluss über sich selbst eine Form der Selbstbestimmung darstellt und als solche funktioniert. Das mobile Subjekt strebt danach, seine Vortrefflichkeit zu zeigen und seinen Mut unter Beweis zu stellen, ohne den sich gar nichts Unerwartetes in der Welt ereignet. In der Pluralität als Arena des Politischen konkurrieren die mobilen Subjekte um politische Tugend, indem sie ihre innovative metaphorische Perspektive in die Welt einbringen, um Helden zu werden (vgl. LGD, S. 78).
Die Konzeptualisierung von Mobilität beruht von Anfang an auf der Idee, dass die grundlegende Dynamik des Politischen bei Arendt vom spezifischen Gehenkönnen zwischen den Räumen ausgeht (vgl. WiP, S. 44). Dabei wird das politische Gehenkönnen zunächst als eine vertikale Bewegung verstanden: von der Dunkelheit zum Licht der Öffentlichkeit und zur Freiheit, den Bereich des Notwendigen zu verlassen und in die Mitwelt einzutreten. Der Erscheinungsraum, der als Zielort gilt, an dem das mobile Subjekt ankommt, steht in Wechselwirkung mit seinen Subjekten, insofern die Eigenschaften und Grenzen des Erscheinungsraums auf Akte der Mobilität angewiesen sind. Er trägt dazu bei, dass die Heterogenität und Vielfältigkeit der Pluralität in ihm als solche von Bedeutung bestehen und weiter entfaltet werden können. Im Handlungsraum handelt das mobile Subjekt durch Sprechen, um die anderen umzustimmen, um sie für sich zu gewinnen oder um eine neue Perspektive zu erhalten. Diese horizontale Bewegung geschieht durch die aktiven Meinungsaustausche, die in Form von >Besuchen< stattfinden, die sich von Standpunkt zu Standpunkt bewegen (vgl. LGU, S. 69). Dies bildet die Offenheit in der Pluralität: Je mehr verschiedene Standpunkte von anderen man besucht, als desto vortrefflicher und tugendhafter erweist sich das Subjekt der Mobilität. Statt Enteignung oder Verletzung offenbart sich in der Mobilität eine Re-Positionierung, die sich aus den miteinander konkurrierenden und lebendigen Begegnungen im Erscheinungsraum ergibt, als Ausdruck ihrer Souveränität der Mobilität. Durch diese Bewegungen kann der Erscheinungsraum als Raum für Pluralität bestehen bleiben, und in ihm kann das mobile Subjekt seine Bewegungsfähigkeit mutig weiter entfalten.
Im Hinblick auf die Mobilität spielen Raum, Räumlichkeit oder die vorbestimmte Raumzuweisung eine zentrale Rolle, da sie einen bestimmten Typus des Subjekts ermöglichen. Wie kann der Wundertäter als das selbstschaffende und selbstbefähigende, also das »schon fertig konstituierte] Subjekt« (Jaeggi 1997, S. 82) in Erscheinung treten? Wie kann Arendt das einzigartige, sich von den anderen differenzierende Subjekt hervorheben, obwohl sie in ihrer Politiktheorie den Subjektbegriff und insbesondere einen expliziten Prozess der Subjektivierung nicht thematisiert? Eine mögliche Antwort auf diese Fragen liegt nicht nur im Erscheinungsraum, sondern auch in der spezifischen Räumlichkeit, nämlich im Eigentum, das als privater Raum des Denkens interpretiert werden kann. Eigentum ist der Ort, an dem es vorbereitet, der als Neuanfang auf die Welt Kommende als das politisch tätige Subjekt konstituiert bzw. Transformiert werden zu können. Mit anderen Worten: Das Subjekt der Mobilität steht im verborgenen Raum des Denkens schon allein selbstbefähigt bereit, um in Erscheinung zu treten. Die Meinung und eigene Perspektive, durch die man sich vorstellen kann, wird im gewissen Sinne bereits im Eigentum formuliert, das nicht mit anderen geteilt wird. Daher erweist sich Erscheinung und Selbstkonstruktion immer schon als atomistisch. Die Mobilität und ihr Subjekt stehen in einer Beziehung zum Besitzindividualismus, insofern die bestimmte Vorstellung des Besitzes den Prozess der Unterwerfung oder Disziplin für die Subjektivation substituiert. Dies hat eine kritischambivalente Konsequenz: Insofern das Eigentum dazu führt, dass sich jede Erscheinung in privatisierter oder individualistischer Weise ergibt, werden der gemeinsame Zugang zur Öffentlichkeit sowie die Möglichkeit der gemeinsamen Erscheinung in Arendts Politiktheorie ausgeblendet.
Zudem wird die auf dem besitzindividualistischen Eigentum beruhende Mobilität im Hinblick auf die Performativität zur Kritik gestellt. Lässt sich Performativität als ein Zusammenfallen von Äußerung und Wirkung ohne vorrangigen normativen Maßstab und ohne konstitutive Unterwerfung verstehen? Wenn das spezifische Gehenkönnen als Handlungsfähigkeit betrachtet wird, wie lässt sich eine schwache und unbewegliche Handlungsfähigkeit denken? Spielt die politisch subversive, performative Möglichkeit nicht eine entscheidende Rolle, wenn sie sich mit der gemeinsamen Unterwerfung und daraus folgend mit der Verletzbarkeit sowie der Prekarität verbindet? Das Performative kann im theoretischen und praxisbezogenen Sinne die subversive Bedeutung herausstellen, nicht nur insofern etwas/ein Subjekt durch Sprechen zustande kommt, sondern indem sich darin die Möglichkeit zur Abweichung zeigt, die gemäß den Normen als etwas Unerwartetes in Erscheinung tritt. Wenn die Mobilität als die zur Selbstpositionierung führende Bewegung als autonom und souverän bewertet wird und wenn die Mobilität ermöglichende und wettbewerbstätige Sprache die körperliche Verletzbarkeit im politischen Bereich beseitigt, kann die Mobilität zwar als selbstschaffend, selbstbefähigend und somit als konstruktiv verstanden werden, jedoch nicht als performativ. Hier besteht eine Ambivalenz: Da dem mobilen Subjekt im Gegensatz 72
zum butlerschen Subjekt der Immobilität eine bestimmte Autonomie zugeschrieben wird, lässt sich ironischerweise feststellen, dass Mobilität weder performativ noch unberechenbar ist. Im Gegensatz dazu ergibt sich die politisch subversive Möglichkeit daraus, in der grundlegenden und sozialen Passivität, in der Verletzbarkeit und Prekarität beharrlich zu verharren - das wird in dieser Arbeit als Immobilität konzeptualisiert. Die Unterscheidung zwischen Performativität und Mobilität stellt ferner die Pluralität zur Diskussion: Werden Verletzbarkeit und Prekarität, also die politisch grundlegende Vulnerabilität aus dem Politischen ausgeklammert, wird infolgedessen nicht nur die Pluralität eingeschränkt, sondern auch die Differenz und Vielfalt im Politischen. Die von der Mobilität ausgehende Pluralität, die sich aus untereinander ebenbürtigen Hausherren bildet und dazu tendiert, eine »die Perspektiven der Nichtgleichen ausklammernde Wahrnehmung aus[zu]bilden« (Rebentisch 2022, S. 198), steht im Gegensatz zu einer Pluralität, die als ein Gemeinwesen der verletzten und abweichenden Körper in Form eines >usw.< in Erscheinung tritt (vgl. UG, S. 210). Im nächsten Kapitel wird erläutert, wie die Grenzen und Grenzziehungen in Arendts politischer Theorie in Bezug auf Mobilität wirken und inwieweit Pluralität und Mobilität in einem ambivalenten Verhältnis zueinander stehen.
2.2 Mobilität und ihre Grenzen
Wie bereits in Kapitel 2.1 dargestellt wurde, gewinnt das arendtsche Subjekt durch den Begriff der Erscheinung an Kontur. Aufgrund der Erscheinung, mit der Handeln, Pluralität und Welt zusammenhängen, unterscheidet sich das selbst- und weltschaffende Subjekt nicht nur vom Bild des modernen Subjekts, bei dem vorausgesetzt wird, dass es einen authentischen Kern in sich trägt, sondern auch vom poststrukturalistischen performativen Subjekt. In diesem Kapitel wird der Fokus darauf gelegt, wie das Politische der Mobilität und ihre Pluralität, die von den tugendkonkurrierenden und souveränen Subjekten ausgeht, die auf dem Verborgenen basieren, zu den Grenzen in Beziehung gesetzt werden. Eingangs ist noch einmal Arendts grundlegende räumliche Unterscheidung zwischen Öffentlichem und Privatem zu erläutern. Arendt übernimmt die politische Struktur, die auf der Ausdifferenzierung des Menschen und dessen Ort basiert, von Aristoteles, der das politische Lebewesen in der Polis dem natürlichen Wesen im Oikos nicht gänzlich entgegensetzt. Nach Hauke Brunkhorst verschärft Arendt diese Unterscheidung weiter.112 Zwischen den Raumunterscheidungen und den entsprechenden Lokalisierungen der Tätigkeiten befinden sich die Grenzen, die einerseits für die Weltschaffung präexistent zu sein und imperativ zu fungieren scheinen und andererseits durch die gemeinsamen Handlungen erst danach hervortreten und weiterhin Bestand haben können (vgl. Hans-Jörg Sigwart 2014, S. 67f.). Hier besteht die Ambivalenz, dass in der arendtschen Politiktheorie die Grenze als konstruktiv und mehrdimensional betrachtet wird. Die Grenze fungiert als die Abkoppelung von der Öffentlichkeit und als die Verbindung für die politische Handlung. Die Doppelfunktionen ziehen nicht nur eine
Grenze, sondern produzieren auch die Räume und ermöglichen die menschliche Handlung in den jeweiligen Räumen.113 Dies kann am Beispiel von Arendts Eigentumsbegriff vertieft werden. Arendt erklärt das Private als eine bestimmte räumliche Dimension, genauer gesagt als das Eigentum der eigenen vier Wände (vgl. VA, S. 76ff.), in denen das nicht bloß auf Lebensnotwendigkeit reduzierbare Private als unantastbare Verborgenheit verortet wird (vgl. Marti 1992, S. 515). Eigentum stellt im räumlichen und praxisbezogenen Sinne den eigenen Ausgangspunkt dar, durch den ein Mensch als Subjekt eine Verbindung zur gemeinsamen Welt hervorbringen kann (vgl. Bajohr 2011, S. 55), indem man einzig im Eigentum seine Meinung über die Welt und die Äußerung, durch die man sich vorstellen kann, formulieren kann. Es ist dennoch anzumerken, dass das von Arendt beschriebene Eigentum bereits eine Grenze darstellt, da nicht jeder über ein Eigentum verfügen kann, das wirklich als das eigene bezeichnet wird (vgl. VA, S. 41). Das Eigentum fungiert somit einerseits als Grenze, die das Private vom Öffentlichen trennt, und spielt dementsprechend als Schutzmauer gegen die strahlende Öffentlichkeit eine Rolle. In diesem Sinne wird andererseits das Eigentum als eine notwendige Voraussetzung für die Öffentlichkeit betrachtet (vgl. Morgenstern 2014, S. 144). Daher lässt sich die Pluralität nicht nur als ein unendliches Ereignis der Differenzierung und Pluralisierung, sondern auch als ein prozessuales Geschehen betrachten, das durch vielfältige Begrenzungen und Grenzziehungen geprägt ist. Die Grenzen der Pluralität stellen zweifellos eine politische Frage dar. Es ist von Bedeutung, zu erläutern, wie man die verschiedenen Grenzen in Arendts Politiktheorie systematisch konstatieren kann, inwiefern die Mobilität auf den verschiedenen und multidimensionalen Grenzen basiert und was ihre Grenze ist.
Wer sind wir? - zwei Arten des Volkes
Hans-Jörg Sigwart führt aus, dass sich Arendts weltliche Grenze als territorial betrachten lässt. Arendt bejaht den Begriff des Staates insofern, als er ein Raum der Pluralität und Freiheit ist, in dem die Spontaneität des Neuanfangs und seine Fähigkeit gewährleistet und bewahrt werden.114 Im Prinzip legt Arendt fest, dass die Größe der Pluralität unbegrenzt ist (vgl. VA, S. 237). Dennoch nimmt sie eine klare Begrenzung hinsichtlich Territorium115 und Umfang der Mitgliedschaft vor, um die Kapazität der politischen Kommunikationen und öffentlichen Handlungen zu schützen (vgl. Hans-Jörg Sigwart 2014, S. 70). Die Grenzziehungen, die sich gegen die Verwüstung wenden, die sich aus der ungezähmten und ungültigen Verbindung zwischen den Nicht-Ebenbürtigen ergeben kann, sind für die Pluralität als die verwirklichte Freiheit unerlässlich (ebd., S. 72). Der Nationalstaat ist ein Beispiel für die Lebendigkeit der Pluralität, die sich in der Form des Nationalstaates niederschlägt. Dabei birgt der Begriff des Nationalstaates einige begriffliche Komplexität. Was ist unter Demokratie, Nationalstaat und Grenze zu verstehen und wie stehen sie in Beziehung zueinander? Es geht um die zwei Modelle des Nationalstaates: den auf der Volkssouveränität basierenden, von der Tradition der Französischen Revolution ausgehenden Nationalstaat und den republikanisch-jakobinischen Nationalstaat. Je nach Verständnis des Nationalstaates und der Grenze ändert sich auch die Deutung der Demokratie.
Der erste Begriff des Nationalstaates beruht auf der ethnischen Definition des Staatsvolkes, die auf die enge Verbindung zwischen Geburt und Mitgliedschaft angewiesen ist (vgl. Schulze Wessel 2013b, S. 72). Schulze Wessel betont, dass dieser präpolitische Volksbegriff sich mit dem »Anspruch auf ein territorial abgegrenztes Gebiet« (ebd.) verknüpft. Die Kritik am auf Volkssouveränität beruhenden Nationalstaat kann in unserer Zeit erneut bedeutsam kontextualisiert werden, insbesondere vor dem Hintergrund der sogenannten Flüchtlingskrise seit 2015/2016 und des zunehmenden sozialen Konflikts. Wenn die Grenze des Nationalstaates aus der republikanisch-jakobinischen Perspektive aufgefasst wird, können der Nationalstaat und sein Territorium als ein demokratischer Raum betrachtet werden, in dem die aktive politische sowie öffentliche Partizipation von Beteiligten möglich ist. In diesem zweiten Sinne werden »[d]ie scharfen Grenzen, die Eingeschlossene von Ausgeschlossenen, Bürger von Menschen, Besitzende von Besitzlosen, die Tugendhaften von den weniger Tugendhaften, die Kommunizierten von den Exkommunizierten trennen, [...] fließend« (Brunkhorst 2006, S. 246f.). Diese Ausführungen zu Nationalstaat und Demokratie vermitteln einen Überblick über die Grenzen. Nach der ersten Ansicht ist damit gemeint, dass der Nationalstaat sich dadurch homogenisiert und seine politische Dynamik verliert, insofern die Grenze sich nach und nach verstärkt. Demgegenüber wird die Grenze durchlässig und transparent, wenn die Demokratie als ein politisches Ermöglichungssystem und zugleich als ein Bezugssystem verstanden wird. Zusammenfassend lässt sich sagen: Je nach Rolle der Grenzen des Nationalstaates übt die Demokratie eine gegensätzliche Bewegung von Ein- und Ausschlüssen aus.
Bei Arendt entsteht das Volk aus der dynamischen Bewegung der Pluralität, d. h. das einen Staat bildende Volk konstituiert sich zuerst durch die Mobilität. Dies bedeutet allerdings nicht automatisch, dass das Volk unmittelbar erscheinen oder direkt seinen Willen im politischen Raum verwirklichen kann. Die aktive Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten findet nach Arendt auf der nationalstaatlichen Ebene vielmehr in repräsentativer Weise statt, und dies ist nicht nur aufgrund der Größe des Territoriums der Fall (vgl. Förster 2009, S. 433). Arendt wendet sich nicht gegen die repräsentative Idee. Was ihr entgegensteht, ist eine Verflechtung von Repräsentation mit der Herrschaft116 oder, konkret gesagt, das Parteiensystem (vgl. ebd., S. 432).117 Die Repräsentation hingegen ist bei ihr eine Vollzugsweise des Politischen und eine politische Fähigkeit, »sich selbst zu vergegenwärtigen, was noch abwesend ist« (Arendt 1968, S. 15). Das Volk bildet sich durch den repräsentativen Prozess aus und diese Selbstkonstruktion des Volkes suggeriert ferner, dass ein Subjekt im Volk die Repräsentationsfähigkeit erlangt. Vorläufig lässt sich sagen, dass Arendt die Tragweite der Repräsentationsfähigkeit mit der Räumlichkeit des Politischen in gewissem Maße identifiziert.
Um Arendts Politiktheorie als Demokratietheorie erneuert zu verstehen, versucht Oliver Marchart den Begriff des arendtschen Volkes im Anschluss an Claude Lefort als das demokratische und repräsentative aufzufassen. Er erläutert, dass das Merkmal der Unmittelbarkeit, der Nichtrepräsentation nicht zur Demokratie, sondern zum Totalitarismus gehört, und dass das demokratische Volk im Prozess der Selbstkonstitution stattdessen als gespalten und vor allem repräsentativ erscheint.118 Bei der Selbstkonstitution entfernt sich das demokratische Volk einerseits von den vorgängigen oder transzendenten Instanzen.119 Andererseits muss es ohne Genehmigung solcher vorherigen Autorität als eine artikulierbare Form der Souveränität fungieren, sodass das demokratische Volk nach Marchart auf einem Abgrund oder einer Grundlosigkeit aufbaut (vgl. Marchart 2005, S. 163). Laut Marchart ist »[a]ls greifbarer, d. h. >inkorporierter< Souverän [...] das Volk in der Demokratie >abwesend<, ohne deshalb aufzuhören, als Souverän zu fungieren« (ebd., S. 155). Wenn das eigentlich nicht souveräne, abwesende Volk durch Handeln und Sprechen in Erscheinung tritt, (re)präsentiert es sich bereits als die Souveränität. Das demokratische Volk ist in diesem Sinne als eine Form der Repräsentation, etwas Abwesendes, das die sich aus dem demokratischen Volk zuerst ergebende Souveränität ist, vorzustellen (vgl. Arendt 1968, S. 15).
Darüber hinaus geht es um das Verhältnis der Generierung sowie der Vollzugsweise des Volkes und der Repräsentation. Insoweit das demokratische Volk eine bedeutungsvolle Parallele zur Pluralität aufweist, muss beachtet werden, dass es sich durch gegenseitiges Affiziertsein und den Wettbewerb konstituiert. Dem Charakter der Pluralität, und zwar der Unkontrollierbarkeit, entspricht die repräsentative Idee des Politischen, da »[d]ie Motive, Interessen, Ziele und Vorhaben des Einzelnen [...] bei der Ausführung eines gemeinsamen Handelns durch die kollektive Anstrengung so >gefiltert [werden]<, daß sie der Ausführung des Handelns untergeordnet werden« (Saavedra 2002, S. 35; Hervorh. Choi). Die intensive Bewegung der Pluralität, in der verschiedene Meinungen auseinandergesetzt werden und nicht eine Perspektive eine herrschende Position ständig einnehmen kann, vererweist auf ein Ereignis der Repräsentation, für dessen unerwartete Konsequenz alle Subjekte gemeinsam verantwortlich sind. Diese Unvorhersehbarkeit und Unverfügbarkeit schlägt sich sowohl in der Pluralität als auch im demokratischen Volk nieder und stellt eine andere Seite der Repräsentation dar. Die Grenze, wer in Erscheinung tritt, ist eng mit der Grenze der Pluralität und ferner derjenigen der Repräsentation verbunden. Die arendtsche Demokratie weist einerseits auf ein Ermöglichungssystem für die aktive Partizipation hin, das durch die Grenzen gesichert wird und auf ihnen basiert. Andererseits muss die Demokratie diese Grenze in Gefahr bringen, um sich vor der Homogenisierung zu schützen. Diese Spannung ist die politische Dynamik und auch die Bewegung der Demokratie bei Arendt.
Die geistigen Fähigkeiten und die Grenzen der politischen Erfahrung
Die oben dargestellten Grenzen erfüllen zwei Funktionen: die Abgrenzung und Verbindung einerseits und die Generierung der politischen Kontingenz andererseits. Der Erscheinungsraum und die Pluralität müssen räumlich begrenzt werden, und innerhalb der Grenze wird die Pluralität auf repräsentative Weise gebildet. In diesem Sinne erweist sich die Repräsentation als ein politisches Vermögen, das die unvorhersehbare Dynamik der Pluralität hervorbringt. Im weiteren Verlauf wird die Diskussion auf die Grenzen der politischen Erfahrung gelenkt, die sich mitsamt dem Handeln und Sprechen aus den verschiedenen geistigen Tätigkeiten ergeben. Dabei konzentrieren sich die verschiedenen geistigen Tätigkeiten in Arendts Politiktheorie auf Denken, Versprechen sowie Verzeihen und Urteilen.
Die Grenzen der Repräsentationsfähigkeit wirken sich darauf aus, wer von den anderen als ein politisches Subjekt anerkannt werden und handeln kann. Zu Beginn wird auf das Denken eingegangen. Arendt betrachtet das Denken als eine Tätigkeit, die sich auf die Welt richtet und mit dem Vollzug des Urteilens120 in der Öffentlichkeit zusammenwirkt. Dabei versteht sich das Denken-über als Gegensatz zum kontemplativen, nichtpolitischen Denken121, das sich auf das Herstellen bezieht und wodurch man etwas wissen kann (vgl. D, S. 261, WuP, S. 342; Förster 2009, S. 330). Als eine von drei geistigen Tätigkeiten - neben dem Wollen und Urteilen - hat das Denken für das Politische insofern eine besondere Bedeutung, als es den Keim der Pluralität in sich birgt (vgl. D, S. 277). Wer in den Bereich der Repräsentation eintritt, ist nach Arendt zuerst der Handelnde und auch der Denkende. Arendt stellt den Begriff des Denkens als die dialogische Form dar, als Zwei- in-Einem. Im Alleinsein denkt man bereits repräsentativ, da man »an der Stelle jedes anderen« (Schönherr-Mann 2006, S. 181) denkt und beim Denken »sich in die Position eines anderen versetzt« (ebd., S. 180). Dieses reflexive Denken ist eine aktive und atomistische Erforschung, die so lange ermöglicht wird, wenn man seinen eigenen Raum des Denkens, sein Eigentum besitzt. In dem Sinne, dass die Denkfähigkeit vor dem Eintritt in die Pluralität bereits in Gang gesetzt wird, ist sie somit nicht nur eine Vorbedingung des politischen Subjekts, sondern auch eine Grenze der Repräsentation, insofern durch die Denkfähigkeit ein Bereich festgestellt wird, wer die anderen sind, mit denen >ich< handeln werde und an deren Stelle ich mir die Welt vorstellen kann.
Zweitens weisen das Versprechen und das Verzeihen122 darauf hin, wie die Entfaltung dieser Fähigkeiten - einander Vertrauen zu schenken und kollektive Verantwortung auf >uns< zu nehmen - eine mobile Form der Subjekte hervorbringt, die sich voreinander als ebenbürtig beweisen. Versprechen wirkt sich als bindende Kraft aus, die Vertrauen dem bzw. den anderen in der unvorhersehbaren Dynamik der Pluralität ohne Garantie >im Voraus< gibt. Dieses vorab geschenkte Vertrauen erweist sich als tugendhafter Mut des mobilen Subjekts, das von seiner Autonomie und Souveränität überzeugt ist. Das Subjekt verspricht, die Ungewissheit und Unverfügbarkeit zu ertragen und dennoch weiter zu handeln. Das Versprechen ist somit ein konstruktives und exkludierendes Vertrauen, das eine Grenze zwischen den mobilen Subjekten, die dieses souveräne Vertrauen miteinander teilen, und anderen bildet.
Gegenüber dem Versprechen stellt sich das Verzeihen als eine Kompensation für die Unwiderruflichkeit des Handelns dar und bildet eine Basis für den Neuanfang (vgl. VA, S. 306f.). Im Hinblick auf die Repräsentationsfähigkeit bezieht sich das Verzeihen auf die kollektive Verantwortung, die nach Arendt vom ohnmächtigen Schuldgefühl unterschieden werden muss.123 Im Gegensatz zur moralischen und/oder rechtlichen Schuld, die nur auf Individuen angewendet wird, bezeichnet die kollektive Verantwortung eine bestimmte weltliche und politisch-konstruktive Tätigkeit (vgl.
Arendt 1991, S. 24; Arendt 1968, S. 8f.). Der politisch lebendige Mensch »muss verantwortlich gehalten werden für etwas, was ich nicht getan habe. Und der Grund für meine Verantwortlichkeit muss meine Mitgliedschaft in einer Gruppe (einem Kollektiv) sein, [...] das heißt, eine Mitgliedschaft, die gänzlich anders ist als eine Geschäftsbeziehung, die ich durch meinen Willen lösen kann« (Arendt 1968, S. 7). Für Arendt ist die kollektive Verantwortung nicht bloß eine Belastung. Das Verzeihen wird vielmehr als eine Fähigkeit betrachtet, den Hintergrund und die Bedingungen des Handelns zu bejahen, >diese< Welt als eigene Welt anzunehmen. Man trägt die stellvertretende Verantwortung für die Welt, die man eigentlich nicht erschaffen hat, und bemüht sich darum, eine Veränderung der Welt herbeizuführen. Das Auf->sich<-Nehmen der Verantwortung verbindet sich nicht nur mit der politischen Tugend verbinden, sondern zieht diese kollektive Verantwortlichkeit auch eine Grenze, die nur diejenigen überschreiten können, die bereit sind, diese Verantwortung gern zu tragen. In diesem Sinne bildet das Verzeihen eine Gemeinschaft, die sich bei Arendt als eine politische Freundschaft betrachten lässt.124
Unter dem Aspekt der Grenzfrage ist das reflektierende Urteilen am bedeutungsvollsten. Arendts radikale Gleichsetzung von Menschsein und dem Politischen verwirklicht sich nicht nur durch Handeln und Sprechen, sondern auch durch die Urteilskraft.125 126 Von Kant übernimmt Arendt den Begriff des Urteilens und die verwandten Begriffe wie Geschmacksurteil, das erweiterte Denken oder den Gemeinsinn, doch sie differenziert ihre Ansicht von Kant in ihrem Hauptanliegen der Pluralität (vgl. D, S. 578). Die kantsche Frage der Urteilskraft, »das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken« (ebd., S. 571), verwandelt sich nun in Arendts Frage: Wie kann auf den einzelnen Einzigartigkeiten das Politische basieren, und wie können die Macht und deren politische Legitimität aus jeweils verschiedenen Meinungen gebildet werden?
Der Entwicklungsprozess vom Besonderen zum Allgemeinen, der sich in Arendts Politiktheorie als die Konstitution der Pluralität und des Politischen offenbart, generiert die politische Dynamik sowie Macht und deren eigene Legitimität. Das Ereignis, eine grundlose Legitimität auf repräsentative Weise aufzubauen, ist mit der Entfaltung der Urteilskraft des mobilen Subjekts verbunden, das seinen Ruhm und seine Vortrefflichkeit zeigt und die anderen mobilisiert, ob sie nicht trotz der unvorhersehbaren und ungünstigen Situation mit ihm handeln können (vgl. D, S. 391; Saavedra 2002, S. 47). Wenn man nach Arendt davon spricht, dass das erscheinende Subjekt im Rahmen der hergestellten Institutionen und Gesetze doch eigene innovative Metaphern setzt, impliziert dies auch, dass es ohne Maßstäbe, »ohne Geländer« (Schönherr-Mann 2006, S. 176) seine Meinung zur Kritik anderer stellt (vgl. WiP, S. 20). Es soll die ständige Überprüfung von anderen vornehmen und gleichzeitig um Zustimmung der anderen werben. Die Urteilskraft, das intensive Ausgesetztsein weist darauf hin, dass sich die sprachlich-deliberative Handlung nicht vollständig vom agonalen Handeln trennt. Die als agonal und repräsentativ betrachtete Legitimität kann im Grunde genommen nicht ausschließlich von einem Subjekt ausgehen - selbst wenn es ein mobiles und souveränes Subjekt ist. Sie wird für jeden, der an dem repräsentativen Prozess der Legitimität teilnimmt, als legitim angesehen, wobei die heftige Meinungskonkurrenz niemals auf die herrschende Perspektive eines Einzelnen reduziert wird. Genau in diesem Sinne werden die Macht und ihre Legitimität127 durch die Pluralität der Mobilität ins Leben gerufen.
Der Begriff der Urteilskraft unterscheidet sich von der politischen Urteilskraft und dem unparteiischen Urteilen der Kritiker. Diese Differenzierung verbindet sich jeweils mit der weiteren Unterscheidung zwischen Akteuren und Zuschauern im öffentlichen Raum. An dieser Stelle sollen nicht die breiten Auseinandersetzungen über die beiden Modelle der Urteilskraft Arendts erörtert werden128, sondern vielmehr wird eine Antwort darauf vorgeschlagen, wie sich die politische Urteilskraft des Akteurs und das unparteiische Urteilen des Zuschauers jeweils auf die Mobilität beziehen. Zunächst wird auf den Zusammenhang zwischen politischer Urteilskraft und dem Subjekt aufmerksam gemacht, das im begrenzten Sinne der Politik als ein Wundertäter129 in Erscheinung tritt, der die Neigung zeigt, sich nicht um sich selbst, sondern um die Welt oder um die Veränderung der Welt zu kümmern (vgl. Arendt 1991, S. 41, 76). Während der Akteur als mutiger Urteilender das mobile Subjekt darstellt, das durch Werben und Überreden die anderen zum Ereignis einlädt, scheinen die Zuschauer eine unterstützende Rolle zu spielen, um den gesetzten Anfang voranzubringen. Doch die Mobilität kann nicht nur vom Akteur, sondern auch von den Zuschauern130 in einer anderen Weise zustande kommen, da die Zuschauer nicht rein passiv der Meinung des Akteurs zustimmen (vgl. Kurbacher 2023, S. 18).131 Die unparteiischen Zuschauer, die zu den laufenden Ereignissen eine bestimmte Distanz wahren, bewegen sich von ihrem Standpunkt zu einem anderen, »um einen allgemeinen Standpunkt zu gewinnen« (Saavedra 2002, S. 136), ohne dabei das Besondere aufzugeben.132 Somit kennzeichnet Arendts Urteilskraft sich durch die Fähigkeit aus, dass sowohl der Akteur als auch der Zuschauer ihre eigene Existenz ausdehnen können, und beide Formen des Subjekts können als Subjekt der Mobilität betrachtet werden.
Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen geistigen Tätigkeiten und den Grenzen der Pluralität zeichnet sich eine Zwischenbilanz ab. Einerseits wird auf den politischen Erfahrungsraum und seine Begrenzung eingegangen, die bei Arendt durch die Verbindung zweier Grenzen entsteht und als solche fungiert: zum einen der territorialen und nationalen Grenze, zum anderen der repräsentativen Grenze. Der begrenzte Erfahrungsraum, der durch politische Ereignisse und Beziehungen konstituiert wird, geht vom politisch-tugendhaften Lebensstil aus, nämlich der Mobilität, wie man einen Neuanfang mutig angeht und dadurch frei wird (vgl. WiP, S. 52). Darüber hinaus besteht der Erfahrungsraum nicht nur als ein Raum, in dem das Subjekt die Repräsentationsfähigkeit entfalten kann, sondern auch als Grenze, wer in ihn eintreten kann und wer nicht: Es gibt also eine Unterscheidung zwischen denjenigen, die politische Tugend und Erfahrung aufweisen, und denjenigen, denen kein Zugang zum politischen Erfahrungsraum zur Verfügung steht. Andererseits wird versucht zu zeigen, inwiefern sich die bisher skizzierten geistigen Fähigkeiten mit dem Konzept der Mobilität, der spezifisch-souveränen Bewegungsfreiheit verbinden, die sich als der aktive Austausch der Perspektiven über die Welt manifestiert (vgl. WiP, S. 52). Die Welt der Mobilität kann geschaffen und insofern als die Welt der Freiheit bewahrt werden, indem die Subjekte durch ihren eigenen schöpferischen Redeakt ständig in Erscheinung treten und durch diese sprachlichen Bewegungen den politischen Raum erfüllen. Es ist zu betonen, dass das Ausüben der geistigen Fähigkeiten als die Grenzen der Mobilität fungiert, die von denen überschritten werden können, die bereits in der Lage sind, die anderen vorzustellen und die Stelle des anderen zu denken, sich mit dieser Welt zu versöhnen und dem/den anderen Vertrauen im Voraus zu geben, ohne über vorbestimmte Maßstäbe der innovativen Rede zu urteilen und durch diese Urteilskraft die Welt der Freiheit lebendig zu machen. Diese Grenzen markieren daher die Grenzen der Pluralität, indem festgestellt wird, mit wem das mobile Subjekt erscheint und handelt. Die arendtsche Dynamik des Politischen entwickelt sich durch die Verflechtung zwischen Mobilität und Mobilisierung, die von verschiedenen geistigen Fähigkeiten geprägt ist. Die Mobilisierung re-agiert nicht nur auf die Mobilität, sondern sie ist auch eine Antwort auf die Mobilität von anderen. In diesem Sinne lässt sich sagen: Auf den Ketten der Mobilität beruhen das Aufbauen des öffentlichen und politischen Raumes, die Generierung der Macht sowie ihrer Legitimität und schließlich die Pluralität der Mobilität.
Die Staatenlosen und ihre Unfähigkeit zur Mobilität
Die politischen Grenzen lassen sich durch das spannende Verhältnis zwischen der Mobilität und den Flüchtlingsfragen näher untersuchen. Die Staatenlosen verkörpern in besonderer Weise die zwei zuvor diskutierten Grenzkonzepte: Als die inhaftierten Wesen können sie weder über die territoriale Grenze noch über die Grenze des Erfahrungsraumes hinausgehen. Ihr unfreiwilliges Wandern, ausgelöst durch Verbannung oder Deportierung133, unterscheidet sich grundlegend von der Bewegung der mobilen Subjekte, die durch das sich- und weltschaffende Aufsteigen zwischen Räumen charakterisiert ist. Aufgrund dieses unfreiwilligen Wanderns sind die Staatenlosen weder in der Lage, sich frei zu bewegen, noch zu erscheinen, auch noch handlungsfähig zu werden. Stattdessen sind sie umfassender Diskriminierung ausgesetzt, die sich sowohl auf politischer als auch auf bürokratischer Ebene manifestiert. In Hinblick auf die politische Erfahrungen und die kognitiven Fähigkeiten fokussiert sich das Unvermögen der Staatenlosen darauf, dass ihre Meinungen und Handlungen zunehmend an politischer Relevanz verlieren. Sie befinden sich in einer spezifisch sedimentierenden Situation, in der sie politisch bedeutungslos, dennoch nicht allein deswegen unterdrückt sind.134
Um die Unfähigkeit der Staatenlosen näher zu betrachten, wird zunächst darauf hingewiesen, dass Arendt die Staatenlosen135 als diejenigen darstellt, die etwas verloren136 haben: die Bürgerrechte, soziale Bezüge wie die Vertrautheit des Alltagslebens oder politische Freundschaften, Heimat sowie den weltlichen Standort und schließlich die Sprache. Bevor sie zu Staatenlosen wurden, wurden sie zuerst zu Rechtlosen, indem sie ihres bürgerlichen Status beraubt wurden und daher keine staatliche Zugehörigkeit mehr hatten.137 Weil sie von dem Bezugsystem ausgeschlossen wurden, konnten sie sich nicht mehr als öffentliche Personen spezifizieren. Als Staatenlose verlieren sie zudem ihre verschiedenen Räume, sodass ihnen weder die öffentlich-politische Arena noch ein individueller Raum des Denkens zur Verfügung stehen. Dieses Zusammenfallen der Raumunterscheidung führt zu einem weiteren Verlust des Standorts, ohne den die Meinungen von Staatenlosen kein Gewicht haben und ihre Handlungen nicht von Belang sind (vgl. UT, S. 613). Diese Standlosigkeit steht in engem Zusammenhang mit der Sprachlosigkeit138, die insbesondere durch die Mittellosigkeit139 und Ohnmacht von Staatenlosen zum Ausdruck kommt. Ohne die Fähigkeit zu sprechen sind sie nicht imstande, sich politisch zu repräsentieren oder »im Zusammenleben durch Sprechen [...] die Angelegenheiten des menschlichen und vor allem des öffentlichen Lebens zu regeln« (ebd., S. 615). So bezeichnet Arendt die Staatenlosen als »lebende Leichname« (ebd., S. 614), da sie als bedeutungslos und sinnlos betrachtet werden. Im Verlauf der Wanderung werden die Staatenlosen folglich nicht nur von der politischen Gemeinschaft ausgeschlossen, sondern entfremden sich von sich selbst: Als lebende Leichname geraten sie nach Arendt in eine Situation der Verlassenheit.140
Aus den mehrfachen Verlusten in verschiedenen Dimensionen sowie der daraus resultierenden Nacktheit der Staatenlosen lässt sich schlussfolgern, dass sie in eine spezifische Situation versetzt werden (vgl. Arendt 1949, S. 762): »[Die Staatenlosen, die Überlebenden der Vernichtungslager, die Insassen der Konzentrations- und Internierungslager] waren damit in das zurückgefallen, was die politische Theorie den >Naturzustand< [...] nannte« (UT, S. 620). Der Naturzustand steht im Gegensatz zu arendtscher politischen Topologie wird daher nicht als oikos für die polis, also nicht als ein Supplement für die politische Erscheinung verstanden.141 Die Staatenlosen, die »aus allen menschlichen Gemeinschaften herausgeschleudert wurden« (ebd., S. 623), existieren im Naturzustand eines zivilisierten Nationalstaates als Fremdkörper. Sie befinden sich »innerhalb des Geltungsbereichs des Rechts außerhalb des geltenden Rechts [...] und [sind] insofern den rechtsstaatlichen Prozessen entzogen« (Schulze Wessel 2013, S. 76). Insofern die Staatenlosen »auf ihre naturhafte Gegebenheit [...] zurückgeworfen sind« (UT, S. 623), existieren sie nach Arendt als das reine Körperliche, sodass sie überhaupt nicht erscheinen können, wer der Mensch selbst ist. Die auf das nackte Leben reduzierten Staatenlosen können keine Maske für die
Partizipation an der gemeinsamen Welt tragen, sodass sie ebenso keine Spuren in der Welt hinterlassen können. Sie verbleiben als bloße Abstraktion des Menschen: Ohne soziale und gesellschaftliche Bezüge und vor allem ohne Staatszugehörigkeit bleiben sie als das absolut unterschiedliche Wesen, in dem - wie Arendt später in Vita activa beschrieb - statt der Verschiedenheit und Einzigartigkeit in der Pluralität lediglich die Gleichartigkeit und die absolute Verschiedenheit beibehalten werden (vgl. VA, S. 213).
Um die Frage zu beantworten, ob die Staatenlosen trotz ihrer »Naturverhaftigkeit und [der] mit ihr verbundene[n] Flüchtigkeit« (UT, S. 621) handeln können, wird hier kurz die Unterscheidung zwischen Paria und Parvenüs erläutert, die Arendt von Bernard Lazare übernimmt und auf den Antisemitismus bezieht (vgl. Piper 2007b, S. 331). Wie lässt sich diese Unterscheidung in Bezug auf die Mobilität interpretieren? Ist ein Aufstieg des Parvenüs ein Fall der Mobilität, die sich bisher als die selbstständige und autonome Handlungsfähigkeit und Subjektivität verstanden hat? Nach Arendt ist es das grundsätzliche Bestreben des Menschen, den dunklen Ort der Gegebenheit und der Privatheit zu verlassen, um in den öffentlichen Raum einzutreten und sich frei zu bewegen. Der Fall der Staatenlosen bildet jedoch eine auffällige Ausnahme. Was die Staatenlosen verloren haben und was viele von ihnen zuerst wiederzugewinnen wünschten, war die >private< Welt - Zuhause, natürliche Reaktion und Ausdruck ihrer Gefühle, Beruf und das damit verbundene Vertrauen, »in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein« (WF, S. 10), Verwandte und Freunde (vgl. ebd., S. 10f.). So beschreibt Arendt diese Verluste als Ausdruck einer Alltagsdiskriminierung, die den Alltag der Staatenlosen auf ungewöhnliche Weise >überpolitisiert<. Viele Staatenlose litten sowohl unter dem Assimilationszwang, der sie zu Emporkömmlingen machte, als auch unter ihrem Verlangen nach einem üblichen Alltag. Vor diesem Hintergrund verweist das Aufkommen der Parvenüs auf den Assimilationszwang, der mit dem Begehren nach dem Gesellschaftlichen und gewissermaßen nach dem Privaten verbunden ist. Viele Staatenlose werden von dieser Anziehungskraft des Privaten überwältigt. Doch selbst wenn es ihnen gelingt, sich zu assimilieren, können die Parvenüs weder in Erscheinung treten noch zu Mitgliedern einer politischen Gemeinschaft werden, sondern sind Teil der Masse, die sich hinter der bürgerlichen Fassade verbirgt.
Im Gegensatz zum Parvenü, der »(bewusst/unbewusst) sein Anderssein [verleugnet], um von der Gesellschaft anerkannt zu werden« (Piper 2007b, S. 331), stellt Arendt fest, dass nur wenige Mutige »ohne all diese faulen Tricks der Anpassung und Assimilation« (WF, S. 33) den Entschluss fassen, ein Paria zu bleiben. Der Paria ist ein Mensch, »der auf Grund seines Anders-Seins zum Außenseiter und von der Gesellschaft ausgestoßen wird« (Piper 2007b, S. 331). Die bewusste Entscheidung des Parias ist Arendt zufolge als eine politische Haltung zu verstehen. Das PariaSein darf nicht gleichbedeutend mit bloßer politischen Unbekümmertheit oder der Frustration sein. Vielmehr stellt seine Verweigerung der Assimilation einen politisch-tugendhaften Lebensstil dar, insofern »[a]uch der Paria um einen Platz in der Welt [kämpft]« (Förster 2009, S. 348). Somit tritt bei der Unterscheidung zwischen Paria und Parvenü die Figur der Mobilität in einer unerwarteten Form auf. Der Paria, der sich gegen die angebliche Anpassung wehrt, nähert sich dem mobilen Subjekt, das mit dem Handelnden und Erscheinenden zusammenhängt. Denn im Gegensatz zum 84
Parvenü >versteht< der Paria, dass bzw. warum er die Bewegungsfähigkeit nicht entfalten kann, und bemüht sich, sich mit dieser Welt zu >versöhnen<, d. h., er nimmt an, wo er sich im Kontext der Wirklichkeit dieser Welt befindet. Seine Distanzierung vom politischen Gemeinsamen soll als eine mutige Handlung betrachtet werden - eine Entscheidung, sich trotz des Zwangs zur Assimilation nicht als Mitglied innerhalb des bestehenden politischen Systems zu positionieren. In diesem Sinne lässt sich festhalten, dass im Vergleich zwischen Parvenü und Paria die politische Möglichkeit eher aufseiten des Parias liegt.
Aporien der Menschenrechte, Ambivalenz der Mobilität
Arendts Argumente zur Staatenlosigkeit und den damit verbundenen Aporien der Menschenrechte brachten breite Auseinandersetzungen hervor - unter diesen Auseinandersetzungen lässt sich auch die Kritik an der Mobilität verorten. Die Aporien der Menschenrechte umfassen die nicht leicht lösbaren Spannungen zwischen Sollen und Können, zwischen den scheinbaren Rechten und dem wirklichen Recht. Denn, vereinfacht gesagt, lassen sich die Menschenrechte vor dem Verlust der nationalen Zugehörigkeit faktisch mit den Bürgerrechten identifizieren, doch sie verlieren ihre Wirksamkeit, sobald man zum Flüchtling wird. Aus diesem Grund betrachtet Arendt die Menschenrechte entweder als Tautologie oder als sinnlose Leere. Anstatt auf den universellen und angeborenen Rechten zu beharren, »die unabhängig von jedem besonderen politischen Status [sind] und einzig der bloßen Tatsache des Menschseins entspringen« (UT, S. 607), stellt Arendt das einzige Recht auf Rechte fest, das sich in ihrer Politiktheorie als das Recht auf Erscheinung manifestiert. Im weiteren Verlauf der Argumentation wird die Ambivalenz der Menschenrechte in eine negative Fragestellung umgeformt, die auf die Grenze der Mobilität und deren Pluralität hinweist: Warum sind nicht nur die Staatenlosen als das nackte Leben, sondern auch die mutigen Wenigen wie Parias nicht imstande, entweder neue ebenbürtige Mitglieder einer fremden politischen Gemeinschaft zu werden oder eine neue, eigene Pluralität im fremden Staat zu etablieren?
Diese Leitfragen verbinden das einzige Recht auf Erscheinung mit dem Recht auf Pluralität sowie dem auf Zugehörigkeit und lassen sich im Kontext der Mobilität zwischen Verlassen und Ankommen konkretisieren. Das naturverbundene Verhaftetsein der Staatenlosen deutet nicht lediglich auf eine politische Unfähigkeit oder das Nicht-gehen-Können hin, sondern auf die Unmöglichkeit der Mobilität: Einerseits wird Mobilität als räumlicher Aufstieg vom privaten Bereich zum öffentlichen verstanden, andererseits als die sich- und weltschaffende souveräne Seinsweise, die politische Kontingenz hervorbringt. Im Hinblick auf Mobilität bedeutet das Ankommen nicht nur, einen gezielten Ort wie öffentlich-politischen Handlungsraum zu erreichen. Es bedeutet vielmehr, dazugehörig zu sein und dort ein Mitglied zu werden, also durch die wettbewerbstätigen Beziehungen als eines der gleichrangigen Mitglieder anerkannt zu werden. Diese Verbindung verdeutlicht den kritischen Charakter der Mobilität. Denn sie zeigt, dass die Mobilität nur dann wirksam ist, wenn nicht nur die Fähigkeit des Gehens vorausgesetzt wird, sondern auch des Ankommens, das von der Bewegungsfähigkeit ausgeht (vgl. UT, S. 613). Die Unmöglichkeit des Ankommens führt somit zur verhängnisvollen Ohnmacht der Mobilität. Es gibt keine Möglichkeit, der Unwirklichkeit des Menschen zu widerstehen, wenn er von allen sozialen und rechtlichen Beziehungen ausgeschlossen wird, also, wenn er in keinem Beziehungsnetz angekommen ist.
In Arendts Politiktheorie tauchen Staatenlose als ein bedeutsames Gegenbeispiel für Mobilität auf. Ihre pessimistische Diagnose, dass die Staatenlosen einhergehend mit dem Verlust aller sozialen und rechtlichen Beziehungen die Wirklichkeit des Menschen ebenso verlieren, knüpft an der phantasmatischen Festlegung der Mobilität an: Die individuelle Bewegungsfähigkeit, die an sich mit der politischen Handlungsfähigkeit gleichgesetzt wird, scheint beinah direkt ein Subjekt, das Politische und die politische Organisation wie die Pluralität hervorzubringen. Doch diese Vorstellung von der Autonomie der Mobilität muss hinterfragt werden, da - in Anlehnung an Butlers Perspektive - jedes politische Handeln immer schon als unterstütztes Handeln verstanden werden sollte (vgl. TV, S. 98). Macht es nicht Sinn, dass sich die politische Handlung in Abhängigkeit von den Unterstützungen in Kraft setzen kann? Diese Überlegung richtet sich insbesondere gegen die Mobilität und die »Eigenständigkeit und Selbstgenügsamkeit des als singulär imaginierten« (ebd., S. 175) mobilen Subjekts, das sich so vorstellen lässt, dass es nahezu unabhängig von der Infrastruktur erscheinen kann, unter der »das komplexe Geflecht aus Umwelt, Sozialbeziehungen, Unterstützungs- und Versorgungsnetzwerken zu verstehen ist« (ebd.).
Das Paradox der Mobilität überschneidet sich bemerkenswert mit der Aporie der Menschenrechte. In welchen Situationen können sich bestimmte Menschen nicht bewegen, und warum gelingt es ihnen infolgedessen nicht, ein neues politischen Zwischen zu schaffen? Warum erweist sich die Mobilität in den Momenten, in denen sie dringend gefordert wird, als so ohnmächtig - beispielsweise in den Lagern oder im Fall der Staatenlosigkeit? Das einzige Recht, aus dem die bürgerliche Rechte und Freiheiten abgeleitet werden können, bleibt wirkungslos, wenn die bürgerlichen Rechte und die darauf basierenden negativen Freiheiten nicht von Staat garantiert werden und sogar sie von ihm beraubt werden. Diese Ambivalenz zeigt, dass weder das Recht auf Erscheinung noch die Mobilität ohne Unterstützung von negativen Freiheiten und bürgerlichen Rechten ins Stocken geraten (vgl. KuP, S. 240, 249). Mit anderen Worten hängt Mobilität wesentlich von der Umgebung und der Infrastruktur ab, obwohl die Wirkungsweise der Mobilität diesen Umstand oft zu verschleiern scheint. In diesem Zusammenhang ist die Rolle des Herstellens diskutierbar, das zur Schaffung von Eigentum sowie einer menschlich-freien Lebensumgebung beiträgt. Das Eigentum, ohne das »niemand sich in die Angelegenheiten der gemeinsamen Welt mischen [kann]« (VA, S. 41), ist nach Arendt eine Stätte, die man wirklich sein eigenen nennen kann (vgl. Bajohr 2011, S. 55). Die Deprivation von individuellem Eigentum steht in engem Zusammenhang mit der Grenze der Mobilität, insofern die Selbstcharakterisierung eines Menschen in gewissem Maße auf das Eigentum angewiesen ist. Im diesem Kontext liegt ein Problem darin, dass dieses Eigentum als etwas verstanden wird, das die Staatenlosen weder mitbringen noch an einem neuen Ort wiederherstellen können. Grundlegender problematisch ist zudem, dass die Mobilität nicht allein auf dem besitzindividualistischen Eigentum basiert, sondern auch auf einer kulturellen Infrastruktur, die aus der Verdinglichung überlieferter politischer Taten und Worte hervorgeht. Das Eigentum gehört zu dem Kulturellen, das als die politische und gemeinsame Infrastruktur fungiert und nach Arendt im römischen Sinne ein Gegenstand der gemeinsamen Pflege und Bewahrung, der öffentlichen Angelegenheiten ist (vgl. KuP, S. 284). Die Unfähigkeit der Staatenlosen - ihr Unvermögen der Mobilität, also nicht anzukommen und dazugehörig zu sein - resultiert aus dem Ausschluss aus der sozialen und kulturellen Umgebung. Dies verdeutlicht, in welchem Maße Mobilität von der gemeinsamen und geschichtlichen Grundlage abhängt, die - wie Arendt formuliert - von niemandem allein besessen werden kann. Sowohl Erscheinung als auch Neuanfang setzen als historisch-soziale Bedingung des Politischen das Kulturelle voraus, das das >verräumlichte< Wunder142 darstellt (vgl. ebd., S. 289). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass phantasmatische Autonomie der Mobilität nur möglich ist, indem verschleiert wird, dass sie sowohl von dem Gemeinsamen abhängig ist als auch durch dieses unterstützt wird.
Nochmal: Warum und unter welchen Bedingungen stehen die Souveränität, Autonomie und Tugend der Mobilität still? Insofern die Mobilität Verletzbarkeit und Interdependenz nicht ausreichend ernsthaft in Betracht zieht, ist die Dynamik der Mobilität in absolut unlebbaren, prekären und gewaltsamen Situationen nicht wirksam. Mobilität wird vielmehr als eine Dynamik des Politischen verstanden, die auf der Kunst der mehrdimensionalen Grenzziehungen basiert und dadurch funktioniert, bestimmte Gruppen von Menschen in die Kategorie des Nichtpolitischen einzuordnen. Nach dieser Logik definiert sich das Politische durch Negationen, indem es sich von dem strikt unterscheidet, was nicht zum Handeln und Sprechen gehört: Das Politische der Mobilität manifestiert sich nach Arendt als etwas, das »nicht Verwaltung, nicht Konfliktregelung, nicht Krisenmanagement [ist]« (Bielefeldt 1993, S. 86), und vor allem auch, das die eigene Bewegungsfähigkeit nie in Zweifel zieht. Im Hinblick auf die Mobilität ist es schwer erklärbar, inwiefern die Ausgeschlossenen in komplexer Beziehung zur Gewalt der Ausschließung verwickelt werden und in welchem Ausmaß die stark prekarisierte Menschen, die nicht frei von Zwang sind, ein politisch subversives Potenzial aus dem gewaltsam verflochtenen Zustand heraus ausüben können (vgl. KuP, S. 240). Dies verdeutlicht die paradoxe Struktur der Mobilität: Sie ist zwar konstruktiv, erweist sich aber nicht als performativ. Weil im politischen Bereich die Verletzbarkeit und Prekarität, welche die Effekte der Unterwerfungen und Unterdrückungen in den spezifischen Machtbeziehungen sind, gereinigt werden, verliert die Mobilität die Möglichkeit einer kontingenten Abweichung. Kurzum: Die Ambivalenz der Mobilität liegt somit in ihrer paradoxen Struktur: Ihre Souveränität macht sie zugleich ohnmächtig.
Das Paradox der Mobilität wirft noch zwei grundlegende Fragen auf: Einerseits ist zu hinterfragen, ob Menschen von beinah allen kulturellen Umgebungen und Beziehungen vollkommen ausgeschlossen werden können, und weiterhin, ob ein solches Ausgeschlossensein unmittelbar zur totalen Ohnmacht und zur Unwirklichkeit des Menschen - zur Unfähigkeit, Individualität im öffentlichen Raum auszudrücken - führen kann (vgl. UT, S. 623f.). In Anbetracht dessen, dass die Politik der Mobilität stärker auf Freiheit als auf Gleichheit ausgerichtet ist, stellt sich andererseits die Frage, wie sich das Recht auf Erscheinung, verbunden mit dem Recht auf Zugehörigkeit, über das Recht von Wenigen143 hinaus denken lässt. Wie können wir die »gesellschaftlich tote[n] und bloß gespensterhafte[n] Wesen theoretisch [nicht: Choi] aufgeben« (TV, S. 106)? Und inwiefern lässt sich das Recht auf Pluralität zum Recht derjenigen erweitern, die in Machtbeziehungen eingebundene Prekäre und in eine Situation der gewaltsamen Exposition gezwungene immobile Subjekte sind (vgl. RK, S. 35)? Diese Fragen richten sich nicht nur darauf, wie man über die absolute Fremdheit und absolute Verschiedenheit hinaus eine relative und politische Gleichheit, eine Ebenbürtigkeit zwischen den mobilen Subjekten schaffen kann (vgl. WiP S. 12), sondern vielmehr darauf, wie sich eine offene, unerwartete und daher unreine Pluralität schaffen lässt: ein gemeinsames Leben, das nicht allein denjenigen mit Bewegungsfähigkeit dient, sondern das als solches die Gleichheit aller unterstützt. Dies könnte möglicherweise aus der verletzlichen Performativität der Immobilität hervorgehen.
III. Butlers Politiktheorie als Grundlage zur Konzeptualisierung von Immobilität
Im ersten Kapitel werden einleitende Begriffe von Judith Butler erörtert, um einen Vergleich zwischen Mobilität und Immobilität anzustellen. Im Gegensatz zu Arendts Raumkonzepten, die auf der arendtschen dualistischen Trennung von privatem und öffentlichem Raum basieren, wird die >Matrix der Lebbarkeit< als ein räumlicher und normativ-generativer Rahmen thematisiert. Dabei wird untersucht, wie die butlersche Dekonstruktion des Menschlichen, des Politischen und der Subjektivität in Abhängigkeit vom normativen räumlichen Rahmen zustande kommt. Die Matrix der Lebbarkeit reguliert nicht nur den Zugang zu bestimmten Räumen, sondern produziert und bedroht davon ausgehend die Lebbarkeit des Menschen. Sie operiert auf zwei Wirkungsweisen, und zwar die produktiv-generative und die juridisch-prohibitive (vgl. UG, S. 17). Diese beiden Wirkungsweisen treffen in der Matrix der Lebbarkeit zusammen, woraus die Intelligibilität des Menschen und die räumliche Zuweisung des Körpers, eine Trennung zwischen dem Innen und Außen, resultiert. Das authentisch lesbare Menschsein, das nach Butler nicht als naturgegeben oder angeboren betrachtet wird, ist von Anfang an von den Wirkungen der Matrix der Lebbarkeit abhängig und ergibt sich aus ihnen. Die Wirklichkeit des Menschen kann und darf jedoch keine neue Kohärenz des Menschseins begründen. In diesem Sinne hinterfragt sie nicht nur die Grenzen des Menschen, sondern wird selbst infrage gestellt.
Daran anschließend wird im zweiten Kapitel thematisiert, wie das Subjekt bei Butler konstituiert wird - durch die Angewiesenheit auf die Matrix der Lebbarkeit, die Verschleierung der Macht und durch das spezifische Verhaftetsein in der Matrix. Dass das geformte Subjekt als »ein politisches Phänomen« (Butler 1993b, S. 46) auftritt, bildet einen interessanten Bezugspunkt zwischen Hannah Arendt und Judith Butler. Die phänomenologische Perspektive von Arendts politischer Theorie wird durch ihren Begriff der Erscheinung verdeutlicht, die mit der politischen Seinsform gleichgesetzt wird (vgl. LGD, S. 29). Bei Arendt tritt das Subjekt als welt- und selbstschaffende Erscheinung auf, die sich durch eine spezifische sprachbezogene Bewegung vom privaten Bereich in den öffentlichen Raum ergibt. Macht wird in diesem Kontext als ein Phänomen der pluralen Erscheinungen betrachtet. Das arendtsche Subjekt kann als solches existieren, solange es sich im öffentlichen Raum durch wettbewerbliche Differenzierung von den anderen auszeichnet, indem es neue Perspektiven über die Welt bietet oder neue innovative Verbindungen von Worten und Ideen zur Förderung der Freiheit vorschlägt. Das Subjekt existiert bei Arendt somit als eine Form der politisch tugendhaften, vortrefflichen Erscheinung, die mit dem Begriff der Mobilität gekennzeichnet wird. Im Gegensatz dazu wird das Subjekt bei Butler vor allem als ein Phänomen der Macht beschrieben. Butler bezeichnet die Subjektivation nach Foucault als einen »Prozess des Unterworfenwerdens durch Macht und zugleich den Prozess der Subjektwerdung« (PM, S. 8). Es handelt sich um »eine Art von Macht, die nicht nur einseitig beherrschend auf ein gegebenes Individuum >einwirkt<, sondern das Subjekt auch >aktiviert< oder formt« (ebd., S. 81f.). Aus Butlers phänomenologischer Perspektive wird die Subjektivität weder als substanziell oder kohärent noch als autonom betrachtet, da der menschlichen Existenz keine vorsoziale oder vorsymbolische Essenz der Subjektivität innewohnt; Vielmehr sie ist von Anfang an in Machtbeziehungen verstrickt. Im Gegensatz zu dieser essenzialistischen Annahme liegt in Butlers Theorie der Fokus darauf, wie bzw. wodurch ein Subjekt, das sich konstituiert und zugleich seine Bedingungen der Konstruktion umkehren und verschieben kann, in gezwungener Weise erzeugt, anerkannt und transformiert werden und performativ handeln kann.
Im abschließenden Abschnitt dieses Kapitels wird die Performativität, die weder ausschließlich durch autoritäre Gesetze noch die Wirklungen von der Matrix der Lebbarkeit und ebenso nicht allein durch ein Subjekt als Träger der Handlungsfähigkeit entschieden wird, in zwei Hinsichten behandelt: einerseits die Performativität der Subjektivation, andererseits die Performativität als kritische und subversive Fähigkeit des Subjekts. Zunächst wird dargelegt, wie die auf die Normen und Konventionen angewiesene Performativität bei Butler mit dem Körper in Verbindung mit dem Sprechakt interagiert. Im Gegensatz zum arendtschem Handeln, das als ein unerwarteter Neuanfang betrachtet wird, muss Performativität bei Butler nach vorbestimmten Normen in hoch regulierter und stilisierter Art und Weise ausgeübt werden. Demnach gewinnt die Performativität in Butlers Politiktheorie an Bedeutung, dass sie mit den vorhandenen Normen eine Komplizenschaft bildet (vgl. KG, S. 259). Ausgehend von diesem einführenden Verständnis der Performativität bei Butler wird die Entunterwerfung als ein wichtiges ambivalentes Moment der Performativität144 behandelt. Durch eine kurze Gegenüberstellung von Foucaults Entunterwerfung und Butlers Interpretation wird versucht, zu verdeutlichen, inwiefern die Entunterwerfung in ihrer politischen Theorie die Ambivalenz der Performativität, geprägt weder durch vollständige Determination noch vollkommene Autonomie, eher radikalisiert und welche ethisch und politisch subversiven Möglichkeiten sich durch die Entunterwerfung bei Butler eröffnen. Die hartnäckige Wechselwirkung zwischen Matrix der Lebbarkeit und Subjekt, also die Ambivalenz der Performativität, hebt hervor, dass alle Menschen grundlegend von Normen und dem Wahrheitsregime anhängig sind. Diese Abhängigkeit, sich als spezifische normale und normalisierende Raumstruktur manifestiert, ist eine Bedingung der Handlungsfähigkeit und sie führt zur spezifischen Vulnerabilität, die mit Widerstandsmöglichkeiten der Immobilität einhergeht. Die Themen Abhängigkeit, Anerkennung und Vulnerabilität werden im Kapitel IV näher erörtert.
3.1 Dekonstruktion des Menschlichen und Matrix der Lebbarkeit
Im Gegensatz dazu, dass Arendts Politiktheorie mit dem Geborensein des Menschen als Neuanfang beginnt, ist Judith Butlers Ausgangspunkt die Infragestellung und Dekonstruktion des Menschlichen. Butler stellt dar, dass alle Menschen als Schutzbedürftige zur Welt kommen und sie keine inhärente Fähigkeit zum Handeln besitzen, durch die man sich selbst als Subjekt ein Subjekt sich inaugurieren kann. Wer gilt dann als Mensch und wie kann man als Mensch anerkannt werden? Inwiefern beziehen sich die Konstruktion des Menschlichen und die des sozialen und politischen Raumes aufeinander? Bei Butler ist >Menschen< »ein historisch variabler Begriff, der differenziell im Kontext ungleich verteilter sozialer und politischer Macht artikuliert wird« (EP, S. 79f.). In Anlehnung an Foucault fokussiert sich Butler darauf, dass in fast jedem kulturellen Kontext eine lesbare geschlechtliche Identität die Voraussetzung für das Menschsein und soziale Teilhabe ist (vgl. MG, S. 350; Butler 2013b, S. 66). Somit besteht ein Hauptanliegen dieses Kapitels darin, mit Bezug auf Butlers Begriffe Geschlecht, Geschlechtsidentität und Körper zu untersuchen, inwiefern die Matrix der Lebbarkeit vom Geschlechtsspezifischen ausgeht und auf dieses einwirkt. Das Erringen des Status als Mensch - d. h. eine Frau oder ein Mann zu sein - ist nicht frei vom Verhältnis zwischen der geschlechtsspezifischen Matrix und der Handlung als Wiederholung, die mit Butler wiederum auf die Verkörperung der Normen hinweist.
Butler denkt das Menschsein immer schon mit den Machtbeziehungen und dem Raum zusammen. Die Welt offenbart sich nach ihr als komplexe und konvergente Machtbeziehungen, denen alle Menschen ausgesetzt sind und denen sie niemals entfliehen können: Die Welt, die als ein gemeinsamer Raum des sozialen Alltagslebens besteht, offenbart sich ebenso als eine generative Kartografie der Sprache, Normen, Macht und Gewalt. Diese Machtbeziehungen erweisen sich als Ordnungs- und Regelsystem und sie fungieren gleichzeitig, um uns eine Zugänglichkeit zur Welt anzubieten. Somit schafft das Subjekt nach Butler nicht selbst seinen Standort in der Welt, sondern die Position des Subjekts wird im gewissen Sinne in den Diskursen und durch sie vorbestimmt: Die Subjektposition ist bereits »vor der Subjektivierung der Menschen da« (Paula-Irene Villa 2013, S. 68). Um das Verhältnis zwischen Subjekt, Macht und Raum zu erläutern, nimmt Butler eine kulturelle Matrix an, die aus Normen, Macht und Gewalt, Techniken und Wissen, Diskursen und verschiedenen gesellschaftlichen Verboten, Kultur und Sprache usw. besteht. Butler verwendet das Wort Matrix in verschiedenen Kontexten, um die hochkomplexen Machtbeziehungen und Wirkungen zu erklären (vgl. Butler 1993b, S. 40; UG, 56, 57,121; KG, S. 23, 29, 55, 58, 157; RK, S. 155 usw.), welche das Subjekt sowie ein vergeschlechtlichtes Ich hervorbringen. In dieser Untersuchung werden diese spezifisch epistemischen Machtbeziehungen als >Matrix der Lebbarkeit< bezeichnet - eine Matrix145, die das Leben des Menschen und die Lebenswelt reguliert und (re-)produziert. Mit dem Wort >Lebbarkeit< verschiebt sich der Fokus in gewissem Maße darauf, nicht nur zu aufzuzeigen, inwiefern das Leben, die Lebensbedingungen und -möglichkeiten der Menschen von Beginn an auf das komplexe Zusammenspiel äußerer Kräfte angewiesen sind, die das Leben ermöglichen, organisieren und nicht selten bedrohen. In diesem Sinne lässt sich die Matrix der Lebbarkeit als eine Struktur verstehen, »durch [die] alles Wollen erst möglich wird, sie ist die kulturelle Bedingung seiner Möglichkeit« (KG, S. 29). Es wird ebenso beleuchtet, inwiefern bzw. wie die performative Konstruktion des Menschen und der
Fortbestand der Matrix der Lebbarkeit146 in Butlers Gedanken miteinander in Verbindung stehen. Butlers politisch-philosophisches Projekt zielt darauf ab, die Grenzen des lebbaren Lebens infrage zu stellen und den Bereich des lebbaren Lebens zu erweitern, indem sie fordert, »die Politik und das Politische vom Performativen her zu denken« (Posselt 2018, S. 47).
Dieses Kapitel umfasst zwei wesentliche Schwerpunkte, die miteinander verbunden sind. Erstens wird die Matrix der Lebbarkeit eingeführt und ihre Funktionsweise erläutert, wie bereits kurz skizziert wurde. Im folgenden wird untersucht, wie der Mensch durch die Matrix der Lebbarkeit hervorgebracht und als Mensch lesbar werden kann und - daran anknüpfend - wie die Matrix der Lebbarkeit den Innen- und Außenraum reguliert. Zweitens wird Butlers dekonstruktivistische Konzeptualisierung des Menschlichen thematisiert. Dabei stehen die Intelligibilität und das permissive Werden des menschlichen Körpers im Fokus der Betrachtung. Butler betrachtet den Körper147 als einen Berührungspunkt der Macht, sodass ihm immer schon eine politische Räumlichkeit zukommt. In diesem Kontext wird untersucht, wie die Vorstellung des intelligiblen Körpers in Bezug auf die Wirkung der Matrix der Lebbarkeit erreicht wird und wie der menschliche Körper materialisiert werden kann. Abschließend ist zu betonen, dass der Begriff des Menschen nach Butler im Schwanken zwischen dem Phantasma und der Wirklichkeit liegt. In ihren Texten ist bemerkenswert, wie sie mit diesen Spannungen umgeht, indem sie sie einander gegenüberstellt, kontrastiert und über diese Gegenüberstellungen hinausgeht.
Die produktive Wirkungsweise der Matrix der Lebbarkeit
Butlers Machtbegriff, der von Foucaults Macht- und Diskursverständnis ausgeht, bildet einen Ausgangspunkt, um die produktive und generative Wirkungsweise der Matrix der Lebbarkeit zu erläutern. Foucault bemerkt, dass seit dem 17. Jahrhundert die Sexualität einen bedeutenden Beitrag als Berührungspunkt der Macht leistet (vgl. Foucault 1977, S. 18). Er stellt ein spezifisches Verhältnis zwischen Macht, Geschlecht und Diskurs148 fest, der als »ein Regelsystem für die Produktion von Aussagen« (Rose u. Koller 2012, S. 83) und als »ein sprachlich artikuliertes Ordnungsgefüge« (ebd.) funktioniert. Diese erneute Konzeptualisierung der Macht entfernt sich von »[allen] negativen Elemente[n] - Verboten, Verweigerungen, Zensuren, Verneinungen -, die die Repressionshypothese in einem großen zentralen Mechanismus zusammenfaßt, der auf Verneinung zielt« (Foucault 1977, S. 19). Stattdessen wird sie vor allem als produktiv betrachtet. Der zunehmende Diskurs über Sex149 ist somit jener Punkt, aus dem eine neue Form und Funktionsweise der Macht entsteht und auf den sie wirkt.
In dem Sinne, dass die Strategie der Macht weder als »einseitiges Aufzwingen von Macht zu verstehen [ist]« (Butler 2003, S. 53) noch »von [einem] vorhergehenden Subjekt angeeignet wird« (ebd.), funktioniert erstens die produktive Macht als Spiel der Mächte, das intentional, zielgerichtet und strategisch ist.150 Sie ist nicht nur »formbildend oder produktiv [...], geschmeidig, multipel, streuend und konfliktorientiert« (PM, S. 95). Durch das strategischen Spiel der Mächte wird der Macht auch ermöglicht, selbsttransformierend zu fungieren (vgl. Saar 2015). Zweitens wirkt die Macht als epistemische Macht in dem Sinne produktiv, dass sie »sich nicht nur des Wissens als Mittel [bedient] - das tut sie auch - « (Hark 2021, S. 90), sondern auch in Form von Wissen, Wahrheit und Erkenntnisschemata hervorbringt. Der Diskursbegriff bezieht sich hierbei auf die Konzipierung der produktiven Macht. Denn die Diskurse sind nicht lediglich als gegenstandsrepräsentierende und bedeutungstragende Zeichenkomplexe zu verstehen, sondern als gegenstandsformierende Praktiken (vgl. Reisigl 2006, S. 96). Butler verwendet Foucaults Diskursbegriff somit in dem Sinne, dass der Diskurs über Subjekte »die Möglichkeiten artikuliert, in denen Subjekte Intelligibilität erreichen, und das heißt, in denen sie überhaupt zum Vorschein kommen« (SL, S. 132). Die Frage nach dem Wissen - welche Wahrheit produziert wird und werden kann - ist sowohl bei Foucault als auch bei Butler immer schon die Frage der Macht (vgl. MG, S. 340). Mit Butler ist hervorzuheben, dass die Wirklichkeit und die Vorstellung vom lebenswerten und handlungsfähigen Menschen dem Menschen nicht inhärent sind. Als Praxis bietet der Diskurs uns das Raster der Erkenntnisse, das nicht nur Wissen und Wahrheit produziert, sondern auch die Idee des Menschlichen selbst. Somit betont Butler, dass es ein Privileg des Menschen ist, die Wahrheit und Wirklichkeit zu haben (vgl. MG, S. 40). Denn die Matrix der Lebbarkeit, die als strategisches und generatives Erkenntnisschema fungiert, bietet dem Menschen von Anfang an den Rahmen der Intelligibilität und Anerkennung und bringt die Wirklichkeit des Menschen hervor und reguliert sie.
Die juridische und die prohibitive Wirkungsweise: Verbot und Kodierung der Position
Neben dem produktiv geprägten Machtverständnis der Matrix der Lebbarkeit besteht in Butlers Politiktheorie ein weiteres Machtverständnis, nämlich das juridische und prohibitive. Dass die Wahrheit des Menschlichen und der intelligible menschliche Körper durch Vergeschlechtlichung kulturell konturiert werden, ist eine Art und Weise, wie die Matrix der Lebbarkeit produktiv wirkt. Die Wirkungen von der Matrix der Lebbarkeit, die Heterosexualität als eine Bedingung des Lebens organisiert und reguliert, scheinen auf den ersten Blick so, dass die Betroffenen sich ihnen nicht zur Wehr setzen können, obwohl sie weder mit ihren Regulierungen übereinstimmen noch ihnen entkommen können. Der Prozess der Annahme der binären Geschlechter, dem gemäß zuallererst sozial anerkannt werden kann, fungiert bei Butler in diesem Sinne gewaltsam, da »diese >Annahme< von einem regulierenden Apparat der Heterosexualität >erzwungen< ist, der sich durch die zwangsweise Erzeugung von >Geschlecht< ständig selbst wiederholt« (KG, S. 36). Die juridisch-prohibitive Wirkungsweise der Matrix der Lebbarkeit unterwirft nicht nur diejenigen, die unbedingt mit dieser Gezwungenheit leben sollen, sondern sie wirkt auch bei der Dekonstruktion des Menschen und der Subjektivation formgebend und konstitutiv (vgl. MG, S. 72).
Um zu verdeutlichen, wie die juridische Wirkungsweise mit Zwang und Gewalt verbunden ist, muss zunächst erklärt werden, was das Symbolische bedeutet und wie Butler dieses Konzept problematisiert. Das Symbolische wird »als das Reich des Gesetzes [definiert], das das Begehren im Ödipuskomplex151 regelt« (AV, S. 39). Basierend auf Lacans Interpretation von Lévi-Strauss zeigt Butler auf, wie das Gesetz des Vaters durch die vom Inzestverbot ausgehende Kodierung der Verwandtschaftsbeziehungen in Heterosexualität Bahn lenkt (vgl. UG, S. 114f.). Darüber hinaus verweist sie darauf, wie solche durch das Symbolische regulierten heterosexuellen Verwandtschaftsbeziehungen als universell und unveränderlich betrachtet werden (vgl. ebd.).
Butler fokussiert auf die Verbindung zwischen der Lévi-Strauss' kulturellen Struktur des Frauentausches und dem lacanschen Symbolischen. Nach Lévi-Strauss ist der Frauentausch mit dem Austausch von Worten vergleichbar, wodurch »die Verwandtschaft auf der Grundlage sprachlicher Strukturen neu durchdacht wird, deren Gesamtheit >das Symbolische< genannt wird« (AV, S. 71f.). Wie Lévi-Strauss das Inzestverbot als das Kulturelle betrachtet, das weder als biologisch noch als sozial kontingent angesehen werden soll (vgl. UG, S. 78), wird Verwandtschaft nicht mehr als naturalisierte Blutbeziehungen verstanden, sondern als »Effekt sprachlicher Beziehungen, in denen jeder Ausdruck Bedeutung ausschließlich und jederzeit nur in Beziehung zu anderen Ausrücken hat« (AV, S. 72). Unter diesen Prämissen verknüpft das Symbolische die heterosexuelle Subjektivation mit dem Sprachlichen. Das Inzestverbot legt für jedes Mitglied eine Position in der Familie nach exogamischen Vorschriften fest, indem es reguliert, wer mit wem in der Familienbeziehung sexuellen Verkehr haben kann und wann diese verboten ist (vgl. MG, S. 76f.).152 Diese so regulierten Verwandtschaftsbeziehungen ermöglichen die Nutzung der pronominalen Referenz, eines >Ich<, >Du<, >Wir< und >Sie< und der Sprache (vgl. MG, S. 78), gemäß der symbolischen Ordnung wird einer Person eine sprachliche Position zugewiesen, die bestimmter Kategorie wie Frau, Schwester, Junge oder Ehemann entspricht. Mit anderen Worten: Durch die juridische und prohibitive Wirkungsweise der Machtmatrix erhält ein Individuum somit eine erste gesellschaftliche Position, durch die es in die Gesellschaft eingeschrieben wird und ohne die seine Lebbarkeit als Menschen infrage gestellt wäre. Die Erkennbarkeit als Mensch wird in diesem Sinne zunächst zugewiesen, bevor die Person die Möglichkeit hat, eine eigene, gewünschte Position einzunehmen. Diese gezwungene Zuweisung einer sozialen und heterosexuellen Position impliziert eine Ambivalenz: Obwohl diese Position nicht für alle passend sein kann und einigen sogar sie verwehrt bleibt, bietet sie dennoch einen Ausgangspunkt, von dem ausgehend für eine alternative, neue Form der Intelligibilität und Anerkennung gekämpft werden kann. So funktioniert die juridische und prohibitive Wirkungsweise der Machtmatrix produktiv.
Butlers Interesse richtet sich einerseits darauf, wie die durch das Symbolische zugewiesene Position als veränderbar und kontingent verstanden werden kann. So argumentiert Butler, dass die Unterscheidung zwischen dem kontigenten Sozialem und unveränderlich universellen Symbolischen nicht aufrechterhalten werden kann (vgl. MG, S. 80ff.). Andererseits ist nach Butler hervorzuheben, dass die Übernahme oder Aneignung einer Position nicht zwangs- und gewaltfrei ist. Die Aneignung einer Identität ist nicht mit bloßem Gehorsam gleichzusetzen, aber ohne Zwang kann das Normative weder angeeignet noch verkörpert werden. Dies ist das bemerkenswerte ambivalente Moment bei Butler, das weder freie Wahl noch reinen Zwang und Gehorsam zur Erklärung heranzieht.
Butler kritisiert, dass die Verwandtschaftsbeziehungen als linguistische Struktur einen besonderen Vorrang haben (vgl. MG, S. 80), insofern dabei ein tautologischer Effekt der Naturalisierung entsteht, indem die Verwandtschaftsbeziehungen als Voraussetzung und Ergebnis der heterosexuellen Identität. Durch diese strukturalistische Perspektive wird die heterosexuell organisierte Verwandtschaft zu etwas, das immerwährend und unveränderbar vorhanden ist. In dieser naturalisierten Struktur werden alle Bemühungen um die Aneignung der Heterosexualität verdeckt. Die erzwungene heterosexuelle Identität verstärkt die Gegebenheit der Verwandtschaft, die tatsächlich eine von vielen möglichen Formen menschlicher Organisationen ist, und unter dieser Bedingung wird nach und nach die Normalität der Zwangsheterosexualität153 bekräftigt. Insoweit Sprache innerhalb der Gesetze der symbolischen Ordnung von Gewicht ist, liefert die linguistische Struktur des Symbolischen die Grenze des intelligiblen Menschlichen, der gemäß etwas, das sich nicht in Sprache ausdrücken lässt, ausgeschlossen wird (vgl. Meißner 2012, S. 27). In Bezug auf die problematische Verknüpfung von Verwandtschaft, Sprache und Gesetz des Vaters - nämlich, Zwangsheterosexualität - lässt sich darstellen: Dass man in der heterosexuell geprägten Gesellschaft keiner Terminologie entspricht, mit der man das Selbst erklären kann, zeigt sich als ein Pendant dafür, dass man auch keinen Platz in der menschlich lebbaren Welt einnimmt. Das Narrativ, das man als Aufschluss über sich selbst anderen mitteilt, ist nach Butler auf die von vornherein von Menschen äußerlich funktionierende juridisch-symbolische und diskursive Macht angewiesen. Die Sprachlosigkeit weist deshalb nach Butler darauf hin, dass man sozial in eine unlebbare, unlesbare Zone gerät.
Normen als Konvergenzpunkt von produktiv-generativen und juridisch-prohibitiven Wirkungsweisen
Die produktiv-generative sowie die juridisch-prohibitive Wirkungsweise der Matrix der Lebbarkeit stehen nicht im Gegensatz. Vielmehr lässt sich treffend behaupten, dass die vielschichtigen Macht- und Gewaltwirkungen in diesen zwei Wegen154 konvergieren. Um diese Reziprozität näher zu untersuchen, wird Butlers Verständnis des Diskurses und des Symbolischen in Zusammenhang mit ihrem Verständnis der Normen erneut behandelt. Die Funktionen der Diskurse, die gemäß Foucault im Rahmen des Macht-Wissen-Dispositivs entstehen und sich mit den positiven und generativen Auswirkungen der Matrix des Lebens verknüpfen, werden nicht allein auf den Begriff des Produktiven und Gewaltfreien reduziert. Im Anlehnung an Foucault richtet sich Butlers Interesse darauf, zu zeigen, wie Diskurse eine regulierende und autoritative155 Rolle einnehmen können, und umgekehrt, wie das Verbot des Symbolischen bereits mit der produktiven Wirkungsweise verknüpft ist. Aus dieser Perspektive können die Diskurse als das dichte und erzwingende Gitter der Heterosexualität betrachtet werden (vgl. Lorey 1996, S. 24). Das verbotenen Begehren wird nicht vorausgesetzt, sondern vielmehr als Gegenstand vom Gesetz des Vaters erst im Rahmen des Verbots hervorgebracht, wie Butler erklärt: »Das Inzesttabu [... ] bringt überhaupt erst die Unterscheidung zwischen >primären< und >sekundären< Anlagen hervor, um die Unterscheidung zwischen einer legitimen Heterosexualität und einer illegitimen Homosexualität zu formulieren und zu reproduzieren« (UG, S. 114). Butler fügt in Anlehnung an Foucault hinzu, dass »die Konstruktion des juridischen Gesetzes ein Effekt der produktiven Macht [ist], in dem die produktive Macht jedoch ihre eigene Verschleierung und Unterordnung instituiert« (ebd., S. 230).156 Somit kann in der Matrix der Lebbarkeit, die die Menschen konturiert und deren Leben reguliert, die juridisch-prohibitive Wirkungsweise ebenso als generativ verstanden werden, dass sie mit einer bestimmten Kanalisierung der produktiven und generativen Wirkungen einhergeht.
Butlers Machtverständnis kann als ein Versuch interpretiert werden, das juridische Machtmodell Foucaults infrage zu stellen und es mit dem produktiven zu versöhnen (vgl. Lorey 1996, S. 52).157 Die juridische Wirkungsweise der Matrix der Lebbarkeit wird im butlerschen Sinne durch doppelte Distanzierungen begriffen: Einerseits unterscheidet sie sich von der Souveränität im Sinne von Foucault, die als das über Leben und Tod entscheidende Gesetz158 in Kraft tritt. Andererseits steht Butlers Verständnis des Juridischen nicht vollständig im Einklang mit dem strukturalistischen Symbolischen, das auf Verbot und Erlaubnis basiert. So geraten sowohl die durch Anrufung erlangte Position als auch das Gesetz des Vaters, das die Gewalt hat, andere anzurufen, in Instabilität und Kontingenz. Das von Butler beschriebene Gesetz des Vaters ist weder absolut noch rein prohibitiv. Butler nimmt doch eine Reihe von Verboten beim Symbolischen an und stellt die begrifflichen Klammern vom Sozialen und dem Universellen, dem Veränderlichen und dem Unveränderlichen sowie dem Angeeigneten und dem Enteigneten, um sie auf Spiel zu setzen und um diese Dichotomien159 zu stören: Diese universelle und unveränderbare Annahme selbst wird zu einem Gegenstand des Machteffekts, also der Wirkungen der Matrix der Lebbarkeit. In diesem Rahmen entwirft Butler eine Vorstellung des Politischen, die auf einem grundlosen Grund basiert. Dabei bleiben die verbietenden Wirkungen offen für Handlungen, die den Zielen und Intentionen der Normen nicht immer entsprechen und nach den Befehlen und Regulierungen nicht immer in gleicher Weise ausgeübt werden.
Die juridische Wirkungsweise - eine spezifische Form von Gewalt, die das Subjekt sowohl ermöglicht als auch unterwirft - ist nicht lediglich restriktiv und privativ. Sie wirkt vielmehr produktiv, indem sie Subjekte und die Grenzen des Lebbaren, Sagbaren und Wirklichen konstituiert (vgl. HS, S. 206). Ein bemerkenswertes Beispiel des Zusammenwirkens der produktiv-generativen sowie der juridisch-prohibitiven Wirkungsweise der Matrix der Lebbarkeit findet sich in Butlers Politiktheorie, insbesondere in der spezifischen Komplizenschaft von Macht und Gewalt. Im Gegensatz zur Trennung der Macht von Gewalt bei Arendt wird der Gewaltbegriff bei Butler von Anfang an in den verschiedenen Dimensionen des Politischen verortet. Butler wirft die Fragen auf, inwiefern Menschen sich auf die Gewalt beziehen, welche Rolle diese Gewalt spielt und wodurch sie überhaupt überwunden werden kann. Nach Butler sind alle Menschen »in Gewalt verstrickt« (RK, S. 158), sodass das menschliche Leben inmitten der formierenden Gewalt liegt, und zwar »zwischen der Gewalt, die uns formt, und der Gewalt, mit der wir nach unserer Formung unser Dasein führen« (ebd., S. 155). Vor diesem Hintergrund versteht Butler die Annahme binärer Geschlechter als Prozess und dessen Effekt der Gewalt. Die Vergeschlechtlichung wird durch bestimmte Kategorisierungen ermöglicht, die definieren, »was als Materialität des Geschlechts gilt und was nicht« (Butler 1993b, S. 53). Nach ihr stellt »diese diskursive Anordnung und Produktion von Körpern gemäß der Kategorie >Geschlecht< selbst eine materielle Gewalt [dar]« (ebd.; vgl. Bublitz 2010, S. 92).
Kann man sich eine Gewalt vorstellen, die unser Leben formt und in diesem Sinne einen vorschreibenden Charakter hat, deren regulierende Wirkungen jedoch nicht unabhängig von den kollektiven menschlichen Handlungen sind? Mit welchen Worten lassen sich die beiden bisher dargestellten Wirkungsweisen und ihre wechselseitige Zusammenwirkung mit der Matrix der Lebbarkeit zusammenfassen? Norm ist der Schlüsselbegriff, unter dem nicht nur die regulierende und erzwingende Eigenschaft der juridischen Wirkungsweise verstanden werden kann, sondern auch der Zusammenhang zwischen produktiven und juridischen Wirkungen. Als produktivgenerative Gewalt wirken Normen160 einerseits als Mittel, indem sie dazu dienen, »einen gemeinsamen Standard hervorzubringen« (MG, S. 87). Die Tatsache, dass Menschen inmitten und gegenüber den Normen existieren, weist darauf hin, dass die Menschen den Normen unterworfen werden, dadurch sich selbst zu »einer abstrakten Gemeinsamkeit« (ebd.) machen und sie in dieser Unterwerfung (performativ) handlungsfähig werden. Normen funktionieren andererseits als Apparat, der »das Feld des Sozialen für uns intelligibel macht und diesen Bereich für uns normalisiert« (ebd., S. 74). In diesem Sinne sind Normen nicht nur erforderlich, um menschlich leben zu können, sondern auch, um die Lebensumstände, die Welt zu verändern (vgl. ebd., S. 327). Aus der gegensätzlichen Rollen der Normen ergibt sich die Denkweise, dass man durch die Gewalt der Matrix, aber im gleichen Zuge in produktiver Weise als Person hervorgebracht werden kann.
Der Begriff der Normen spielt eine zentrale Rolle in der räumlichen Ambivalenz der Matrix der Lebbarkeit. Die Zusammenwirkung der Normen schreibt der Matrix der Lebbarkeit eine bestimmte Räumlichkeit zu, in der das lebbare Innen und das unsichtbare Außen zwar streng voneinander unterschieden werden, ein absolutes Außen jedoch nicht existiert.161 Im Gegensatz zu Arendts Dichotomie von privatem und öffentlichem Raum betont Butler, dass der Raum der Unlesbarkeit und Unlebbarkeit, >ein Gebiet der Ausgeschlossenen^ weder absolutes Außen noch absolute Ausschließung darstellt. Butlers Überlegung, dass die Normen die ausschließende Gewalt inmitten des Politischen hervorbringen (vgl. MG, S. 328), ist eng mit der Idee des konstitutiven Außen verknüpft, insofern »[d]as Gebiet des Politischen sich durch die Produktion und Naturalisierung des >Vor<- oder >Un<-Politischen [konstituiert]« (Butler 1993b, S. 57). In diesem Zusammenhang hebt sie hervor, »[w]as unter den Bedingungen einer existierenden kulturellen Form >undenkbar< und >unsagbar< bleibt, nicht unbedingt dasselbe [ist] wie das, was in dieser Kultur von der Matrix der Intelligibilität ausgeschlossen ist« (UG, S. 121). So lässt sich nach Butler feststellen, dass »[d]as >Undenkbare< also vollständig in die Kultur hinein[gehört]« (ebd.). Vielmehr »[gehört] [d]as >Undenkbare< also vollständig in die Kultur hinein« (ebd.). Zwar steht aufgrund der Matrix der
Lebbarkeit die Grenze des Menschlichen im Vordergrund, dennoch gibt es weder ein stabiles Zentrum im strikten Sinne noch ein absolutes Außen von Macht und Gewalt. Diese Raumtrennung ist unbeständig und durchdringbar, insofern die Normen sowohl als Effekte der Matrix wie auch als die konkret wirkenden Bestandteile der Matrix fungieren. Die produktive und regulierende Matrix der Lebbarkeit bleibt somit nicht abgeschlossen, sondern offen. Denn die Matrix der Lebbarkeit scheint zunächst darüber zu entscheiden, wer in welchen Raum eingeordnet wird, jedoch ist sie von den Normen und den kollektiven Handlungen nicht unabhängig.
Intelligibilität des Menschen aus der Matrix der Lebbarkeit
Dass die Matrix der Lebbarkeit das Leben der Menschen erst ermöglicht und reguliert, weist darauf hin, dass der Mensch nicht als ein angeborenes oder intrinsischen Wesen aufgefasst wird, sondern vielmehr der Begriff des Menschen in dekonstruktiver Weise durch die »ein Sein konstituierende Macht epidemischer Gewalt« (Hark 2021, S. 92) zu verstehen ist. Dabei entstehen zahlreiche Fragen: Inwiefern ist der Begriff des Menschen auf die Matrix der Lebbarkeit und ihre Wirkungen angewiesen? Was geht aus der Matrix der Lebbarkeit hervor? An welchen Punkten produziert und reguliert die Matrix der Lebbarkeit die Menschen? Bei Arendt kann ein Subjekt durch die sich- und weltschaffende Erscheinung die Wirklichkeit des Menschen erreichen, die das Gehört- und Gesehenwerden in der Öffentlichkeit bedeutet (vgl. Kämpf 2018, S. 170). Hingegen ist die soziale Erkennbarkeit, nämlich die Intelligibilität des Menschen nach Butler von Anfang an auf die Wirkungen der Matrix der Lebbarkeit angewiesen (vgl. Hark 2021, S. 91). In diesem Sinne weist >intelligibel< zunächst auf einen spezifischen Zustand hin, in dem jemand in einem historischkulturellen Kontext für sich und andere ansprechbar, verstehbar und anerkennbar ist, daher ist er als Mensch und Subjekt lebensfähig (vgl. Meißner 2012, S. 124; Paula Irene Villa 2012, S. 173).
Von Foucaults Machtverständnis ausgehend richtet sich Butlers Interesse nicht nur darauf, dass durch das Zusammenwirken von Sex, Diskurs und Macht eine bestimmte Intelligibilität erzeugt wird, sondern auch darauf, in welchem Dispositiv der Macht jene Objekte und Ereignisse wahrnehmbar und erkennbar werden. Die Matrix geht dem >Zum-Vorschein-Kommen des Menschen< voraus, »insofern >Menschlich-Sein< immer schon leiblich und begehrensorientiert strukturiert ist« (Rose u. Koller 2012, S. 79). Ein Ansatz zum Verständnis der Intelligibilität findet sich bei Butler im zwangsheterosexuellen Geschlecht, dessen Rahmen durch die Matrix der Lebbarkeit hervorgebracht wird, die kontinuierlich mit dem Geschlecht zusammenhängt und auf geschlechtsspezifische Weise fungiert (vgl. MG, S. 91).162 Ein Mensch zu sein bedeutet in diesem Zusammenhang zunächst, dass die intelligible Sexualität einer Person zugeordnet wird, wodurch eine Person unanfechtbar als eine Frau bzw. ein Mann existieren muss. In diesem Sinne dient Sexualität als Zugangspunkt, über den die Matrix der Lebbarkeit wirkt und durch den die Menschen als soziale Wesen betrachtet werden können, oder als eine Instanz, durch die Macht
Menschen umfassen kann. Die Verknüpfung des binären Geschlechts und seiner Authentizität mit der Intelligibilität des Menschen weist darauf hin, dass das Geschlecht und die Geschlechterordnung163 eine Schwelle zur Gesellschaft bilden - nicht nur im geschlechtlichen Sinne, ob männlich oder weiblich, normal oder deviant, sondern auch im ethnografischen Sinne, ob rassifiziert oder unmarkiert, sowie im sozial-politischen Sinne, ob im öffentlichen Raum erscheinend und anwesend oder unsichtbar und unvernehmbar (vgl. Hark 2021. S. 90ff.). Als eine Form der epistemischen Gewalt der Wahrheitspolitik bestimmt die Matrix der Lebbarkeit somit, »wie wir uns haben begreifen können und wie wir begriffen werden, [...] wie wir von uns selbst wissen können - und wer wie gesehen wird oder auch nicht« (ebd., S. 92).
Butler hinterfragt zudem die feste Verbindung von Sex, Intelligibilität und daran anschließend, Anerkennung kritisch. Sie stellt fest, dass »>Wahrheit< und >Wirklichkeit< zu haben oder aufzuweisen ein enorm starkes Vorrecht in der sozialen Welt [ist], eine Art, wie sich Macht als Ontologie verstellt« (MG, S. 50). Beispielsweise befindet sich ein intelligibler Mensch in einem Raum, der als die »sozial bewohnbare [und durch diskursive Semantiken geschaffene] Zone« (Paula-Irene Villa 2013, S. 66) bestimmt ist. Es ist jedoch wichtig, zugleich anzumerken, dass die Intelligibilität und das bewohnbare Innen von Anfang an auf das Außen angewiesen sind und dass das Außen nicht als vorpolitisch gegebener und unveränderbarer Raum betrachtet wird. Butlers Arbeit zielt darauf ab, das Vorrecht auf Intelligibilität zur Kritik zu stellen und durch diese Kritik seine Kontingenz zu enthüllen, dass es grundlos besteht. Das Raster der Intelligibilität bietet nicht immer und nicht für alle einen Ausgangspunkt für das freie und handlungsfähige Subjekt, und es kann niemals alle Möglichkeiten des Lebens vollständig umfassen (vgl. RK, S. 16). Somit bringt die Matrix der Lebbarkeit nicht nur die Wirklichkeit des Menschen, sondern auch die Grenzen des Menschlichen hervor, »die eine bestimmte Macht ausüben, aber nicht auf irgendeine Notwendigkeit gegründet sind, Grenzen, die nur übertreten oder befragt werden können, indem man durch Abweichung von einer etablierten Ontologie eine gewisse Sicherheit riskiert« (MG, S. 50).
Über die Unterscheidung zwischen sex und gender hinaus: Werden des Körpers
Das Verständnis der Intelligibilität bezieht sich auf die Materialisierung des Körpers, inwiefern der sozial verstehbare, überlebensfähige Körper von der sprachlichen Bedingtheit sowie den kulturellen Wahrnehmungskategorien164 abhängig ist (vgl. Butler 1993b, S. 56ff.; Butler 2013b, S. 66). Butler legt fest, dass der Körper unter dem bestimmten Raster der kulturellen Intelligibilität als menschlicher Körper konstruiert wird. Ihre Festlegung tritt der Vorstellung der Moderne entgegen, dass »der Körper als >eigener< zur »grundlegendsten Form des Eigentums< [wird]« (Gundula Ludwig 2013, S. 82) und Freiheit und Souveränität des Subjekts sich aus dem so verstandenen Körper ergeben. Von diesem Verständnis ausgehend stellt Butler zur Kritik, dass der menschliche Körper als der letzte Grund der authentischen Kohärenz wie der Totalität der Person betrachtet wird (vgl. KG, S. 56). Für Butler weist der Körper auf einen »Ort kultureller Interpretationen« (Butler 1991, S. 64), der »bereits in einem gesellschaftlichen Kontext lokalisieret und definiert ist« (ebd.). Somit ist der Körper als eine materielle Realität von Bedeutung und hat Gewicht. Die Auseinandersetzung mit dem Thema der (De-)Konstruktion des Körpers und dessen Materialität beginnt mit den folgenden zwei Annahmen: Butlers Auffassung, dass es keinen weiblich oder männlich gegebenen sexuierten Körper gibt, der ohne Bezug zum kulturellen Muster, nämlich zur Matrix der Lebbarkeit, besteht, zeigt sich erstens darin, dass alle Personen von Beginn an und kontinuierlich dieser Konstruktion ausgesetzt sind und in diesem Sinne alle Menschen nach Butler als verletzbar betrachtet werden. Zweitens legt Butler dar, dass dieser macht- und normengebundene Körper zum unaufhörlichen und unvermeidlichen politischen Thema wird, dem der Mensch jedoch nicht entgehen kann.
Butlers (De-)Konstruktion des Menschlichen beginnt mit der Infragestellung des biologischen Körpers. In ihrem Buch Unbehagen der Geschlechter problematisiert sie die Gültigkeit der Unterscheidung von Sex und Gender und stellt fest, dass »möglicherweise das Geschlecht (sex) immer schon Geschlechtsidentität (gender) gewesen [ist]« (UG, S. 24). Das Geschlecht lässt sich weder als eine natürlich gegebene Voraussetzung für die Geschlechtsidentität betrachten, noch lässt sich die Geschlechtsidentität als das verstehen, was sie im sozial angesiedelten Geschlecht ist. Ihr Versuch, die Unterscheidung von Geschlecht und Geschlechtsidentität zu kritisieren, begründet sich aus der Differenzierung, dass der Körper als das Natürliche sich vom Geist, wie dem Bewusstsein als dem Kulturellen und Symbolischen, abgrenzt. Daher stellt Butler nicht dar, dass Sex als eine biologische Ursache zum Gender als sozialer Form übergeht165 und es in diesem Sinne keinen Übergang vom vorgängigen Natürlichen zum Kulturellen gibt.166 Butler betont vielmehr, dass sich dieses Sex, von dem aus als Grundlage die menschliche Existenz zu beginnen scheint, als eine fiktive Einheit erweist, die als ursächliches Prinzip funktioniert. Im Gegensatz zu Sartre und Beauvoir, bei denen Butler feststellt, dass sie sich nicht vollständig von der cartesischen Unterscheidung zwischen Körper und Geist lösen, besteht Sex nach Butler als eine künstliche Einheit aus »anatomische[n] Elemente[n], biologische[n] Funktionen, Verhaltensweisen, Empfindungen und Lüste[n]« (Butler 1991, S. 70). Es bleibt jedoch die Frage offen, ob der nach Butler kulturell hervorgebrachte Körper ebenso sein Geschlechtsorgan, und zwar Penis oder
Vulva, besitzt167 168 und ob in diesem Sinne Sex als eine Grundlage berücksichtigt werden muss, wie es Transphobe im Feld des Trans-Exclusionary Radical Feminism behaupten. Butler verneint nicht, »daß zumindest minimale, nach Geschlecht differenzierte Körperteile, Tätigkeiten und Fähigkeiten und hormonelle sowie in den Chromosomen verankerte Unterschiede vorhanden sind, die ohne Bezugnahme auf eine >Konstruktion< eingeräumt werden können« (KG, S. 33). Was sie hervorhebt, ist, dass >die Unbestreitbarkeit des biologischen Geschlecht< bereits ein Ergebnis ist, das als irgendeine Version der Materialität anerkannt wurde (vgl. ebd.). In diesem Sinne ist das biologische Geschlecht, nämlich Sex , keine irreduzible Gewissheit oder bestimmte Grundlage, sondern der Ausgangspunkt, mit dem sich durch dessen Konstruktion in der historischkontingenten, machttheoretischen Ansicht auseinandergesetzt werden muss.169 Nach Butler kann man entweder ohne diese Wirkung der Matrix keinen eindeutig sexuierten Körper wahrnehmen oder es lässt sich sagen, »dass es keine von der symbolischen Ordnung unberührte körperliche Materialität gibt« (Bublitz 2010, S. 40f.). In dem Sinne, dass als Raster der Erkenntnis die Matrix der Lebbarkeit einen Körper als ein zwangsheterosexuelles Ich signifiziert, behauptet Butler damit die Instabilität des Körpers, weil er beständig im Laufe der Produktion fortgeführt wird.
Dass das Geschlecht bereits durch Regulierung in Erscheinung tritt, weist nach Butler nicht darauf hin, dass man sein Geschlecht willentlich wählt oder es in deterministischer Weise auf einen Körper geprägt wird. In welcher Art und Weise können die Körper überhaupt zu Körpern werden, indem das Geschlecht in und auf dem Körper angenommen wird? Der Körper, der als der menschliche im sozialen und kulturellen Bereich wahrgenommen und erkannt wird, ist der Körper, der sich materialisiert. In ihrem Aufsatz Variationen zum Thema Sex und Geschlecht: Beauvoir,
Wittig und Foucault erklärt Butler die Materialisierung170 des Körpers als Konstruktion171 mit ihrem Verständnis vom performativen Stil und Werden, welche auf eine zeitliche Umwandlung hinweisen. Das stilistische Werden, das Butler als die ständige Wiederholung und Zitierung der Normen bestimmt, unterscheidet sich von einem bewussten oder zielführenden Akt. Als ein Projekt ist das Werden für Butler »[w]eniger ein radikaler kreativer Akt« (Butler 1991, S. 61) und »strenggenommen kein menschliches Handeln oder menschlicher Ausdruck« (KG, S. 29). Interessanterweise ist bei Butler völlig sicher, dass >die Aktivität dieses Geschlechtlich-Werdens<, diese kulturgeschichtliche Verkörperung172 keine Frage der Maskierung ist (ebd.), als ob sie ihren Begriff der performativen Materialisierung von Arendts Erscheinung differenzieren wollte, in dem die Meinungsmaske eine wichtige Rolle spielt.
Die Materialisierung des Körpers birgt in sich eine zeitliche und räumliche Ambivalenz, indem das Werden als Wiederholung begriffen wird. Nun wird der Körper als ein zeitlicher Kreuzungspunkt dieses Rätsels betrachtet, denn »Konstruktion findet nicht nur >in< der Zeit statt, sondern ist selbst ein zeitlicher Prozeß, der mit der laufenden Wiederholung von Normen operiert« (KG, S. 32). Bei Butlers Behauptung, dass nicht durch ein einmaliges Ereignis173, sondern durch ständig wiederholtes Zitieren der Normen der Körper sich materialisiert, ist zu beachten, dass der Körper weder als reine Räumlichkeit vorstellbar ist, auf die diese Wiederholungen und (Effekte der) Normen geprägt werden, noch als die homogene zeitliche Ausdehnung dieser Wiederholungen. Indem Butler nicht nur die Geschlechtsidentität, sondern auch das Geschlecht mit den Normen ins Verhältnis setzt, stellt sie Körper nicht als eine passive Materie dar, die »vorgängig und außerhalb der kulturellen Normen liegt« (ebd., S. 22). Sie versteht unter dem Körper eine spezifische Materialität, die nicht nur verändert wird oder werden kann, sondern die selbst »verändernde Tätigkeit [ist]« (ebd., S. 344). Das Geschlecht existiert im und auf dem Körper nicht als ein Ursprung, der zeitlich vorgängig exakt feststellbar ist (vgl. Butler 1991, S. 60), sondern als ein aktiver und »aktueller Modus, vergangene und zukünftige kulturelle Normen zu organisieren« (ebd.). Dabei werden im sich materialisierenden Körper als einem politischen und kulturellen Ereignis die Geschichtlichkeit der regulierenden Normen und die subversive Möglichkeit der Zukunft vermischt. Aus räumlicher Perspektive wird betrachtet die Materialisierung als eine verändernde Tätigkeit, als das räumliche Ereignis, dessen eigene Geschichtlichkeit in Erscheinung tritt. Butler stellt dar, dass der Körper die verschiedenartigen Spuren der Verletzungen und der intersektionalen Gewalt behält, »daß >Materie selbst durch eine Reihe von Verletzungen begründet wurde<, die in der heutigen Berufung auf Materie unwissentlich wiederholt werden« (KG, S. 55). Daher lässt sich im Voraus sagen, dass allein durch die Enthüllung eines aus den Wirkungen der Normen verletzten Körpers dessen Narrativ offenbar wird - der Körper spricht bei Butler.
Ferner erweist sich der menschliche Körper selbst als eine Räumlichkeit der Matrix der Lebbarkeit, die auf die Verräumlichung einer Systematik von Normenbündeln hinweist. Einerseits teilt die Matrix der Lebbarkeit die Menschen räumlich ein. Sie funktioniert dabei als Schema von Ein- und Ausschließen und ihre Grenzen kommen als mehrdimensional zum Ausdruck.174 Die ständige Materialisierung des Körpers bedeutet, dass er gewissermaßen die Matrix der Lebbarkeit verkörpert und diese in und auf ihm inszeniert wird und fungiert. Körper und Matrix der Lebbarkeit sind jedoch nicht deckungsgleich, sie überlappen sich in chiastischer Weise. Durch die ständige Wechselwirkung von Regulierung und Verkörperung wirkt die Materialisierung des Menschen immer schon mit der Matrix der Lebbarkeit zusammen. Die Matrix der Lebbarkeit ist ebenso von den kollektiven Wiederholung der Menschen abhängig und nicht abgeschlossen, da alle Punkte, Strecken und Fugen der Matrix auf dem immer schon instabilen und normabhängigen menschlichen Körper beruhen.
Zwischen Phantasma und Fantasie
Zum Abschluss dieses Kapitels wird das bisher Dargestellte zusammengefasst: Aus Butlers dekonstruktivistischer Perspektive lässt sich festhalten, dass das Menschsein von Anfang an auf die Matrix der Lebbarkeit angewiesen ist, die vorgängig und äußerlich zu sein scheint. Die Matrix der Lebbarkeit, die einen diskursiv-produktiven und juridischen Charakter hat, erzeugt einerseits die menschliche Wirklichkeit, Intelligibilität und den materialisierenden Körper. Sie produziert und reguliert die lebbaren Formen des Menschen, ohne jedoch eine kausale Beziehung zum Produzierten aufzuzeigen und ohne auf einen legitimen Ursprung hinzuweisen (vgl. KG, S. 155, 156). Sowohl die Matrix der Lebbarkeit als auch ihre Effekte sind gemäß Butler nicht determiniert und beide können keine existenzielle Endgültigkeit besitzen. Ein Grund dafür leitet sich aus der Ambivalenz der Wiederholung her, die die Matrix der Lebbarkeit und die Formen der verschiedenen menschlichen Leben offenlässt. Andererseits ist anzumerken, dass Butler den Prozess des Menschwerdens mit dem notwendigen und konstitutiven Zwang verknüpft. Im selben Zuge der produktiven Wirkungsweise, die auf divergenten Diskursen beruht und gewisse Typen von Menschen als intelligibel bestimmt, reguliert und beschränkt die juridische Wirkungsweise die Möglichkeit vielfältiger anderer Formen des Lebens und sie werden als die Abweichenden produziert, als ob diese bestimmten Menschen im Kern keine Wirklichkeit erhalten würden. Diese Wechselseitigkeit der Matrix, das Leben zu produzieren und zu regulieren, kennzeichnet Butlers
Politiktheorie. Somit ist zu betonen, dass ein Unterschied zwischen Arendt und Butler im regulatorischen Moment besteht, insbesondere im butlerschen Begriff der Norm. Im Gegensatz zur arendtschen Definition, dass man als das Geborene zum politischen Subjekt wird, das sich durch unerwarteten Neuanfang entfaltet, wird Person bei Butler im und durch diesen Zwang - anders gesagt: durch diese unentwegte Unterwerfung - zum Subjekt der Macht. Diese Unterwerfung ist bei Butler weder willentlich noch innovativ. Sie ist vielmehr ritualisiert, aber nie fest determiniert.
Ausgehend von diesen einleitenden Verständnissen wird zuletzt die butlersche Dekonstruktion des Menschlichen thematisiert, um aufzuzeigen, inwiefern die Wirklichkeit des Menschen, produziert und reguliert durch die Matrix der Lebbarkeit, in der Spannung zwischen dem Phantasma und der Fantasie liegt. Butler erschüttert die Grenzziehung zwischen dem wirklichen, erkennbar gewordenen Körper und dessen Abweichung. Ist die Intelligibilität des Menschen, die auf die Matrix der Lebbarkeit angewiesen ist, >wirklich<? Wenn ja, dann in welchem Sinne? In Bezug auf die Intelligibilität bestehen zwei begriffliche Zusammenhänge zwischen Phantasma und Wirklichkeit sowie zwischen Fantasie und Wirklichkeit. Mit dem Phantasma ist zunächst eine fiktive Kohärenz des Menschen gemeint, die die Annahme eines inneren, wahren Kerns der Geschlechtsidentität oder einer inhärenten Grundlage der Subjektivität impliziert. Das Phantasma verweist somit auf eine Sichtweise, in der die Wirklichkeit des Menschen, geprägt durch die Wirkungen der Matrix der Lebbarkeit, wiederum auf einen bestimmten Essenzialismus zurückgeführt wird. Im Gegensatz zum Phantasma wird die Fantasie als das verstanden, was aus dem phantasmatischen Vorbild des Menschlichen ausgeschlossen bleibt und dennoch dessen Grundlage bildet. So manifestiert sich die Fantasie als das, »was das Mögliche in Überschreitung des Wirklichen etabliert« (MG, S. 343). Die Fantasie ist nicht bloß ein Tagtraum, sondern eng mit dem Kampf ums Überleben verbunden und kann einen Beitrag leisten, »uns selbst und andere auch anders vorzustellen« (ebd.). Als eine subversive Möglichkeit, anders zu sein, besitzt sie eine gewisse performative Materialität, insofern Fantasie »die Beziehungsgefüge [strukturieren] und bei der Stilisierung der Verkörperung ins Spiel [kommen kann]« (ebd., S. 344). Im Hinblick auf die immanente Dynamik der Matrix der Lebbarkeit, die kein absolutes Außen hat, wird das Verhältnis zwischen dem phantasmatischen Normalen, dem (An-)Erkennbaren, und dem Abweichenden ambivalent festgelegt. Insbesondere wenn das Menschsein ohne das Unmenschliche nicht als menschlich betrachtet werden kann, ist »das Unmenschliche nicht nur wesentlich für das Menschliche, sondern gehört zum Wesen des Menschlichen selbst« (TV, S. 60). Diese Umkehrung, die sich auf Butlers Konzept des konstitutiven Außen bezieht, macht die Gegenüberstellung von Wirklichkeit und Phantasma rätselhaft. Das Rätsel verknüpft sich mit der Frage nach der Wirklichkeit der >Wirklichkeit< und der Frage nach dem politischen Potenzial der Fantasie.
In der Oszillation zwischen Wirklichkeit, Phantasma und Fantasie offenbart sich die butlersche Ambivalenz der Dekonstruktion des Menschlichen. Das biologische Geschlecht ist eine Wirkung der Matrix der Lebbarkeit und als solche eine funktionierende Fiktion, als ob Gender als »ein Vorbild, den Individuen sich anzunähern« (MG, S. 84), betrachtet werden soll: Die Aneignung des 105
Geschlechts könnte und müsste zu einem bestimmten Zeitpunkt abgeschlossen sein (vgl. Butler 1991, S. 61) und es gäbe im räumlichen Sinne eine vorher festgelegte Position, bis zu der der Körper erreicht werden muss. Allerdings wird die Identifizierung Butler zufolge nicht als ein stabiler Status, sondern als ein nie vollständiger und nie abgeschossener Prozess definiert. Die Illusionen des >Originals< und der Substanz, »denen sich der Körper annähern muß, ohne sie jemals zu erreichen« (UG, S. 214), sind stets schon von den wiederholten Akten abhängig, und niemand kann die Normen der Geschlechtsidenität, durch die das Selbst konstituiert wird, vollständig verinnerlichen, um an der phantasmatischen Position vollkommen >anzukommen< (vgl. ebd., S. 207). Daher genügt es nicht zu behaupten, dass es diesen symbolischen Ort nicht gibt. Laut Butler ist die symbolische Position, der Ort der Wirklichkeit, vielmehr instabil und sozial veränderlich. Denn sollte es einen idealisierten Zielort geben, so kann dieser durch wiederholte kollektive Handlungen verschoben werden. Wenn die Erringung des Geschlechts und die Benennung trotzdem so stabil und festgelegt erscheinen mögen, sind dies die Verschleierungen und Wirkungen der Matrix auf der anderen Seite - eine davon ist die Wirklichkeit, die der Körper durch die Zusammenwirkung mit der Matrix der Lebbarkeit verkörpert, die Wirklichkeit, die in diesem Sinne eine phantasmatische Grundlage für die Subjektivation bietet.
Das Vorrecht der Wirklichkeit, ohne das man lediglich als Folie des Normalen behandelt wird, stellt eine Frage des Wissens und der Wahrheit dar - also eine Frage der Macht. Wenn die Macht als historisch kontingent bedingt angesehen wird, kann diese tatsächlich wirkende Gewalt der Wirklichkeit allerdings als grundlos betrachtet werden (vgl. MG, S. 340f.). Butlers Dekonstruktion des Menschlichen verdeutlicht, dass Menschen trotz der hartnäckigen Subjektivation und der ständigen Wiederholung in der Matrix der Lebbarkeit immer noch in Unsicherheit geraten. Die hergestellte und gelungene Wirklichkeit kann nicht nur in Gefahr gebracht werden, sondern der sogenannte Vorrecht-Habende bleibt auch unfähig, die Eigenständigkeit und Souveränität des Subjekts zu erreichen. Dies liegt daran, dass nach Butler alle Identifizierungen und Annahmen eines Platzes grundsätzlich durch verschiedenartige Verletzungen zustande kommen. Während dieses privilegierte Vorrecht auf Wirklichkeit als das trennende und einschränkende Prinzip fungiert, das diejenigen, die dieses Recht nicht besitzen, ins Außen verdrängt, destabilisiert die verworfene Möglichkeit eines anderen Lebens diese Wirklichkeit und das Phantasma. Denn die ausgeschlossene Fantasie ist die instabile Grundlage der phantasmatischen Realität des Menschen. Mit anderen Worten: In den Wirkungen der Matrix der Lebbarkeit ist die Bedingung der subversiven Möglichkeit mit der Gewalt von phantasmatischer Wirklichkeit verwoben. Inmitten der wechselseitigen Wirkung der Matrix der Lebbarkeit wird ein performativer Prozess in Gang gesetzt, der das unerwartete Scheitern erzeugt und die Matrix der Lebbarkeit demnach unabgeschlossen und kontingent macht. Die Fragen bleiben somit immer noch offen: Wer sind Menschen überhaupt und was ist das menschliche Leben überhaupt? Aber auch: Wie lässt sich eine andere Form des Lebens denken und erweitern?
3.2 Subjektivation: Das an Macht gebundene Subjekt
Einleitung: Das Konstituiertsein des Subjekts - ein Widerspruch?
Das Hauptanliegen dieses Kapitels besteht darin, zu erläutern, wie man in und durch die Matrix der Lebbarkeit zum Subjekt werden kann. Der Ansatz, dass Menschen durch die Matrix der Lebbarkeit als Subjekte hervorgebracht werden und auf sie grundlegend angewiesen sind, deutet nicht darauf hin, dass diese Matrix Subjektivation vollkommen beherrscht oder Subjekt determiniert. Butler konzeptualisiert den Prozess des Subjektwerdens weder ausschließlich passiv, noch verwirft sie den Subjektbegriff oder das Potenzial des Subjekts175 schlechthin, indem sie das Konstituiertsein und die performative Handlungsfähigkeit des Subjekts in ein paradoxes Verhältnis setzt. Macht176 benötigt ihre Subjekte, funktioniert jedoch nicht ohne diese. Subjekte offenbaren sich dabei als »Folgeerscheinung bestimmter regelgeleiteter Diskurse« (UG, S. 213) und sind Träger der Macht, die dennoch nicht als Ursprung der Macht festgelegt werden dürfen (vgl. PM, S. 188). Infolgedessen wird in Butlers Politiktheorie das ambivalente Verhältnis zwischen Unterwerfung, die sich aus orchestrierenden und regulierenden Strukturen ableitet, und Handlungsfähigkeit als zentraler Aspekt deutlich, denn »unterdrückt zu werden bedeutet immerhin, dass man bereits als ein irgendwie geartetes Subjekt existiert« (MG, S. 345). Diese Ambivalenz der Subjektivation lässt sich anhand von drei Merkmalen zusammenfassen, die das Verhältnis zwischen der Matrix der Lebbarkeit und den Subjekten prägen (vgl. UG, S. 210): Das Subjekt ist 1) auf die Wirkungen und Effekte der Matrix der Lebbarkeit angewiesen, die Angewiesenheit wird 2) abgelehnt und verschleiert, trotzdem ist es in ihr 3) verhaftet.
Unterwerfung: Angewiesenheit auf die Matrix
Das Konstituiertsein des Subjekts verweist darauf, dass das butlersche Subjekt durch spezifische Reglementierungsprinzipien hervorgebracht wird. Diese Dynamik verdeutlicht die grundsätzliche Angewiesenheit des Subjekts auf die Matrix der Lebbarkeit (vgl. PM, S. 81f.). Butler spricht nicht nur davon, dass »[k]ein Subjekt sein eigener Ausgangspunkt [ist]« (Butler 1993b, S. 41). Die Entstehung des Subjekts findet innerhalb der Wirkungen der das Leben ermöglichenden und bedrohenden Matrix statt, die als ontologische Bedingung für alle Menschen gilt und von niemandem selbst gewählt werden kann. Die Angewiesenheit, die das Subjekt mit der Matrix der Lebbarkeit verbindet, funktioniert dennoch weniger einseitig. Vielmehr ist sie als eine reziproke Abhängigkeit zu begreifen, die sich in der Ambivalenz der Subjektivation verbirgt. Diese Abhängigkeit tritt auf den ersten Blick als Unterwerfung des Subjekts auf, während diese Unterwerfung seitens der Matrix der Lebbarkeit auf ihre bestehende Existenz und ferner auf eine kontingente Veränderbarkeit hinweist.
Butler betrachtet die leidenschaftliche und gezwungene Unterwerfung oder dieses assujetissement nicht nur als bloße Unterordnung, sondern als »eine Sicherstellung und Verortung des Subjekts« (PM, S. 87). Bei Butler lässt sich die Vielschichtigkeit der Unterwerfung dahingehend ablesen, dass ihre Wirkungen nicht allein auf den Körper beschränkt sind. Um Butlers Auffassung der Subjektivation von der Foucaults zu differenzieren, entwickelt Butler parallel zur körperlichen Unterwerfung ihr eigenes Konzept der Psyche. Sie betont, dass die Psyche nicht genau verstanden wird, wenn sie entweder nur als Resultat sozialer Normen oder lediglich als Manifestation unabänderlicher, vorsozialer Triebe betrachtet wird (vgl. von Redecker 2011, S. 93). Butler bearbeitet stattdessen das Konzept der Psyche als jenes, das »auf jenen innerlichen Raum [verweist], der sich erst im Durchgang durch machtvolle Beziehungen bildet« (Quadflieg 2006, S. 118). In Bezug auf Aristoteles wird die Psyche als ein »machtgeladenes Schema« (PM, S. 87) betrachtet, das gleichermaßen zur Produktion und Verwirklichung des Körpers und des Subjekts dient (vgl. KG, S. 60; Bublitz 2010, S. 89). Die Psyche wird nun als eine Instanz definiert, die Macht annimmt, reflektiert und dabei unter der Wechselwirkung zwischen Diskursen und Normen sozial konstituiert wird. In diesem Sinne bezeichnet sie einerseits eine Form, die die Macht, »die zunächst von außen zu kommen und dem Subjekt aufgezwungen und es in die Unterwerfung zu treiben schien« (PM, S. 9), annimmt. Andererseits wird die Psyche als ein spezifisches Moment der Umkehr gegen sich selbst verstanden, insofern sie »Ort der Reflexivität unerlässlich für eine Kritik jener Machtbeziehungen scheint« (ebd.). Anders als bei Foucault, wo die Seele als ein formierendes Prinzip mit dem Symbolischen bei Lacan vergleichbar ist (vgl. ebd., S. 86), betont Butler, dass die Psyche nicht nur den Körper bildet und einschränkt, sondern auch selbst unterworfen wird und gewisse Verluste erlebt. Denn die Psyche, die in enger Verbindung mit der Welt sozialer Normen steht, entsteht durch die Verletzungen und Ausschließung bestimmter Möglichkeiten und als solche nimmt sie mit dem Körper Bezug, den Körper zu formieren. Die Verluste sind der Punkt, auf den sich die Psyche und die gesellschaftliche Matrix beziehen und der die Abhängigkeit als psychische Unterwerfung darstellt. Daraus argumentiert Butler gegen eine romantisierte Darstellung des Unbewussten als Quelle des Widerstandes, dass es keine Widerstandsmöglichkeit jenseits des Sozialen oder der symbolischen Ordnung gibt (vgl. Bublitz 2010, S. 88). Ausgehend von dieser Konzeptualisierung der Psyche legt sie - in diesem Fall mit Foucault übereinstimmend - fest, dass das Widerstandsvermögen auf derselben Ebene wie die Macht der Subjektivation verortet ist und nicht in einer anderen Dimension wie im Imaginären von Lacan.
Um die Dynamik der psychischen Unterwerfung zu verdeutlichen, kann Melancholie als ein Beispiel für Verlust, Verdrängung und Weigerung dienen, die mit den regulierenden Wirkungen der Matrix zusammenhängen. Nach Butler leiten sich »starre Formen der Geschlechtszugehörigkeit und der sexuellen Identifizierung - ob sie hetero- oder homosexuell177 ist - als Folgeformen aus der Melancholie ab (vgl. PM, S. 135). Im Zentrum der Annahme der Identifizierung liegt die tief reichende Verleugnung (vgl. ebd., S. 139), die ohne Unterwerfung gegen sich selbst nicht erklärt werden kann. Die Identität kann nur bestehen, wenn bestimmte Möglichkeiten ausgeschlossen werden - beispielsweise ist die Liebe des Mädchens zur Mutter ein Verhältnis, das überwunden werden soll: Ein kleines Mädchen soll seine Mutter als Liebesobjekt zweimal verleugnen, weil sie einerseits im Hinblick auf das Inzesttabu seine Mutter ist und andererseits dem gleichen Geschlecht angehört, sodass bereits das Verbot der Homosexualität greift. In der doppelten Verleugnung besteht ein Zusammenhang zwischen der Verleugnung und der Einverleibung des verlorenen Objekts, der einen wesentlichen Aspekt der Melancholie darstellt. Inmitten der heterosexuellen melancholischen Identifizierung gibt es eine Weigerung, das Gleichgeschlechtliche als Liebesobjekt zu betrauern (vgl. ebd., S. 138). Daraus folgt eine ironische Geschlechtszugehörigkeit, dass »die »eigentlich wahre< lesbische Melancholikerin die streng heterosexuelle Frau [ist] und der »eigentlich wahre< schwule Melancholiker der streng heterosexuelle Mann« (ebd.).178 Der unbetrauerbare Verlust bewährt und manifestiert sich schließlich im Selbst (vgl. ebd.). In diesem Sinne bedeutet Identifikation, sich mit dem verlorenen Objekt zu identifizieren. Die scheinbar natürliche heterosexuell-geschlechtliche Identität, die eine Grundlage des Ich darstellt, erweist sich bei Butler als ein Effekt der Psyche. Weigerung, Verlust und Verdrängung spielen in der Melancholie eine schmerzhafte, jedoch formende Rolle. Aus der psychischen Bewegung der Melancholie, dem nicht verwirklichten und nicht betrauerten Verlust, der deshalb das verbotene Begehren bewahrt, entsteht das geschlechtszugehörige Ich.
Die leidenschaftliche Angewiesenheit und die konstitutive Unterwerfung setzen sich des Weiteren in der sprachlichen Dimension fort, die als rituell, konventionell und wiederholt zu verstehen ist und deren konventionelles Ausmaß nie gänzlich kontrollierbar ist (vgl. HS, S. 47). Subjektivation findet dabei sprachlich statt, dass »das durch die Anrede des anderen konstituierte Subjekt zu einem Subjekt wird, das seinerseits andere ansprechen kann« (ebd.). Sprache verweist in diesem Zusammenhang weder allein auf ein »Ausdrucksinstrument« (ebd., S. 51) noch auf eine allmächtige göttliche Stimme, die »die Unterwerfung vollständig strukturiere und die Unterworfenen nach ihrem Ebenbild forme« (PM, S. 104; vgl. HS, 56f.). Stattdessen beschreibt Butler Sprache als »eine abgeleitete und deshalb notwendig un-total gedachte Macht« (Rose u. Koller 2012, S. 80), die als konstituierende und ontologische Bedingung des Subjekts fungiert. Zur Veranschaulichung dieser sprachlichen Konstituiertheit und Subjektivation führt Butler als Beispiel Althussers Anrufungsszene an, in der sich ein berühmtes Moment der Umwendung >He, Sie da!<179 von Polizisten inszeniert. Althusser stellt dabei die Interpellation als einen einseitigen Akt des Gesetzes dar, der zwar Angst erzwingt, den Adressierten jedoch zugleich gesellschaftliche Anerkennung verschafft (vgl. KG, S. 173).
Wenn Butler die Anrufung als die performative Wirkung der Sprache berücksichtigt, beginnt die erste Anrufungsszene nach ihr unter der Zwangsheterosexualität, etwa im Moment der Geburt, sobald das Neugeborene vom Arzt als Mädchen oder Junge bezeichnet wird. Diese vergeschlechtlichte Anrufung wiederholt sich im Alltag durch »verschiedensten Autoritäten und über diverse Zeitabschnitte hinweg [...], um die naturalisierte Wirkung zu verstärken oder anzufechten« (KG, S. 29). Lässt sich nach Butler dann nicht sagen, dass jede sprachliche Konstituiertheit, die auf der verletzenden Benennung und dem Hatespeech beruht, immer schon als eine Form der Unterwerfung fungiert? Subjektwerdung ist ohne sprachliche Unterwerfung nicht möglich, die »uns wenigstens irgendeine Form der gesellschaftlichen und diskursiven Existenz [bietet]« (HS, S. 48f.). Dies verweist auf die judirisch-prohibitive und produktive Funktion der Matrix der Lebbarkeit. Das durch die verletzende Anredesituation hervorgebrachte Subjekt zeigt sich deshalb immer noch als unsicher und prekär, weil ein Ich sein Handlungsvermögen als Herr des Sprechens nicht vollständig bestätigen kann (vgl. KG, S. 176). Gleichzeitig macht Butler deutlich, dass gerade die Abhängigkeit von verletzenden Benennungen es dem Subjekt ermöglicht, Sprache zu nutzen und um der verletzenden Benennung entgegenzutreten (vgl. HS, S. 10). So eröffnet diese sprachliche Form der Unterwerfung die Möglichkeit, sprachfähig, handlungsfähig und widerständig zu handeln.
Nicht nur bei Freud und Foucault, sondern auch bei Butler spielt die Unterwerfung des Körpers eine zentrale Rolle, um zum Subjekt zu werden.180 Nach seinem genealogischen Konzept der Macht lässt sich die Foucaultsche Vorstellung der Unterwerfung des Körpers grob in zwei Formen zusammenfassen - Disziplinarmacht und Bio-Macht. Die erste Vorstellung des durch Disziplin produzierten Körpers, der ausnutzbar, tauglich und im politischen Sinne unterworfen ist, verbindet sich mit dem modernen Vorbild des Bürgers und Arbeiters, nämlich einem Bild des Subjekts, das politisch gezähmt und gleichzeitig wirtschaftlich effizient ist (vgl. Foucault 1975, S. 177). Im Fokus der Biopolitik steht die Bio-Macht, die von der disziplinären Macht nicht sauber getrennt werden kann, sondern vielmehr mit ihr gemeinsam funktioniert, um »leben zu machen oder in den Tod zu stoßen« (Foucault 1977, S. 165). Im Vergleich zur Disziplinarmacht individualisiert und totalisiert Bio-Macht die Menschen, sie kontrolliert nämlich die Körper der Bevölkerung, sodass sich der größte Teil der Bevölkerung statistisch innerhalb der vielfachen und bestimmten Grade befindet (vgl. ebd., S. 166f.; Bublitz 2010, S. 64). Butler betrachtet zunächst Körper nicht allein als Materie.181 Sie argumentiert, dass die Materie nicht jenseits der phallogozentristischen Bedeutungs-Ökonomie existiert und ebenso nicht rein die Grundlage dieser BedeutungsÖkonomie ist. Ihre Parallelisierung zwischen Aristoteles und Foucault führt zu dem Verständnis, dass Materie oder Materialität der Materie gemäß dem bestimmten Raster der Macht in Erscheinung treten kann. Obwohl Aristoteles die Konstitution des Körpers aus der teleologischen Perspektive erläutert, schlägt Butler die Lesart vor, dass das Schema von Aristoteles als ein Prinzip den Körper formt und ferner ihm Intelligibilität verleihen kann (vgl. KG, S. 59f.). Sie verbindet dieses Verständnis des Schemas von Aristoteles mit der Subjektivation bei Foucault. Bei Foucault wird die Seele des Gefangenen durch die spezifische Unterwerfung seines Körpers geformt (vgl. ebd., S. 60ff.).
Ein Differenzierungspunkt zwischen Butler und Foucault weist darauf hin, dass Letzterer mitunter den Körper als einen - passiven - Gegenstand der Macht betrachtet und somit der Körper gewissermaßen außerhalb der genealogischen Machtwirkung liegt oder allein ein Effekt oder eine Folge der Macht bleibt (vgl. PM, S. 86; UG, S. 193 usw.). Daran kritisiert Butler, dass Foucault die Gefängnismetapher in Überwachen und Strafen mit der Körperunterwerfung in der Subjektivation zu direkt verbinde: »Bei Foucault werden die Gefangenen zu schnell und zu vollständig durch das Gefängnis als Gefangene konstituiert« (Butler 2001b, S. 590). Der durch die Seele eingerahmte Körper erscheint nach Foucault somit gewissermaßen als ein Gegensatz des Subjekts. Insbesondere im Hinblick auf die Disziplinarmacht dringt die Macht in den Körper des Gefangenen ein und der Körper wird in der Invasion der Macht inhaftiert. Wenn Foucault manchmal »einen Körper, der Schauplatz der Besetzung [von der Macht: Choi] ist« (PM, S. 86), voraussetzt, stellt das Subjekt zuletzt den Preis dieser Besetzung dar (vgl. ebd., S. 88). Butlers Kritik zeigt, dass die sich ständig wiederholende Materialisierung des Körpers nicht den als oberflächliche Materie aufgefassten Körper erklären kann, in dessen zerstörerische Formierung das Subjekt eintritt.182
Andererseits entwickelt Butler ihre Subjektivationstheorie mit Foucaults Nietzsche-Rezeption weiter. Wenn die unterwerfende Macht nicht im Inneren des Körpers verinnerlicht wird, sondern sich den Körper einverleibt und einschreibt und deswegen die Macht der Unterwerfung auf und durch den Körper bezeichnet wird (vgl. UG, S. 198), ist dieser die einrahmende Seele und das unterwerfende Gesetz annehmende Körper nach Butler nichts anderes als der Körper, der sich materialisiert und dadurch versucht, um seiner selbst willen gesellschaftlich anerkannt zu werden. Durch die Unterwerfung gewinnt der Körper die soziale Intelligibilität, aber diese Annahme der Intelligibilität setzt eine bestimmte Verdrängung voraus, die nach der Zwangsheterosexualität fungiert wird. Wenn man bedenkt, dass Butlers Subjektivation sich zum Teil mit der Materialisierung des Körpers und der geschlechtlichen Identifizierung des Individuums verbindet, stellt der Prozess der Vergeschlechtlichung subjektbildende, ständige und vorbestimmte Differenzierungsakte dar, die als »[d]ie Wahl, eine bestimmte Art des Körpers anzunehmen, seinen Körper in einer bestimmten Weise zu leben oder zu tragen, eine Welt von bereits etablierten Körperstilen [implizieren]« (Butler 1991, S. 61). Diese Gewalt der Intelligibilität bedeutet wiederum, wie im Kapitel 3.1 dargestellt wurde, dass die Demarkation des Körpers aus dem Zusammenwirken der generativen und juridischen Wirkungsweisen der Matrix der Lebbarkeit hervorgebracht wird (vgl. UG, S. 212).183 Der Körper wird signifiziert, verkörpert und materialisiert, während er unterworfen wird, d. h., der Körper, der als Bezeichnungspraxis im Verhältnis von Intelligibilität und Anerkennung des Menschen besteht, ist auf die Matrix der Lebbarkeit angewiesen.
Subjekt als Umkehrung der Macht
In ihrem Werk Psyche der Macht hebt Butler hervor, dass die Subjektivation einen Widerspruch darstellt, in dem Unterwerfung und >zugleich< Subjektwerdung stattfinden. Subjektivation geht dabei von der notwendigen und grundlegenden Angewiesenheit auf das Soziale, die anderen und auf die Matrix der Lebbarkeit aus. Im Folgenden wird die Verleugnung dieser Angewiesenheit behandelt, welche in Butlers Ansatz als Illusion der Autonomie des Subjekts erscheint - die Illusion, die »den Bruch, aus dem sich [das Subjekt] konstituiert, verdeckt« (Butler 1993b, S. 44). Wenn die Souveränität des Subjekts und seine Handlungsfähigkeit aus der Verleugnung dieser vorgängigen und konstituierenden Abhängigkeit folgen, stellt sich die Frage, ob sich diese
Verleugnung als eine Handlung des Subjekts betrachten lässt? Wie lässt sich Butlers Begriff der Subjektivation dank der Verleugnung der Abhängigkeit nicht als zweiteiliger bzw. zweistufiger Prozess verstehen, in dem ein Wendepunkt zwischen Unterwerfung >und< Handlungsfähigkeit des Subjekts liegt? Wie lässt sich dieses ambivalente Zusammenspiel erklären, bei dem das Subjekt nicht erst nach der Verleugnung Handlungsmacht besitzt, sondern trotz - oder gerade wegen - seiner Abhängigkeit und Unterwerfung handlungsfähig bleibt? Die so verstandene Handlungsfähigkeit bietet einen wichtigen Ansatzpunkt für die Konzeptualisierung der Immobilität. Denn die politische Potentialität der Immobilität liegt nicht in Flexivität, Verfügbarkeit oder autonomer Souveränität, sondern darin, Handlungsfähigkeit innerhalb bzw. mit der Relationalität, Abhängigkeit und Passivität neu zu denken.
Zur Beantwortung dieser Fragen wird nun die Verleugnung der Angewiesenheit als eine Umkehrung sowie Verschleierung von Macht dargestellt. Sie verweist auf die entscheidende Drehung der Macht, die nach Butler als formativ und konstitutiv verstanden wird. Butler behauptet nicht, dass Subjekt durch die Unterwerfung handlungsfähig wird oder durch bestimmte Unterwerfungsprozesse entsteht. Wird die ursprüngliche Unterwerfung als Voraussetzung für Handlungsfähigkeit angesehen, tritt nun die Gefahr des Determinismus auf (vgl. Butler 1993b, S. 44). Butler setzt Unterwerfung nicht mit den Kosten für die souveräne Subjektivität gleich, die auf die instrumentelle Ausübung von Macht gegen andere hinweist (vgl. HS, S. 218f.). Vielmehr versteht sie Unterwerfung als den »Preis der Existenz« (PM, S. 25), insofern das menschliche Leben durch die Unterwerfung als die bestimmte Wiederholung zum Ausdruck kommt. Das butlersche Subjekt wird so im phänomenologischen Sinne als eine spezifische Erscheinungsform der Macht verstanden - also als »Subjekt >der< Macht (wobei der Genitiv sowohl die >Zugehörigkeit< zur Macht wie die >Ausübung< der Macht bezeichnet)« (PM, S. 18). Es tritt als der Punkt der Transformation der Macht auf, insofern »es Macht mit Macht [verschleiert]« (ebd.). In diesem Sinne ist die Handlungsfähigkeit Butler gemäß »kein spezifisches Charakteristikum des Subjekts, kein inhärenter Wille oder eine Freiheit [...], sondern ein Machteffekt« (HS, S. 218). Diese Umkehrung von der unterwerfenden und regulierenden Macht zur Macht, die vom Subjekt ausgeübt wird, manifestiert sich als das Zusammenwirken mit der Matrix der Lebbarkeit, innerhalb derer die produktive, die juridische und die regulierende Wirkungsweise nicht als völlig getrennt betrachtet werden sollen.
Obzwar sich die Verleugnung der konstitutiven Abhängigkeit als eine Umkehrung der Macht weniger als eine Handlung des Subjekts versteht, bleiben noch einige Fragen: Woher kommt die reflexive und vom Subjekt ausgeübte Macht? Wie kann man ohne Voraussetzung eines (schon konstituierten) Subjekts diese Umkehrung der Macht erklären? Butlers Subjektivation ist deshalb ambivalent, weil sie einen Prozess bezeichnet, in dem grundlegende und zwangsläufige Angewiesenheit und Verleugnung dieser Angewiesenheit koexistieren, wodurch man unterworfen und zugleich lebens- und handlungsfähig werden kann. Insofern die Macht nach Butler eine doppelte Bedeutung hat, und zwar die das Subjekt herstellende Macht und die vom Subjekt ausgeübte Macht, taucht innerhalb der Umkehrung der Macht eine zeitliche Ambivalenz auf: »Als Bedingung geht die Macht dem Subjekt vorher. Wird die Macht jedoch vom Subjekt ausgeübt, verliert sie den Anschein ihrer Ursprünglichkeit« (PM, S. 18). Die das Subjekt bildende Macht kann dann zustande kommen, wenn sie die Wirkung des Subjekts >ist<. Macht verliert ihre Priorität, doch Butlers Betonung liegt genau darauf, dass Macht nur dann als eine Bedingung ermöglichen oder bewirken kann, wenn sie >präsent wird<. In diesem Sinne ist bei Butler das Subjekt eine Präsenzform der Macht und ein Wiederholungspunkt der Macht. Diese zeitgebrochenen Machtwirkungen sind nur dadurch möglich, dass die Wiederholungen von Subjekten durchgeführt werden, d. h. das Subjekt »immer wieder neu unterworfen (subjected) und produziert [wird]« (Butler 1993b, S. 45). Diese Umkehrung der Macht, ihr Präsent-Werden, weist darauf hin, dass weder die Gewalt der Nomen, die Wirkung der das Subjekt hervorbringenden Macht, verschwindet, noch ein Subjekt sich vollständig selbst konstituieren kann. Durch die Wiederholung und unendliche Subjektivation können die Macht, die das Subjekt hervorbringt, und die vom Subjekt ausgeübte Macht als Handlungsfähigkeit chiastisch zusammentreffen.
Dass die Verleugnung der Abhängigkeit in der Tat durch die Umkehrung der Macht ermöglicht wird, deutet nicht darauf hin, dass Butler den Subjektbegriff ablehnt. Irgendwie und irgendwann kann man nach Butler in der Unterwerfung zum Subjekt werden. Wovon sie spricht, ist vielmehr, dass ein autonomes und kohärentes Subjekt ein Phantasma ist, das aus der Verleugnung der Abhängigkeit von der Matrix der Lebbarkeit folgt (vgl. Hark u. Meißner 2019, S. 234). Daher erweist sich Selbstverständlichkeit oder Autonomie des Subjekts nach Butler bereits als der Effekt und die Wirkung der Normen, die Menschen zum Leben machen und bestimmte Formen des Lebens bedrohen. Die Tatsache, dass man verleugnen kann, worauf man selbst angewiesen ist, zeigt nach Butlers Verständnis, dass sich der Mensch innerhalb der Matrix subjektiviert. Nochmals gesagt: Obgleich die Verschleierung der Macht, d. h. eine Umkehrung von der Subjekt herstellenden und unterwerfenden Macht zu der vom Subjekt ausgeübten Macht, als eine Verleugnung der Angewiesenheit auf das Subjekt erscheint, ist dies bereits eine Wirkung der Subjektivation in der Matrix der Lebbarkeit.
Trotzdem: Verstricktheit mit der Matrix
Dass sich die Machtbewegung in der Subjektivation als Umkehrung der Macht erklären lässt, weist darauf hin, dass die vom Subjekt ausgeübte Macht und das handlungsfähige Subjekt nach Butler immer noch in der Matrix der Lebbarkeit verbleiben und nicht darüber hinausgehen. Das dritte Kennzeichen des ambivalenten Verhältnisses zwischen der Subjektivation und der Matrix der Lebbarkeit besteht somit im leidenschaftlichen Verhaftetsein in der Unterwerfung (vgl. PM, S. 36; Quadflieg 2006, S. 118). Die Subjektivation bedeutet stets schon die chiastische Gleichzeitigkeit von Unterworfensein und Handlungsfähigwerden. Denn die Angewiesenheit, die Verschleierung der Macht und die Verhaftung, die als drei Eigenschaften der Subjektivation miteinander zusammenhängen, geschehen nicht immer zeitlich oder kausal nacheinander. Die Prozessualität der Subjektivation heißt also nicht, dass z. B. die Subjektivation zunächst mit der Angewiesenheit beginnt und schließlich mit dem Verhaftetsein endet (vgl. UG, S. 60).184 Im Anschluss an Foucault stellt Butler die Subjektivation nicht einfach als Befreiung von der Unterwerfung fest (vgl. ebd., S. 36). Sie fasst das leidenschaftliche Verstricktsein nicht als eine Restriktion der Handlungsfähigkeit, sondern vielmehr als eine Bedingung der Handlungsfähigkeit und Widerstandsmöglichkeit auf. Der Begriff des Handelns und die damit verwandten Begriffe Handlungsfähigkeit, Wiederholung, Performativität und Iterabilität, auf die im nächsten Kapitel eingegangen wird, werden in Butlers Politiktheorie weder deckungsgleich noch linear verbunden. Dennoch sind sie alle, insbesondere die Handlungsfähigkeit und die subversive Widerstandsfähigkeit, in der Matrix der Lebbarkeit verankert und inmitten des beharrlichen Verhaftetseins liegt die Wiederholung, die der Leitbegriff von Judith Butler ist.
Indem Butler ein hartnäckiges Verhaftetsein mit der Unterwerfung behauptet, setzt sie sich mit der Position Foucaults auseinander. In gewissem Sinne lässt sich Butlers Bemühung so zusammenfassen, die foucaultsche Idee, dass Unterwerfung und Widerstand auf derselben Ebene der Macht liegen (vgl. PM, S. 94), durch und durch - mehr als er selbst - herauszustellen und zu radikalisieren. Butler nimmt Foucaults These insofern an, als »Widerstand somit als Wirkung der Macht, als Teil der Macht, als ihre Selbstsubversion [erscheint]« (ebd., S. 89). Allerdings stellt sie die Frage, ob Foucault möglicherweise zu schnell davon ausgeht, dass die Widerstandsmöglichkeit sich in der Mobilisierung der Gegendiskurse befinden kann oder es die Möglichkeit der Subversion in der Komplexität der Diskurse gibt. Die Wirkungen der Normen werden nicht als eine Art diskursiver Machtwirkungsweisen betrachtet, sondern als staatsgebundene und liberale Machtwirkungen bezeichnet, die sowohl das Individuum als auch die Bevölkerung regulieren und totalisieren können. Somit zieht Butler »Foucaults Aufruf zur >Verweigerung< dieser [gewordenen: Choi] Identitäten« (ebd., S. 97) kritisch in Betracht. Sie ist vielmehr der Ansicht, dass »[w]ir unsere Identitäten, wie sie nun einmal geworden sind, [weder: Choi] einfach abwerfen« (ebd.) noch in einer einfachen Überschreitung neue Subjektivität neue Lebensformen schaffen können (vgl. Butler 2003, S. 67).
Aus der butlerschen Betonung eines leidenschaftlichen Verhaftetseins in der Unterwerfung wird der Gedanke der Immobilität abgeleitet, die niemals mit dem politischen Pessimismus gleichgesetzt wird. Der Begriff Immobilität geht davon aus, dass wir alle akzeptieren müssen, dass niemand so schnell dem nicht selten gewaltsam bestehenden Etwas entfliehen kann, das unser Überleben umfasst und das wir demnach »nicht >nicht< wollen können« (ME, S. 110f.). Das Verhaftetsein bildet die verletzenden Bedingungen des Lebens, die Menschen als soziale Menschen konstituieren. Nach Butler kann die Identität, die in und durch die Matrix der Lebbarkeit zwangsweise konstituiert wird, höchstwahrscheinlich gebrochen, schmerzhaft, nicht geeignet oder sogar fehlgeschlagen sein, dennoch kann man durch diesen verletzenden Namen ein soziales Dasein gewinnen (vgl. PM, S. 99). Die Ambivalenz der Subjektivation, die darauf hinweist, dass man unterworfen und zugleich existenzfähig und handlungsfähig wird, transformiert sich in die Ambivalenz der Gleichzeitigkeit von Handlungsfähigkeit und Widerstand. Im Hinblick auf die Konzeptualisierung der Immobilität ist noch wichtiger, dass wir sogar von diesen verletzenden Bedingungen besetzt sind und sein müssen (vgl. ebd.). Immobilität weist auf ein spezifisches Moment der Sättigung von Macht hin, in dem man sich dadurch inszenieren kann, dass man von der Macht gefangen und gezwungen wird. Wenn ein >Ich< sich in den gewaltsamen Bedingungen befindet, die ein Ich als soziales Wesen konstituieren, die jedoch nicht >Ich< sind und doch es verkörpern, kann das >Ich< versuchen, gegen solche Bedingungen zu kämpfen und andere subversive Möglichkeiten vorzustellen. Die subversive Möglichkeit entspringt nicht vom Außen (vgl. UG, S. 213, 216), sondern sie kann aus diesen schmerzhaften und immobilen Bedingungen entstehen. Daher lässt sich Immobilität als eine Widerstandsmöglichkeit betrachten, dass die performative Gegenmacht aus der bestimmten passiven Bedingung, aus der Sättigung der Macht resultieren kann, insoweit das Besetztsein von der Macht mit einer anderen, unerwarteten Facette der Wiederholung der Subjekte verbunden ist.
Butlers Subjekt konstituiert sich in und durch die Matrix der Lebbarkeit, auf die es angewiesen ist, deren Wirkung das Subjekt zu verschleiern scheint und in der es trotzdem gefangen ist. Diese drei Momente der Subjektivation gehen nicht nacheinander vonstatten, sondern bilden eine Ambivalenz der Subjektivation, in der sie miteinander zusammenhängen, einander aufheben und zugleich bewahren. Im Parallel dazu, dass ohne oder jenseits der funktionierenden Matrix der Lebbarkeit das butlersche Subjekt nicht denkbar ist, können ohne die Wiederholung, Materialisierung und Verkörperung des Subjekts die Matrix der Lebbarkeit nicht existieren. Das Subjekt, das »[i]n die Machtbeziehungen >einbezogen< oder verwickelt zu sein, ja, im Grunde genommen von den Machtbeziehungen befähigt zu sein [ist]« (KG, S. 175), wird nach Butler dennoch nicht durch die Matrix der Lebbarkeit determiniert. Wie Butler betont, ist die andere Seite der Konstruktion die Inszenierung des Subjekts (vgl. UG, S. 57). Subjekt ist in diesem Sinne der Knotenpunkt der Matrix der Lebbarkeit und ein Name der Ambivalenz der Macht. Diese Überlegungen lenken den Fokus auf die Frage, wie Butlers Subjekt handeln und anders wiederholen kann. Kann man Wiederholung als konforme Handlungen von der Performativität und Widerstandsmöglichkeit bei Butler unterscheiden? Ist das die Matrix der Lebbarkeit verändernde Subjekt nicht souverän und autonom? Die Ambivalenz der Subjektivation, unterworfen und zugleich handlungsfähig zu werden, entpuppt sich nun als Geheimnis der Wiederholung des Subjekts. Diese Frage wird im folgenden Kapitel näher betrachtet.
3.3 Subjektivität, Handlungsfähigkeit und Performativität
Einleitung: Performativität in der Spannung
Sowohl die Subjektivation als auch die Handlungsfähigkeit können unter dem Begriff der Performativität zusammengefasst werden. Performativität versteht sich einleitend als ein Vermögen, das durch Sprechen »das, was sie benennt, hervorruft oder in Szene setzt« (SL, S. 123f.). Mithilfe des Begriffs der Performativität stellt Butler eine neue Vorstellung des Subjekts heraus. In ihren Auseinandersetzungen mit Feministinnen in den 1990er Jahren distanzierte sie sich von zwei Annahmen: zum einen davon, »daß die Handlungsmöglichkeit sich nur durch den Rückgriff auf ein vordiskursives >Ich< begründen läßt« (UG, S. 210), und zum anderen davon, »daß konstituiert sein dasselbe bedeutet wie durch den Diskurs determiniert sein, wobei dieses Determinieren die Möglichkeit zu handeln verhindert« (ebd.).185 Butler betrachtet Performativität als die spezifische Handlungsfähigkeit des Subjekts, das von Beginn an in und durch die Machtwirkungen konstruiert wird, ohne dabei vollständig determiniert zu sein. Inmitten dieser Ambivalenz liegt Wiederholung, die Abweichungen und Lücken zwischen den herrschenden Normen erzeugt. Im Anschluss an Derridas Iterabilität begreift Butler dabei Performativität als einen ständigen Wiederholungsprozess, der sowohl die Subjektivation - die weder als einzelner Akt noch als kausales Ergebnis betrachtet wird (vgl. KG, S. 32) - als auch die Matrix der Lebbarkeit als die Struktur der Konstruktion ermöglicht.
Im Verlauf dieses Kapitels wird erläutert, dass sich in Butlers Politiktheorie die Performativität, die weder als determiniert noch als autonom betrachtet wird, als eine verletzbare und subversive Form der Handlungsfähigkeit erweist. Zunächst wird untersucht, wie ein Subjekt in Verbindung mit der Sprache performativ entstehen kann. Butler begreift Subjektivation als das Unterworfenwerden durch implizite und explizite Normen, »die das Sprechen beherrschen, das als Sprechen eines Subjekt lesbar wird« (HS, S. 208). Subjektivation hängt demnach von vornherein von der Regulierung des Sagbaren ab, insbesondere von der »Regulierung des gesellschaftlichen Bereichs des sagbaren Diskurses« (ebd.), die zugleich »das Unsagbare als die Bedingung der Subjektbildung [schafft]« (ebd., S. 211). Im Anschluss an Bourdieu und Derrida wird die Bedeutung der Wiederholung untersucht, die performativ fungiert und eine Spannung zwischen einem weder souveränen noch determinierten Subjekt aufrechterhält. Zudem wird analysiert, wie diese Wiederholung mit dem Körper in Beziehung steht. Im abschließenden Teil dieses Kapitels wird die Entunterwerfung als ein wichtiges Beispiel der Ambivalenz der Performativität thematisiert. Die unterwerfende Macht und die vom Subjekt ausgeübte Macht stehen in einer chiastischen Beziehung, in der beide Mächte »[s]tets schon im anderen mitenthalten, immer schon über das andere hinaus schießend« (KG, S. 105) sind, jedoch nie vollständig übereinstimmen. Butler bietet mit dieser Perspektive einen Ansatz, wie sich im performativen Sinne die Handlungsfähigkeit verstehen lässt, die durch die vorgängige Wirksamkeit der Macht nicht abschließend begrenzt wird (vgl. PM, S. 20). Das performative Subjekt wird dabei als ein Überschuss der Macht dargestellt, das zugleich »die Ambivalenz seiner eigenen Konstitution nicht ersticken kann« (ebd., S. 22). Diese Perspektive eröffnet einen Zugang zu einem Subjektbegriff, der die performative Wiederholung weder als selbstschaffend noch als autonom begreift, sondern sie stets als verletzbar anerkennt, auch im Widerstand.
Das Performative und die Sprache
Wie Butler in einem kurzen Text namens Für ein sorgfältiges Lesen deutlich sagt, beginnt ihr Argument um die Performativität mit Derrida und der Sprechakttheorie von John L. Austin, insbesondere mit seiner Unterscheidung zwischen >illokutionären< und >perlokutionären< Sprechakten: »Die ersteren tun das, was sie sagen, indem sie es sagen, und zwar im gleichen Augenblick. Die zweite Kategorie umfaßt Sprechakte, die bestimmte Effekte bzw. Wirkungen als Folgeerscheinungen hervorrufen: Daraus, daß sie etwas sagen, folgt ein bestimmter Effekt« (HS, S. 11). Die Performativität beruht auf der »konstitutive[n] und produktive[n] Macht der Rede« (SL, S. 124). Bei Butler ist Sprache nicht bloße Ausdrucksform, sondern die Bedingung der Möglichkeit des Subjekts und »ein Name für unser Tun« (HS, S. 19f.). Butler argumentiert, dass, »[w]enn hate speech in illokutionärer Form handelt, indem sie im und durch den Augenblick des Sprechens verletzt« (HS, S. 44), das Subjekt durch den verletzenden, anrufenden Sprechakt hervorgebracht wird (vgl. ebd., S. 48).
Um die mit Austin konzipierte Performativität bei Butler zu verstehen, ist eingangs zu bemerken, dass diese Performativität nicht von dem hinter der Tat stehenden und unabhängigen Subjekt ausgeübt wird. Butler schreibt die Sprechakttheorie Austins um, in gewissem Sinne um die Ambivalenz der Performativität zu intensivieren: die Ambivalenz zwischen der Angewiesenheit des Sprechakts auf die Konventionen, wobei Butler darauf abzielt, von dieser Angewieseheit auf Konventionen hin zur Angewieseheit auf das Machtfeld der Diskurse zu verschieben, und dem Nichtdeterminiertwerden der Performativität, das dennoch nicht als Souveränität des Performativen verstanden werden soll. Einerseits macht Butler darauf aufmerksam, dass durch die Sprechakttheorie Austins die performative Kraft des Sprechens vom Willen des Sprechers getrennt werden kann (vgl. ebd., S. 45). Nach Austin entsteht die performative Kraft der Äußerung aus einer legitimen Kombination, die sich durch den als Autorität habend vorausgesetzten Sprecher und angemessene Konventionen bildet. Indem Austins »illokutionärer Sprechakt durch seine konventionale, d. h. >rituelle< oder >zeremonielle< Dimension bedingt ist« (ebd., S. 46), stellt Butler fest, dass »[d]as Austinsche Subjekt konventional [spricht], d. h. mit einer Stimme, die niemals völlig einzigartig ist« (ebd., S. 47). Austins Sprechakt bietet in diesem Sinne eine Möglichkeit an, die Performativität zu verstehen, durch deren sprachlichen Handlung etwas zutage treten kann, die jedoch nicht von einem nach seinem freien Willen handelnden Subjekt ausgeht. Andererseits differenziert Butler ihren Performativitätsbegriff von der Sprechakttheorie Austins, indem sie die Unkontrollierbarkeit oder Unverfügbarkeit der Redesituation infrage stellt (vgl. Krämer 2001, S. 242).186 Wie kann der Sprecher davon überzeugen, dass seine Intention der Äußerung und die Konvention miteinander in Übereinstimmung stehen? Hier birgt sich die Gefahr, dass die Souveränität auf den Sprecher zurückkommen kann und daher der Eindruck entsteht, dass der Sprecher mit unbestrittener Macht spreche (vgl. HS, S. 80), da er unmittelbar einen bestimmten Effekt hervorbringt, sofern für die geäußerte Erklärung die richtige Konvention in der passenden Redesituation zitiert wird. Schließlich wird die Performativität allein auf die Handlungsfähigkeit des autonomen Subjekts reduziert, obwohl sich der Effekt des Sprechaktes nicht aus seiner Autorität ergibt.
Butler kritisiert die Relevanz der Konvention in der Sprechakttheorie Austins deshalb, weil die Instabilität und Beweglichkeit der Normen übersehen werden. Dies führt dazu, dass die rituelle Iteration nicht bis zum Begriff der Iterabilität herangezogen werden kann. Wie lässt sich die spezifische Angewiesenheit des Sprechaktes auf die Normen und Diskurse und das trotzige Nichtdeterminiertwerden der Performativität zugleich argumentieren? Eine mögliche Antwort findet sich in Butlers Revision der Anrufungsszene Althussers >He, Sie da!<, in der der Angesprochene durch die Interpellation mit dem Gesetz verbunden wird. Unter der Anrufung versteht Butler zunächst einen inaugurativen Sprechakt, der in juridischer und sozialer Weise ein Subjekt formiert (vgl. KG, S. 173). Nach Althusser konstituiert Ideologie die Subjekte »kraft der ideologischen Staatsapparate (wie Kirche, Familie, Polizei, Schule, Medien, politische Partei usw.) und ihrer autorisierten Sprecher (wie Pfarrer, Richter, Polizist, Lehrer usw.)« (Balzer 2014, S. 443f.). Dabei wird die Anrufung als ein Sprechakt verstanden, der die Individuen in den unterworfenen Status des Subjekts [einweist]« (KG, S. 173), also »durch den Individuen zu Subjekten (gemacht) werden« (Balzer 2014, S. 444).
In der Anrufungsszene verschiebt sich die Frage nach den Konventionen, von denen der Sprechakt abhängig ist und von denen ausgehend der souveräne Charakter bei Austins Sprechakt bleibt, auf die ideologische Stimme (vgl. HS, S. 56). In der Anrufung, wie etwa dem Ruf des Polizisten >He, Sie da!<, sieht Butler zunächst eine formative Benennung.187 Nach Butler wird diese Anrufung als ein Angst erzwingender einseitiger Akt betrachtet, dessen Preis die Anerkennung ist (vgl. KG, S. 173). Als die Stimme des Gesetzes verleiht Anrufung dem Adressaten eine »Fremdzuschreibung« (Balzer 2014, S. 444), diese göttliche Anrede zieht nach sich Verletzung, dass der Adressat seinen sprachlichen Kontext und seine Selbstkontrolle verliert (vgl. HS, S. 13). Das Angesprochenwerden und die verletzende Fremdzuschreibung weisen bei Butler auf die Unterwerfung der Subjektivation hin, mit der die Handlungsfähigkeit des Subjekts einhergeht.
Jedoch bleibt bei Butler etwas unklar, was durch Althussers Konzept der Anrufung nicht ausreichend erklärt wird: Butler hinterfragt die Anrufungsszene Althussers, insofern die schöpferische Stimme der Anrufung, die den geäußerten Effekt erschafft, als souveräne Macht zu funktionieren scheint, die sich von der Wirkung des Diskurses von Foucault unterscheidet (vgl. ebd., S. 57). Die Kraft der verletzenden Anrede wirkt unabhängig von einzelnem sprechenden Subjekt und über einen den Augenblick der Äußerung hinaus. Die göttliche oder schöpferische Stimmte in der Anrufungsszene ist bei Butler als ein Sprechakt des Zitats zu verstehen (vgl. ebd., S. 58). Die souveräne Macht der Interpellation beruht tatsächlich auf den Konventionen und sozialen Ordnungen, die dem angerufenen Subjekt strukturell vorausgehen. Die Anrufung zitiert sie und »schreibt dies - auch gegen den Willen der betreffenden Person - in das Individuum ein« (Bublitz 2010, S. 34). Aus dieser Perspektive eröffnet Butler eine Möglichkeit, wie sich Althussers Anrufung als Sprechakt verstehen lässt - in einer Weise, die vielleicht mit Austins und
Althussers Ansicht nicht übereinstimmt. Im Vergleich zu Austins auf Konvention angewiesenem rituellem, aber nicht entsouverän betrachtetem Sprechakt ist zu bemerken, dass Butlers Überarbeitung der Anrufung die wechselseitige, dynamische Performativität der Subjektivation im Vordergrund steht. Mit der Anrufung meint Althusser nicht die Möglichkeit, dass durch den Ungehorsam, den ein solches anrufendes Gesetz hervorbringen kann, das Gesetz »nicht nur abgelehnt werden, sondern auch aufgesprengt, in eine Neuformulierung hineingezwungen werden [kann]« (KG, S. 174). Bei Butlers Sprechakt gibt es eine Handlung, »ohne unbedingt effektiv zu sein« (HS, S. 33), und es ist »nicht immer ein effektiver Akt« (ebd.). Es gibt nicht den beliebigen und episodischen Fall der Anrufung, der die Gefahr des Scheiterns in Kauf nimmt. Butler stellt vielmehr in der Anrufungsszene heraus, dass »[d]ie Anrufung eine Anrede [ist], die ihr Ziel regelmäßig verfehlt« (ebd., S. 59). Die nach Butler als intersubjektive Struktur der Anrede erarbeitete Anrufung weist trotz bzw. gerade wegen ihres Verfehlens auf einen performativen Sprechakt hin, »ein Subjekt in der Unterwerfung zu zeigen« (ebd.), also die Unterwerfung, in der das Angesprochenwerden mit der Fähigkeit, andere anzureden, einhergeht (vgl. ebd.). Eine Person kann sich umdrehen, »um gegen den Namen zu protestieren, den man ihr zugerufen hat« (ebd., S. 58f.), sie kann andere anreden: »>Das bin ich nicht, das muß ein Irrtum sein!<« (ebd.). In diesem Sinne markiert die Existenz dieses Ichs bereits ein Scheitern der göttlichen illokutionären Stimme, das dennoch in dieser bleibt (vgl. AV, S. 23). Die Tatsache, dass die Anrufung in gescheiterter Weise funktioniert, weist ferner darauf hin, dass sie ihre Souveränität verliert und umgekehrt auf unerwartete Weise von anderen angeeignet werden kann: Das autonome Moment der Performativität des Sprechakts entsteht »in der Aneignung der autoritativen Stimme dessen, dem sie widersteht - eine Aneignung, die in sich Spuren einer gleichzeitigen Ablehnung und Einverleibung eben dieser Autorität trägt« (ebd., S. 28). Somit zeigt sich performativ der Sprechakt, der weder von der Sprache, den Normen und Gesetzen unabhängig ist, noch durch sie determiniert wird. Vielmehr sind sowohl das angeredete und anredende Subjekt als auch die Sprache instabil und verletzbar sind.
Performativität des sprechenden Körpers
Butlers Interesse richtet sich ebenso darauf, aufzuzeigen, wie der Körper immer schon mit der Performativität der Sprache in Verbindung gebracht wird. Ohne Kritik an naturgebundenem, vorsozialem Körper lässt sich die »Vorstellung eines in sich kohärenten, selbstidentischen Subjekts« (Balzer 2014, S. 426) nicht dekonstruieren. Der Körper ist nicht allein als ein sprachliches Mittel beim Sprechen anwesend. Sondern »[j]eder Sprechakt ist ein körperlicher Akt, der notwendig raum-zeitlich situiert ist« (Posselt 2018, S. 56; vgl. HS, S. 221). So tritt der Körper als eine performative Räumlichkeit zutage, »[w]orin die >Kraft< der performativen Äußerung [besteht]« (HS, S. 221). Mit Bezug auf Shoshana Felman behauptet Butler, dass der sprachlich verletzbare, angerufene Körper bereits mit Sprache »Zeichen setzt, wobei diese nicht darauf reduzierbar sind, was der Körper >sagt<« (ebd., S. 23). Der Körper erweist sich als »blinde[n] Fleck des Sprechens« (ebd.), insofern »[i]m Sprechen die Handlung, die der Körper ausführt, nie vollständig verstanden [wird]« (ebd., S. 24). Was der Körper bezeichnet, ist die Unkontrollierbarkeit der Sprache, die ihre Möglichkeit ist, die vorhandene und herrschende Bedeutung anders denken und benutzen zu können, also zu resignifizieren. Wenn die Kraft des Sprechaktes »eng mit dem Status von Sprechen als körperlicher Handlung zusammenhängt« (ebd., S. 237), befindet sich die Möglichkeit der politisch subversiven Performativität in dieser Unbeabsichtigtheit des Körpers, der einen Überschuss in der Sprechsituation inszeniert.
Die Subjektivation und Handlungsfähigkeit des Subjekts beziehen sich wesentlich auf das sprachliche Angerufenwerden, mit dem »eine bestimme gesellschaftliche Existenz des Körpers [...] erst möglich [wird]« (HS, S. 15). Somit gibt es nach Butler vor der Materialisierung des Körpers kein Subjekt, weil ein »inner[er] Kern oder ein[e] inner[e] Substanz« (UG, S. 200) durch »die Akte, Gesten und Begehren« (ebd.) »auf der >Oberfläche< des Körpers« (ebd.) erzeugt wird.188 Aus dieser Perspektive führt Butler Travestie oder Drag als ein provokatives Beispiel für die Performativität des Körpers an, welches eine parodische Geschlechtsidentifizierung inszeniert. Interessanterweise bildet Butlers Behauptung, dass die parodische Aktivität dieser Vergeschlechtlichung nicht eine »Frage einer Maskierung« (KG, S. 29)189 sei, einen Überschneidungspunkt mit Arendts politischer Theatralität, wonach das Subjekt durch die Maske in Erscheinung treten kann. Drag weist bei Butler vielmehr darauf hin, inwiefern der Körper in einer reziproken Beziehung zur Sprache steht und inwiefern er gegen die verletzende Anrufung, z. B. die Verkennung der binären Heterosexualität, die Normen anders verkörpern kann. Diese inszenierende Handlung macht sich »über die Vorstellung von einer wahren geschlechtlich bestimmten Identität (gender identity) lustig« (UG, S. 201). Darüber hinaus offenbart sie »>die Imitationsstruktur der Geschlechtsidentität als solcher wie auch ihre Kontingenz«« (ebd., S. 202), indem Drag das Verhältnis zwischen der sogenannten angeborenen heterosexuellen Frau und der Dragqueen als das Verhältnis von Kopie zur Kopie enthüllt (vgl. ebd., S. 201f.).
Drag oder Travestie ist nicht allein als ein Schauspiel, sondern als eine performative Handlung von Bedeutung. Dabei unterscheidet Butler im Hinblick auf die Körperperformativität zwischen performance und politischer Performativität. Wie lässt sich die von der Theatralität ausgehende Performativität von der darstellerischen Theatralität190 differenzieren? Das erste Kriterium betrifft die Fragestellung, ob bzw. inwiefern die ausgeübten Akte das herrschende »Modell von Wahrheit und Falschheit« (Butler 2002a, S. 316) aufs Spiel setzen. Es gibt einige Akte, die die Konventionen, die bestimmen, was ein bloßes Spiel ist und was demgegenüber das Wirkliche ist, außer Kraft setzen. Diese Akte, wie »Transvestiten auf dem Platz neben uns im Bus« (ebd., S. 313f.), von denen man nicht einfach sagen kann: »>Das ist ja bloß ein Spiel!<« (ebd., S. 314), erschüttern allgemeinen den Sinn für das Wirkliche und verschieben über die sicheren Konventionen der Performance im Theater hinaus die Grenze der anerkennbaren und lebbaren Form des Lebens. Es gibt sicherlich bestimmte performative und gewaltlose Akte, die als ausgeschlossene politische Möglichkeiten von den vorhandenen Konventionen ausgehend eine andere Wirklichkeit antizipierend in Gang setzen können. Zweitens unterscheidet Butler zwischen Performativität und darstellerischer Theatralität dadurch, dass ihre Performativität, die weder als willentlich noch als individualistisch noch als einmalig betrachtet wird, durch ständige Iteration gekennzeichnet ist (vgl. KG, S. 321). Aus der Wiederholung und der Zitierung, die »die diskursive Konvention >nachahmt und übertreibt<«(ebd., S. 319), entsteht die Möglichkeit einer Wiedereinschreibung, die Konventionen und Normen umzukehren und sie für andere Zwecke (fehl)angeeignet zu werden. Wiederholung ist nicht nur ein Kennzeichnen der Performativität bei Butler, sondern es lässt sich sagen, dass die Performativität eine gewisse Wiederholung >ist<. Doch was ist diese Wiederholung, die Performativität ermöglicht, und wie charakterisiert sich Performativität neben ihrer Körperlichkeit durch sie?
Butlers Performativitätsbegriff mit und gegen Bourdieu
Wie es bei Nietzsche keinen Täter gibt, der hinter der Tat steht,191 so argumentiert Butler, dass es hinter der performativen Wiederholung ebenso keine Substanz oder kein inneres Wesen192 gibt (vgl. UG, S. 49). Obwohl bestimmte Sanktionen, Vorschriften und Normen bei Butler als vorgängig erscheinen und Performativität in Bezug auf diese Normen zum Vorschein kommt, verweist die Wiederholung weder auf Determinierung durch Normen noch auf göttliche Selbstschöpfung oder Selbststilisierung (ebd., S. 205). Dies bedeutet auch nicht, dass sich Performativität bei Butler als etwas Expressives versteht, das den inneren Kern oder die eigene Perspektive unter einer bestimmten Bedingung verdeutlichen oder ausdrücken kann (vgl. Butler 2002a, S. 315f.).193 Der Abstand von Butlers expressivem Modell ist radikaler und deutlicher als derjenige von Arendt. Butlers Performativität wird nicht als individualistische oder innovative Handlung betrachtet, sie muss als ein Akt betrachtet werden, »der schon eingesetzt hat, bevor man auf dem Schauplatz erschienen ist« (ebd., S. 312), und als »ein[] Rollentext [...], der auch ohne die bestimmten Schauspieler weiter existiert, die ihn umsetzen« (ebd.).
Die Wiederholung, die das Performative hervorruft, wird nach Butler im hohen Grad reguliert, restringiert und von den Normen erzwungen. Von dem Zwang, unter dem man nicht lediglich Unterdrückung, sondern die konstitutive Unterwerfung194 versteht, geht die Performativität aus (vgl. KG, S. 139). Er artikuliert sich als die »unentwegte Wiederholung der Normen« (ebd.), die Wiederholung, die nicht von einem Subjekt ausgeht, sondern die es ermöglicht. In diesem Sinne liefert uns Pierre Bourdieus Begriff des Habitus nach Butler einen Hinweis, um zu verstehen, wie Performativität unter einem bestimmten gesellschaftlichen Zwang durch die »nicht beabsichtigte und nicht vorsätzliche Verkörperung« (HS, S. 222) zum Ausdruck kommt. Habitus beruht auf der körperlichen hexis, »die sich >verborgene Imperative< und >stille Pädagogik< [...] sukzessive in den Körper einprägt« (Posselt 2018, S. 57). Der Körper kann zustande kommen, indem die bereits herrschenden Konventionen »durch die wirksame Wiederholung und Akkulturierung von Normen« (HS, S. 243) »ganz buchstäblich, verkörpert werden« (ebd., S. 241). Der Körper ist somit ein Schauplatz und ein »Speicher einer verkörperten Geschichte« (ebd., S. 238).
Wenn die Performativität bei Butler als die hoch regulierte Wiederholung betrachtet wird, die autoritativ wirkende Konventionen stillschweigend verkörpert, fungiert die Subjektivation als das, was ein Individuum an die Stelle des Subjekts adressiert. In diesem Sinne leistet Bourdieus Ansicht über die Materialität des Körpers als »sedimentierte rituelle Aktivität« (HS, S. 240) einen weiteren Beitrag zum Verständnis, wie Performativität in Beziehung zur Konformität steht. Wenn »[d]ie Bedeutung (meaning) der performativen Handlung« (HS, S. 73) im Grunde genommen darauf hinweist, dass »Bezeichnung und Ausführung zusammenfallen« (ebd.), lässt sich das Akzeptabel-Sein, beispielsweise als heterosexueller Mann oder heterosexuelle Frau, unter dem Zwangsheterosexualimsus >formativ< betrachten, da es ein Individuum »in den unterworfenen Status des Subjekts einweist« (KG, S. 173). Konformität spielt eine relevante Rolle als Beispiel dafür, zu zeigen, inwiefern Performativität mit und im Zwang ausgeübt wird, der nicht nur auf die Kräfte von Konventionen oder Vorschriften hinweist, sondern auch als die Grenze der Lebbarkeit in Erscheinung tritt.195 Als eine Form der Verkörperung der Normen setzt Konformität diese in Kraft und reproduziert sie, wodurch sie uns konstituiert, unterwirft und handlungsfähig macht. In diesem Sinne zeigt Konformität auf, dass die Performativität unter dem spezifischen »Verwickeltsein in das, dem man sich widersetzt« (ebd., S. 331), entstehen kann. Diese Komplizenschaft ist die grundlegende Bedingung der menschlichen Existenz, insofern der menschliche Körper sich materialisiert und die unterwerfenden Normen der Anerkennung dadurch dem Selbst nicht äußerlich stehen (vgl. Butler 2002b, S. 254). Daraus ergibt sich die Frage: Wenn Akzeptabilität nicht nur die Grenzen des Menschlichen erhält, sondern auch enthüllt, die Grenzen, »die nur übertreten oder befragt werden können« (MG, S. 50), wie kann man »durch Abweichung von einer etablierten Ontologie eine gewisse Sicherheit riskier[en]« (ebd.)?
Im Anschluss an diese Fragestellung steht der Unterschied zwischen Butler und Bourdieu im Vordergrund, inwiefern sich die von der Wiederholung ausgehende Performativität weder als Präformierung von den gesellschaftlich erzwungenen Konventionen noch als Autonomie des Subjekts auffassen lässt. Der entscheidende Angelpunkt zwischen beiden manifestiert sich im Körper. Bei Butler werden sowohl gesellschaftliche Normen oder Konventionen als auch die Verkörperung, nämlich die erzwungene Wiederholung, als kontingent, veränderbar und nicht festgelegt betrachtet. Um den bourdieuschen Körper als die materielle Zitatenkette von der Materialisierung zu unterscheiden, richtet Butler an Bourdieu die kritische Frage nach der »Performativität des körperlichen >Sprechens<« (HS, S. 222): Kann der Körper nach Bourdieu eine nicht gewöhnliche Bedeutung annehmen? Kann das, »was am Sprechen körperlich ist, eben den Normen, die es regulieren, widersteh[en] und sie durcheinanderbring[en]« (ebd.)? Butlers Konzept der Performativität distanziert sich von dem Erwerb durch mimetische Identifikation Bourdieus an dem Punkt, wo der performative Überschuss aus dem unterworfenen, jedoch nicht determinierten Körper, der sich am Sprechen inszenierend beteiligt, ergeben kann und wo sich die bereits bestehenden Konventionen kraft der Wiederholung, die auf und durch den Körper mit den herrschenden Konventionen nicht deckungsgleich geschieht, mit der Kritik treffen.
Die Oszillation der Performativität zwischen Determinierung und Souveränität tritt nicht nur im Körper, sondern auch in den Konventionen zutage, die nach Bourdieu der Äußerung performative Kraft und Autorität verleihen (vgl. HS, S. 228). Butler kritisiert Bourdieu dafür, dass er die Offenheit der Normen nicht erkläre. Butler kritisiert Bourdieu dafür, dass er die Offenheit der Normen nicht erkläre. Bei ihm sind nicht nur die »gesellschaftliche^] Institutionen statisch« (ebd., S. 229f.) und »die legitimen Formen des liturgischen Rituals [bestehen] bereits« (ebd., S. 229), sondern auch »keine neuen legitimen Formen, es aufzurufen, [sind] entstanden, die die alten transformieren und ersetzen können« (ebd.). Butler fokussiert hingegen instabile Konventionen und ihre Kraft, wie der Effekt des Gesetzes als phantasmatische Autorität funktionieren kann. Der Effekt, gemäß dem die Konventionen, soziale Ordnungen und der davon ausgehende Habitus als so unveränderbar erscheinen, folgt daraus, dass die Angewiesenheit des autoritativen Gesetzes auf die Wiederholung verborgen bleibt. Performative Handlung, die unterbrechende Wiederholung, bringt ans Licht, dass die Autorität des Gesetzes grundlos ist (vgl. KG, S. 156). Insofern Bourdieu die »Krise der Konvention« (HS, S. 223) übersieht, kann er somit »die widerständige >Wirkungskraft< des zensierten Sprechens, das im »offiziellen Diskurs< auftaucht und der performativen Äußerung eine unvorhersehbare Zukunft eröffnet« (ebd.), nicht greifen. Die Annahme, dass das Performative durch Normen und Sprache nicht determiniert wird, geht damit einher, dass die Normen und gesellschaftlichen Konventionen unumgänglich einer Gefahr der Veränderung ausgesetzt sind, die vom wiederholten Performativen ausgeht und die Butler im Anschluss an Derrida als Bruch mit bestehenden Kontexten erklärt.
Performativität mit Derrida denken: Iteration und Iterabilität
Die ambivalente Weder-noch-Spannung in Butlers Performativitätsbegriff lässt sich durch das Zustandekommen des Subjekts nicht auflösen. Dass das Subjekt sich während des Angerufenwerdens, des Von-den-Normen-Benutztwerdens irgendwie in den grammatischen »Schauplatz der Umdeutung (resignification)« (Butler 1993b, S. 47) verschiebt, muss im Hinblick auf die Handlungsfähigkeit genauer ins Auge gefasst werden. Die Handlungsfähigkeit des Subjekts, das in den Machtbeziehungen befähigt wird und zugleich nicht auf ihre existierenden Formen reduziert wird, ist eine metaleptische Umkehrung der Macht, die in der ständigen Wiederholung entsteht. Im Folgenden werden die >Iteration< und >Iterabilität< von Derrida thematisiert, um aufzuzeigen, was eine Wiederholung ist, und ferner, inwiefern das Performative »aus der Einbezogenheit in die gleichen Machtbeziehungen« (KG, S. 175) seinen Bedingungen dennoch eine subversive Möglichkeit ins Leben rufen kann (vgl. PM, S. 22).
Sowohl die Subjektivation als auch die Performativität in Butlers Politiktheorie basieren auf dem Iterationsbegriff Derridas. Durch Derridas Iteration kann Butler einerseits ihren Versuch der Überwindung des Essenzialismus weiterentwickeln. Das Subjekt wird nicht a priori vorausgesetzt, sondern tritt durch das Tun rückwirkend performativ an die Stelle des subjektiven >Ich<. Andererseits trägt der Begriff Iteration zum Verständnis der butlerschen Performativität bei. Die Performativität wird als die stillschweigend gezwungene und strikt regulierte Handlung in bestimmten Macht-Wissen-Beziehungen betrachtet wird, sie behält bei Butler jedoch eine Möglichkeit, sich immer schon anders wiederholen zu können. Derridas Iterationsbegriff geht davon aus, dass Zeichen und Sprache »wieder in Umlauf [gebracht] und [wiedererkannt]« (Flatscher 2013, S. 117) werden müssen, um funktionieren zu können. Und diese »»notwendige Möglichkeit< der Wiederholung, die ein Zeichen allererst zum Zeichen macht« (ebd., S. 118), wird von Derrida >Iterabilität< genannt, in der Butler nicht nur die Möglichkeit der anderen Wiederholung, sondern auch die Möglichkeit der Umdeutung der Normen findet. Durch die Wiederholung wird nicht »eine vorgegebene Identität in unterschiedlicher Weise iteriert, wobei eine gesicherte Essenz als gegeben vorausgesetzt und die Iterabilität einen bloß akzidentiellen Charakter besitzt« (ebd., S. 119). Derrida betont, dass es keine differenzlose Wiederholung gibt (vgl. ebd., S. 118). Daraus folgend kann Butler mit Bezug auf Derrida behaupten, dass in der streng gesteuerten Wiederholung ein kontingenter Bruch als eine andere Möglichkeit entstehen kann, die »den Rückgriff auf eine fugenlose Allgegenwart verwehrt« (ebd.).
In dem Sinne, dass Performativität in Kraft kommt, wenn »die Handlung frühere Handlungen echogleich wiedergibt« (KG, S. 311), offenbart sich ein performatives Subjekt als die Stelle der Wiederholung und als ein »ausführendes Organ der Norm« (EG, S. 38), das jedoch in unerwarteter Weise in Bewegung gesetzt werden kann. Die Stimme des Gesetzes ruft ihre Autorität hervor, indem das Subjekt das Gesetz »>zitiert< [...], das Gesetz zu Rate [zieht] und sich auf das Gesetz [beruft], und in dieser Wiederanrufung stellt [es] das Gesetz wieder her« (KG, S. 155). Während sich die Handlung durch den iterativen Charakter »in eine Kette vorangegangener Verwendungen [hineinnehmen]« (ebd., S. 300) lässt, weist Butler mit Derrida darauf hin: Die Normen, Konventionen oder die gesellschaftlichen Kontexte, in denen sich das Subjekt bildet und nach denen es handelt, bleiben durch ebendiese Wiederholung für die kontingenten Abweichungen offen und können nicht als geschlossen betrachtet werden.196 So stehen bei Butler die performative Kraft und die Normen zwar nicht in einer symmetrischen, aber in einer wechselseitigen Beziehung zueinander.
In diesem Zusammenhang richtet sich Butlers Interesse weder darauf, zu zeigen, dass jede Wiederholung auf eine Neuschaffung oder -ausfertigung des Selbst hindeutet (vgl. KG, S. 311), noch darauf, wie sich durch repetitive Akte »die beruhigende Gewißheit« (Butler 2002a, S. 316) erlangen lässt. Derrida zufolge tritt »[d]ie jeder Wiederholung notwendig mitgegebene Differenz« (Flatscher 2013, S. 115) zutage, die sich nicht mehr als »defizitärer Modus [erweist], den es zu überwinden oder zumindest von einer anvisierten Reinheit abzugrenzen gilt« (ebd.). Das subversive Performative, »das selbst nur im Rekurs auf neue eingelagerte Konventionen etabliert wird« (KG, S. 300), entsteht in und aus den promisken Wiederholungspraktiken, die einen Bruch mit dem Kontext hervorrufen somit die Normen untergraben, deren grundlose Autorität sowie Legitimität auf der repetitiven Zitierbarkeit beruht (vgl. HS, S. 227; AV, S. 97). In diesem Sinne hängt das Performative Butlers von der Möglichkeit ab, »diese Wiederholung zu variieren« (UG, S. 213). Iterabilität funktioniert in Form von Dissens, der sich aus den zwei unterschiedlichen Zeiten ergibt. Die Zeit der Menschen, in der jeder die Normen repetitiv vollführt, stimmt mit der bereits bestehenden Zeit der Normen nicht vollkommen überein. Dieser Dissens, der die Autorität der Normen in Gefahr bringt, zeigt, wie die von den vorgängigen Konventionen oder Normen abweichende Wiederholung in den bereits gegebenen Ordnungen stattfinden kann. Trotz der Abhängigkeit des Menschen als soziales und sprachlich-körperliches Wesen von den Regulierungen der Matrix der Lebbarkeit kann man jedoch nicht ohne Weiteres den vorhandenen Normen gehorchen, wie eines Tages Rosa Parks entgegen der Rassentrennungskonvention der Südstaaten im vorderen Abteil des Busses saß, ohne vorgängiges Recht, dort zu sitzen - oder anders gesagt: bevor die Zeit der Normen ihr dieses Recht gewährte. Ihre Handlung kann als performativer Dissens betrachtet werden, insofern Rosa Parks »ebendieser Handlung eine gewisse Autorität [verlieh] und den Umsturz der bestehenden Legitimitätscodes [einleitete], [indem sie ohne vorgängige Autorisierung Anspruch auf dieses Recht erhob]« (HS, S. 230).
Butler und Foucault: Kritik und Entunterwerfung
Wie erläutert wurde, geht Butlers Verständnis der Performativität von der Sprechakttheorie aus. Die Äußerung bezeichnet nicht nur etwas, sondern führt auch etwas aus, und zwar indem »im Moment des Äußerns etwas geschieht oder ins Leben gerufen wird« (TV, S. 41). Butler legt ihren Fokus darauf, wie »eine der Sprache innewohnende Macht« (ebd.) in Verbindung mit dem Körper steht, und ferner, inwiefern der verletzbare und unterworfene Körper, der die regulierenden Normen verkörpert und durch den sie zunutze gemacht werden, performativ handelt und >ist< . Performativität liegt in der Spannung zwischen dem Weder-noch, d. h. dass »das Subjekt weder durch die Macht voll determiniert ist, noch seinerseits vollständig die Macht determiniert« (PM, S. 22). Butler entwickelt ein Verständnis der Performativität, die in Komplizenschaft mit der Gewalt besteht und wirkt. Mit Derrida lässt sich darstellen, dass die Performativität, die darauf hinweist, sowohl Subjekt performativ zutage zu treten, als auch dessen Handlung(sfähigkeit) als performativ zu betrachten, zwischen Wiederholung und ihrem Bruch entsteht. Im abschließenden Abschnitt dieses Kapitels wird in Anlehnung an Foucaults Begriffe >Kritik< und >Entunterwerfung< darauf eingegangen, wie das Subjekt als »ein Überschuss der Logik« (ebd.) in die Unterwerfung eingreifen kann, die es konstituiert. Die Untersuchung beginnt damit, die Differenz zwischen Foucaults Verständnis der Entunterwerfung und Butlers Standpunkt zu analysieren. Dabei stehen folgende Fragestellungen im Fokus: In welchem Sinne kann das nicht determinierte Performative durch den kontingenten Bruch der Wiederholung mit der politischen und ethischen Selbsttransformation verbunden werden? Welche subversiven Potenziale impliziert die Entunterwerfung bei Butler? Abschließend wird erörtert, wie sich die Entunterwerfung dennoch nicht als Selbstermächtigung oder autonome Subjektivität der Mobilität verstehen lässt.
In ihrem kurzen Text Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend untersucht Butler subversive Möglichkeiten der Performativität, indem sie sich kritisch mit mit Foucaults gleich betitelten Text Was ist Kritik (Foucault 1992) auseinandersetzt. Sowohl Foucault als auch Butler betonen, dass Kritik eine tugendhafte Handlung darstellt, die subjektive und kritische Beziehungen zu den Normen der Kategorisierung konstituiert (vgl. Butler 2002b, S. 255). Foucault beschreibt Kritik vor allem als eine spezifische Praxis, die »[d]ie Kategorien, mit denen das soziale Leben geregelt ist« (ebd., S. 253), infrage stellt 1) und die dadurch die Grenze des epistemologischen Feldes aufdeckt 2), ferner der Macht des Gesetzes, die die (an)erkennbaren und lebbaren Lebensformen reguliert, Grenzen setzt 3). In diesem Sinne übernimmt Kritik eine doppelte Funktion: Einerseits konstituiert sie »eine mehr oder minder systematische Ordnungsweise der Welt mit ihren eigenen Bedingungen der Akzeptabilität eines Systems«« (ebd., S. 260), aber auch »>den Bruchstellen [...], die ihr Entstehen anzeigen<« (ebd.). Demzufolge entlarvt sie einerseits, dass die Macht des Gesetzes, die vorgängig bestimmt, welche Handlungen für die Subjektwerdung als performativ von Bedeutung sind, ebenso den Bereich des Unsagbaren hervorbringt. Andererseits weist die Kritik darauf hin, dass die Macht des Gesetzes unumgänglich nicht nur daran scheitert, das Subjekt zu totalisieren, sondern auch den Bereich des Unsagbaren vor der Kritik abzuschirmen und unberührt zu lassen (vgl. ebd., S. 258).
Die Kritik bei Foucault, verstanden als die Fähigkeit zur Hinterfragung etablierter Autoritäten des Wissens, bildet hier einen Bezugspunkt zwischen der arendtschen autonomen Souveränität der Erscheinung und der butlerschen Performativität, wobei Letztere als ein neuer politischer Begriff der Immobilität konzeptualisiert wird. Bei Arendt wird Erscheinung als eine spezifisch politische Bewegung definiert, die durch neue Perspektiven zur Schaffung und Aufrechterhaltung der freien Mitwelt beiträgt. In Form des spezifischen Redeakt stellt Erscheinung eine selbstschaffende Bewegung dar, die es dem Individuum ermöglicht, seine Einzigartigkeit beinah unabhängig von bestehenden autoritären Kategorisierungen zu gewinnen. Dieses selbstschaffende Moment der Erscheinung zeigt Parallelen zur »aufklärerischen« Dimension der foucaultschen Kritik. Diese ermöglicht es dem Subjekt, aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit im Sinne Kants herauszutreten und eine »Selbst-Bezeichnung« (Butler 2002b, S. 258) zu erlangen (vgl. Kämpf 2018, S. 177). In diesem Sinne stellt Kritik - so Foucault - eine tugendhafte, unberechenbare sowie nichtmechanische Bewegung dar, die »keiner gegebenen Kategorie folgt« (Butler 2002b, S. 255). Darüber hinaus ist Kritik ein Akt, der »eine fragende Beziehung zum Feld der Kategorisierung« (ebd.) herstellt und der seinen eigenen Maßstab in der Grenze des epistemologischen Horizonts setzt, innerhalb dessen Praktiken das Selbst geformt wurde (vgl. ebd.). Diese kritische Bewegung ist korrespondierend mit dem arendtschen Subjekt der Mobilität, das das Risiko der Selbstschaffung und die Unvorhersehbarkeit der Pluralität gerne auf sich nimmt. Foucaults Kritik trifft auf souveräne Erscheinung bei Arendt schließlich in dem Punkt, an dem das kritische Subjekt »sein eigenes Denken zum Beispiel einer nicht-präskriptiven Form moralischer Erkundung [macht]« (Butler 2002b, S. 253). Das mobile Subjekt strebt danach, seine neue Metapher, die aus der bisher fremden Verbindung zwischen den Ideen besteht, als ein Beispiel zu setzen, dem die anderen folgen können (vgl. LGD, S. 108; D, S. 644). Sowohl das kritische Subjekt bei Foucault als auch das mobile Subjekt bei Arendt warnen davor, ihre eigenen kritischen Perspektiven zu einer neuen, fundamentalen politischen oder moralischen Ordnung zu erheben (vgl. Butler 2002b, S. 257). Gerade diese Haltung, die eigene Position für unerwartete Kritik offenzuhalten und sich der Unkontrollierbarkeit und Unvorhersehbarkeit zu stellen, erweist sich als politische Tugend und Souveränität.
Im Vergleich zu Foucault kann die Entunterwerfung bei Butler weniger als eine Bewegung von sozial beruhigender Verkennung hin zur performativen Selbstidentifikation verstanden werden. Ebenso wird sie weder allein als passive Reaktion auf Unterwerfung noch als ein Ereignis des Heraustretens aus der Unterwerfung betrachtet, das auf spezifischen Fähigkeiten wie Denken, Urteilen oder Verstehen beruht, wie es bei Arendt der Fall ist. Stattdessen weist die Tugend der Entunterwerfung bei Butler darauf hin, den »eigenen ontologischen Grund zu suspendieren« (Butler 2002b, S. 258), ohne dadurch die Souveränität des Subjekts zu verstärken. Entunterwerfung fällt daher nicht immer mit der Selbstermächtigung zusammen. Vielmehr betont Butlers Perspektive auf die Entunterwerfung die Ununterscheidbarkeit zwischen der Macht, die das Subjekt konstituiert, und der Macht, die das Subjekt ausübt, ohne diese Spannung aufzulösen oder zu überschreiten. Entunterwerfung wirkt bei Butler insofern performativ, als sie in Komplizenschaft mit der Gewalt in Gang gesetzt wird. Sie lässt sich sogar als eine Umkehrung der Macht verstehen, insofern der Zwang zur Iteration durch herrschende Normen gleichermaßen als Zwang zur Entunterwerfung fungiert. Daraus ergibt sich zentrale Fragestellungen: Inwiefern verstärkt Butlers politische Theorie diese Ambivalenz und wie lässt sich die politische Kraft erfassen, die aus dem hartnäckigen Verbleiben in dieser Ambivalenz resultiert?
Butler legt einen besonderen Fokus auf die spezifische Passivität von Kritik und Entunterwerfung. Wie die Subjektivation damit beginnt, dass man erzwungene Unterwerfung annimmt und sie wiederholt, um als ein sozial lebbares Subjekt zu überleben, ist es nach ihr klar, dass das Subjekt nicht aus eigenem Willen zur Kritik und Entunterwerfung gelangt, sondern vielmehr zu ihnen gezwungen wird. Kritik und Entunterwerfung treten ein, wenn bestimmte Menschen ihre »eigene Unterwerfung nicht länger hineinnehmen [...] wollen [können: Choi]« (Butler 2019b, S. 127), da das Leid und die »Pflichten, die den Subjekten von Staats wegen auferlegt werden« (Butler 2002b, S. 256) in einem unerträglichen Maße zu hoch sind. Die kritischen Beziehungen zu den herrschenden Normen werden durch ein bestimmtes Begehren erzwungen, »nicht regiert zu werden« (Butler 2002b, S. 256) sowie »nicht als wahr an[zu]nehmen, was eine Autorität als wahr hinstellt, oder jedenfalls nicht etwas als wahr an[zu]nehmen, nur weil eine Autorität es als wahr ausgibt« (ebd., S. 257). Dieses Begehren, nicht >auf diese Weise< und nicht >dermaßen< regiert zu werden, und die durch dieses Begehren erzwungene Entunterwerfung werden demnach weder als souverän noch als eingeschränkt-tugendhaft verstanden (vgl. Foucault 1992, S. 12). Das richtet sich vielmehr auf das Überleben, weil die Entunterwerfung bei Butler daraus entsteht, dass man nicht länger auf die bisherige Weise im Sein verharren kann (vgl. Kämpf 2018, S. 178).
Bei Butler steht die ethische Dimension von Kritik und Entunterwerfung im Zentrum, deren Legitimität daraus resultiert, dass sie eine Neubejahung oder erneute Wertschätzung des eigenen oder fremden Lebens ermöglichen (vgl. Kämpf 2018, S. 183). Während die foucaultsche Entunterwerfung ein kritikfähiges individuelles Subjekt vorauszusetzen scheint, betont Butler, dass Entunterwerfung von der Sorge um die anderen geprägt ist. Denn die Einsicht, dass das unerträgliche Leid, >auf diese Weise regiert zu werden<, nicht länger ertragen werden sollte, »[gilt] nicht nur für einen selbst, sondern auch für die anderen, die innerhalb des Machtfelds eine ähnliche Position einnehmen wie man selbst« (Butler 2019b, S. 131). Das Streben, den Bereich der Lebbarkeit zu erweitern, sind stets schon mit den anderen verbunden. Entunterwerfung wird weder als individuelle noch als heroische Handlung verstanden, nicht nur weil die Wiederholung sich in Form der Pluralität vollzieht, sondern auch weil das nicht gleichartige Wiederholen die Entunterwerfung eines Subjekts mit der Frage verbindet, »wie ich dem Anderen gerecht werden kann« (Kämpf 2018, S. 184). Dieses Begehren, sich nicht länger mit den bestehenden Normen zu identifizieren, hat damit zu tun, einem Leben, das bislang als das menschliche Leben nicht gezählt und nicht ganz vollwertig betrachtet werden konnte, Betrauerbarkeit zu verleihen: Eine Betrauerbarkeit, die darauf hinweist, dass der Verlust eines Lebens als Verlust des Menschen empfunden und seine Verletzbarkeit bedeutungsvoll anerkannt werden würde, und dass die eigentlich die Bedingung des Lebens ist (vgl. RK, S. 22).
Die Entunterwerfung ist nun als eine gezwungene, jedoch performative und antizipierende Handlung zu verstehen, die bestehende Grenzen hinterfragt: Wer kann gemäß der vorhandenen epistemologischen Kategorisierung als Mensch anerkannt werden und selbstverständlich als solcher in der Öffentlichkeit erscheinen? Die Entunterwerfung manifestiert sich bei Butler als eine unautorisierte Ausübung des Existenzrechts (vgl. ME, S. 142). Sie stellt einen passiven Widerstand für das (Über-)Leben dar, der einen Dissens zwischen den herrschenden Normen und den noch nicht in Kraft getretenen Normen auslöst. In diesem Sinne ruft die Entunterwerfung in schwacher und negativer Weise eine dynamische Jetzt-Zeit hervor, in der historisch sedimentierte herrschende Normen mit der kollektiven Wiederholung konfrontiert werden - einer umstrittenen Wiederholung, die die bereits vorhandene Gewalt, die die eigene Subjektbildung angeht, nicht in gleicher Weise wiederholt (vgl. RK, S. 155). Die Entunterwerfung führt jedoch nicht zu einem vollkommen neuen, alternativen Außen, das über die Fragen der Unterwerfung und Gewalt hinausgeht. Obwohl sie auf einem möglichst Anders-Wiederholen oder einem promisken Wiederholen basiert, befindet sich die Entunterwerfung weiterhin innerhalb der Matrix der Lebbarkeit als bestimmtes Wahrheitsregime. Was die Entunterwerfung als Akt des Widerstands vielmehr vollzieht, ist, dass die Grenzen des Lebbaren, Sagbaren und Sichtbaren neu bzw. anders gezogen werden (vgl. HS, S. 219). Anders ausgedrückt: Die Entunterwerfung ist mit der Macht chiastisch verwoben, die Subjekte gewaltsam konstituiert. Unter dieser Bedingung kann sie als »Transformationsfähigkeit der Episteme der Macht« (Butler 2002b, S. 261) performativ fungieren. Denn dieses Moment der Ununterscheidbarkeit, in dem ein Subjekt sich mit und gegen die Macht auseinandersetzt, verdeutlicht, dass das Subjekt in dieser Ambivalenz der Macht nicht nur hergestellt wird, sondern sich auch konstituiert - wobei die Art dieser Selbstformung durch verschiedene Verletzungen charakterisiert ist. Diese Entunterwerfung impliziert, dass man nicht mehr zulassen kann, dass die Gewalt, die einen ausmacht, in gleicher Weise wiederholt wird, obwohl diese Distanzierung und Verweigerung einen Teil des Selbst in Gefahr bringen. In diesem Sinne wird Entunterwerfung zu einer Art und Weise, wie das Selbst der Gewalt ausgesetzt wird. Performativität, Bedeutungsverschiebung und subversive Widerständigkeit kommen bei Butler stets in der Ambivalenz der Macht zwischen Geformtsein und Selbstformierung zutage und sie einschließen daher die Verletzbarkeit und eine gewisse Passivität - ohne die Performativität jedoch nicht möglich wäre.
IV. Die Charakteristika der Immobilität: Relationalität und Vulnerabilität
In diesem Kapitel wird die Relevanz der butlerschen Anerkennungstheorie und ihrer Auffassungen von Verletzbarkeit, Prekarität und Vulnerabilität fokussiert. Diese Untersuchung verdeutlicht den bemerkenswerten Unterschied zwischen Mobilität, die in Anlehnung an Hannah Arendts Politiktheorie entwickelt wird, und der Immobilität. Butler stellt einen Begriff der Anerkennung dar, der nicht auf die autonome, verfügbare und souveräne Subjektivität abzielt. Für sie ist die Anerkennung »keineswegs das Gleiche wie Selbstdefinition oder gar Selbstbestimmung« (ME, S. 115). Zwar wird das Anerkanntsein als ein besonderes Vorrecht betrachtet, »Anerkennung bezeichnet eine Situation grundlegender Abhängigkeit von Bedingungen und Zuschreibungen, die wir niemals selbst wählen würden, um als intelligible Wesen hervorzutreten« (ebd.). In diesem Sinne hat nach Butler die Anerkennung zunächst enger mit der Existenzfähigkeit und der Frage nach dem Überleben zu tun. Der erste Teil dieses Kapitels widmet sich Butlers Bemühungen, in Auseinandersetzung mit Spinoza, Hegel und Foucault darzulegen, inwieweit die Anerkennung sowohl auf intersubjektiver Relationalität als auch auf diskursivnormativer Abhängigkeit basiert. Damit soll veranschaulicht werden, dass Butler ein verletzbares und unverfügbares Subjekt darstellt, das »eine gelingende - und autonome - Beziehung zu sich, seinen Wünschen und Fähigkeiten nur vermittelt über oder sogar erst durch die Beziehung zu anderen gewinnt« (Jaeggi u. Celikates 2017, S. 63f.). Im Anschluss werden die drei Modi der Anerkennung in Anlehnung an Stefan Deines’ Unterscheidung - ohne völlige Zustimmung zu seiner Theorie - erläutert. Durch diese Erörterung werden die politische Bedeutung und die Möglichkeiten von Butlers Anerkennung aufgezeigt.
Im zweiten Teil werden die ontologische Verletzbarkeit und die soziale Prekarität thematisiert, die nicht lediglich als ökonomische Unsicherheit verstanden werden kann. Der Rahmen der Anerkennung dient als ein Bewertungsmaßstab, wer und in welchem Ausmaß unterschiedlichen und verschiedenartigen Formen der Gewalt ausgesetzt ist. In diesem Sinne zieht die Anerkennung eine Grenze zwischen denjenigen, die ihre Gefährdung gesellschaftlich zeigen und sie öffentlich wahrnehmbar machen können, und denjenigen, deren Gefährdung und Verletzbarkeit gesellschaftlich in die Unsichtbarkeit geraten sind. Wer als ein sozialer Mensch anerkannt wird, deutet somit darauf hin, dass er vor der Prekarisierung geschützt und vor allem sein Verlust betrauert werden kann. Das anerkannte Subjekt bei Butler existiert als ein verletzliches, nicht abgeschlossenes und undurchsichtiges Subjekt. Dennoch betrachtet Butler das Subjekt nicht als rein passiv. Durch das Wort >Vulnerabilität< stellt sie das performative Moment der Verletzbarkeit und die Widerstandsmöglichkeit in der Prekarität heraus, insofern das Verletzbar- und Ausgesetztsein immer schon die Offenheit und Empfänglichkeit beinhalten - dieses ambivalente Moment wird in dieser Untersuchung meist kurz als >aktiv-passiv< bezeichnet. Nun ist die soziale Welt, die relationale und voneinander abhängige Beziehungen einrahmt, eine Bedingung für die Fähigkeit zur Solidarität und zum ethischen Handeln. Wie lässt sich dann der Begriff der Vulnerabilität und seine Widerstandsmöglichkeit radikalisieren? Die Immobilität, die im Gegensatz zur Mobilität als politikwissenschaftliches Konzept beleuchtet wird, bezieht sich auf die
Besonderheit des Begriffs der Vulnerabilität: Butler denkt einerseits die Frage der Lebbarkeit wesentlich mit der Abhängigkeit verknüpft, die sich nicht bloß auf Passivität oder Unfähigkeit reduzieren lässt. Zudem betont sie, dass eine solidarische und gewaltlose Politik durch relationalabhängige Subjekte zustande kommen kann. Immobilität, die auf eine hartnäckige Verbundenheit mit der Verletzbarkeit und Prekarität, also auf ein leidenschaftliches Da-Bleiben hinweist, um die Verletzbarkeit und Prekarität öffentlich infrage zu stellen, lässt sich daher als eine schwache und performative Form des Widerstandes verstehen, die über den aktiv-passiven Dualismus hinausgeht und sich in der grundlegenden Relationalität und Abhängigkeit verankert.
4.1. Anerkennung in der Relationalität
Ausgangspunkte von Butlers Begriff der Anerkennung: Spinoza, Hegel und Foucault
Die Anerkennung bei Butler geht von Anfang an mit einer Ambivalenz einher, die ontologische Verletzbarkeit des Menschen und politisch passiv-subversive Möglichkeit umfasst. In ähnlicher Weise wie die Performativität der Subjektivation, bei der hinter der Wiederholung kein vorausgesetztes Subjekt steht, gibt es vor der Anerkennung bei Butler kein bereits etabliertes Selbst des Selbsterhaltungsstrebens. Grob gesagt, ermöglicht Anerkennung den Subjekten nach Axel Honneth und Charles Taylor, »ein positives Verhältnis einzunehmen und [...] Vertrauen in den Wert der eigenen Person und die Tauglichkeit der eigenen Fähigkeit««197 (Balzer 2014, S. 519) zu entwickeln. Butlers Auffassung von Anerkennung fokussiert sich hingegen weder auf eine Ermächtigung noch auf positive Selbstbeziehung oder darauf, »das Vorrecht der Selbst-Identität (das Hegel Selbstgewissheit nennt) zu genießen« (MG, S. 241). Anerkennung bietet auch keine Gewähr oder Garantie für die Autonomie des Subjekts (vgl. Balzer 2014, S. 520). Stattdessen richtet sich Butlers Konzept der Anerkennung auf »eine Problematik des >Erlangens des Daseins< (KG, S. 39)« (ebd.). Anerkennung ist in diesem Sinne ein Prozess, in dem es nicht nur ermöglicht wird, mit anderen zusammenzuleben, sondern man auch nicht umhin kann, den Vorrang des Anderen anzuerkennen und sich ihm oder ihnen auszuliefern.
Butlers Begriff der Anerkennung basiert auf unterschiedlichen philosophischen Hintergründen, von denen drei entscheidend sind: der Conatus von Spinoza, der Kampf um Anerkennung in Hegels Philosophie und das diskursive Dispositiv von Foucault als Rahmen der Anerkennung. Zunächst lässt sich darstellen, dass in Butlers Begriff der Anerkennung Spinozas Conatus, verstanden als das Bestreben, >im eigenen Sein bestehen zu wollen<, mit der hegelianischen Tradition in Verbindung gebracht wird, die darauf hinweist, dass »wir alle nur durch die Erfahrung der Anerkennung zu sozial lebensfähigen Wesen werden« (MG, S. 10).
Butler geht davon aus, dass das Begehren nach Anerkennung auf dem Begehren zu überleben beruht, das sich durchwegs ausbeuten lässt (vgl. PM, S. 12). Die Unterwerfung vollzieht sich im Prozess der Subjektivation insofern, als das Selbsterhaltungsstreben durch Begehren nach
Anerkennung erfüllt werden kann. Die Unterwerfung zur Subjektivation wird nach Butler weder als berechenbare oder vernünftige Wahl noch als bloße Beleidigung betrachtet. Menschen werden trotz »Verkümmerung oder Missbrauch« (GL, S. 63) gezwungen, unter den Normen versklavt zu sein, denn dies ist nach Butler die einzige Möglichkeit, die »Bedingung des eigenen Seins und Werdens« (ebd.) zu erhalten bzw. aufrechtzuerhalten. Unterwerfung deutet somit auf die imperative Notwendigkeit hin, die weder ausschließlich passiv noch aktiv betrachtet werden kann. Mit anderen Worten, gerade weil alle Menschen »ohne Anerkennung nicht leben können« (Butler 2013b, S. 64) und sich »nach Anerkennung sehnen« (ebd.), unterwerfen »[die Subjekte] >sich< >der< Macht und sozialen Normen« (Balzer 2014, S. 434).
Wenn Anerkennung zum Begehren zu überleben gezwungen ist, wie versteht man dann nach Butler das Begehren nach Selbst>erhaltung< und das >Selbst< der Selbsterhaltung? Von Spinoza übernimmt Butler die Unterscheidung, dass der Überlebenswunsch nicht mit self-preservation gleichgesetzt wird, was sich auf die auf den späteren Vertragstheorien basierende Form des individualistischen Eigeninteresses bezieht (vgl. Butler 2015, S. 63). Sie stellt dar, dass »das Selbst, das danach strebt, in seinem eigenen Sein zu verharren, nicht immer ein singuläres Selbst für Spinoza [ist], und es ihm auch nicht zwangsläufig [gelingt], sein Leben zu vermehren oder zu bereichern, wenn es nicht zugleich das Leben anderer bereichert« (ebd.). Butler folgt Spinoza in dem Verständnis, dass »[d]ie Begierde zu bestehen nicht auf eine rein bewahrende oder erhaltende Funktion der Begierde reduziert werden [kann]« (Butler 2001b, S. 593). Der Conatus als ein Begehren nach Existenz wird nicht damit gleichgesetzt, im eigenen Sein dasselbe zu bleiben, sondern weist auf »eine Veränderung und Erweiterung des Vorgefundenen« (ebd.) hin. Eine solche Veränderung und Erweiterung lässt sich wohl in Verbindung mit Derridas Wiederholung und Iterabilität verstehen, welche die Performativität der Subjektivation kennzeichnen.
Im Kapitel Herrschaft und Knechtschaft in Phänomenologie des Geistes übernimmt Butler eine Idee der Anerkennung, die durch die hartnäckige wechselseitige Beziehung zu anderen zustande kommen kann. Bei Hegel bedeutet das Begehren nach Anerkennung ein Begehren nach der Selbstreflexion im Anderen: »Es ist ein Wunsch, der die Alterität des Anderen zu negieren sucht [...], und zugleich ein Wunsch, der sich in der Zwangslage befindet, genau diesen Anderen zu benötigen, der zu sein und von dem eingefangen zu werden man sich fürchtet« (MG, S. 379). In dieser kämpferischen Beziehung lenkt Butler die Aufmerksamkeit auf Hegels ex-statische Idee des Selbst, »das notwendigerweise außerhalb seiner selbst ist, nicht selbstidentisch, von Beginn an differenziert« (ebd., S. 240), mit anderen Worten, eines Selbst, das »von einer ursprünglichen Fesselung an den Anderen gekennzeichnet ist« (ebd., S. 242f.). Das hegelianische Selbst wird zu sich finden in dem Moment, in dem das Selbst anderen übergeben wird, und es kann nie nach seinem eigenen Willen davon zurückkehren, was es gewesen ist (vgl. ebd., S. 243). Die Existenzform des Selbst geht bei Butler in diesem Sinne mit seinem Selbstverlust einher. Das Selbst, das im leidenschaftlich unaufhörlichen Prozess konstituiert und transformiert wird, kann nicht selbstidentisch bleiben, sondern ist gespalten im konstitutiven Sinne (vgl. EG, S. 41).
Butlers Verbindung von Spinoza und Hegel macht deutlich, inwiefern die als menschlich anerkannte Existenz von Anfang an unausweichlich dem Gesellschaftlichen ausgeliefert und den anderen ausgesetzt ist. Sie zeigt auch, inwiefern das Selbst des Selbsterhaltungsstrebens sich nicht als ein Träger davon verstehen lässt, das Vorgefundene souverän zu unternehmen. Die von Butler als intersubjektiver Prozess betrachtete Anerkennung findet nicht nur durch die anderen statt, sondern richtet sich auch auf diejenigen, die noch nicht anerkannt werden können. Dies liegt daran, dass die eigene Anerkennung in Verbindung mit der Ablehnung bestimmter Lebensformen anderer steht. Die Relationalität wird nicht als das betrachtet, was nach der Subjektivation oder nach dem selbstschaffenden Ereignis entsteht und fungiert, da alle Menschen nach Butler bereits auf den persönlichsten Ebenen sozial existieren (vgl. GL, S. 63). Diese Relationalität zieht keine transzendental fixierte Grenze zwischen lebbarem Innen und unlebbarem Außen oder zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich. Wenn sich im Rahmen dieser fundamentalen Relationalität das Begehren nach Anerkennung schließlich als das »Begehren, eine soziale, im öffentlichen Raum sichtbare Existenz zu erlangen« (Kämpf 2018, S. 173), manifestiert, wenn zugleich das Selbst des Selbsterhaltungsstrebens in der intersubjektiven Beziehung seine Autonomie und Souveränität verliert und es vielmehr durch diesen Selbstverlust konstituiert wird, so lässt sich feststellen: Das ex-statische Selbst der Anerkennung bezieht sich immer schon auf das Ethische. Dieses fragile Selbst begehrt in seinen verletzbaren Bedingungen, »in einer Welt zu leben, in der es sowohl den Wert des Lebens anderer als auch seines eigenen Lebens reflektiert« (MG, S. 372).
Einerseits macht Butler auf die Grenzen der Selbstformierung und die Frage der anderen in Foucaults späteren Theorie aufmerksam (vgl. EG, S. 31). Aus ihrer Perspektive wird »dem anderen in seinen ethischen Überlegungen kein[] explizite[r] Ort eingeräumt« (ebd., S. 35). Während Foucaults Fokus auf der Frage liegt: »Wer kann >ich< sein angesichts des Wahrheitsregimes, das die Ontologie für mich festlegt?« (ebd., S. 37, Hervorh.: Choi), verschiebt Butler den Schwerpunkt hin zur Frage: »Wer bist du?« (ebd.). Damit rückt sie das relationale und ethische Moment der Anerkennung ins Zentrum ihrer Anerkennungstheorie. Andererseits argumentiert Butler den sozialen Charakter der Anerkennung, indem sie von Foucault die Idee der Dimension des Sozialen198 bei der Anerkennung übernimmt (vgl. ebd., S. 36). Parallel zu ihrer Auseinandersetzung mit Spinoza und Hegel betont Butler mit Foucault, dass die Anerkennung nicht bloß auf den intersubjektiven Beziehungen basiert, sondern auch durch entpersonifizierte Dimensionen geprägt ist. So verknüpft sie zwei Aspekte der Anerkennung miteinander, nämlich »die Anerkennung durch den/die andere(n) und die Anrufung durch Normen« (Balzer 2014, S. 506). Die dyadische Anerkennungsszene ist dabei stets »durch die Sprache bedingt und vermittelt [...], durch Konventionen, durch Ablagerungen von Normen, die ihrem Wesen nach gesellschaftlicher Art sind und die Perspektive der am Austausch Beteiligten übersteigen« (ebd., S. 42). Die relationale Anerkennung findet somit immer schon in systematischen und diskursiven Normen statt, die uns vorausgehen und festlegen, »wer überhaupt und in welchem Ausmaß (potentiell) als Subjekt infrage kommt« (Pistrol 2023, S. 65). Dadurch stellt sich der Begriff der
Anerkennung bei ihr über die dyadische Beziehung hinaus als triadische Beziehung dar, in der sich »die gesellschaftliche^] Normen, das vermittelnde >Du< und das vermittelte >Ich<« (ebd., S. 508) wechselseitig bedingen. Die intersubjektive Anerkennungsszene ist durch diese sozial-normative Dimension als das Dritte nicht vollständig abgeschlossen. So sind wir alle »einer Anzahl kultureller Normen und einem Feld der Macht ausgeliefert, die uns grundlegend bedingen« (GL, S. 63) und »durch und durch von Macht durchzogen« (Pistrol 2023, S. 65).
Mit Foucaults Konzept des Wahrheitsregimes, das auf den Machtverhältnissen basiert, zeigt Butler, dass die intersubjektive Anerkennung nicht allein zufällig, beliebig und vor allem nicht auf eine spezifische innere Fähigkeit des anderen angewiesen ist. Vielmehr stellt sich nach Butler die grundlegende Frage, wie ein anderer, der mir eine soziale Anerkennung verleihen kann, mich wahrnehmen und als anerkennbaren Menschen erkennen kann. Denn der andere braucht, wie Butler behautet, »einen Rahmen, um zu sehen und zu beurteilen, wer ich bin« (EG, S. 42).199 Sowohl die Lesbarkeit des Antlitzes desjenigen, der in den öffentlichen Raum eintritt und dessen Antlitz als menschlich gesehen werden kann, als auch die Lektürepraxis, die es ermöglicht, den anderen wahrzunehmen und dadurch einen gegenseitigen Prozess der Anerkennung stattfinden zu lassen, beziehen sich auf »bestimmte Raster und Bilder« (ebd., S. 43) als das Dritte - etwas die Matrix der Lebbarkeit. In diesem Dritten besteht ein reflexives Moment - sich eine Beziehung zu dem Wahrheitsregime zugleich die zu seinem Selbst zu erweisen. Insoweit »das Wahrheitsregime einen Rahmen für den Schauplatz der Anerkennung [bietet]« (ebd., S. 34), werden sowohl ein Ich zu sein, das sozial geschaffen ist, als auch eine Anerkennung zwischen dem >Ich< und >Du< möglich (vgl. MG, S. 58).
Dass die Anerkennung als etwas Soziales betrachtet wird, bedeutet nicht nur, dass Anerkennung im Rahmen normativer Wahrheitsregime stattfindet. Butler fügt der intersubjektiven Anerkennungsszene foucaultsche soziale Dimension hinzu, um die Normen der Anerkennung infrage zu stellen und ihre Veränderbarkeit zu zeigen (vgl. EG, S. 34). Dies wird bei Butler durch die vermittelte Eigenschaft der Normen ermöglicht, da »[d]ie Normen, nach denen ich jemand anderen oder in der Tat auch mich selbst anerkenne, nicht allein meine Normen [sind]« (ebd., S. 36). Hier trifft erneut Butlers Kritik an Foucault zu: Was geschieht, dass das Wahrheitsregime, durch das ein >Ich< anerkannt wurde, unfähig ist, einen anderen anzuerkennen? Denn »Foucaults entscheidender Fehler bestünde darin, den Anderen zu übergehen« (ebd., S. 35), sodass er auch nicht erkennt, dass »diese Infragestellung des Wahrheitsregimes, das meine eigene Wahrheit begründet, eben durch das Begehren motiviert ist, einen Anderen anzuerkennen oder von ihm anerkannt zu werden« (ebd., S. 37). Foucault berücksichtigt also nicht ausführlich, dass das reflexive Moment, welches die Beziehung zu den Normen auch auf die Beziehung zu mir lenkt, unerwarteterweise als ein Bezugspunkt funktionieren kann, an dem die Normen verändert werden können, um den Bereich der Anerkennung zu erweitern. In diesem Sinne bleibt bei Foucault die ethische und politische Möglichkeit des reflexiven Moments ein blinder Fleck. Hingegen macht Butler ihre Position deutlich: Anerkennung, die vom Begehren nach relationalem Sein ausgeht, ist auf die anderen angewiesen und zielt ferner auf die Koexistenz mit den anderen und auf die Gleichheit der Lebbarkeit. Für sie wird die sozial diskursive und normative Dimension durch einen Punkt der Intervention für »the value of others’ lives« (Butler 2015, S. 65) gekennzeichnet. Die »Unstillbarkeit« (EG, S. 37), die darauf hinweist, dass die Arerkennungsnormen, durch die ein >Ich< anerkannt wird, es verhindern, bestimmten anderen Anerkennung zu verleihen, zwingt mich dazu, »in eine kritische Beziehung zu diesen Normen zu treten« (ebd.). Butler zeigt mit und gegen Foucault, wie die relationale und interdependente Anerkennung nicht nur von den sozialnormativen Dimensionen abhängig ist, sondern auch innerhalb dieser Dimension eine ethische und politisch subversive Möglichkeit entfalten kann, damit die Anerkennung des Selbst nicht auf das Streben nach Selbsterhaltung beschränkt bleibt.
Drei Modi der Anerkennbarkeit
i) Ausschluss
In diesem Abschnitt werden die verschiedenen Anerkennungsmodi anhand der drei Unterscheidungen von Stefan Deines erläutert, insofern sich Anerkennung durch ontologische und soziale Verletzungen in den intersubjektiven Beziehungen und im Anerkennungsraster manifestiert. Deines betrachtet diese Unterscheidungen als einen Rahmen zur Untersuchung des Verhältnisses zwischen Anerkennung und sozialer Gewalt, und zwar: Ausschluss, Prägung und AnVerkennung.
Der erste Modus der Anerkennung zeigt sich als die extremste Ablehnung oder sogar als ein Gegensatz zur Anerkennung: der Ausschluss, der sowohl mit ontologischer Verletzbarkeit als auch mit sozialer Unsicherheit zu tun hat.200 201 In Butlers Politiktheorie tritt der Ausschluss als »die fundamentalste und stärkste Bedrohung im Prozess der Subjektivation« (Bernhard 2017, S. 200) auf. Die Ausgeschlossenen manifestieren sich als diejenigen, die an die Grenze der Anerkennbarkeit stoßen, ihren Platz in der Sprache verlieren und somit durch das Netz sozialer Partizipation hindurchfallen (vgl. Deines 2007, S. 283f.; Kämpf 2006, S. 229). Der Ausschluss wirkt nicht nur als ein extremer Pol der Anerkennung; vielmehr funktioniert die Logik des Ausschlusses einerseits von Anfang an als eine wesentlich politische Dynamik inhärent (vgl. RK, S. 16). Mit Derrida stellt Butler dar, dass der politische Bereich durch die Grenzziehung zwischen Innen und Außen, »durch die Produktion und Naturalisierung des >Vor< oder >Un<-politischen« (Butler 1993b, S. 57) zustande kommen kann. Im Hinblick auf die Anerkennung als Medien der Subjektivation lässt sich konstatieren, dass nicht (nur) diejenigen, die sich an die herrschenden Normen der Anerkennung nicht anpassen können, vom Außen vertrieben werden, sondern nach Butler konstituiert sich das Subjekt im Prinzip »durch die Kraft des Ausschlusses und Verwerflichmachens, durch etwas, was dem Subjekt ein konstitutives Außen verschafft, ein verwerfliches Außen, das im Grunde genommen >innerhalb< des Subjekts liegt, als dessen eigene fundierende Zurückweisung« (KG, S. 23). Der Ausschluss ist andererseits mit der ambivalenten Fragestellung verbunden, ob Menschen im Rahmen von Butlers Politischem überhaupt ausgeschlossen werden können. Wie Butler selbst darlegt, ist es möglich, vollkommen »außerhalb der diskursiven Gepflogenheiten zu stehen, durch die >wir< konstituiert sind« (SL, S. 126). Was bzw. wo ist dann das Außen, in dem sich die Ausgeschlossenen befinden?
Butlers Unterscheidung zwischen Anerkennung und Anerkennbarkeit kann einen Hinweis zum Verständnis der Ambivalenz des Ausschlusses liefern. In Raster des Krieges stellt Butler fest, dass »>Anerkennung< der stärkere Begriff [ist]« (RK, S. 12). Allein mit dem Begriff der Anerkennung lässt sich der Ausschluss nicht auffassen, bei dem bestimmte Menschen als das Unsagbare innerhalb der kulturellen und sozialen Matrix der Normen ausgeschlossen sind. Butler schlägt daher vor, »zwischen >Erkennen< und >Anerkennen< eines Lebens zu unterscheiden« (ebd.), indem sie dem Erkennen und Wahrnehmen gegenüber dem Anerkennen eine neue und gewichtige Bedeutung zuschreibt. Ist dann das Außen, wohin bestimmte Gruppen von Menschen vertrieben werden, vielleicht nicht der Bereich der Anerkennbarkeit, in dem Menschen zwar zum Teil erkennbar sind und in gewisser Hinsicht wahrgenommen werden, dennoch nicht vollkommen oder gütig anerkannt werden? Lässt sich somit nach Butlers Begriff der Anerkennbarkeit von einem spezifischen Zustand des Ausschlusses sprechen, bei dem bestimmte Gruppen von Menschen als »[d]as >Undenkbare< also vollständig in die Kultur hinein[gehörend]« (UG, S. 121) betrachtet werden und sie gleichzeitig »vollständig [...] von der herrschenden Kultur [ausgeschlossen sind]« (ebd.)? Im Vergleich zum Anerkennen bietet die Anerkennbarkeit eine Möglichkeit, etwas, das bisher nicht Gegenstand der Anerkennung war, verfeinerter und erweiterter vorzustellen (vgl. RK, S. 12): den Bereich, in dem man durch die Matrix der Lebbarkeit in gewisser Weise vernehmbar ist, da man zwar bereits unterworfen und ausgebeutet wird, aber trotzdem nicht vollständig anerkannt wird. Dies weist auf die Lücke zwischen Anerkennung und Unterwerfung hin, die sich nicht mit dem Preis der Handlungsfähigkeit oder Anerkennung gleichsetzen lässt. Dieser Ausschluss macht zudem die politisch-performative Möglichkeit deutlich, dass der Ausschluss als ein bestimmtes Feld des Menschlichen aufgefasst wird, welches »innerhalb des von gegenhegemonialen Erkenntnisformen erschlossenen epistemischen Feldes offensichtlich erkennbar ist« (TV, S. 52).202
Die Gewaltsamkeit des Ausschlusses wird dadurch veranschaulicht, dass er den Verlust eines grundlegenden menschlichen Merkmals mit sich bringt. Dem Ausgeschlossenen, der als ein unechtes »Vor-Subjekt« (Butler 1993b, S. 46) oder eine Folie des (normalen, anerkannten)
Menschen betrachtet wird (vgl. MG, S. 345), wird die Lebensfähigkeit als die sozialontologischen Bedingungen des eigenen Fortbestands verunsichert und bedroht (vgl. TV, S. 57). Das Ausgeschlossensein verweist somit auf diejenigen, die ihre Verletzbarkeit nicht öffentlich geltend machen können. Die Unsichtbarkeit der Verletzbarkeit, auf der die menschliche Existenz basiert, geht mit dem Verlust der Zählbarkeit und Betrauerbarkeit einher (vgl. Butler 1993b, S. 46; ME, S. 140). Hierbei bringt Butler ein Beispiel ein: Nach ihr weist »die Frage der >Zählbarkeit< von Toten aus der Zivilbevölkerung« (ME, S. 140f.) auf »die Krise der Rechtsordnung« (ebd.) hin, da solche Situationen enthüllen, wer als Mensch gesetzlich anerkannt und geschützt wird und wer nicht. Im Alltag kommt es ebenfalls zu solchen Ausschlüssen, wenn die Zahl der Menschen, die während ihres Ersatzdienstes sterben, im Gegensatz zu denen, die während ihrer Wehrpflicht sterben, nicht in politischen Statistiken erfasst werden und die Medien nicht öffentlich darüber berichten.203 Oder wenn die Anzahl der bei demselben Unfall getöteten Wanderarbeiter später als die der eigenen Staatsangehörigen bekannt gegeben wird oder nicht genau identifiziert werden kann. Die Verwerfung der Verletzbarkeit, welche verhindert, den Verlust eines Menschen zu betrauern, erweist sich als das Charakteristikum des Ausschlusses.204
Wenn die Verletzbarkeit bestimmter Gruppen von Menschen nicht in Anspruch genommen wird und demnach ihre Zählbarkeit und Betrauerbarkeit nicht anerkannt wird, verlieren sie die Öffentlichkeit, die durch soziale Vernehmbarkeit und Sichtbarkeit gekennzeichnet ist (vgl. Kämpf 2018, S. 170). Ein Beispiel der Unsichtbarkeit, des Verlusts der Öffentlichkeit ist das Schweigen, insofern »die vollständige Verweigerung von Kommunikation [im privaten und öffentlichen Bereich: Choi] einer totalen >Ent-Menschlichung< des Gegenüber gleichkommen kann« (Deines 2007, S. 277). Allerdings ist die Unsichtbarkeit, wie von Rebentisch betont, nicht im wörtlichen Sinne zu verstehen (vgl. Rebentisch 2022, S. 82). Vielmehr verweist sie auf eine besondere Auffälligkeit - wie Schwarzsein in einer weißen Öffentlichkeit -, eine unbehagliche Auffälligkeit, die zeigt, inwieweit die vorhandene Öffentlichkeit und die Erscheinungsweise von Anfang an strikt und obligatorisch reguliert und eingeschränkt werden (vgl. TV, S. 51). Unter diesen Umständen werden die Ausgeschlossenen, die die Öffentlichkeit verlieren, zu auffälligen Gespenstern, die in gewissem Sinne weder lebendig noch tot sind und ebenso weder gezählt werden noch von Bedeutung sind (vgl. GL, S. 51).
Butlers Aussage über den Verlust der Öffentlichkeit nähert sich in diesem Kontext dem Ausnahmezustand205 oder Homo sacer, der von Giorgio Agamben als >das nackte Leben< definiert wird. Homo sacer ist derjenige, der »von jedem beliebigen anderen getötet werden durfte, ohne dass dies einem Mord gleichkam« (Agamben 2019, S. 17). Butlers Position unterscheidet sich doch von der Agambens in zwei Aspekten: Im machttheoretischen Rahmen macht sie darauf aufmerksam, dass nach Agamben nicht klar ist, warum diese bestimmte Bevölkerungsgruppe als Zielscheibe der souveränen Gewalt in besonderem Maße ausgesetzt ist (vgl. GL, S. 87).206 Noch wichtiger ist der Vergleich zwischen Agamben und Butler hinsichtlich der Unterscheidung zwischen (gutem) Leben und bloßem Überleben. Anders als Agamben behauptet Butler, dass zoe keine vorpolitische Frage sei, sondern gerade die politische Frage und das politische Problem vereint. Sie stellt somit die Frage »Was ist das gute Leben?« (MG, S. 326) der Frage nach dem Überleben gegenüber. Butler kritisiert das >bloße Leben< Agambens, da es ihrer Ansicht nach kein nacktes Leben207 geben kann. Selbst wenn ein Leben beispielsweise außerhalb der Rechtsstaatlichkeit steht, ist es dennoch der Macht unterworfen und wird durch die Gewalt - rechtliche Gewalt oder Sicherheits- und Polizeigewalten - betroffen. Das als nackt stigmatisierte Leben behält in den Machts- und Rechtsbeziehungen die verschiedenartigen Spuren der Macht (vgl. Butler 2019b, S. 107). Diese Spuren, diese Verletzungen sind nach Butler nicht bedeutungslos. Sie können uns eine Möglichkeit bieten, als kleine Pforte zur Offenheit für andere und zur Solidarität mit anderen zu fungieren, auch wenn sie von der entsprechenden Gesellschaft nicht als vollständig wertvoll anerkannt werden.
ii) Prägung in Bezug auf Konformität
Zweitens wird die Prägung als ein >basaler< Modus der Anerkennung thematisiert (vgl. Deines 2007, S. 285). Deines beschreibt die Prägung als »das Moment der Einführung in die herrschenden normativen Strukturen« (ebd.), in dem ein konstituiertes Subjekt die soziale Sichtbar- und Hörbarkeit erwerben und am sozialen Leben teilnehmen kann. Butlers Auffassung, dass Anerkennung nicht der Selbstdefinition oder gar Selbstbestimmung gleichkommen kann (vgl. ME, S. 115), sondern dass das Ich »zu Beginn versklavt« (GL, S. 63) ist und Identität sich als unfassbarer Überschuss offenbart, wird durch den Begriff der Prägung verdeutlicht (vgl. EG, S. 60). Parallel dazu, dass die Subjektivation dem Subjekt aufgezwungen wird, obwohl sie weder als das betrachtet wird, was von einem autonomen Selbst ausgeht, noch durch die Matrix der Lebbarkeit das konstituierte Subjekt vollständig determinieren kann, wirkt sich der Prozess der Anerkennung ebenfalls zwangsweise auf das Subjekt aus. Dabei werden im Kontext von Butlers Begriff der Anerkennung, also entweder anerkannt zu werden oder Anerkennung zu verleihen, konstitutiver Verlust, Verletzung, Enteignung oder inaugurale Entfremdung thematisiert (vgl. Deines 2007, S. 285f.).
Die Prägung als eine allgemeine Form der Anerkennung ist mit der Konformität der Subjektivation vergleichbar, zunächst im negativen Sinne davon, dass »Prägung zu einer vorgängigen Reduktion der potenziellen Möglichkeiten eines Subjekts zugunsten eines bestimmten Soseins [führt]« (Bernhard 2017, S. 197). Wie die Konformität nicht als eine Folge der Determinierung, sondern als eine generelle Form der Performativität betrachtet wird, findet die Prägung als ein leidenschaftlicher Prozess des Kampfes ums (Über-)Leben208 statt. Als das passive Geprägtsein zeigt sie die grundlegende Abhängigkeit des Anerkennungsprozesses deutlich auf. Denn die Prägung ist kein einmaliger Akt der Macht, sondern eine ständig sich wiederholende Auseinandersetzung zwischen dem Subjekt und den Normen. Diese Normen funktionieren in dem Maße, in dem das Subjekt sie verkörpert, aber zugleich lässt sich niemals sagen, dass man sie besitzt oder sie als >eigen< behauptet. Zudem muss auf den Moment aufmerksam gemacht werden, in dem jemand durch die Prägung der Machtwirkungen im gleichen Zug zum »Organ der Norm« (EG, S. 38f.) wird. In diesem Sinne erweist sich Prägung als eine grundlegende Unterwerfung und gleichzeitig als eine leidenschaftliche Wechselwirkung zwischen der Tatsache, dass das Ich »unweigerlich [...] von der Norm benutzt « (ebd.) wird, und der Tatsache, dass »es die Norm zu nutzen versucht« (ebd.).
Die durch die herrschenden Normen geprägte Anerkennung weist dem Subjekt nicht nur einen sozialen Platz oder einen bestimmten Namen zu. Inwiefern in der erzwungenen Anerkennung Subjekt und Normen unausweichlich zueinander in Wechselbeziehung stehen, impliziert die Gewalt der Anerkennung eine bestimmte politische Möglichkeit, der niemand entkommen kann und die niemand im Namen eines Subjekts abschließend auflösen kann (vgl. EG, S. 135f.). Dass man nur unter der Bedingung anerkannt wird, dass »man dezentriert wird und beim Erwerb einer Selbstidentität >scheitert<« (ebd., S. 59), weist darauf hin, dass im geprägten Subjekt eine bestimmte Unsichtbarkeit existiert, die verhindert, ein abschließbares, vollendetes, bereits fertig in Erscheinung tretendes Subjekt zu sein. Als Spur der Gewalt der Anerkennung zeigt sich diese Undurchsichtigkeit, bei der ein Subjekt sich selbst nicht gänzlich erkennen kann und die narrative Autorität des Ich an sich selbst unvermeidlich scheitert, nicht einfach als die politische Unfähigkeit oder Unmöglichkeit, ethische Verantwortung zu tragen (vgl. ebd., S. 30, 52f.). Stattdessen argumentiert Butler, dass diese Undurchsichtigkeit für fragile Subjekte dazu führt, »anderen eine gewisse Art von Anerkennung zu verleihen« (ebd., S. 58). Während bei der Subjektivation eine Umkehrung der Macht im Subjekt geschieht - von der Macht, die ein Subjekt konstituiert, zur Macht, die vom Subjekt ausgeübt wird -, können die Spuren der Macht und die daraus resultierende Undurchsichtbarkeit im geprägten Subjekt zu einem Ansatz alternativer, neuer, gewaltloser Relationalität beitragen, da diese Undurchsichtbarkeit als Berührungspunkt für die unbekannten, nicht vorstellbaren anderen fungieren kann.
iii) AnVerkennung und kritische Anerkennung
Die letzte Form der Anerkennung wird als >AnVerkennung< bezeichnet, die verdeutlicht, dass jede Anerkennung eigentlich eine verletzte Anerkennung ist und das Subjekt nicht selten eine Anerkennung in Form der Erniedrigung erträgt (vgl. HS, S. 49f.; Deines 2007, S. 289). Um die Gefahr des Ausschlusses zu vermeiden, unterwirft sich das Subjekt »zuvor dem Gesetz der Wahrheit« (Butler 2003, S. 63) und nimmt die Form der depotenzierten und minderwertigen Anerkennung an. Denn die Bezeichnung mit Schimpfnamen weist dem Subjekt »wenigstens irgendeinen Platz im sozialen Gefüge [zu], von dem aus es versuchen kann, seine Position zu verbessern und eine akzeptablere Stellung zu erreichen« (Deines 2007, S. 284f.; vgl. Bernhard 2017, S. 198). Die so erhaltene Anerkennung wird mit der grundlegenden Frage bei Butler konfrontiert, »ob es möglich ist, zwischen vollständiger und partieller Anerkennung, ja zwischen Anerkennung und Verkennung zu unterscheiden« (TV, S. 55). Kann jedes Subjekt davon überzeugt sein, dass sein Status ohne Erniedrigung oder Demütigung zustande kommt und sein Anerkanntsein die wahre Identität des Selbst - wenn es eine solche überhaupt gibt - reflektiert? Diese spezifische Ununterscheidbarkeit zwischen Anerkennung und Verkennung deutet ebenso darauf hin, dass AnVerkennung weder allein auf die Deklassierung oder den Entzug der Anerkennung beschränkt bleibt, noch als »nichts als trügerische Arten der Regulierung und Zeichen der Unfreiheit« (ME, S. 122) betrachtet wird. Als ein Modus der Anerkennung manifestiert sich die AnVerkennung stattdessen als die Prozesshaftigkeit und Unabgeschlossenheit, dass es bei der Anerkennung »kein >ein für alle Mal< [gibt]« (RK, S. 12).
Im Vergleich zur Prägung besteht die Relevanz des Begriffs der AnVerkennung darin, dass die AnVerkennung eine politische Möglichkeit beinhaltet, sie mit einer widerständigen Re-Platzierung sowie einer kritischen Anerkennung zu verknüpfen, die bei der Subjektivation einer performativen Entunterwerfung ähnelt. Mit Butlers Worten zielt kritische Anerkennung nicht nur darauf ab, »Anerkennung in den Begriffen der bestehenden Normen zu erreichen« (Butler 2008b, S. 293), sondern auch »die Tragweite und den Charakter dieser Normen [zu] überprüf[en] und in Frage [zu] stell[en]« (ebd.). Die Frage der Anerkennung besteht nicht nur darin, »ob ich dich >erkennen< kann oder ob ich >erkannt< werden kann« (EG, S. 177f.), sondern auch darin, ob zum Schema des Menschlichen, gemäß dem das Ich anerkannt wurde, auch du gehören kannst. Butler stellt zudem heraus, dass Anerkennung »zu einer transformativen Kategorie werden [muss] und sie es sich zur politischen Aufgabe zu machen [hat], ein Potenzial der Veränderung zu schaffen« (ME, S. 124f.). Die Subjekte aneignen sich die ihnen zugewiesene verkannte Anerkennung in unerwarteter Weise, um eine neue Form der Freiheit praktizieren209 zu können, insofern die Performativität des Subjekts nach Butler auf die Partialität oder Parteilichkeit der AnVerkennung angewiesen ist (vgl. ebd., S. 100). Kritische Anerkennung zeigt weiterhin auf, dass das nicht vollständige Determiniertsein des Subjekts nicht ausschließlich durch die Normen erklärt werden kann. Mit anderen Worten: Die Nichtdeterminiertheit des Subjekts ist nicht allein darauf zurückzuführen, weil die Normen der Anerkennung nicht sämtliche Formen des Lebens umfassend regulieren und anbieten. Diese Nichtdeterminiertheit kann auch von den anverkannten Subjekten aufgrund des Selbsterhaltungsstrebens praktiziert werden, insofern das anverkannte Subjekt in Konflikt gerät, wo »man nicht außerhalb von Kategorien der Anerkennung sein kann, auch wenn es sein kann, dass man nicht innerhalb sein kann« (Butler 2001b, S. 594).
Ohne die Unersättlichkeit des Conatus lässt sich weder erklären, warum von Anfang an Anerkennung als eine Form der Demütigung stattfinden kann, noch warum man eine neue Position anstrebt, obwohl einem zwar eine demütigende, jedoch bereits soziale Stelle zugewiesen war. In einem Interview spricht Butler von der »Produktivität des Begehrens« (ebd.), »das nie mit einer bestimmten Anerkennung zu erfüllen ist« (ebd.). Ein leidenschaftlich unverzichtbares Begehren nach alternativem Leben, das unter den vorhandenen Normen noch nicht gerechter aufgefasst werden kann und konnte, besteht im Subjekt weiter, das »nicht wirklich als Subjekt (an)erkennbar [ist]« (RK, S. 12), und im Leben, »das niemals als Leben (an)erkannt wird« (ebd.). Um dieses Begehren zu politisieren, fordert Butler, dass man sich zwar in der AnVerkennung möglichst nicht vorschnell den bestehenden Anerkennungsnormen anpassen sollte. Sondern es gilt, eine bestimmte Distanz und kritische Perspektive auf sie einzunehmen, um die Kategorien der Anerkennung als einen Raum der aktuell-politischen Auseinandersetzung zu öffnen. In diesem Sinne wird der kritischen Anerkennung in Butlers Politiktheorie besondere Bedeutung beigemessen, da sie in der Abhängigkeit von Normen und ihrer Gewalt eine Form der Anerkennung zeigt - nämlich den »Ruf nach Anerkennung von Unterdrückung, um die Unterdrückung zu überwinden« (ME, S. 124).
Butler entwickelt ihren Anerkennungsbegriff durch die theoretische Auseinandersetzung mit Spinoza, Hegel und Foucault, um eine verletzte und relationale Anerkennung zu konzipieren, die nicht nur von der intersubjektiven Beziehung, sondern auch von den Wechselwirkungen zwischen dem Subjekt und den Normen abhängig ist. Durch dieses Verständnis der Anerkennung kann sie die grundlegende ontologische Abhängigkeit des Menschen radikaler erfassen, die nicht nur in Bezug auf zwischenmenschliche Beziehungen besteht, sondern auch eine Verbindung zu Normen und Diskursen und der sozialen Infrastruktur aufweist (vgl. TV, S. 61). Die drei Modi der Anerkennung - Ausschluss von der Zählbarkeit und Öffentlichkeit, Prägung durch herrschende Anerkennungskategorien und AnVerkennung, die alle Anerkennung als partiell und vorläufig betrachten - können sich zwar unterscheiden, aber in gewisser Hinsicht nicht klar voneinander Abstand halten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich die Situation des Ausschlusses mit dem Status der AnVerkennung gleichsetzen lässt: Es gibt in der Tat ein unlebbares Leben, das sich mit dem Leben der AnVerkannten, beispielsweise mittelschichtigen Weißen, nicht vergleichen lässt - die Geflüchteten in Lesbos sind ein deutliches Beispiel. Nach dem Brand im EU-Lager Moria 2020 waren »[f]ast 13000 Geflüchtete [...] wochenlang ohne Obdach, Nahrung und Wasser, [kampierten] in Straßengräben, auf Friedhöfen, in behelfsmäßig errichteten Zelten ohne Möglichkeiten, die in der Corona-Pandemie so lebenswichtigen Hygiene-Regeln Abstand-Halten und regelmäßig Händewachen einhalten zu können« (Hark 2021, S. 47). Es lässt sich feststellen, dass das Leben von Geflüchteten als ein bloßes Leben oder ein auf die minimale biologische Form reduziertes Überleben betrachtet wird, das vom sozialen Leben ausgeschlossen ist. Oder es lässt sich sagen: »>Das ist kein Leben< [...], um ihre Situation anzuprangern« (Butler u. Worms 2023, S. 11). Dennoch kann man nach Butler ein solches unmögliches, unlebbares Leben von menschlichem Leben nicht ausschließen, nicht nur weil es bereits in unserer Welt existiert und jemand >ein solches Leben< ist (vgl. ebd.). Sie hebt vielmehr hervor, dass ein solches Leben ebenso und vielmehr ein politisches Leben »im Verhältnis zur Macht, im Verhältnis zu anderen« (MG, S. 68) ist. Diese Notsituationen und unmenschlichen Erfahrungen zeigen die Grenze zwischen denjenigen, die als lebenswertes und soziales Wesen anerkannt werden können, und denjenigen, deren Leben als verzichtbar betrachtet wird (vgl. Hark 2021, S. 47). Dies wirft immer noch folgende Fragen auf: Was ist das menschliche Leben und welches Leben kann als menschlich und schützenswert anerkannt werden? Oder ferner: Kann aus AnVerkennung eine Freiheit oder ein menschliches Leben ohne Bezug zur Gewalt der Prekarisierung gerecht zustande kommen, wenn die Freiheit oder das menschliche Leben sowohl als ein Gegensatz zu Ausschluss und Unlebbarkeit betrachtet werden als auch mit dem Ausschluss und der Unlebbarkeit verbunden sind?
Der Begriff der Anerkennung bleibt nicht allein verletzlich und prekär. Ohne diese passiven oder negativen Eigenschaften im Gegensatz zur Autonomie oder Souveränität zu überwinden, zeigt die durch die Verletzbarkeit und Abhängigkeit geprägte Anerkennung eine politische Möglichkeit der Lebensfähigkeit und birgt sie in sich, insbesondere wenn sie nicht völlig mit der Subjektivation übereinstimmt. Infolgedessen können nach Butler das nicht wirklich anerkannte Subjekt oder die handlungsfähigen Ausgeschlossenen existieren. Dies unterstreicht die Bedeutung von Butlers Anerkennungsbegriff, insofern er die Lücke in der Subjektivation enthüllt und betont. Die drei Modi der Anerkennung zeigen eine spezifisch politische Dynamik dieser Lücke auf, wie Menschen von Anfang an in den Verhältnissen von Macht, Normen oder der staatlichen Gewalt gefangen sind, ohne dabei vollständig determiniert zu werden. Menschen versuchen bewusst und unbewusst gemeinsam, im Raster der Normen, einen neuen Bereich der Anerkennbarkeit zu erweitern: Hier geht es nicht darum, »fremde oder unvertraute Vorstellungen von [...] Menschsein in unsere eigenen aufzunehmen, [...] in ein vorhandenes Lexikon aufzunehmen« (MG, S. 67). Stattdessen nimmt dieses Projekt eine Form der Fragestellung an, »wie und warum [die Anerkennungskategorien: Choi] sich auflösen, umgedeutet werden müssen, wenn sie auf die Grenzen einer verfügbaren Episteme stoßen« (MG, S. 67). Insofern Anerkennung wesentlich relational ist und sich auf die Lebensfähigkeit bezieht, kann die Anerkennungsszene performativ und subversiv funktionieren, wenn jede Anerkennung bereits AnVerkennung ist und wenn jede AnVerkennung eine Möglichkeit der kritischen Anerkennung impliziert. Denn Performativität und Subversivität der kritischen Anerkennung sind in diesem Sinne bereits mit der Gleichheit und dem gemeinsamen Leben verbunden, da die eigene Existenz und Subjektivität ohne andere und ohne soziale und geschichtliche Gewebe nicht erklärt werden können (vgl. MG, S. 379).
4.2 Verletzbarkeit, Prekarität und Vulnerabilität
Verletzbarkeit, Prekarität und Vulnerabilität210 sind die Schlüsselbegriffe in Butlers Denken, die einen wesentlichen Unterschied zur politischen Theorie Hannah Arendts markieren. Im Gegensatz zur Vorstellung der autonomen und souveränen, nämlich mobilen Subjektivität verweist die Verletzbarkeit darauf, dass Subjekte nicht nur niemals selbstschaffend sind, sondern alle Leben notwendigerweise gefährdet sind (vgl. Ludwig 2016, S. 124). Im Verlauf dieses Kapitels wird zunächst gezeigt, wie bzw. dass das von den Normen benutzte und als passives Objekt konstituierte Subjekt, das »daran scheitern, Herr über isch selbst und über seine Identität zu sein«(Delhom 2016, S. 78), von Anfang an mit ethischer und politischer Verantwortung konfrontiert wird. Zweitens wird Prekarität als sozialer und politischer Begriff in den Fokus gestellt. Im Vergleich zur Verletzbarkeit ist die Prekarität weniger durch den konstitutiven und ermächtigenden Charakter als vielmehr durch ungleich verteilte Gewalt geprägt. Dies zeigt sich beispielsweise darin, wessen Verletzbarkeit als schutzwürdig erscheint und was passiert, wenn die Verletzbarkeit verleugnet wird. Butlers Argument der Prekarität basiert in gewissem Sinne auf Foucaults biopolitischem Dispositiv. Allerdings distanziert sie sich von foucaultscher Position, dem Konzept des Selbstunternehmens oder der Selbstregierung, indem sie sich dagegen wendet, die Probleme der Prekarität innerhalb bzw. durch den Individualismus zu lösen. Am Ende dieses Abschnitts wird eine Vergleichung zwischen Arendts Totalitarismus-Analyse und Foucaults Biopolitik als Exkurs präsentiert, um die Nähe und Distanz zwischen Arendt und Butler aus anderer Perspektive zu verstehen.
Was bedeutet es, dass Butler im Gegensatz zu Arendt oder Foucault Verletzbarkeit und Prekarität in den Vordergrund stellt? Der Schwerpunkt auf diese Frage zeigt, dass Butler Verletzbarkeit als allgemeine und ontologische Bedingung des Menschseins sowie Prekarität als Ausdruck struktureller Gewalt begreift, ohne diese ausschließlich mit Passivität oder der Unfähigkeit des Subjekts gleichzusetzen. Im Gegenteil: Vulnerabilität steht insofern im Zentrum ihrer Politiktheorie, als sich von ihr aus eine neue, politisch bedeutsame Dimension des Widerstands denken lässt. Dies verweist doch nicht darauf, dass die Prekarisierten über die durch Gewalt geprägte Negativität oder Passivität hinausgehen oder sie übersteigen können. Stattdessen schlägt Butler vor, diese dualistische Gegenüberstellung von Aktivität und Passivität zu dekonstruieren - als verletzbare, anfällige und vulnerable Wesen widerständig zu sein.
Vulnerabilität und Prekarität bilden dabei einen politischen Spielraum, in dem nicht nur die Phänomene der Prekarität als soziale Probleme auftauchen, die es gemeinsam zu lösen gilt. In diesem Spielraum wird auch die Verletzbarkeit, mit der jeder in unlösbarer Beziehung steht, immer neu infrage gestellt, wie ein gemeinsames Leben in und mit der Vulnerabilität gestaltet werden kann. Hierbei spielen nicht nur die Subjekte, sondern auch die als empfänglich und öffentlich konzipierten Körper eine zentrale Rolle, da verletzbare Körper in der grundlegenden Relationalität über den aktiv-passiven Dualismus hinaus politisch-performativ gemeinsam handeln können. Diese Idee wird im abschließenden Teil mit den Begriffen der Immobilität und Gewaltlosigkeit verbunden.
Das verletzte Subjekt und seine Unverfügbarkeit
Verletzbarkeit und Vulnerabilität211 stehen im Zentrum von Butlers politischem und ethischem Projekt einer gewaltlosen Politik. Aus Sicht der Aufklärung wird das moderne, individuell mündige Subjekt als »Ausdruck eigener, moralisch begründeter >Entscheidungen<, für die [es] persönlich zur Verantwortung gezogen werden [kann]« (Meissner 2018, S. 154), definiert. Im Gegensatz dazu zeichnet sich das Subjekt bei Butler von Beginn an durch die Verletzbarkeit aus, was dazu führt, »wir weder in vollem Besitz noch in lückenloser Kenntnis unserer selbst sind« (Delhom 2016, S. 77). In der Anerkennungsszene liegt Butlers Fokus auf der Darstellung, wie Verletzbarkeit in Beziehung zum Ausgesetztsein und der Abhängigkeit steht. Anerkennung ist im butlerschen Sinne ein Prozess, in dem wir den Normen ausgesetzt sind, auf sie angewiesen sind und von ihnen benutzt werden. Sie verdeutlicht, dass »das >Ich< dieses Angebot der Anerkennung nicht mit seinen eigenen privaten Ressourcen bestreitet« (EG, S. 38), wenn es sich den Anerkennungsnormen unterwirft. Vielmehr hebt Butler hervor, dass im Anerkennungsprozess »das >Ich< ausführendes Organ der Norm wird« (ebd., S. 38f.). Dieses Gebrauchtwerden ist ein reziprokes, aber asymmetrisches Moment, in dem nicht nur »die Norm genau in dem Maß von [einem Subjekt: Choi] Gebrauch macht« (ebd., S. 52), sondern vielmehr das Subjekt »von ihr Gebrauch mache« (ebd.), wodurch es im Vektor der Normen adressiert wird. Hier entsteht ein Paradox, nämlich dass sozusagen >mein< Leben, >meine< Handlungsfähigkeit und >mein< Körper für mich selbst nicht ganz verfügbar sind; vielmehr ist das Ich seitens der Normen verfügbar geworden. Dies erweist sich als eine spezifische Unfähigkeit des Menschen, sich gegen die Wirkungen der Normen nicht völlig zur Wehr zu setzen. Selbst wenn ein Subjekt gesellschaftlich anerkannt und handlungsfähig erscheint, wenn es sozusagen als ein freies Subjekt existiert, wird es von den Normen benutzt, und insofern dieses Benutztwerden der eigenen Kontrolle entzogen ist, sind alle Menschen bereits verletzlich, verletzbar und unverfügbar.
Mit einer gewissen Unschärfe lässt sich feststellen, dass Butlers frühe Konzeption der Anerkennung in ihrem Verständnis von Foucault weniger als intersubjektiv und eher als entpersonifiziert erscheint, während sie in ihren späteren Arbeiten durch die Auseinandersetzung mit Levinas den intersubjektiven und ethischen Charakter der Anerkennung betont (vgl. Balzer 2014, S. 522f.). Im Hinblick auf die Unverfügbarkeit des verletzten Subjekts werden kurz das Ausgesetztsein und die Alterität bei Levinas thematisiert, die unassimilierbar in sich bleibt und die »eigene Kontinuität unterbricht und >autonomes< Selbst gegenüber >autonomen< anderen verunmöglicht« (AS, S. 53). Dass alle Menschen der Alterität des anderen unausweichlich ausgesetzt sind, wird bei Levinas als eine grundlegende Bedingung und notwendige Passivität verstanden, und zwar »eine Passivität noch vor aller Passivität, die das Subjekt nicht willentlich einnimmt, die es aber mit allen anderen Subjekten teilt und durch die es sich an den Anderen ausliefert« (Waldow 2013, S. 45). Der Alterität der anderen ausgesetzt zu sein bedeutet nicht eine deskriptive oder statische Bedingung, sondern eher eine konstitutive. Man mündet unweigerlich in die asymmetrische Beziehung zu dem anderen, der »nicht als akzidentell oder sekundär gegenüber einem bereits für sich gegebenen Selbst verstanden [wird]« (Babka u. Posselt 2016, S. 41). Levinas betont den Vorrang des anderen, indem er verdeutlicht, dass »[e]in passives Verhältnis zu anderen Wesen der Formierung des Ego oder > moi< voraus[geht]« (EG, S. 118). Diese Abhängigkeit von den anderen und Priorität des/der anderen sind in Butlers Denken ständig präsent. Sie zeigt, dass wir durch das Angesprochen-Werden von anderen - durch die Adresse von Bitte oder Anspruch, die sich nicht selten gegen unseren Willen wenden - konstituiert werden (vgl. Delhom 2016, S. 78). Neben der Auseinandersetzung mit Levinas212 übernimmt Butler auch von Cavarero die Idee der Interdependenz, inwiefern eine eigene Existenz bereits den anderen verhilft: »In einem bedeutsamen Sinne existiere ich für dich und kraft deiner. Wenn mir die Voraussetzungen der Anrede abhanden gekommen sind, wenn ich kein >Du< habe, an das ich mich wenden kann, dann habe ich >mich selbst< verloren« (EG, S. 46). So vertieft Butler die Idee der Interdependenz, dass das Leben, das nicht ausschließlich als eigenes beansprucht werden kann, die Bedingung für das lebbare Leben für alle bildet (vgl. WW, S. 43).
Levinas’ Konzept des Gedrängtwerdens lässt sich mit Hegels Idee des Außer-sich-Stehens vergleichen (vgl. EG, S. 41). In der Hegelschen Anerkennungsszene werden ein Selbstverlust, der sich aus einer Unmöglichkeit der »Rückkehr zu einem früheren Selbst« (MG, S. 379) ergibt, sowie eine daraus resultierende zukünftige Wandlung dargestellt. Butler legt bei Levinas den Fokus darauf, dass der bzw. die andere, etwas Fremdes mich drängt, meine Stelle einnimmt und durch diese Substitution als Akkusativobjekt ein >Sich< entsteht, »das seinen Ort nicht anders verstehen kann als diesen bereits von jemand anderem besetzten Ort« (EG, S. 121).213 Die durch die Begegnung mit dem anderen ausgelöste Enteignung ist kein singuläres Ereignis. In der Subjektivation und im Prozess der Anerkennung hinterlässt die Alterität des anderen Spuren, die als eigene Fremdheit im Subjekt bestehen bleiben. Diese Spuren sind, wie Butler hervorhebt, »ein fester Bestandteil unserer Selbstformierung« (ebd., S. 30), der ein Sich ständig dezentriert. Aus diesem Grund kann das Ich sich selbst nicht vollständig erfassen, »weil ein Teil dessen, was ich bin, aus den rätselhaften Spuren der anderen besteht« (GL, S. 63f.). Diese Undurchsichtigkeit, die die Kohärenz des Subjekts untergräbt, ist einer der Gründe, warum das Ich bei Butler außerstand ist, zu erklären, wer >ich< bin (vgl. EG, S. 178). Im Gegensatz dazu, dass Arendts Subjekt durch seine eigene Meinung über das Selbst und die Welt in Erscheinung tritt, bleibt Butlers Subjekt unfähig, Aufschluss über sich selbst zu geben, »warum ich gerade so geworden bin« (ebd., S. 57). Der Versuch, über sich selbst zu erzählen, gerät irgendwann im Laufe des Erzählens »ins Stocken, wie es gar nicht anders sein kann« (GL, S. 40). Denn das Ich steht von Anfang an in eine Beziehung der Inkommensurabilität mit etwas Unsichtbarem in sich selbst. Selbst wenn das Ich seine Herkunft durch >ein narratives Ich< erzählt, das versucht, sein eigenes vergessenes und unwissbares Leben zu fiktionalisieren und zu fabulieren, kann diese Bemühung keine kohärente und widerspruchslose Selbstdarstellung formulieren (vgl. EG, S. 56f.). In der Anrede ist das Subjekt unvermeidlich dazu gezwungen, seine Unvollständigkeit und Undurchsichtigkeit zu akzeptieren. Die Unmöglichkeit einer lückenlosen Autobiografie zeigt somit, dass das Ich als Erzähler darauf verzichten muss, eine Geschichte über sich als alleiniges verfügbares Eigentum zu beanspruchen.
Butler richtet den Fokus auf das in Levinas’ Theorie als passiv-akkusativisches Objekt konstituierte Ich, das von Anfang an in Abhängigkeit von den Anderen steht und aufgrund deren Aufrufe nicht unversehrt214 bleibt. In diesem Sinne versteht sich die Subjektivation bei Butler als einen reaktionären Prozess, in dem »[die Anderen] [das Subjekt] zur Verantwortung aufrufen, als ethisches Subjekt konstituieren« (Seitz 2018, S. 72). Trotz der Verletzbarkeit und Fremdheit des Subjekts, die es daran hindern, Rechenschaft über sich selbst abzulegen, ist dieses nicht selbstverständliche Subjekt dennoch nicht unfähig, ethisch zu handeln (vgl. EG, S. 30f.). Ganz im Gegenteil fordert Butler dazu auf, eine neue Form der gewaltlosen Gleichheit über die liberalindividualistische Vorstellung des Ich hinaus auf der ethischen Relationalität, nämlich auf der grundlegenden Interdependenz zu konzipieren (vgl. WW, S. 83). Sie betont, dass »in dieser Enteignung sich ein ethischer Anspruch zur Geltung [bringt]« (EG, S. 175), insofern die »eigene Fremdheit [sich] selbst gegenüber paradoxerweise die Quelle [seiner] ethischen Verbindung mit anderen ist« (ebd., S. 114). Das Ich ist daher »>nicht< primär aufgrund [seiner] Handlungen verantwortlich, sondern aufgrund [seiner] Beziehung zum anderen, die sich auf der Ebene [seiner] primären und irreversiblen Empfänglichkeit bildet, [seiner] Passivität, die jeder Möglichkeit zu handeln oder zu entscheiden vorausgeht« (ebd., S. 120). Es ist eine merkwürdige Ambivalenz Butlers, dass sie das gewöhnliche Verhältnis zwischen der Autonomie und Handlungsfähigkeit einerseits und der Verletzbarkeit und Passivität andererseits umkehrt. Ihrer Auffassung nach wird das Subjekt in der Verletzbarkeit und aufgrund der Enteignung konstituiert und so zur ethischen Handlung befähigt. Butler stellt klar: »Man muss also schon fähig sein, den Ruf zu empfangen, bevor man ihn wirklich beantwortet. In diesem Sinne setzt die ethische Responsibilität die ethische Responsivität voraus« (TV, S. 147).
Butlers Begriff der Prekarität in Kontroversen
In Butlers jüngsten Veröffentlichungen spielt Prekarität215 als politischer und sozialwissenschaftlichen Begriff eine zentrale Rolle216, einerseits um die durch die grundlegende Relationalität nicht ausreichend erklärbare Ungleichheit und die strukturelle Gewalt näher zu thematisieren, andererseits um die infrastrukturellen Unterstützungen für die Bedürfnisse und die Abhängigkeit vom Sozialen erneut zu betonen (vgl. RK, S. 32). Butler definiert Prekarität als »jeden politisch bedingten Zustand, in dem ganz bestimmte Bevölkerungsgruppen aus sozialen und wirtschaftlichen Unterstützungsnetzen herausfallen und dem Risiko der Verletzung, der Gewalt und des Todes ausgesetzt werden« (ebd., S. 31f.). Prekarität hinterfragt demnach, warum und wessen Leben - beispielsweise in Kriegen, Naturkatastrophen, den Klimawandel und prekären oder existenziell bedrohlichen Lebensumständen - durch die heteronormative, rassisierende, nationalistische, kapitalistische, abilty-zentrierte Machtverhältnisse besonders gefährdet ist (vgl. Ludwig 2016, S. 124; Janssen 2018, S. 107). In diesem Sinne funktioniert Prekarität oft bereits als >Prekarisierung<, die gleichsam als ein gewaltsames Herrschaftsverhältnis zu verstehen ist, das sich »durch [seine] Selektivität und [seine] zumindest implizite Hierarchisierung des Lebenswerts auszeichnet« (Lessenich 2020, S. 455). Um Butlers Begriff der Prekarität näher zu betrachten, wird im Folgenden untersucht, in welcher begrifflichen Spannung Butler die Prekarität definiert. Diese Frage wird wiederum in zwei Aspekte unterteilt: eine kurze Auseinandersetzung mit Agamben und einen Gegensatz zu den auf dem Besitzindividualismus basierenden ungleichen Verhältnissen. Ferner wird versucht zu zeigen, dass Prekarität auch als eine Bedingung verstanden werden kann, die es ermöglicht, einen gleichberechtigten Zugang zur Infrastruktur und Unterstützung zu fordern, wenn die gemeinsamen Prekären, die sich über die feste Vorstellung der Arbeiterklasse hinaus denken lassen, ihre Prekarität öffentlich zeigen und sie zu einer politischen Agenda machen.
Der Begriff Prekarität ermöglicht es, einen Zusammenhang zwischen der ontologischnormativen Dimension und den praktisch-materiellen, alltäglichen Unterstützungen und Infrastrukturen herzustellen. Um Butlers Position besser zu verstehen, müssen zunächst die wichtigsten Kritikpunkte an Butlers Theorie berücksichtigt werden. Ein zentraler Kritikpunkt ist, dass ihr Prekaritätsbegriff »Differenzen und unterschiedliche Prekarisierungsniveaus sowie sichtbarere und weniger sichtbare Verletzbarkeiten« (Janssen 2018, S. 117) nicht konkret beschreiben kann. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft den Unterschied zwischen Butlers Verständnis von Prekarität und der sozialwissenschaftlichen Definition dieses Begriffs. Nach den wegweisenden Arbeiten von Robert Castel wird der Begriff Prekarität bzw. Prekarisierung als ein abweichendes Beschäftigungsverhältnis beschrieben, »das bestimmte soziale und rechtliche Standards unterschreitet, die üblicherweise durch Arbeits- und Tarifrecht, Sozialpolitik und Sozialversicherung garantiert sind und als >normal< angesehen werden« (Kraemer 2009, S. 242). In diesem Sinne ist Prekarität, insbesondere Prekarisierung, durch strukturelle Benachteiligung und Entsicherung im Vergleich zu normalen, gesicherten Erwerbsarbeitsverhältnissen gekennzeichnet (vgl. ebd.). Im Gegensatz dazu nimmt in Butlers Prekaritätsbegriff die Frage der Arbeitsverhältnisse und -bedingungen eine weniger zentrale Rolle ein. Beide Kritikpunkte sind zum Teil angebracht und leisten daher einen Beitrag dazu, Butlers Begriff der Prekarität zu verdeutlichen. Besonders interessant ist die erste umfassende Kritik an Butler, da sie mit Butlers Kritik an Agamben in gewisser Hinsicht übereinstimmt. Butler kritisiert Agambens Begriff des >nackten Lebens< bzw. des Homo sacer aus dem Grund, dass er die »Stufungen und Wertungen innerhalb des >nackten Lebens«« (Lemke 2004, S. 263f.) nicht ausführlich erklärt, insbesondere wie diese Macht des Ausnahmezustandes unterschiedlich funktionieren kann, »um bestimmte Bevölkerungsgruppen als Zielscheiben herauszugreifen und zu kontrollieren [...]«« (GL, S. 87). Im Gegensatz zu Agambens »absolute[r] Unbestimmbarkeit« (Lemke 2004, S. 262)217, dass »alle Bürger gleichermaßen homines sacri sind« (ebd.), weist Butler unter dem Begriff der Prekarität darauf hin, dass die Prekarisierten weder einfach auf das bloße Sein reduziert werden (können), noch in gleicher Weise als das Unlebbare oder lebende Tod existieren. Gemäß Butler lässt sich argumentieren, dass es vielschichtige prekäre und beharrliche Lebensformen gibt: Solches Leben zeigt, dass die Unlebbarkeit nicht gleichbedeutend mit der lebenden Leiche ist und der »Koexistenz und der Gleichzeitigkeit des Überlebens und des Unlebbaren Rechnung [getragen werden kann], ohne deshalb das Unlebbare im Lebbarem aufzulösen« (Butler u. Worms 2023, S. 39). Sie stellt zudem fest, dass die Prekarisierten nicht »politisch keine Präsenz beziehungsweise keine >Realität< besitzen« (TV, S. 108) und dass die Ausgeschlossenen »nicht außerhalb des Politischen [stehen] oder [ihrer] Handlungsfähigkeit vollkommen beraubt [sind]« (ebd.). In ihren Überlegungen rückt Butler eine ambivalente Gleichzeitigkeit von Unterwerfung und Performativität ins Zentrum, die von den nicht vollständig anerkannten Prekarisierten auf verschiedene Weise ausgeübt werden kann: Die Prekarisierten oder die Geflüchteten218, die das sogenannte nackte Leben sind, »[wollen und können] handeln, [sie sind: Choi] kein nacktes Leben mehr, sondern eine Form von politischer Aktivität, ja sogar ein Modus des politischen Widerstands, der in seiner Eigenart verstanden werden muss« (Butler 2019b, S. 107).
Ein wichtiger Unterschied zwischen Butler und Agamben besteht darin, dass für ihn »Disziplinierung und Dressur, Normalisierung und Normierung des Lebens« (Lemke 2004, S. 264) nicht im Fokus stehen und dass »Agamben sich weniger für das >Leben< als für dessen >Nacktheit< [interessiert]« (ebd.). In diesem Zusammenhang ist die Prekarität bei Butler im Vergleich zu ihrem Begriff der Verletzbarkeit und zu Agamben deswegen von Bedeutung, um zu konkretisieren, inwiefern die Betroffenen in differenzierter Weise prekarisiert werden und dennoch Überlebensfähigkeit zeigen. Butler hinterfragt die Wirkung bzw. Wirkungsweise der Prekarität, wer von der ungleichen Gewalt betroffen ist und wessen Prekarität besonders unsichtbar wird. Butler greift z. B. die intersektionale Perspektive von Kimberle Crenshaw auf, die darauf hinweist, dass schwarze Frauen in den USA als Opfer rechtswidriger Polizeigewalt weniger sichtbar werden als schwarze Männer. Die Prekarität schwarzer Frauen in den USA beruht auf der doppelten Hierarchisierung, einerseits der Hierarchisierung zwischen Weißen und Schwarzen, andererseits der Hierarchisierung zwischen Männern und Frauen. Aus diesem Schnittpunkt werden ihre Verletzungen und ihr Schaden gar nicht erst in der Öffentlichkeit behandelt (vgl. EP, S. 151f.). Daraus folgend lässt sich nach Butler ablesen, dass die Prekarität ungleich - und seitens der Machtverhältnisse strategisch - verteilt wird und sie beispielsweise durch die Geschlechter oder queere Identitäten, Rasse oder Ethnizität und andere minoritäre Eigenschaften kanalisiert wird.
Nun findet der Übergang zur zweiten Kritik an Butlers Begriff der Prekarität statt. Tatsächlich richtet sich Butlers Augenmerk weniger auf die Arbeitsverhältnisse bedingter Prekärer oder auf die Arbeiterklasse, sondern vielmehr auf diejenigen, die im öffentlichen Raum häufig von Polizeigewalt betroffen sind oder deren politische Kraft dadurch dezimiert wird (vgl. TV, S. 113; Butler 2018, S. 300) - z. B. queere Menschen und die Transgesellschaft, People of Color, Migranten, Obdachlose und Abweichler (vgl. EP, S. 244). Butler rückt bei der Konzipierung der Prekarität die Arbeitsverhältnisse und -bedingungen aus zwei Gründen nicht in den zentralen Fokus: Einerseits basiert ihr Ansatz zur Prekarität nicht auf der Identität der Arbeiterklasse. Insofern Butler Prekarität als eine Rubrik betrachtet, die in sich die vielschichtigen und bereits genannten Minoritäten verknüpft, kennzeichnet sich Prekarität als ein gesellschaftlich bestimmter Zustand, jedoch nicht als Identität (vgl. TV, S. 80). Andererseits gibt es einen noch bedeutenderen Grund, nämlich dass die Arbeitsverhältnisse und -bedingungen mit dem Besitzindividualismus ins Verhältnis gesetzt werden, der eine Grundlage des autonomen, selbstregierenden Subjekts liefert. Die Frage der Prekarität darf weder als eine Frage nach »dem besitzenden, über Eigentum verfügenden Individuum« (ME, S. 220) noch als Frage nach dem allein arbeitenden »Unternehmer seiner selbst« (TV, S. 25) betrachtet werden. Der Grund dafür, dass bestimmte Gruppen als Zielscheibe der selektiven Gewalt existieren und als solche produziert werden, liegt jedoch nicht darin, dass es den Menschen dieser Gruppen an Kapazität bezüglich der Selbstverwaltung oder an Arbeitsfähigkeit mangelt. Wenn die Prekarität dennoch auf Arbeitsverhältnisse und die Arbeiterklasse hinweist, birgt diese Auffassung die Gefahr, dass Prekarität auf ein soziales Problem der arbeitsfähigen Bürger und Besitzenden reduziert wird. Die auf den Arbeitsverhältnissen und der Arbeiterklasse basierende Prekarität könnte die Bindung zwischen Individuum und dem System des Eigentums, das zwischen Besitzenden und Besitzlosen unterscheidet (vgl. ME, S. 220), eher verstärken, indem sie voreilig darüber entscheidet, dass die Prekarität von Arbeitenden als schützenswert betrachtet wird. Unter diesem Umstand wird dem Individuum nach und nach die Selbstregierungstechnik nahegebracht, die das Phantasma eines autonomen und kohärenten Subjekts verstärkt. Infolgedessen bleibt die Ungleichheit, die sowohl Grund als auch Ergebnis der Prekarität ist, als unvermeidbare und unantastbare Frage bestehen.
Butler merkt allerdings auch die durch Arbeitsverhältnisse bedingten Probleme an, wie »gesundheitsgefährdende Arbeitsplätze oder d[en] zunehmende[n] Sozialabbau die Arbeiter/innen und Arbeitslose[n] [betreffend]« (TV, S. 32). Trotzdem erscheint es ihr gefährlich, Prekarität in Übereinstimmung mit unsicheren Arbeitsverhältnissen zu betrachten. Es geht nicht darum, ausschließlich die Arbeitnehmer vor den Problemen der Prekarität zu schützen - in diesem Fall würde dies die sogenannten Sozialrechte auf arbeitsbezogene Rechte reduzieren. Ebenso geht es nicht darum, die Prekarität lediglich als eine Frage der Sicherheit beschränkt zu verstehen. Wenn man versucht, das Problem der Prekarität durch die Logik der Fürsorge zu lösen, besteht eine wesentliche Gefahr darin, dass durch Fürsorge die strukturelle Gewalt erträglich gemacht wird und durch die Logik der Fürsorge schließlich die strukturelle Gewalt der Biopolitik verschleiert werden kann. Butler warnt davor, dass im letzteren Fall die Prekaritätsfrage in eine paternalistische Fürsorge umgewandelt wird, die dazu führen kann, die Möglichkeiten der politischen Partizipation der Prekären einzuschränken, die als reiner Gegenstand der Fürsorge zu verstehen wären (vgl. Jassen 2018, S. 109). Unter diesem Aspekt lässt sich der Widerstand jener nicht richtig in den Fokus nehmen, die sich außerhalb des Fürsorgebereichs befinden, insbesondere derjenigen, denen Staatsbürgerrechte wie Bewegungsfreiheit und das Recht auf Versammlung verweigert oder die sogar kriminalisiert werden (vgl. EP, S. 227).
Um auf die Prekaritätsfrage in der heutigen Welt, in der die Arbeitsflexibilität und die Unsicherheit der Arbeitsverhältnisse und -bedingungen zunehmen, eine neue Antwort zu finden, verwendet Butler Infrastruktur als einen politikwissenschaftlichen Terminus. Diese Wortwahl zeigt einerseits ihre Bemühungen, die beiden oben kritisierten Perspektiven zu umgehen - die Prekarisierten als eine Arbeiterklasse vorzustellen und die Prekaritätsfrage als reine Fürsorge zu betrachten -, und andererseits ihr Ziel, den Fokus auf das Außen der Arbeitsverhältnisse zu erweitern. Infrastruktur versteht sich nun als etwas, das sich auf »das komplexe Geflecht aus Umwelt, Sozialbeziehungen, Unterstützungs- und Versorgungsnetzwerken« (TV, S. 175) bezieht, »das sich über die Grenzen des Menschlichen, des Tierischen und des Technischen hinweg erstreckt« (ebd.).219 Sie betont die materielle Unterstützung, wie z. B. dass »es überhaupt kein Leben ohne Bedürfnis nach Zuflucht und Nahrung [gibt], kein Leben ohne Abhängigkeit von umfassenderen Netzwerken der Vergemeinschaftung und Arbeit« (RK, S. 31). Die meisten Kontexte, in denen Butler die Wichtigkeit der Infrastruktur herausstellt, sind mit ihrem Verständnis des Körpers verknüpft. Der Körper und das von ihm ausgehende Handeln sind nicht nur von der Sprache und Norm abhängig, sondern in verschiedener Weise auf infrastrukturelle Unterstützung angewiesen, die »außerhalb und doch Teil des Körpers selbst« (TV, S. 194) ist. Im Gegensatz zum arendtschen Begriff des Handelns, der als bestimmtes Sprechen unmittelbar zwischen den öffentlichen Subjekten fungiert, wird jedes Handeln nach Butler als das immer schon von den Infrastrukturen unterstützte Handeln betrachtet (vgl. ebd., S. 98). Prekarität in Bezug auf den Körper zu denken bietet eine Möglichkeit, die ontologische Verletzbarkeit und aktuelle Dimension der Gewalt gemeinsam zu betrachten. Unter diesem Aspekt verwandelt sich Prekarität nun in die Frage, inwiefern die vorhandenen Infrastrukturen welchen Körper und wessen Alltagsleben unterstützen, abhängig davon, wer Zugang zur Infrastruktur hat und wer nicht. Im letzteren Fall stecken die Prekären in einer Sackgasse: Wenn sie unter den herrschenden Machtverhältnissen durch die Infrastruktur nicht unterstützt werden, können sie - wie bereits dargestellt wurde - keinen Zugang zur Öffentlichkeit erlangen und nur schwer handeln. Folglich müssen sich diese Prekären gegen die Prekarität zur Wehr setzen, um einerseits ihr Leben lebbarer zu machen, und andererseits - nicht allein, sondern auch -, um ihr Leiden und ihre Verletzung als Prekarität öffentlich anerkannt zu bekommen. Butler schlägt die kollektive Inszenierung der prekären Körper, die in Kapitel 5.2 genauer thematisiert wird, als die performative und subversive Widerstandsweise vor, durch die der Kampf um die Prekarität als die soziale Existenzform der Prekären sichtbar gemacht werden kann.
Totalitarismus als eine Facette der Biopolitik
In Bezug auf das Thema der Biopolitik liegt zwischen Arendts Politiktheorie und der Butlers nicht nur Agambens Homo sacer als einziges verbindendes Element. Als Exkurs geht es darum zu thematisieren, wie sich Arendts Analyse des Totalitarismus im Kontext von Foucaults Begriff der Biopolitik interpretieren lässt und ferner, wie in ihrer Darstellung des Totalitarismus die Thanatopolitik als spezifische Facette der Biopolitik fungiert. Foucault definiert Biomacht im Gegensatz zur alten souveränen Macht als eine neue Form von Machtbeziehungen, die so wirkt, »zwar leben zu >machen< oder in den Tod zu >stoßen<« (Foucault 1977, S. 134). Biomacht operiert durch eine Verbindung von >individuell[er] Disziplinierung der Subjekte< und >Regulierung der Bevölkerung< (vgl. ebd., S. 135; Lemke 2004, S. 268). Allerdings spricht Foucault nicht von einem trennscharfen Übergang zwischen den Machtformen, sondern beschreibt die Biopolitik als ein komplexes Zusammenspiel von Biomacht und dem traditionellen souveränen Recht über den Tod (vgl. GL, S. 72). Ein kritisches Problem entsteht aus diesem Punkt: Es gelingt ihm jedoch nicht, ausführlich zu zeigen, wie bzw. inwieweit diese souveräne Tötungsmacht durch Staatsrassismus in sein Konzept der Biomacht integriert wird (vgl. Scheu 2014, S. 70). Der Staatsrassismus fungiert als Mechanismus, der »Hierarchisierungen innerhalb der Bevölkerung implementier[t] [...], die zwischen normalen und pathologischen, gefährlichen und gefährdeten Formen des Lebens unterscheiden« (Laufenberg 2016, S. 28). Diese rassistische - nicht notwendigerweise im engeren Sinne von ethnisierte - Hierarchisierung erzeugt einen Bereich des Anormalen, der als Bedrohung für das Leben der Bevölkerung gilt. Der Staatsrassismus legitimiert nicht nur jene Tötungsmacht im Zeitalter des Leben-Machens, sondern macht das bestimmte Töten zur Voraussetzung der Biomacht (vgl. ebd.). In diesem Zusammenhang tritt das thanatopolitische Moment als das notwendige Mittel für die Biopolitik zutage.
Wie wird das thanatopolitische Moment von Foucaults Biopolitik im Begriff des Lebens sowohl bei Butler als auch bei Arendt reflektiert? In dem Maße, wie Butler ihr Verständnis von Prekarität Foucaults Begriff der Biopolitik verpflichtet, verweist sie - insbesondere in unbegrenzte Haft - auf eine neuartige Souveränität, die als Instrument der Macht in der biopolitischen Gouvernementalität fungiert. Diese Souveränität teilt das Leben von Bevölkerung in zwei Gruppen: jene, die Rechte besitzen und Schutz vor Gewalt erfahren, und jene, denen diese Rechte und dieser Schutz verweigert werden. Diese thanatopolitische Souveränität in der Biomacht führt zu einer Ent- Subjektivierung, gemäß der ein Subjekt als sogenannter Untermensch hervorgebracht wird, der »weder lebendig noch tot [ist], weder vollständig zu einem Subjekt aufgebaut noch vollständig im Tod aufgelöst [ist]« (GL, S. 118; vgl. Laufenberg 2016, S. 35). Butler schreibt allerdings Foucaults thanatopolitische Biomacht als eine neue Form der Macht um, die festlegt, wessen Leben als betrauerbar anerkannt wird. Ihrer Ansicht nach hierarchisiert die Biomacht die Leben nicht nur - von den lebenswerten, wertvollen Leben bis zu den entwerteten, lebensuntauglichen und minderwertigen Existenzen. Dass die Biomacht sondern den Wert des Lebens, d. h. die Lebbarkeit selbst reguliert, weist bei Butler darauf hin, dass sie entscheidet, ob ein Leben sich von vornherein als Leben zählen lässt oder nicht. In diesem Sinne argumentiert Butler, dass die biopolitische Unterscheidung der Lebbaren von Unlebbaren auf die »Metrik der Betrauerbarkeit« (EP, S. 154) hinweise, die festlegt, ob ein Verlust überhaupt als ein Verlust eines Menschenlebens betrauert werden kann oder nicht. Wenn eine Gruppe als unbetrauerbar oder weniger betrauerbar selektiert wird, ist sie umso stärker der Prekarität ausgesetzt. Demnach entwickelt Butler ihren eigenen Ansatz zur Kritik am biopolitischen Dispositiv, wie die Menschen gemeinsam den Bereich der Betrauerbarkeit erweitern und entdecken können.
Im Folgenden wird Hannah Arendts Konzept der Zoefikation des Lebens im Totalitarismus im Hinblick auf die Biopolitik Foucaults220 skizziert. Im Kapitel 1.3 wurde der Totalitarismus als ein drastisches Beispiel der strukturellen Gewalt beschrieben, die die menschliche Fähigkeit zur Erscheinung zerstört. Arendt definiert den Totalitarismus als ein Projekt, das auf die Erschaffung einer neuen Menschheit abzielt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den Fragen, wie das Leben selbst durch Thanatopolitik (in) der Biopolitik reguliert wird und inwiefern das Geborensein, mit dem Arendts politische Anthropologie und das Politische beginnen, seine politische Bedeutung der Natalität verliert. Ihre Analyse des Totalitarismus wird in Bezug zur Biomacht Foucaults gesetzt, um zu zeigen, dass »Biopolitik und Thanatopolitik keine diametralen Gegensätze darstellen, sondern zwei ineinander verschränkte Momente eines machtförmigen Zugriffs auf das Leben« sind (Wehling 2019, S. 380). Einerseits weist die biopolitische Disziplinierung im Totalitarismus darauf hin, dass jedes Individuum die Logik des Totalitarismus verkörpert (vgl. Arendt 1991, S. 27; UT, S. 907). Daher existiert jeder als austauschbares Rädchen und exekutives Organ221 des totalitären Regimes: »[D]ie >alte souveräne Macht über den Tod< [sei] im Nationalsozialismus gerade deshalb so wirksam gewesen, da sie nicht einfach dem Staat, sondern einer ganzen Reihe von Individuen, einer beträchtlichen Zahl von Leuten (sei es die SA, die SS usw.) übertragen wurde« (Scheu 2014, S. 67). Andererseits nehmen Konzentrationslager im Rahmen der bevölkerungspolitischen Biomacht, die nicht das einzelne Individuum, sondern das Leben der Bevölkerung als ihren Gegenstand reguliert, »qualifiziert], [misst], abschätz[t], abstuf[t]« (Foucault 1977, S. 139), eine historisch beispiellose Rolle ein. Diese Lager zeigen, dass die foucaultsche Biopolitik bereits die Form des thanatopolitischen Staatsrassismus in sich trägt, insofern sie mit der alten souveränen Macht über den Tod gewissermaßen einhergeht. Durch Lager wird der Prozess der Zoefikation des Lebens vollzogen, indem »die >klassische, archaische< Form souveräner Macht [...] in einem historisch noch nie dagewesenen Ausmaß >dem Staat das Recht auf Leben und Tod über die Bürger verlieh«« (Scheu 2014, S. 66). Ausgehend von der totalitären Bürokratie als zentralem Machtmechanismus und dem Evolutionismus als wissenschaftlichem Hintergrund führt die totalitäre Herrschaft dazu, das Biologische an sich zu regulieren und das lebensunwerte und minderwertige Leben als das Schädliche zu bestimmen und verschwinden zu lassen (vgl. UT, S. 951, 954). Genau in diesem Moment des Totalitarismus, in dem die Grenzziehung zwischen den Lebenswerten und Lebensuntauglichen dazu dient, die gehorsamen Untertanen von den Feinden des Souveräns zu unterscheiden, wird deutlich, dass Arendts Totalitarismus-Analyse ein bedeutendes Beispiel dafür ist, wie die Biopolitik bereits mit der Thanatopolitik zusammenwirkt (vgl. Foucault 1977, S. 139).
In ihrer Schilderung des Totalitarismus befindet sich die arendtsche Version des thanatopolitischen Moments, nämlich das Verfallen des Geborenseins, obzwar ihr Buch Ursprung des Totalitarismus die große Hoffnung des Neuanfangs beendete. Durch das Zusammenwirken von Biomacht und der souveränen Macht über den Tod wird die Bedeutung des Lebens nach Arendt auf irreversible Weise gefährdet. Wenn der Totalitarismus das Leben als seinen Gegenstand auf das Biologische reduziert, bedeutet das Leben per se nicht mehr als die Natalität, von der ausgehend der Mensch einen unerwarteten Neuanfang in der Welt setzen kann, sondern ist eine Notwendigkeit, die Arendt als die politische Sterilität festlegt. Entweder überlebt man als Rädchen im totalitären Regime, wobei dies jedoch kein menschliches Leben im arendtschen Sinne ist, oder man kommt durch Terror oder im Lager ums Leben - in diesem Fall wird man sogar des Rechts auf ein menschenwürdiges Sterben beraubt. Die thanatopolitische und biopolitische Macht im Totalitarismus stürzt und zerstört die Grundlage des Politischen bei Arendt, insofern sie die Kraft des Wunders des Geborenseins und das Recht, als sterbliches Wesen unsterblich zu werden, untergräbt. In diesem Sinne offenbart sich die Biopolitik bei Arendt als eine Politik ohne Leben.
Vulnerabilität, Körper und Immobilität
Butler verwendet den Begriff der Vulnerabilität, um die ontologisch-relationale Dimension der Verletzbarkeit mit der ökonomisch-sozialen Dimension der Prekarität zu verknüpfen. Vulnerabilität versteht sich dabei weder als ein statischer Zustand noch schlicht als »eine Bedingung, [...] die in eine Form der Aktivität oder des Widerstands umgewendet werden müsste« (Butler 2018, S. 301). Butler konzipiert sie als Teil der Handlungsfähigkeit und des Widerstands. Dies wirft die Frage auf, inwiefern unverfügbare Subjekte und verletzbare Körper politisch-performativ von Bedeutung sein können. Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst das Verhältnis von Vulnerabilität, Prekarität und Verletzbarkeit zu beleuchten. Im Kontext wachsender Prekarität gewinnt der Begriff Vulnerabilität zunehmend an politischer Relevanz, da »die immer breitere Bevölkerungsschichten in sowohl ökonomisch als auch sozial prekäre Positionen [gedrängt werden]« (ebd., S. 300). Butler definiert Vulnerabilität als ein spezifisches Ausgesetztsein gegenüber Kräften, Mächten, Verletzungen, Verführungen oder ähnlichen Einflüssen, das »sich als Vulnerabilität >durch etwas< verstehen lässt« (Butler 2018, S. 305). So wird die Vulnerabilität durch die Bezugnahme auf die konkrete und aktuell betroffene Prekarität verstanden, etwa auf Arbeitsunsicherheit, Mietsteigerungen oder Krankenversicherungsprobleme, Studiendarlehen, Gender Trouble usw. Insofern die Vulnerabilität mit den Erfahrungen struktureller Gewalt in Verbindung kommt, können solche Erfahrungen von Verletzbarkeit und Prekarität nicht mehr als sporadisch oder beliebig, auch keineswegs als individualistisch betrachtet werden (vgl. ebd.; TV, S. 147).
In Bezug auf die Verletzbarkeit steht Vulnerabilität in einer komplexen Beziehung: Sie bedeutet zuerst, verletzt werden zu können, und in diesem Sinne »[kann] Vulnerabilität einerseits Verletzlichkeit (injurability) beinhalten« (ebd., S. 301).222 Das Ich wird konstituiert sowohl durch Verletzung als auch durch »eine ethische Forderung, die sich uns gegen unseren Willen aufdrängt« (TV, S. 145). Dennoch betont Butler, dass »Vulnerabilität nicht ausschließlich mit Verletzlichkeit [assoziiert werden] darf« (vgl. ebd., S. 195). Diese Unterscheidung macht das ethische und performative Merkmal der Vulnerabilität in Butlers Denken deutlich. Ohne die ontologische Verletzbarkeit und grundlegende Abhängigkeit zu negieren, wandelt sie die Bedeutung der Vulnerabilität um: Das Ausgesetztsein der Verletzbarkeit wird zum Sich-Aussetzen, verbunden mit spezifischen Fähigkeiten von radikaler Offenheit222 223 gegen etwas, »das über uns hinausgeht und doch Teil von uns ist« (ebd.), sowie einer Responsivität, etwas Unvorhersehbares und Unkontrollierbares, Nichtantizipierbares zu empfangen und sich demgegenüber zu öffnen (vgl. Butler 2018, S. 301). Durch diese konzeptionelle Verschiebung hin zu Offenheit und Responsivität lenkt Butler die Aufmerksamkeit auf das aktiv-passive Moment der Performativität, das in Form der Passivität zum aktiv-gemeinsamen Handeln für das lebbare Leben führen kann.
Butler erläutert den chiastischen Moment zwischen Ausgesetzt- und Verletzbarsein sowie Sich- Aussetzen im Anschluss an den Begriff >intertwinement< von Merleau-Ponty. Sie bringt ein konkretes Beispiel ein, in dem »the touch of the other« (WW, S. 37) und »being touched« (ebd.) gleichzeitig in Gang gesetzt werden. Ihr Fokus liegt darauf, zu betonen, dass im Berührtwerden das gegenseitige Berühren ebenso stattfindet - das Ich berührt, was es berührt, indem es berührt wird, und »[i]n this way, every passivity fails to become absolute« (ebd.). Es gibt spezifische Handlungen, die nach Butler weder allein als aktiv noch ausschließlich als passiv betrachtet werden können. Sie sind bestimmte Formen der Handlungen, die auf den ersten Blick aus der Passivität hervorgehen und dennoch nicht als unfähig, untätig oder weniger aktiv betrachtet werden sollten. Dass durch die anderen die verschiedenen Normen oder Sprache verletzt werden, deutet darauf hin, dass in diesem Berühren die Relation mit jenen geschaffen wird, durch die das Selbst und das Subjekt konstituiert werden kann. Dies kann ein Moment sein, durch das Der- Gewalt-Ausgesetztsein in die Gewalt einzugreifen, die das bestehende Wir konstituiert. Ebenso kann dies ein Moment sein, in dem Vulnerabilität nicht nur darauf verweist, wodurch und weshalb Menschen vulnerabel werden, sondern auch, wodurch sie affiziert werden und wogegen sie widerstehen können. Denn sie beinhaltet eine Erfahrung der Responsivität, noch bevor die Fähigkeit zur Antwort auf den Ruf des anderen tatsächlich entwickelt ist. In diesem Zusammenhang wird der starre Dualismus zwischen Aktivität und Passivität unhaltbar. So kann das Ausgesetztsein gegenüber Gewalt, und zwar das In-der-Gewalt-beharrlich-Bleiben, die Möglichkeit des aktiv-passiven Widerstandes eröffnen, die als Immobilität bezeichnet wird.
Die drei Begriffe - Verletzbarkeit, Prekarität und Vulnerabilität - bilden den Kern der Subjektivität in Butlers Politiktheorie, der sich als ein charakteristischer Unterschied zwischen Mobilität und Immobilität ausdrückt. Es handelt sich um eine fragile und gefährdete Subjektivität, jedoch ist dies kein Grund dafür, dass dieses Subjekt nicht performativ und verantwortlich handeln könnte. In Anbetracht der Vulnerabilität steht die Performativität des Körpers im Zentrum, der weder als »primär oder definitorisch verwundbar und inaktiv« (TV, S. 183) noch als »primär oder definitorisch aktiv« (ebd.) zu verstehen ist. Ihrer Ansicht nach leidet der Körper nicht nur durch seine Verwundbarkeit, sondern genießt auch die Äußerlichkeit der Welt und deren Affizierungen (vgl. RK, S. 39). Besonders bedeutsam ist die Ununterscheidbarkeit von Aktivität und Passivität, die sich im menschlichen Körper manifestiert. Dieses aktiv-passive Moment des Körpers ermöglicht es, »Verwundbarkeit und Handlungsfähigkeit zusammen [zu] denken« (TV, S. 183), ohne die Annahme eines Subjekts vorauszusetzen, das Verletzbarkeit individuell selbst überwindet224 225 und Autonomie und Eigenverantwortlichkeit gewinnt.
Die performative Kraft des Körpers entsteht aus der Ambivalenz, dass der enteignete Körper zugleich als öffentlicher Körper existiert. Butler dekonstruiert die Vorstellung eines Körpers, der sich auf ein Eigentum des individuellen Rechtssubjekts reduziert verstehen lässt (vgl. EP, S. 68). Sie bemerkt, dass weder Subjekt noch Körper selbst entscheiden oder kontrollieren können, wie und in welche Welt sie sich öffnen (vgl. ME, S. 153).225 Der Körper befindet sich »in der Welt der anderen, in einem Raum und in einer Zeit, die er nicht beherrscht« (RK, S. 57). Er wird definiert durch grundlegende Abhängigkeit und die ihn unterstützenden oder nicht unterstützenden Beziehungsgeflechte, in die er auch enteignet wird (vgl. TV, S. 171). So stellt Butler fest, dass »der Körper weniger eine Entität als vielmehr eine lebendige Menge von Beziehungen [ist]« (ebd., S. 88). Die politische Möglichkeit und Performativität des Körpers verweben sich mit der kulturell bestimmten Angewiesenheit. In diesem Sinne lässt sich nach Butler schlussfolgern, dass der Körper gerade durch seine Passivität, durch den Aufruf der Beziehungsgeflechte, durch sein Enteignetsein handeln kann.
Wird der vulnerable Körper in seiner Abhängigkeit von den unterschiedlichen Unterstützungen und seinem Ausgesetztsein gegenüber verschiedenartigen Gewaltsamkeiten als öffentlich und handlungsfähig betrachtet, betont Butler, dass diese Gewaltsamkeiten und Unterstützungen nicht selten denselben Ursprüngen entspringen, insbesondere staatlichen und institutionellen Machtfunktionen. Zudem legt Butler ihren Fokus darauf, dass sich auf dem Körper unausweichlich die Spuren der anderen anhäufen. Levinas verbindet diese Spuren mit der Alterität des Anderen, wobei sie für ihn eine Unmöglichkeit darstellen: Man teilt zwar die Spuren, doch man kann die Zustände der anderen bzw. die anderen an sich nie erfahren - So bleibt der andere als der Unberührte, die Alterität als etwas Unerreichbares. Auch bei Butler begegnen sich das Ich und die anderen nicht in dem genau gleichen Horizont wie bei Levinas (vgl. Herrmann 2010, S. 161). Allerdings hebt Butler hervor, dass die nicht freiwillig ausgesuchten Spuren der anderen eine verbindende Rolle spielen können - insbesondere zu jenen, die »über unsere unmittelbare Zugehörigkeitssphäre hinausgehen, zu denen wir aber dennoch gehören« (TV, S. 143). Diese Spuren der anderen unterbrechen die Abgeschlossenheit und Kohärenz des Ich, insbesondere wenn der Körper als eine öffentliche Örtlichkeit fungiert (vgl. MG, S. 41), also als Schwelle, die »als Raum des Übergangs und der Durchlässigkeit, als Beleg für das Offensein auf das Andere hin« (EP, S. 30) verstanden wird. Diese Spuren unterminieren zudem die Beziehung zwischen dem >Ich< und den bestehenden Ordnungen, nach denen es als etwas signifiziert werden kann und »sich [...] in die Ordnung der Welt [integrieren kann]« (Prager 2018, S. 205). So können die Spuren der anderen bei Butler zu einem Dissens mit der bisherigen Welt führen, in der man eine Gültigkeit eigener Existenz zu besitzen scheint. Mit anderen Worten: Sie öffnen eine unangenehme und gefährliche Beziehung im Ich, die über die kulturelle und soziale Ähnlichkeit und Zugehörigkeit hinausgehen kann. Gleichzeitig wird der Körper durch die Spuren der anderen in der mehrdimensionalen Relationalität ethisch überantwortet, sodass er in der asymmetrischen, unvorhersehbaren und - in gewissem Sinne - unbegrenzten Art und Weise für andere verantwortlich ist, und in diesem Sinne ist er öffentlich.
Die Begriffe Verletzbarkeit, Prekarität und Vulnerabilität verdeutlichen, inwiefern sich Butlers Vorstellung einer gewaltlosen Politik als eine neue kollektive Widerständigkeit von Arendts Verständnis des Politischem unterscheidet, das in dieser Untersuchung als Mobilität bezeichnet wird. Wie lässt sich ein politisch-performativer und ethisch gemeinsamer Widerstand von unverfügbaren, verletzbaren und deswegen öffentlichen Körpern denken? Zur Beantwortung dieser Frage wird >Immobilität< als politisches Konzept eingeführt. Butlers Begriff der Vulnerabilität, den sie auf strategische Weise verwenden möchte, um eine spezifische Macht und Handlungsfähigkeit der Enteigneten oder Prekarisierten zu affirmieren, bietet eine Grundlage für die Konzeptualisierung der Immobilität (vgl. Butler 2018, S. 301). Immobilität lässt sich als eine Form des Widerstands verstehen, die darin besteht, in der betroffenen bzw. geprägten Prekarität und Verletzbarkeit beharrlich zu verbleiben, sodass die Prekären als solche politisch bedeutsam erscheinen, ohne dabei auf eine paternalistische Vertretung angewiesen zu sein (vgl. TV, S. 163).
Immobilität, verstanden als bewusstes Verharren in der Vulnerabilität und als absichtliches Sich- Aussetzen gegenüber Gewalt, erweist sich als eine Denkweise, die eine bestimmte Performativität in festem Bezug auf eine bestimmte Räumlichkeit darstellt: die Räumlichkeit der Immobilität, in der Unterwerfung und Widerstand in einer Dimension ineinanderliegen oder sich im chiastischen Sinne treffen (vgl. Butler 2018, S. 301). In diesem räumlichen Sinne kann Immobilität einerseits einen neuen politisch-öffentlichen Raum des Widerstandes durch die enteigneten und daher öffentlichen Körper eröffnen, die eine Verbindung mit den anderen Lebewesen und dem Gemeinsamen herstellen, das niemandem und jedem zugleich gehört (vgl. WW, S. 66). Mit anderen Worten: Das Nebeneinanderstehen der Körper kann bereits als ein neuer politischer Raum manifestieren, in dem nicht nur die Prekarisierungen sichtbar gemacht und zur Debatte gestellt werden können. Diese Zusammenkunft der Körper eröffnet auch die Möglichkeit, zugunsten des lebbaren Lebens etwas Performatives auszuüben, das sie bereits empfangen haben, ihnen jedoch gesetzlich oder institutionell noch nicht erlaubt ist. Der Raum der Immobilität weist andererseits nicht nur auf einen neuen politischen Spielraum hin, sondern auch auf die bestimmten Gruppen von Menschen vorenthaltene Relationalität, die dennoch uns vorausgeht und von der wir alle abhängig sind. Was durch den Widerstand der Immobilität erneut öffentlich enthüllt wird, ist die ethische Frage nach der Relationalität, »was mich an andere bindet und auf welche Weise diese Bindung oder Verpflichtung nahelegt, dass dieses >Ich< fest in einem >Wir< verankert ist« (ME, S. 151).
Abschließend ist hervorzuheben, dass Immobilität nicht über die schwachen und prekären Dimensionen hinausgeht, sondern in ihnen verankert bleibt und eng mit dem aktiv-passiven Moment der Vulnerabilität einhergeht. Dadurch weist Immobilität keineswegs auf eine Unmöglichkeit des Handelns oder eine Unfähigkeit zur Mobilisierung hin. Als eine Form des Widerstands manifestiert sich Immobilität als aktiv-passiv und performativ-prekär. Es ist von Bedeutung, diese ambivalenten Eigenschaften klar zu betonen, da das Ausblenden einer Seite dieser Ambivalenz die politische und theoretische Relevanz der Immobilität mindern würde. Gerade in dieser Ambivalenz offenbart sich Immobilität als eine Form des Antagonismus, die die Gewaltsamkeit und Gewaltstruktur der Gesellschaft infrage stellt und in diese interveniert, ohne die Verletzbarkeit und Prekarität zurückzuweisen. Durch immobilen Widerstand kämpfen wir nicht nur gegen ungleich verteilte Prekarität, sondern auch dafür, einen bestimmten Bereich der Prekarität, der bisher nicht als solcher anerkannt wurde, öffentlich sichtbar zu machen und in der Gesellschaft anzuprangern. Somit eröffnet Immobilität die Möglichkeit, einen Raum für neue Formen von Gleichheit und gewaltloser Politik zu schaffen. Der Zusammenhang zwischen Butlers Aufruf zur Gleichheit und gewaltlosen Politik sowie das politisch-performative Potenzial der Immobilität wird im Verlauf von Kapitel VI näher untersucht.
V. Butler mit Arendt, Butler gegen Arendt
In diesem Kapitel werden die politischen Theorien von Hannah Arendt und Judith Butler intensiv analysiert, um die Nähen und Differenzen ihrer Auffassungen von Zeit, Raum, Kontingenz sowie Pluralität zu erörtern. Dabei wird verdeutlicht, wie ihre Konzepte von Zeitlichkeit und Räumlichkeit zur Konzeptualisierung von Mobilität und Immobilität beitragen. Zeit und Raum dienen hierbei nicht bloß als Vorbedingungen für die Subjektivation, sondern stehen in wechselseitiger Beziehung zum Subjekt und dem Politischen. Ein besonderer Fokus liegt auf der Gegenüberstellung der Unterkapitel 5.1 und 5.2: Auf der einen Seite wird die atomistische zeitliche Dimension der Mobilität analysiert - insbesondere ein eigenes Jetzt, das durch das denkfähige, selbstschaffende und sich körperlos bewegende Subjekt ermöglicht wird. Auf der anderen Seite wird die gemeinsame räumliche Dimension der Immobilität beleuchtet, die auf der Zusammenkunft verletzbarer, prekärer und stets mit der Sprache einhergehender Körper basiert.
Im ersten Kapitel werden zentrale Fragen der Zeitlichkeit konkretisiert, darunter die Verständnisweise kontingenter Unterbrechungen, ihre Dynamiken sowie die vielfältigen Möglichkeiten, durch die sich eine politische Gegenwart manifestieren kann. In diesem Kontext werden die von Arendt beschriebene Zeit des Neuanfangs und die von Butler entwickelte Zeit der Wiederholung gegenübergestellt, wobei letztere eine Dimension der Immobilität und des beharrlichen Da-Blei- bens< bietet. Darüber hinaus wird das Verhältnis zwischen Zeit und Subjekt untersucht, um zu veranschaulichen, wie ein Subjekt nicht nur inmitten der Zeit handelt, sondern auch, wie die Eigenschaften des mobilen Subjekts im Kontext der spezifischen Zeitlichkeit zum Ausdruck kommen kann. In diesem Zusammenhang wird durch Arendts Begriff des Denkens aufgezeigt, inwiefern das selbstschaffende Subjekt im Sinne der politischen Zeitlichkeit als heldenhaft, souverän und atomis- tisch interpretiert werden kann.
Die Raumzuordnung und Grenzziehung spielen sowohl in Arendts als auch in Butlers Politiktheorie eine zentrale Rolle, insofern das Zusammenspiel zwischen Innen und Außen sowie die Eröffnung des neuen Handlungsraums mit der Performativität verknüpft werden. Der Handlungsraum bezieht sich stets schon auf die Fragen nach dem Subjekt: Wer kann in Erscheinung treten und in welchen Raum tritt man eigentlich ein? Welche pluralen Subjekte können welchen neuen öffentlichen Raum öffnen und zu welchem Zweck? Butler übernimmt von Arendt »einige wichtige Ansätze zum Verständnis der Verkörpertheit pluralen menschlichen Handelns« (TV, S. 67). Gleichzeitig entwickelt sie ihre Idee von Erscheinungsraum und Pluralität weiter, indem sie sich von Arendts Ansatz distanziert. Ein zentrales Anliegen dieses Kapitels ist es, zu argumentieren: Im Gegensatz zur körperlosen Pluralität individuell-selbstschaffender und denkender Subjekte bei Arendt lenkt Butler die Aufmerksamkeit auf politische Zusammenkunft von den vulnerablen Körpern, die mit der Performativität des körperlichen Sprechakts verbunden sind. Diese Körper manifestieren sich selbst als ein neuer Erscheinungsraum, indem sie ihre eigene Prekarität und Verletzbarkeit beharrlich offenlegen. Am Ende dieses Kapitels wird untersucht, wie sich die Reziprozität zwischen politischer Räumlichkeit, Subjektivität und Performativität durch die Auseinandersetzung mit dem >Recht auf Rechte< zwischen Arendt und Butler thematisieren lässt. Dabei wird aufgezeigt, wie die Forderung nach Gleichheit, und zwar das Recht auf Lebbarkeit, das im Gegensatz zum von der
Selbstschaffung der atomistischen Gegenwart ausgehenden Recht auf Erscheinung steht, in diesem alternativen Erscheinungsraum performativ ausgeübt werden kann.
5.1 Kontingente Zeitlichkeit und Subjekt der Gegenwart
Arendts und Butlers Verständnis von Geschichte und Zeitlichkeit beginnt mit den Fragen, wie sich die Gegenwart als ein kontingenter Bruch zwischen Vergangenheit und Zukunft ergibt und wie beide Theoretikerinnen diesen Bruch unterschiedlich, teils beinahe gegensätzlich interpretieren. Im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht die Kontingenz in den geschichtlichen Ketten, die sowohl in Arendts Gedanken des Handelns226 als auch in Butlers Performativitätsbegriff als antagonistische Wiederholung wirkt. Es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied: Während Arendt die politische Geschichte aus den vom Handeln ausgehenden selbstschaffenden Gegenwarten besteht, wird in Butlers Politiktheorie die gespaltene Zeitlichkeit zwischen der Zeit der Normen und der Zeit der Wiederholung erläutert. Dabei wird die Gegenwart zudem als eine antizipierende und rückwirkende Zeitlichkeit verstanden. Ein zentrales Anliegen dieses Kapitels besteht darin, das Verhältnis zwischen Arendts Zeitlichkeit und der atomistischen Selbstkonstitution sowie der souveränen Subjektivität zu beleuchten. Hierzu wird Arendts Begriff des Denkens im Detail betrachtet: Einerseits entstehen aus dieser Denktätigkeit sowohl Gegenwart als auch Vergangenheit und Zukunft, andererseits lässt sich die Erscheinung als ereignishafter und individueller Neuanfang erneut erklären. Auf die politische Bedeutung der Kontingenz aus den gemeinsamen Körpern, die nach Butler im Gegensatz zur selbstschaffenden Gegenwart und deren souveränem Subjekt bei Arendt stehen, wird im Hinblick auf die Räumlichkeit im nächsten Kapitel ausführlich eingegangen.
Lücken in der kettenförmigen Zeitlichkeit
Kontingenz manifestiert sich in der Geschichte als Lücken. Ein von beiden Theoretikerinnen geteilter Punkt ist die Konzeption der Gegenwart, die durch Kontingenz als eine Art Zwischenraum charakterisiert wird. Während in Butlers Theorie die Gegenwart als etwas zwischen dem Immer- schon und dem Doch-nicht-immer-identisch betrachtet wird, lenkt Arendt den Fokus auf die Lücke »zwischen dem Nicht-Mehr und dem Noch-Nicht« (LGD, S. 199). Zur Grundlage der weiteren Argumentation wird zunächst Arendts Verständnis der Geschichte als Konstellation von Neuanfängen zusammengefasst und anschließend mit Butlers geschichtlicher Kartografie von Normen und Diskursen verglichen. Bei diesem Vergleich treten zunächst unerwartete terminologische Parallelen wie Unterbrechung, Erzählbarkeit bzw. Erzählung und Erinnerung zutage. Der zentrale Schwerpunkt dieses Kapitels liegt jedoch auf der Herausarbeitung der Unterschiede: Es wird untersucht, inwiefern diese Begriffe in den Theorien von Arendt und Butler jeweils unterschiedliche theoretische Funktionen und Bedeutungen einnehmen, insbesondere welche Rolle die kontingente Unterbrechung in der kettenförmigen Zeitlichkeit spielt und wie sie sich manifestieren kann.
Geschichte ist nach Arendt eine zeitliche Form des Handelns, wobei sich das Handeln bereits als das Geschichtliche versehen lässt (vgl. D, S. 284). Wie der Titel ihres Buches Zwischen Vergangenheit und Zukunft zeigt, betrachtet Arendt die Gegenwart nicht als etwas Gegebenes oder Feststehendes, sondern als Etwas Vorgehendes (vgl. ebd., S. 291). Durch das Handelns werden Vergangenheit, die bleibt, und Zukunft, die entsteht, miteinander konfrontiert, womit Gegenwart als ein Zwischen-Zeitraum eröffnet werden kann (vgl. ebd.). Arendt begreift diese Gegenwart als ein Ereignis, das in der Vergangenheit entsteht und dessen Folgen in der Zukunft entdeckt werden, die gleichzeitig eine Gegenwart eines anderen darstellt. Aufgrund des Nicht-rückgängig-machen- Könnens und Unberechenbarkeit des Handelns werden die von keinem Einzelnen unter Kontrolle gebrachten Folgen eines Ereignisses in die Geschichte hineingenommen und die »Zähigkeit des Getanen« (VA, S. 297) geht somit über die kausale Beziehung hinaus (vgl. Rebentisch 2022, S. 37).227 Insofern »[j]edes Ereignis sich also historisch als Ende eines bis dahin verborgenen Anfangs dar[stellt]« (D, S. 352f.), bildet sich Geschichte als eine Kette, die »viele Anfänge enthält« (ebd., S. 352). Für Arendt hängt die Geschichte demnach wesentlich mit Handeln228 zusammen und wird als ein spezifischer »Zeit-Raum« (ebd., S. 601) definiert, der die besonderen Eigenschaften des Handelns reflektiert, das sich nach Arendt vom Alltäglichen hierarchisch unterscheidet. Das Erleben der Gegenwart im arendtschen Sinne ist bereits die politisch privilegierte Erfahrung229, die sich in ihrer Wortverwendung >solange< ausdrückt: Die politische Gegenwart kann im eigenen Leben zwischen Geburt und Tod nur erlebt werden, solange jede eigene Gegenwart eine Konstellation in der Öffentlichkeit bildet, d. h., solange die Menschen sozusagen gemeinsam handeln.
Nicht nur Arendt, sondern auch Butler betrachtet die Entwicklung der Geschichte nicht als linear. Bei Butler existiert die Zeit, in der wir leben, als ein Schnitt der geschichtlichen Zeit, die sich nicht als eine allumfassende oder statische Gesamtsumme der Momente, sondern als eine dynamische, bewegliche Sedimentierung betrachten lässt. Ein deutlicher Unterscheid zwischen beiden besteht dennoch darin, wodurch und womit die Geschichte kettenförmig gebildet wird. Während bei Arendt die Neuanfänge fast unmittelbar die Glieder der geschichtlichen Kette formen, nimmt bei Butler die Geschichtlichkeit zwar auch die Form einer Kette an, die jedoch vor allem aus einem zeitgenössisch bestimmten Dispositiv der Normen, Diskurse und Konventionen besteht (vgl. KG, S. 259). Mit Bezug auf Derrida fokussiert Butler darauf, dass sich eine eigenartig serielle Geschichtlichkeit aus den hartnäckigen zitatförmigen Wiederholungen ergibt. Somit werden sowohl die Handlungsfähigkeit des Subjekts als auch die Normen »in eine Kette vorangegangener
Verwendungen hineingenommen, inmitten von Signifikationen eingereiht, die nicht anhand eindeutiger Ursprünge oder letzter Ziele eingeordnet werden können« (ebd., S. 300). Insofern die genealogische Kontinuität der Normen auf Wiederholung ankommt, wird das subversive Resignifikation herbeiführende Handeln aus butlerscher Perspektive - im Gegensatz zu Arendt - nicht als innovativ oder unberechenbar betrachtet. Vielmehr kann nach Butler Neues in der Geschichte »nur im Rekurs auf jene eingelagerten Konventionen« (ebd.) zutage treten - und in diesem Sinne kommt der Widerstand als das Zitierte nach Butler spät an (vgl. Butler 2019b, S. 125). Die Performativität als zitatförmige Wiederholung besteht daher nicht nur in der individuellen Dimension, sondern sie setzt Kollektivität im bestimmten, gegenwärtigen Zeitraum als ein bemerkenswertes Merkmal voraus (vgl. SL, S. 124).
Hier muss zudem dargelegt werden, dass Butler nicht nur von einer Zeit spricht, die nicht als kontinuierlich vorstellbar ist. Für sie ist es wesentlich, dass die kettenförmige Geschichte in fast jedem Zeitraum schon in pluraler Form existiert: »[E]s [gibt] die >eine< Zeit nicht« (RK, S. 99), sondern die »Modalitäten der Zeit [...], die sich in verschiedenen, voneinander abgegrenzten kulturellen Räumen ausprägen« (ebd., S. 99f.). Demnach kann sich die Gegenwart mit mehreren Zeiten gleichzeitig verweben, insofern Butler die Zeitlichkeit auf die Frage nach den Kulturen sowie nach den räumlichen Grenzziehungen bezieht. Beispielsweise argumentiert sie, dass die westliche moderne Gegenwart nur im Verhältnis zur Zeit der anderen zustande kommen kann, die seitens der westlichen Welt als religiös, vormodern und daher anachronistisch betrachtet wird. Butlers Argument, die Gegenwart als »ein Zugleich verschiedener zusammenlaufender Geschichten« (ebd., S. 107) zu betrachten, verbindet sich ferner mit ihrer Frage nach der Betrauerbarkeit. Laut Butler existieren diejenigen, die außerhalb der modernen Freiheit und Gerechtigkeit verbleiben müssen und deren Leben man als »nicht ganz vollwertige Menschen oder als >außerhalb< der kulturellen Entstehungsbedingungen des Menschlichen stehend begreift« (ebd., S. 119). Die Frage nach dem lebbaren Leben hängt nun davon ab, wer sich in welcher Zeit befindet, besonders unter der Voraussetzung, dass nicht alle in der Moderne angekommen sein können.
Bei Arendt: Neuanfang in Konstituiertem - Narrativ und Erinnerung
Da Arendt das Handeln als geschichtlich begreift, ist für sie »[w]ahre Geschichte [...] immer >politische< Geschichte, Geschichte der handelnden und leidenden Menschen [...]« (D, S. 284). In der politischen Geschichte entdeckt sich ein spannungsreiches Schwanken zwischen Kontingenz und deren Bewahrung, und zwar dasjenige zwischen Konstituierenden und Konstituierten, das Handeln und Herstellen in Verbindung bringt.230 Hierfür dienen Revolution und Konstitution in Arendts Theorie als Beispiele dafür, wie nicht rückgängig zu machenden Neuanfänge in einer politischen Einheit, die die Freiheit gewährleistet, bewahrt werden können (vgl. Förster 2009, S. 356). Im Rahmen von Arendts Konzept der historischen Serien spielt das Herstellen eine zentrale Rolle, indem es den flüssigen Handlungen und Worten relative231 Stabilität verleiht. Ein Beispiel hierfür ist das Gesetz der Mitwelt, das es den Subjekten ermöglicht, auf Geschehnisse zu vertrauen und miteinander weiter zu handeln. In diesem Kontext reguliert das Gesetz die Lebenszeit des Alltags sowie einen kontingenten Zeitraum und verbindet diese miteinander. Dadurch wird es möglich, neue Anfänge zu schaffen und die Kraft der Kontingenz zu bewahren - also kurzum: die Fortführung der ketteförmigen Geschichte kontinuierlich zu ermöglichen.
Im Hinblick auf die Geschichtlichkeit beschränkt sich die Rolle des Gesetzes nicht lediglich darauf, das Geschehen zu bewahren und die Möglichkeit der Neuanfänge bereitzustellen. Arendts Analyse des Totalitarismus zeigt sich als auffälliges Beispiel dafür, wie das gewaltsame Gesetz die Zeitlichkeit vollständig zerstört. Indem die totalitäre Herrschaft sich durch das Gesetz der Geschichte und das Recht der Natur legitimiert, veranlasst der Totalitarismus eine gewisse beispiellose Zeitlichkeit. Diese zeichnet sich durch eine unendliche Bewegung aus, die niemals vollendet wird: Denn ist einerseits ihr Ziel, eine neue Menschheit herzustellen, keinesfalls erreichbar, andererseits wird jede Handlung für die totalitäre Vollendung nicht als Selbstzweck, sondern als bloßes Mittel für den nächsten Schritt betrachtet. Folglich ist die totalitäre Herrschaft durch homogene Bewegungen charakterisiert, in denen keinerlei Möglichkeit des Neuanfangs besteht. Die Abschaffung der Spontaneität führt zugleich dazu, dass sowohl Gegenwart und als auch Vergangenheit und Zukunft zusammenbrechen. In diesem Sinne weist die Gewalt des Totalitarismus darauf hin, dass sie den Menschen die Möglichkeiten beraubt, in der Gegenwart zu leben, die sich nur innerhalb des menschlichen Zwischen ergibt, sowie eine andere Gegenwart zu öffnen.
Arendt hebt hervor, dass Serien von Ereignissen nicht durch eine kausale und teleologische Reihenfolge ersetzt werden. Eine solche Verwechslung beschreibt sie als Versuch, »das Neue, Unbekannte, das recht eigentlich die spezifische Qualität des Ereignisses ist, zu umgehen und sich in das Alt-Bekannte zu flüchten durch Auflösung aller unbekannten, neuen Faktoren in blosse, nämlich errechenbare Wirkungen bekannter Ursachen« (D, S. 114).232 Dies wirft die zentralen Fragen erneut auf, wie sich eine Möglichkeit des Neuanfangs im Konstituierten finden lässt und wie die Kette von Unterbrechung und Verbindung im Zusammenhang mit dem Herstellungsprozess gestaltet wird. In Bezug auf die Geschichtlichkeit räumt Arendt Erzählern, Dichtern und Zuschauern eine größere Bedeutung ein im Vergleich zu den Handelnden in Vita activa, da diese Akteure durch die Schaffung von Narrativen wesentlich zur Gestaltung der kettenförmigen Geschichte beitragen. Arendt zitiert ein Gedicht von Pindar233 und hebt hervor, dass Dichter und Sänger - laut Pindar gottähnliche Wesen - nicht einfach das Getane berichten, sondern »den Menschen zur Unsterblichkeit [verhelfen]« (LGD, S. 133). Denn die Unterbrechung der chronologischen, homogenen Zeit kann dadurch ermöglicht werden, dass die verborgenen, einzelnen Narrative erzählt und ins Gedächtnis gerufen werden. Geschichte offenbart sich somit nicht als eine »monolithische Einheit mit eigener unwiderstehlicher Logik« (Morgenstern 2014, S. 141), sondern als ein vielschichtiges Phänomen, bestehend aus einer »Ansammlung von Geschichten (stories)« (ebd.). Dieses Verständnis von Geschichte verweist auf ein geheimnisvolles Spiel der Entdeckung von >Geschichten< (stories), das eine »hermeneutische Offenheit« (Morgenstern 2014, S. 154) schafft, wodurch das Erzählen234 mit dem Handeln ins Verhältnis gesetzt wird.235 Arendt zufolge hängt die Frage, inwieweit das Getane als das Unvorhersehbare und Unkontrollierbare lebendig wird, davon ab, inwiefern »je nach erzählter Geschichte einem Ereignis ein anderer Sinn verliehen [werden kann]« (ebd.). In diesem Zusammenhang gewinnt die Bemühung an Bedeutung, »die einzelnen Fragmente wiederzuentdecken und ihre potenzielle Bedeutung für die heutige Situation zu erkennen« (ebd., S. 143). Die Tatsache, dass ein bestimmtes Erzählen die herkömmliche Tradition oder den Status quo unterbricht und spaltet, lässt sich in zwei zentrale Perspektiven zusammenfassen: Einerseits können konkrete vergangene Erfahrungen einen Neuanfang in der >Jetztzeit< ins Leben rufen oder zumindest affizieren, indem sie Impulse für einen solchen Neuanfang setzen. Andererseits lässt sich die Erinnerung an die verborgenen Erfahrungen weiterhin an die Nachwelt überliefern (vgl. von Redecker 2013, S. 72).
Berücksichtigt man, dass die arendtsche Geschichte gewissermaßen von der Erinnerung an die Vergangenheit ausgeht oder darauf basiert, bringt das Thema Erinnerung die inhärente Ambiguität des Handlungsbegriffs inmitten der Geschichte erneut ins Spiel. Arendt leitet aus der Natalität des Menschen die Fähigkeit des Anfangens ab, und durch die Kette der pluralen und verschiedenen Anfänge entsteht Geschichte. In der Fähigkeit des Neuanfangs befindet sich ein breites, nicht leicht zusammenfassbares Spektrum des Handelns: vom Geborensein zum öffentlich Gesehenwerden, etwas Neues, Unerwartetes zu tun, bis hin zur Revolution und Gründung.236 Im Begriff der Geschichte reflektiert sich diese große Oszillation ebenfalls. Die Geschichte wird nach Arendt einerseits als die eine wahre politische Geschichte gezeigt, andererseits als der Konnex von Erzählungen über die Menschen, die als die zum Handeln Begabten geboren und gestorben sind. In Bezug auf Arendts Charakterisierung des Handelns durch Vortrefflichkeit oder Mut bleibt eine zentrale Frage unbeantwortet: Gehört die Erinnerung dem einzelnen Subjekt237, das Mut beweist, Unsicherheit überwindet und sich selbst riskiert, oder steht vielmehr allen geborenen Menschen, als vergängliche Wesen, das Recht zu, erinnert zu werden?
Wer kann erinnert werden - oder mit den arendtschen Worten gefragt: Wer kann als das Sterbliche irdisch unsterblich werden und aus welchen Gründen wird man erinnert (vgl. D, S. 290)? Wessen Taten und Worte werden bewahrt, erinnert und schließlich wiederentdeckt? Parallel zur Unterscheidung zwischen Animal laborans und Zoon politikon zeigt sich in Arendts Denken eine Unterscheidung zwischen Erinnerbarem und Nichterinnerbarem. Im Hinblick auf die Geschichtlichkeit besteht eine ambivalente Umkehrung zwischen Arendts und Butlers Position. Im Gegensatz dazu, dass Arendt die Pluralität im öffentlichen Raum leidenschaftlich hervorhebt, erweist sich das Recht auf Erinnerung in ihrer Politiktheorie schließlich als individuell. Dies verbindet sich damit, dass die Pluralität bei Arendt eigentlich durch die heroischen und selbstschaffenden atomistischen Subjekte geformt wird - wie im Kapitel II thematisiert wurde. Butler hingegen distanziert sich von der Vorstellung, dass das Subjekt als Ursprung oder Träger der Geschichte betrachtet wird, obzwar jeder Körper die Fragmente der Geschichtlichkeit verkörpert, die sich als das strategische Dispositiv der Diskurse oder »ein Kartographieren der Machtbeziehungen« (KG, S. 338) manifestiert. Diese Materialisierung der genealogischen Fragmente zielt bei Butler nicht darauf ab, einzelne individuelle Subjektivität zu verstärken. Vielmehr eröffnet sie die Möglichkeit, durch gemeinsam geteilte Geschichtlichkeit neue Formen der Solidarität und Kollektivität zu entwickeln, die nicht von der souveränen Mobilität ausgehen. Während Arendt die Geschichte als zeitliche Form des Ereignisses auffasst, ist die Zeitlichkeit bei Butler insofern von Bedeutung, als die Konstruktion des Subjekts »nicht nur >in< der Zeit statt[findet], sondern selbst ein zeitlicher Prozess [ist], der mit der laufenden Wiederholung von Normen operiert« (KG, S. 32). Butlers Verständnis der Geschichte als Kette von Normen und das Subjekt, das sich durch die vergangenen und zeitgenössischen Normen materialisiert, stehen in einer paradoxen Beziehung zwischen Verkörperung und Enteignung. Die Geschichtlichkeit wird von jedem Einzelnen stets vorausgesetzt und wirkt auf jede und jeden ein. Zugleich verkörpert jedes Subjekt diese Geschichtlichkeit auf nicht immer identische Weise, daher kann diese Kette der Normen nicht in der Lage sein, das Subjekt vollständig zu determinieren.
Bei Butler: Die gespaltene Zeit - Rückwirkende und antizipierende Gegenwart
Zu Beginn ist hervorzuheben, dass die Kontingenz der Geschichte in Butlers Politiktheorie auf der Wiederholbarkeit beruht, dass »die Handlung frühere Handlungen echogleich wiedergibt und >die Kraft der Autorität durch die Wiederholung oder das Zitieren einer Reihe vorgängiger autoritativer Praktiken akkumuliert«« (KG, S. 311). Diese Iteration ergibt die Kontingenz als Bedeutungsverschiebung in der Kette der Normengeschichte. Folglich weist Butlers Auffassung von Geschichtlichkeit im Vergleich zu Arendts Vorstellung von Geschichte eine besondere Komplexität auf: Erstens unterscheidet sich die Zeit der Diskurse und Normen von der Zeit des Menschen. Menschen leben in der Zeit der Normen, doch wie Butler Foucault zitiert, »[d]er Diskurs ist nicht Leben; seine Zeit ist nicht eure« (ebd., S. 305). Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass die Geschichtlichkeit der Normen mit der Performativität in wesentlichem Maße zusammenhängt - die Performativität, die nicht als das berücksichtigt wird, was allein dem Willen des Subjekts nach geübt wird (vgl. ebd., S. 259), wird vielmehr in spezifischer Weise in der Geschichte verankert. Das performative Subjekt, das sich in diesem komplexen Verhältnis befindet, existiert selbst als ein chiastischer Knotenpunkt, der in die zeitliche Struktur der Normen verwickelt ist und sich im- und explizit bemüht, sie zu verschieben (vgl. ebd., S. 176f.). Im Folgenden wird zu beleuchten sein, wie sich die Kontingenzfrage in der strategisch produktiven Zeit der Normen auf die performative Iterierbarkeit bezieht, die sich in die Frage der Gegenwart verwandelt, die entweder rückwirkend erfahren wird oder bereits vorweggenommen wurde.
Auf den ersten Blick scheint die Kette der Normen, die auf ein Subjekt bzw. einen zeitlichen Prozess der Subjektivation einwirkt, von der Zeitlichkeit des Menschen unabhängig zu existieren. Jedes Fragment dieser Normenkette, das nicht als ein Teil eines einheitlichen Ganzen betrachtet wird, sondern als ein genealogisches, zeitgenössisches und umstrittenes Dispositiv der Normen, wird als bereits vorhanden und nicht wählbar dargestellt.238 Nach Butler lebt jeder unvermeidlich in diesem Zeitunterschied zwischen den Zeiten, was die Fragilität des butlerschen Subjekts bedingt. Im Gegensatz dazu, dass das erscheinende Subjekt bei Arendt seine eigene Gegenwart - sowie die Vergangenheit und die Zukunft - erkämpft, verhindert die existenziell stets zweifelhafte Bedingung des Subjekts, eine feste kohärente Subjektivität zu besitzen. Die beiden Zeiten sind dennoch gemäß Butler aufeinander angewiesen, insofern die Zeit inmitten und - im Sinne von Butler - aufgrund der Wiederholung fließt, die immer schon, jedoch nicht stets identisch ausgeübt wird: Dies bedeutet weder, dass das Subjekt die Kette der Normen beherrschen bzw. kontrollieren kann, noch dass das Subjekt die Lücke zwischen den Zeiten schließen kann.
In Bezug auf die gespaltenen Zeiten und die Wiederholung ist nach Butler hervorzuheben, dass die Gegenwart des Subjekts eigentlich nachträglich empfunden wird. Bei Arendt nimmt die Gegenwart die Form eines spezifischen >solange< an. Sie weist als ein stehendes Jetzt (nunc stans) auf einen individuellen Zwischen-Raum des kämpferisch Denkenden hin, auf den im Verlauf dieses Kapitels näher eingegangen wird. Hingegen tritt nach Butler die Gegenwart gewissermaßen verspätet ein, sodass »die Zeit nach dem Jetzt in sich eine rückwirkende Rechtfertigung für das Jetzt enthält« (Butler 1994, S. 136). In Verbindung mit den überlieferten Normen der Vergangenheit kann die Dimension der Gegenwart zustande kommen, insofern sie »in eine Kette vorangegangener Verwendungen hineingenommen, inmitten von Signifikationen eingereiht [wird]« (KG, S. 300). Die Gegenwart kommt nach bzw. mit dieser Einfügung an und erhält dann ihre eigene Bedeutung. Butler argumentiert weiter, dass die Fragmente der verspäteten Gegenwart auf dem Körper sedimentiert werden. Der Körper wird bei Butler als ein Topos der Zeit bezeichnet, in und auf dem diese zeitliche Lücke inszeniert, erlebt und bewahrt wird - jedoch nicht allein im passiven Sinne (vgl. EG, S. 50). Zudem wird die Konstruktion des Subjekts als ein zeitlicher Prozess dargestellt, mit anderen Worten, das Subjekt verkörpert und materialisiert die Dimension der Gegenwart. Das Subjekt erlebt die Gegenwart durch seinen Körper retrospektiv; Gegenwart ist das, was zum Ich geworden ist, was schon das Ich ausgemacht wird.
In der Matrix der Lebbarkeit erlebt das Menschliche im- und explizit die Vielschichtigkeit der Zeitlichkeit, die nicht nur auf den Verlauf zwischen Vergangenheit und Zukunft beschränkt wird. Obwohl die Zeit der Normen in Bezug auf die Subjektivation mit der Zeit des Subjekts nicht deckungsgleich übereinstimmt, manifestiert sich der Körper dennoch irgendwann in und durch die Unterwerfung als handlungsfähig. In diesem Sinne tritt die Gegenwart als ein Moment zutage, in dem das Etwas-noch-nicht bereits in Kraft gesetzt wird. Diese kontingente Performativität geht vor allem von der Iterabilität aus, die sich in der Kette der Normen als eine Möglichkeit offenbart. Die bestehende Matrix der Normen kann anders konfiguriert werden, wobei >anders< auf unerwartetes und unberechenbares Antizipieren hinweist und nicht darauf, dass alles nach Belieben neu gestaltet werden kann (vgl. SPZ, S. 47). Inwiefern sowohl Geschichtlichkeit als auch Performativität auf die Wiederholung angewiesen sind, kann eine fehlerhafte oder gescheiterte Wiederholung, die einer hegemonial bestehenden Reihenfolge der Normen entgleitet, immer geschehen. Dies führt zur Chance einer anderen, alternativen Zeit. Übertrieben gesagt: Eine gewisse abweichende Form des Überlebens ist schon ein Beweis dafür, dass sich die Körper >jederzeit< vorhandene und gegebene normative Bedingungen anders aneignen können.
Wie im Kapitel III dargestellt wurde, öffnet Butler mit Foucault die paradoxe Möglichkeit, dass »die Herausbildung des Selbst und die Entunterwerfung [sich] gleichzeitig [ereignen], sobald eine Existenzweise gewagt wird, die nicht von der Herrschaft der Wahrheit [...] gestützt wird« (Butler 2002b, S. 251). Dies deutet nicht immer darauf hin, dass der Prozess der Subjektivation mit der Entunterwerfung zeitlich komplett gekoppelt sein oder übereinstimmen kann. Dennoch kann die Gleichzeitigkeit nicht völlig abgelehnt werden, da sich beide im gewissen Sinne parallelisieren, sodass sich entweder bei der Subjektivation das Moment der Entunterwerfung vorwegnehmen lässt oder sich das Fragment der Entunterwerfung rückwirkend (an)erkennen lässt. In diesem antizipierenden und/oder retrospektiven Hin und Her geht schließlich die zeitliche Priorität verloren. Subjektivation und Entunterwerfung stehen gegeneinander in Form der Kompossibilität anderer und ihre Gleichzeitigkeit zeigt sich als spezifische Hin-und-her-Bewegung zwischen dem Immer-schon und dem Doch-nicht-immer-identisch.
Butlers Verständnis von Benjamins Messianisches und dessen Zeitlichkeit eröffnet eine Möglichkeit, die Beziehung zwischen der performativen Resignifikation und der Zeitlichkeit zu erörtern: »Wenn es ein Messianisches im Performativen gibt, dann verweist es zweifellos auf die antizipierende Form, etwas zu setzen, ohne dass sich das letztlich realisieren muss« (ME, S. 179). Zwar besteht keine Garantie, dass die von der Performativität ausgehende messianische Zeit rechtzeitig ins Leben gerufen wird (AS, S. 135), da die göttliche Gewalt bei Benjamin keine Durchsetzbarkeit besitzt, sondern als reines Mittel verstanden wird (vgl. ebd., S. 91f., 100). Trotzdem kann die subversive Performativität in der Form des Antizipierens zutage treten, noch bevor die Kette der herrschenden Normen verändert wird. Diese antizipierte Gegenwart stellt einen Moment des Widerspruchs dar: Ohne Unterstützung können die anverkannten, prekarisierten Subjekte nicht handeln, doch um unterstützt zu werden, müssen sie kämpfen (vgl. TV, S. 98f., 238 usw.). Performativität zeigt sich so als eine Form der Ambivalenz, in der bestimmte unterdrückte Menschen ihre Handlung und Stelle vorwegnehmen, bevor sie institutionell oder gesetzlich legitimiert werden239. In diesem Sinne erweist sich die vorweggenommene Zeit von Performativität nicht lediglich als die kommende oder zukünftige Zukunft, sondern als »eine alternative Zeit« (AS, S. 124).
Im Hinblick auf Kontingenz, Performativität und Zeitlichkeit zeigt sich eine bemerkenswerte Differenz in der Rezeption Benjamins zwischen Arendt und Butler. Während Arendt Benjamins Begriffe der messianischen Unterbrechung und der >Jetztzeit< als beinahe gewaltsam darstellt und daher den Fokus auf die Rekonstruktion der Kontingenz legt (vgl. Morgenstern 2014, S. 141), integriert Butler hingegen diese Konzepte in ihr politisches und ethisches Projekt der Gewaltlosigkeit. Bei Butler wird Benjamins messianische Jetztzeit, die als »etwas Abgebrochenes« (AS, S. 124) die schmerzhaften Geschichten der Unterdrückten enthält, als Möglichkeit verstanden, jederzeit »in eine[n] etablierten Zeithorizont« (ebd.) einzutreten und dabei »die vergessliche Oberfläche der Zeit« (ebd., S. 127) zu durchbrechen. Butler unterstreicht insbesondere den performativen Effekt derjenigen, die die Normen in fehlangeeigneter Weise wiederholen. Ebenso hebt sie hervor, dass das anverkannte Subjekt »>jederzeit< die normativen Bedingungen seiner (An)erkennbarkeit« (RK, S. 12, Hervorh.: Choi) übersteigen kann. Durch die Verknüpfung von Butlers Konzept der performativen Iterabilität mit Benjamins messianischem Eintreten, das sich jeder Teleologie und jedem Determinismus entzieht, erweist sich die messianische Jetztzeit als alternative vorweggenommene Gegenwart. Gleichheit sowie Gerechtigkeit können in dieser eintretenden Jederzeit, die die vorhandene Gegenwart unterbricht, neu öffentlich zur Debatte gestellt werden, etwa dann, wenn prekäre Körper sich versammeln und gemeinsam performativ handeln.
Butler legt darüber hinaus einen Fokus darauf, das messianische Eintreten mit der Frage der Erinnerung zu verknüpfen. Unter Benjamins Spuren finden sich interessante Gemeinsamkeiten zwischen Arendt und Butler. Beide betonen die Vergangenheit als Maßstab für die Gegenwart und Zukunft, ebenso nehmen Erinnerung und Narrative eine zentrale politische Funktion ein. Es besteht jedoch ein Unterschied. In Arendts politischem Denken ist das verborgene Narrativ nicht unbedingt mit der Geschichte der Unterdrückten gleichzusetzen: Der Neuanfang und demzufolge die Entstehung der kontingenten Pluralität stehen im ersten ausdrücklichen Sinne nicht immer im Dienst der Unterdrückten. Butler hingegen akzentuiert deutlicher die Verbindung zwischen der Geschichte der Unterdrückten und politischer Ereignishaftigkeit. Sie verdeutlicht, dass die in der Geschichte der Sieger verborgenen Narrative die Geschichten der Unterdrückten sind. Ein weiterer
Unterschied liegt in der Rolle des kontingenten Unterbruchs. Bei Arendt besitzt diese Kontingenz, die im Prinzip mit dem Handeln zusammenfällt, insofern politische Bedeutung, als sie schnellstmöglich an die Bildung der Pluralität anknüpft - Katrin Meyer bezeichnet dies als souverän gesetzten Anfang. Der Neuanfang und die Revolution verwandeln sich daher in die Form der Konstitution und werden als solche bewahrt. Mit anderen Worten äußert sich die Spontaneität in Arendts Politiktheorie als eine spezifische Transformation, die sich in veränderter und weiterentwickelter Form manifestiert. Im Gegensatz dazu wirkt Erinnerung bei Butler »[in fragmentierter und zerstreuter Form] auf die Gegenwart [ein]« (AS, S. 127), indem sie die vorhandene homogene Gegenwart zerstreut und zerreißt, aber zugleich in der zerrissenen Gegenwart verbleibt. Nach Butler werden zwischen der bestehenden Gegenwart und der eintretenden Zeit die beabsichtigte Spaltung und das Aushalten der schwer lösbaren Spannung betont, deren Pole nicht zu schnell konvergieren dürfen: »Die Dinge müssen so bleiben und dürfen nicht vorschnell in neuer Form versammelt und integriert werden. Benjamins Erinnerung widersteht den rascheren Lösungen des hegelianischen Begehrens« (ebd., S. 128). Für diejenigen, die an die Geschichten der Unterdrückten erinnern, ist diese spannungsvolle Lücke sowohl ein spezifischer Zustand als auch eine Chance, die dazu führt, dass alle diese zeitliche Lücke geduldig ertragen und diese Spaltung öffentlich gezeigt wird, damit die Geschichte der Unterdrückten und deren Erinnerung öffentlich erscheinen können. Im Anschluss an Benjamin betrachtet Butler diese gespaltene Kontingenz als das, was »eine Wette auf eine andere Jetztzeit [eingeht]« (ebd.). Insbesondere wenn sich die Erinnerung bei Butler auf die Betrauerbarkeit bezieht, nimmt sie eine spezifische Dauerhaftigkeit an, die aber die Kontingenz nicht vernichtet (vgl. RK, S. 95; Prager 2018, S. 203). Das Auftreten der anderen Zeit deutet laut Butler darauf hin, innerhalb und gegenüber der herrschenden fließenden Zeit einen Zeitraum der Trauer zu eröffnen, in dem man durch Erinnern mit dem Schmerz gemeinsam ausharren und trotzig darin verharren kann (vgl. GL, S. 47). Eine andere Zeit vorwegzunehmen, ist für Butler daher das politische Projekt und auch die ethische Aufgabe.
Das denkende Subjekt der Mobilität: Eigene Gegenwart schaffen
Ab diesem Abschnitt wird das zweite Thema dieses Kapitels untersucht - die Beziehung zwischen dem Zeitverständnis und den Charakteristika der Subjektivität. Im Fokus stehen dabei die Fragen, wie das Denken und die Gegenwart des arendtschen Subjekts zueinander in Beziehung stehen und inwieweit diese Beziehung das mobile Subjekt charakterisiert. Während bei Butler die rückwirkende und antizipierende Gegenwart auf die Iteration angewiesen ist, die von der Kette der Normen nicht unabhängig ist, lässt sich nach Arendt argumentieren, dass sich der selbstschaffende und souveräne Charakter der Gegenwart aus der verborgenen Denktätigkeit240 des Subjekts ableitet. Somit markiert das Verhältnis von Denken und Gegenwart einen zentralen Unterschied zwischen Mobilität und Immobilität: auf der einen Seite das heroisch-individualistische Subjekt bei Arendt, auf der anderen Seite die gemeinsam-performative Gegenwart der Inszenierung sprechender Körper bei Butler.
Die Kunst der Unterscheidung, wie sie bei Arendt zu finden ist, spiegelt sich in der Zeitlichkeit wider. Arendt unterscheidet zwischen der auf der Denktätigkeit beruhenden politischen Zeitlichkeit und der biografischen und alltäglichen Zeit (vgl. LGD, S. 205), wobei diese mit der Unterscheidung zwischen polis und oikos verbunden ist. Sowohl die kontingente Gegenwart als auch die alltägliche Zeit als der immerwährende Strom reiner Veränderung basieren auf den menschlichen Tätigkeiten (vgl. ebd., S. 201). Die Zeitlichkeit, insbesondere die Homogenität des Zeitflusses, basiert auf dem zyklischen Arbeiten oder dem berechenbaren Prozess des Herstellens. In diesem Kontext wird die Arbeit als eine Tätigkeit verstanden, die durch ihren regelmäßigen Rhythmus von Mühsal und Lohn die vitale, alltägliche Zeit unmittelbar erlebbar macht (vgl. VA, S. 127; Gündogdu 2015, S. 134f.). Im Gegensatz dazu beschreibt Arendt das Denken als eine lebenslange reine Tätigkeit, durch die sowohl Gegenwart als auch Vergangenheit und Zukunft entstehen, obwohl die Zeitlichkeit des Denkens - wie der Topos des Denkens als Nirgends241 bestimmt wird - nicht innerhalb eines Zeitpunktes in der Zeitfolge verortet ist. Die politische sowie geistige Gegenwart wird als das >Dazwischentreten< definiert, das als das menschliche Leben zwischen der Geburt als Neuanfang und der Sterblichkeit betrachtet wird. Diese Gegenwart verwandelt nach Arendt den sinnlosen immerwährenden Zeitfluss in die uns gewöhnlichen grammatischen Zeiten von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart (vgl. LGD, S. 199).
Um die politische Gegenwart als ein kämpferisches Zwischen durch die Denktätigkeit zu erklären, greift Arendt auf eine Parabel von Kafka zurück:
»Er hat zwei Gegner: Der erste bedrängt ihn von hinten, vom Ursprung her. Der zweite verwehrt ihm den Weg nach vorn. Er kämpft mit beiden. Eigentlich unterwühlt ihn der erste im Kampf mit dem zweiten, denn er will ihn nach vorn drängen, und ebenso unterstützt ihn der zweite im Kampf mit dem ersten; denn er treibt ihn zurück. So ist es aber nur theoretisch. Denn es sind ja nicht nur die zwei Gegner da, sondern auch noch er selbst, und immerhin ist es sein Traum, daß er einmal in einem unbewachten Augenblick - dazu gehört allerdings eine Nacht, so finster, wie noch keine war - aus der Kampflinie ausspringt und wegen seiner Kampfeserfahrung zum Richter über seine miteinander kämpfenden Gegner erhoben wird« (LGD, S. 198).
Im Anschluss an Kafkas Parabel räumt Arendt dem Denkenden einen besonderen Stellenwert ein: »[Vergangenheit und Zukunft als zwei Kräfte: Choi] sind nicht einfach Gegensätze und würden kaum gegeneinander kämpfen ohne >ihn<, der sich zwischen und gegen sie stellt« (LGD, S. 199). Arendt sieht das denkende Subjekt als einen Kämpfer, der defensiv gegen den Zusammenstoß von Vergangenheit und Zukunft kämpft, »sein Hiersein verteidigt und damit etwas, das sonst indifferent gegen ihn sein könnte, als >seine< Antagonisten bestimmt« (ebd., S. 203). Sie betrachtet das denkende Subjekt nicht nur als das, was die Gegenwart öffnen kann, sondern es »>ist< die Gegenwart, an der sich Vergangenheit und Zukunft scheiden« (D, S. 744f., Hervorh.: Choi). Dieses denkende Subjekt, das einen Dialog mit sich selbst über die Welt und Pluralität vollzieht, bringt nicht nur einen Bruch hervor, sondern verteidigt auch seine eigene Gegenwart zwischen der »Last der Vergangenheit« (LGD, S. 201) und der »Furcht vor einer Zukunft« (ebd.), um in diesem Hiersein zu existieren - im Sinne von >ausweiten< (vgl. ebd., S. 200).242 Die Gegenwart manifestiert sich in diesem Sinne als ein Schlachtfeld des denkenden und handelnden Subjekts. Sie kann nur fortbestehen, >solange< das Subjekt innovativ über die Welt nachdenkt, gedankliche Experimente durchführt sowie sich selbst in der Pluralität vorstellt und aktiv positioniert.
Das Jetzt hängt von der Fähigkeit des Subjekts ab, inwieweit es den aggressiven Zusammenprall beider Kräfte ertragen kann. Dies zeigt die Tugend des Subjekts aus arendtscher Perspektive wiederum deutlich: Die Souveränität des Subjekts weist nicht nur auf die Fähigkeit hin, sein eigenes Jetzt zu schaffen, sondern auch darauf, dass es durch seinen eigenen Kampf die Vergangenheit und Zukunft als seine Antagonisten selbst festlegt. Insofern durch die Denktätigkeit die individuell eigene Zeitfolge zustande kommt, weist das Denken auf die Tätigkeit hin, die sich nicht von den anderen vertreten bzw. übernehmen lässt. Ohne diese intensive Bemühung einzelnes Subjekts, einen Bruch im Zeitkontinuum hervorzurufen, gibt es keine Gegenwart, und umgekehrt gibt es kein Jetzt ohne diese Leidenschaft des Subjekts. In diesem Sinne sind die Vergangenheit und die Zukunft nicht selbstverständlich vorhanden oder gegeben, sondern fallen nach Arendt mit der Schaffung der Gegenwart zusammen: Sowohl die Gegenwart als auch die Vergangenheit und die Zukunft existieren in Abhängigkeit vom Subjekt.
Kontingente Selbstschaffung durch körperlosen Sprechakt
Inwiefern ist der kontingente Charakter der Mobilität durch die Eröffnung der Gegenwart gekennzeichnet, die auf dem spezifischen Denktätigkeit des Subjekts basiert, und wie hängt diese Kontingenz der Mobilität mit der selbstschaffenden und atomischen Erscheinung zusammen? Butlers Subjektivation basiert auf den ständigen Wiederholungsakten und wird durch poiesis243 charakterisiert. Im Gegensatz dazu kann das Denken einen signifikanten Hinweis darauf liefern, wie bzw. aus welchem Grund sich die Erscheinung als die von praxis ausgehende kontingente Selbstkonstruktion verstehen lässt. Der Moment der Entscheidung im Denken manifestiert sich bei Arendt als der Bruch, der als Ereignis auftritt, sodass ein kämpferisch denkendes Ich als das bereits fertig geschaffene Subjekt in Erscheinung tritt. Diese vergleichende Gegenüberstellung zwischen der mobilen und immobilen Subjektivität führt zu einer Kritik an Arendt aus der Sicht Butlers, wobei der Schwerpunkt auf Arendt liegt.244
Um die Ereignishaftigkeit der Selbstkonstruktion zu beleuchten, muss das grundlegende Verhältnis von Denken und Sprache betrachtet werden (vgl. AS, S. 201). Arendt betont, dass das Denken im Grunde der Sprache bedarf, »um überhaupt in Gang zu kommen« (LGD, S. 126). Das Denken entfaltet sich von Beginn an als stummes Zwiegesprächs zwischen mir und dem Ich. Die Denktätigkeit, beispielsweise der Aufschluss über sich selbst, wird zwar vor dem Eintritt in die Welt formuliert, aber nicht jenseits der Öffentlichkeit, sondern im Rahmen des Gemeinsinns245, insofern diese dialogisch-sprachliche Fähigkeit als diejenige betrachtet wird, »in Gesellschaft mit mir selbst zu leben« (AS, S. 200).246 Dies ist ein Moment, in dem die individuelle Denkfähigkeit mit Politischem und Öffentlichem verknüpft ist. Demnach versteht sich die dialogische Begegnung innerhalb des Selbst als >aktive und performative Dimension der Selbstgestaltung<« (ebd., S. 200f., Hervorh.: Choi).247
Obwohl dieses innere, aktive Zwiegespräch das Moment des Angesprochenwerdens zum Teil impliziert, tritt dennoch in der zentralen Dynamik dieser Denktätigkeit eine Form der Konstitution auf, bei der ein Bezug zu sich selbst geschaffen wird (vgl. LGD, S. 201). In diesem Sinne wird die Denktätigkeit sowie die darauf basierende Erscheinung eher als Entscheidung betrachtet, die sich weniger reziprok oder interdependent zeigt. In der Erscheinung, also in der »aktiven und bewussten Wahl« (ebd., S. 45), durch die sowohl eine Selbstschaffung als auch die eigene Gegenwart als eine Kette der Geschichte zustande kommt, zeigt sich das Denken als eine individuelle und souveräne Sprachtätigkeit, die darüber entscheidet, »was gezeigt und was verborgen werden soll« (ebd., S. 43), und letztendlich über »Charakter oder Persönlichkeit« (ebd., S. 46). Das Moment der Entscheidung im Denken wird präzise genommen individuell und atomistisch ausgeübt. Aus diesem Grund wird diese Entscheidung, ein Risiko der Unberechenbarkeit selbst zu tragen, als politisch mutig und tugendhaft betrachtet (vgl. AS, S. 200f.). Welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen? Der Charakter des Denkens als Entscheidung, die sich in sprachlicher Selbstbestimmung und in Meinungen über die Welt äußert, erlaubt es, die selbstschaffende Erscheinung nicht als kontinuierlichen Prozess, sondern als ein kontingentes, blitzartiges und mobiles Ereignis zu verstehen.
Wird das Denken als eine Art Entscheidung verstanden, durch die sich das Selbst als das handelnde Subjekt repräsentiert, so lässt es sich als eine >sprachliche< Entscheidung der Selbstpositionierung betrachten. Dabei ist hervorzuheben, dass in Arendts Denken das Sprechen im Kontrast zu dem Körper steht. Eine besondere Eigenschaft des Denkens liegt in seiner Wirkungsweise: Anders als andere geistige Aktivitäten, die in Verbindung mit sinnlichen Metaphern stehen - wie z. B. »das Urteilen mit dem Geschmack, das Wollen oder Begehren, da es imperativ auftritt, mit dem Hören in Verbindung gebracht wurde (LGD, S. 115)« (von Redecker 2013, S. 68) - stellt Arendt fest, dass für das Denken keine geeignete Metapher existiert (vgl. LGD, S. 127). Das Denken steht weder in Analogie zum Sehen, noch lässt es sich durch das Hörbare übereinstimmend beschreiben. Vielmehr scheint das Denken gar keinen direkten Bezug auf den Körpersinnen zu haben und vollzieht sich in »völlig[er] Unbeweglichkeit des Körpers« (ebd.). Diese Körperlosigkeit des Denkens eröffnet neue Perspektiven auf die Erscheinung als ereignishafte Selbstkonstitution sowie auf die politische Kontingenz bei Arendt. Könnte es nicht sein, dass die unvorhersehbare Bewegung der Selbstschaffung gerade durch das Entledigen des Körperlichen in Erscheinung tritt? Und wird in diesem spontanen Ereignis des In-Erscheinung-Tretens das Sprechen nicht als etwas verstanden, das völlig unabhängig vom Körper wirksam ist? Auch die souveräne und tugendhafte Kontingenz der Mobilität kann dadurch entstehen, der Körper zurückgelassen wird - sowohl beim Sprung vom Privaten in den öffentlichen Raum als auch in den Bewegungen des Erscheinungsraums, die durch das >Besuche-von-anderen-Standpunkten- Machen< (vgl. LGU, S. 69) charakterisiert sind. Wenn das Denken als die rein sprachliche Tätigkeit Subjekte lebendig und weltlich macht, und wenn das Vollziehen des Selbstzweckes - Freiheit zu konstituieren - auf der politischen Unsichtbarkeit des Körpers basiert, dann wäre es möglich zu argumentieren, dass bei Arendt sowohl die Erscheinung als Selbstkonstitution als auch ihr Pluralitätsbegriff und ferner die mit dem Denken verbundene politische Freiheit als körperlos betrachtet werden. In diesem Sinne gründet die Freiheit bei Arendt auf der inkompatiblen Beziehung zwischen Körper und dem Politischen, die eine Grundlage ihrer politischen Theorie bildet. In Jedoch verliert diese Auffassung von Freiheit eine entscheidende politische Möglichkeit - die Bedürfnisse des Körpers, Prekarität und Verletzbarkeit ans Licht zu bringen und diese Ungleichheit im politischen Feld öffentlich zu hinterfragen.248
Die Zeitlichkeit, die im politisch-philosophischen Sinne nicht einfach linear fließt, sondern bestimmte Ketten formt, steht sowohl bei Arendt als auch bei Butler mit der Subjektivität in wechselseitiger Beziehung. Es ist von Belang, hier erneut hervorzuheben, dass nach Arendt die Gegenwart als eine kämpferische und heldenhafte Unterbrechung im homogenen Zeitkontinuum auftaucht. So setzt Arendt das Handeln in unmittelbaren Bezug zur Geschichte, in der das sterbliche Subjekt als das in die Geschichte verstrickte Wesen unsterblich werden kann. Ihrer Ansicht nach erweist sich die Erfahrung des >Jetzt< bereits als eine Priorität, die dem erlaubt, wer in seinem beschränkten Dazwischentreten zwischen der Geburt und dem Tod >lebendig< lebt (vgl. LGD, S. 128): Er greift das Moment der Lebendigkeit auf und verteidigt es gegen die Last und Furcht und erweitert es. Allein dieses Lebendigsein wird mit dem Politischsein in Einklang gebracht, was sich nach Arendt mit dem Freisein gleichsetzen lässt. Wer durch sein allerflüchtigstes und allervergänglichstes Tun erinnert werden kann, ist nach Arendt allerdings individuell und begrenzt. Im Gegensatz dazu funktioniert die gespaltene Zeit bei Butler als eine allgemeinere Bedingung für alle - unter der Voraussetzung, dass Butlers Zeit der Wiederholung in jenem Zeitverlauf liegt, der weder ausschließlich der Zeit der Normen noch ausschließlich der Zeit des Menschlichen angehört. Als jede zeitgenössische Konstellation regulieren die Fragmente der Kette die stilisierten Handlungen, die auf die performative Wiederholung von Kollektiven hinweisen. In diesem Sinne ist die Wiederholung immer eine Zitierung, die bereits zwei Zeitmodi miteinander verbindet, und auf diese Weise wird sie auch in die Kette der Normen aufgenommen (vgl. KG, S. 300). Wiederholung und die gespaltene Zeit stehen in einem wechselseitigen und chiastischen Verhältnis. Die performative Wiederholung bildet den Schlüssel, die Zeit der Normen mit der des Ich zu verbinden, wobei aber beide nicht vollständig gekoppelt werden. In und durch die Wiederholung wird die Gegenwart des Ich entweder nachträglich empfunden oder kann im Voraus erlebt werden, da das genalogische Dispositiv als ein nicht einheitlicher Spielraum der verschiedenen Mächte existiert. Performative Gegenwart entsteht in diesem Sinne durch die spezifische Aneignung, die eine bestimmte Macht oder Norm in den Konflikten und Spannungen zwischen verschiedenen Mächten ohne gültiges Recht oder legitime Befugnis verwendet. Diese spezifische Gegenwart, in der sich das Noch-nicht partiell zum Ausdruck bringen lässt, blitzt nach Butler nicht nur ereignisheftig auf; stattdessen kann sie eine bestimmte Dauerhaftigkeit von den gemeinsam stehenden Körpern gewinnen.
Ein zentrales Thema im letzten Teil dieses Kapitels ist das Verhältnis von Zeitlichkeit und mobiler souveräner Subjektivität, die auf der Denkfähigkeit beruht. Arendt fasst das Denken als eine Tätigkeit auf, durch die der Denkende seine eigene Vergangenheit und Zukunft schafft sowie die Gegenwart als sein Schlachtfeld eröffnet, auf dem sich das Subjekt in der öffentlichen Welt verankern kann. Der entscheidende Charakter des Denkens gibt einen bedeutsamen Hinweis darauf, wie die nicht prozesshafte, sondern ereignishafte Selbstschaffung in Arendts Politiktheorie ermöglicht wird, wenn ein zeitlicher (und dementsprechend räumlicher) Sprung von der wiederholenden und kalendarischen Zeit des Privaten hin zur Zeit der öffentlichen Welt durch das Denken erläutert wird. Das Ereignis der Erscheinung stellt somit einen Entscheidungsakt des Denkens dar, durch den das Subjekt selbst bestimmt, wie es erscheint, sein Hier und Jetzt definiert und sich von anderen Subjekten unterscheidet. Ohne die ereignishafte Mobilität, die mit der Fähigkeit des Denkens einhergeht, bleibt die atomische, aber souveräne Eigenschaft des Subjekts bei Arendt unerklärbar. In diesem Sinne lässt sich Arendts Begriff der Pluralität als eine Konstellation verstehen, die aus den verschiedenen und atomistischen Erscheinungen und ihren eigenen Gegenwarten besteht. Im Anschluss daran ist kritisch zu hinterfragen, ob die Mobilität in Arendts Gedanke gerade dadurch ereignishaft möglich ist, dass der Körper sich in der Denktätigkeit entledigt und »der Körper nicht in den Redeakt mit ein[geht]« (TV, S. 64) - was darauf hinweist, dass die Erscheinung durch den körperlosen Sprechakt charakterisiert wird. Wenn man diese Kritik absichtlich zuspitzt, wie Butler auch fragt, »ob und wie der Körper erscheinen darf, der in Arendts ausführlicher Darstellung des Politischen fehlt« (TV, S. 119), lässt sich der Schluss ziehen, dass Arendts Begriff der Pluralität in gewisser Weise körperlos konzipiert ist. Damit einher geht die Gefahr, dass die Abwesenheit des Körpers im Politischen die Möglichkeit untergräbt, nicht nur die ungleich geteilte Prekarität als Lebensbedingungen der Menschen, sondern auch die Verletzbarkeit des Subjekts ins Zentrum des Politischen zu rücken. Nun stellt sich eine weitere Frage, ob und wie die Körper über den Dualismus zwischen Sprache und Körper hinaus im Ereignis der Erscheinung und in der Pluralität in Erscheinung treten können. Im nächsten Kapitel wird daher angestrebt, Antworten auf diese Fragen zu finden, indem Raum und Körper als ein räumlicher Modus des Menschlichen im Hinblick auf Butlers Politiktheorie näher thematisiert werden.
5.2 Raum und Inszenierung der versammelten Körper
Arendts Konzepte der politischen Kontingenz und der selbstschaffenden Gegenwart werden nicht nur durch die Iterabilität in Butlers Politiktheorie hinterfragt. Umso wichtiger ist es, dass diese Kritik durch das butlersche Verständnis von Raum und Körper ermöglicht wird. Vor dem Hintergrund der kontroversen Verständnisse von Raum, Körper und Performativität in Arendts und Butlers Politiktheorie werden in diesem zweiten Kapitel folgende Fragen untersucht: Inwiefern hängt die Räumlichkeit bei Arendt und Butler mit dem Charakter der Performativität zusammen, und wie kann die Performativität der pluralen Subjekte in Bezug auf die Eröffnung ihres Erscheinungsraums vorgestellt werden? Der politische Raum ist nicht lediglich ein Mittel, in dem die Menschen sprachlich handeln können. Die Fragen danach, wer sich in welchem Raum öffentlich anerkennen lässt und wessen Sprechen in welchem Raum vernehmbar werden kann, sind zutiefst politische Fragen, die die Subjektivität, die Anerkennung und die Lebbarkeit betreffen. In diesem Zusammenhang fordert Butler heraus, zu überdenken, ob statt einer Gruppe von souveränen und atomistischen Subjekten eine Zusammenkunft von Körpern als politische Menge in Erscheinung treten kann, die sich bereits als ein politischer Handlungsraum manifestiert und als solche performativ handeln kann.
Dieses Kapitel beginnt mit einer Analyse von Butlers Kritik an arendtsche Raumtrennung. Im Fokus steht der schwankende Charakter des Erscheinungsraums, der entweder als transponibel und abhängig von der Pluralität betrachtet wird oder durch die Gesetze geschützt und festgelegt ist. Des Weiteren wird die Raumrelevanz der politischen Theatralität bei Arendt und der
Performativität bei Butler behandelt. Zweitens werden die menschlichen Körper als wichtigster politischer Raum thematisiert, um die Unterschiede zwischen Arendt und Butler hervorzuheben. Dabei wird untersucht, welche politische Bedeutung die Versammlung der Körpern bei Butler im Vergleich zur Pluralität bei Arendt einnimmt. Anstelle einer Zusammenfassung schließt das Kapitel mit einer Analyse ab, die das Recht auf Erscheinung bei Arendt und das Recht auf Versammlung bei Butler kontrastiert, um die Körperpolitik in Butlers Theorie zu verdeutlichen. Die im Verlauf dieses Kapitels entwickelten Ideen und Fragestellungen, insbesondere das Verhältnis zwischen Immobilität, Demokratie und gewaltloser Macht der verleugneten Körper - nämlich der Gegenmacht, die einer der wichtigsten Effekte der Immobilität ist -, werden im Kapitel VI weiter vertieft.
Zwischen Arendt und Butler: Raumöffnung und Performativität
Die Frage, »was Politik sein sollte« (TV, S. 106f.), hängt im gewissen Sinne mit der Überlegung zusammen, »wer Zugang zum öffentlichen Platz haben sollte und wer in der Privatsphäre bleiben sollte« (ebd.). In diesem Sinne wird die Frage nach dem Politischen dadurch verdeutlicht, wie Räume konfiguriert werden und welche Rolle die Raumdemarkation spielt. Nach Butler ordnet Arendt den privaten Bereich im topologischen Sinne >hinter< dem Erscheinungsraum ein, wodurch der private Bereich als der unpolitische vorausgesetzt und vom Erscheinungsraum ausgeschlossen wird (vgl. SPZ, S. 15). Charakteristisch stehen die beiden Räume in einer gegenseitigen, aber nicht symmetrisch-wechselseitigen Beziehung. Gegenüber dem lebendigtätigen Erscheinungsraum wird der private Bereich als der Raum des Arbeitens für Reproduktion und Notwendigkeit des Lebens einerseits als untätiger Raum betrachtet. Entsprechend wird andererseits dem privaten Bereich die Entrechtung festgelegt (vgl. ebd., S. 14f.), die den Zugang zum Erscheinungsraum nicht erlaubt. Die räumliche Trennung zieht die politische Grenze, die bestimmt, wer erscheinen und ein lebendiges Leben führen kann und wer davon ausgeschlossen bleibt. In diesem Zusammenhang wird daran erinnert, dass die Logik der Ausschließung sowohl in Arendts als auch in Butlers Theorien relevant wird. In Butlers Politiktheorie hat die Ausschließung eine fast ebenso kritische Bedeutung wie das Animal laborans oder die Verhaftung des privaten Bereichs in Arendts Politiktheorie, da die Grenzziehung bei Butler die Frage nach der Lebbarkeit betrifft. Ein Leben, das außerhalb der Lebbarkeit zugewiesen wird, gilt als unechte Kopie des Lebens (vgl. MG, S. 345). Was ist dann der Unterschied zwischen Arendt und Butler in raumrelationaler Hinsicht? Zunächst ist zu bemerken - wie in Kapitel 3.1 kurz erwähnt wurde -, dass Butler kein absolutes Außen voraussetzt, das als eine antipolitische Basis fungiert (vgl. Kämpf 2006, S. 231). Stattdessen wird dieses Außen bei Butler Im Anschluss an Derridas Begriff Supplement als das konstitutive Außen konzipiert, gegenüber dem das Politische oder das vermeintlich Natürliche als Folie des Anomalen von Bedeutung sein kann, solange es eine bestimmte Morphologie des Menschlichen ins Außen vertreibt.249 Bei Butler ist die Grenzziehung zwischen dem sogenannten Innen und dem Außen die politische Dynamik und Strategie , die weder transzendental funktioniert noch auf Determinismus basiert.250 In dem Sinne, dass die Normen und Diskurse strategisch einen bestimmten Bereich als Außen hervorbringen, bezeichnet sich das Außen nach Butler zudem völlig als Innen (vgl. UG, S. 121): »Dieses Ausgeschlossene bleibt aber auf das Feld des Sagbaren und Wahrnehmbaren bezogen, insofern es als Bedrohung des Intelligiblen gegenwärtig bleibt und im kommunikativen Prozess immer wieder aufs Neue verdrängt werden muss« (Kämpf 2006, S. 231). Demnach lässt sich sagen, dass die Ausgeschlossenen bei Butler vielschichtige Spuren von Machtbeziehungen tragen, weil sie sich gerade komplett in den Machtbeziehungen befinden.
Dem privaten Bereich gegenüber steht der Erscheinungsraum bei Arendt mit der Kontingenz des Politischen in einer widersprüchlichen Beziehung, insofern »Politik den Erscheinungsraum braucht, [...] aber auch, dass der Raum die Politik hervorbringt« (TV, S. 100).251 Der öffentliche Raum wird nach Arendt durch gemeinsames Handeln und Sprechen konstruiert und durch die Gesetzmauer vor dem privaten Bereich geschützt. Aus dieser Perspektive lässt sich er vor allem als konstruktiv betrachten, insofern sich die Eröffnung des Erscheinungsraums, die politische Kontingenz und das agonale Subjekt miteinander in einen kompossiblen Zusammenhang bringen lassen. Arendts Erscheinungsraum zeigt sich doch andererseits als solcher, der vor dem individuellen Erscheinungsgeschehen bereits festgelegt und vorausgesetzt wird.252 253 Butler stellt zudem die Eröffnung des arendtschen Erscheinungsraums infrage und sie setzt sich mit der Ambivalenz zwischen Raumschaffung und Performativität auseinander: Wie versteht sich Arendts Erscheinungsraum als konstruktiv sowie möglicherweise performativ und zugleich als begrenzt sowie vorausgesetzt? Nach dem ersten Verständnis erweist sich Arendts Begriff des Erscheinungsraums in hohem Maße als konstruktiv. Denn im strikt arendtschen Sinne wird der Ort des Neuanfangs zum Erscheinungsraum per se (vgl. Rebentisch 2022, S. 43f.). In diesem Sinne ist das menschliche Zwischen nicht an einen vorbestimmten Ort gebunden, sondern wird vielmehr als sein »eigene[r], hochgradig transponible[r] Ort« (TV, S. 99) betrachtet. Daher lässt sich nach Arendt feststellen: Je mehr konstruktivistische Räumlichkeit betont wird und je mehr der Erscheinungsraum als von der Pluralität abhängig definiert wird, desto weniger wird die materielle und infrastrukturelle Räumlichkeit bezeichnet und als desto substituierter erweist sich der Handlungsraum. Diese Vorstellung des radikal konstruktiven Erscheinungsraums bezieht sich auf den souveränen Charakter der Mobilität254, der durch spezifische Bewegung als selbst- und weltschaffend verstanden wird und ferner mit der Differenzierung des Lebens verbunden ist. Wenn allein dieser Perspektive nachgegangen wird, kann dennoch der komplexe Bezug zwischen Handeln und Herstellen nicht gefasst werden - das Herstellen, das dem Handeln zur Schaffung des Erscheinungsraums verhilft. Wenn das plurale Handeln einen hochgradig transponiblen Ort ohne andere Voraussetzungen oder materielle Unterstützungen hervorbringen kann, sollte Arendt die Ambivalenz der Staatenlosigkeit sowie Heimatlosigkeit nicht als hoffnungslos betrachten.
Wird der öffentliche Raum in Arendts Werk allerdings weniger als kontingent und konstruktiv, sondern als bereits vorhanden und festgelegt verstanden, hinterfragt diese zweite Perspektive das Verhältnis zwischen Raum und Performativität und ermöglicht einen Vergleich zwischen politischer Theatralität bei Arendt und Performativität bei Butler im Kontext dieser festen Raumgebundenheit. Arendt postuliert, dass »das Schauspiel die einzige Kunstgattung [ist], deren alleinigen Gegenstand der Mensch in seinem Bezug zur Mitwelt bildet« (VA, S. 234). Sie betrachtet den öffentlichen Raum als die politische Bühne und verknüpft das Drama255 im Theaterspiel mit dem Handeln (vgl. ebd., S. 233). In diesem »Mitmach-Theater« (Kurbacher 2023, S. 18) kann sich der Handelnde in den Schauspieler verwandeln, der seine Maske trägt (vgl. D, S. 8; ÜR, S. 135f.), um seine Rolle im öffentlichen Raum zu spielen, um das Innerliche zu verbergen und um als Subjekt öffentlich wahrnehmbar zu werden. Die arendtsche Theatralität wird als die Wechselwirkung zwischen Schauspieler und Zuschauer betrachtet, insoweit »das Theaterspielen für die Entfaltung ihrer Virtuosität auf ein Publikum angewiesen [ist], das dem Vollzug beiwohnt« (FP, S. 207).256 Für eine so definierte politische Theatralität ist die strikte räumliche Bedingung notwendig: Sowohl die Schauspieler als auch die Zuschauer können insofern als solche von Bedeutung sein, als sie sich innerhalb »Topos des theatrum mundi, der Weltbühne« (Kurbacher 2023, S. 14) befinden. Die Bedeutung der spezifischen Bühne entsteht dadurch, dass sie als Raum des Politischen geschützt und abgegrenzt wird. Diese Demarkation und Sicherung des Erscheinungsraums bringt die Theatralität Arendts als politische Performativität zur Geltung.
Obwohl Butler im Begriff des Erscheinungsraums eine demokratische Möglichkeit sieht und weiterentwickelt, stellt sie zugleich die Kehrseite des Prinzips der räumlichen Trennung Arendts infrage, da die arendtsche Sichtweise »jene Formen des politischen Handelns [vernachlässigt und entwertet], die gerade in den als vor- oder außerpolitisch erachteten Bereichen entstehen« (TV, S. 107). Indem Butler das politische Ereignis außerhalb und entgegen des etablierten Regimes ins
Auge fasst, bemüht sie sich zu betonen, wie die Öffentlichkeit und der politische Raum erneut definiert werden können und wie er möglichst beschränkungslos entstehen kann und sich erweitern lässt. Im Vergleich zu Arendt konzeptualisiert Butler den öffentlichen Handlungsraum performativer als Arendt. Butler spielt dabei ein Doppelspiel: Sie legt weder einen bestimmten Raum als politisch bevorzugten fest, noch lehnt sie trotz ihrer Betonung der Performativität die räumliche und materielle Unterstützung für das Handeln ab, sondern macht es umgekehrt. Butler verdeutlicht, dass das Politische im räumlichen Sinne nicht »von dem eng umschlossenen und gut versorgten Raum der Polis ausgehen [kann]« (ebd., S. 297f.). Stattdessen wird der Handlungsraum dazu bestimmt, die strikte Grenzziehung zwischen öffentlichem und privatem Bereich ständig zu überschreiten. Für Butler wird der öffentliche Charakter des Handlungsraums hervorgebracht, wenn er »zur Debatte steht und manchmal sogar heiß umkämpft ist« (ebd., S. 97). Diese Umstrittenheit, die einen Raum zum politischen Raum macht, ist von den Menschen, die in diesem Raum erscheinen, insofern abhängig, »dass die gemeinsamen Aktionen den Raum selbst einnehmen - sie schaffen den Platz, sie beleben und organisieren die Architektur« (ebd.). In diesem unerwarteten Erscheinungsraum werden die lebensnotwendigen Bedürfnisse und die Prekarität des Menschlichen sichtbar und erheben sich zu politisch zentralen Themen.
Butlers Position unterscheidet sich zudem von derjenigen Arendts insofern, als sie nicht nur über die starre Raumtrennung hinausgeht und eine neue Öffnung des politischen Raums außerhalb des etablierten Erscheinungsraums betont, sondern auch eine spezifische Gewaltverbundenheit als eine Bedingung des politischen Handlungsraums hervorhebt. Die Gefahr polizeilicher Gewalt, wie etwa Verhaftungen oder Inhaftierungen von Mitgliedern einer Versammlung, ist nach Butler grundlegend mit der Entstehung neuer politischer Bühnen verbunden. Die Gefangenschaft, von der Butler spricht, beschränkt sich jedoch nicht allein auf episodische Akte polizeilicher Gewalt. Sie stellt fest, dass »jeder Anspruch auf den öffentlichen Raum [...] vom Spuk des Gefängnisses begleitet wird und das Gefängnis antizipiert« (TV, S. 239). Demnach steht der neue Erscheinungsraum in Verbindung zur Gewalt, da diejenigen, die sich der Gefahr von Gefangenschaft aussetzen und »denen die Versammlungsfreiheit und der Zugang zum öffentlichen Raum verwehrt wird« (ebd., S. 240), zugleich diejenigen sind, die diese neue Öffentlichkeit leidenschaftlich anstreben.
Die butlersche Performativität lässt sich ebenso im Hinblick auf die Theatralität betrachten. Bei der arendtschen politischen Theatralität steht das agonale Subjekt im Mittelpunkt, das durch seine Redeakte etwas Neues ins Leben ruft, um die Zuschauer als Mithandelnde zu mobilisieren. Hierbei wird die Innovativität des Neuanfangs betont, wodurch weniger Platz für vorgeschriebene Theaterstücke bleibt. Im Gegensatz dazu wird in Butlers Performativitätstheorie die ausgeführte Handlung bereits durch die Normen der Matrix der Lebbarkeit wie in einem Theaterstück detailliert reguliert: »[D]er Akt, den man performiert, ist in gewissem Sinn ein Akt, der schon eingesetzt hat, bevor man auf dem Schauplatz erschienen ist« (Butler 2002a, S. 312). Butlers Hauptanliegen zielt dennoch darauf ab, zu zeigen, wie bestimmte theatralische Akte nicht nur die vorherrschenden Normen aneignen, sondern vielmehr diese in unerwarteter Weise fehlaneignen (vgl. HS, S. 230). Inwiefern kann die Unterscheidung zwischen dem harmlosen Darstellerischen im Einklang mit bestehenden Normen und dem subversiven Performativen nachdrücklich und detailliert 180
weiterentwickelt werden? Aus dieser Perspektive lässt sich die theatralische Performativität im festgelegten Erscheinungsraum bei Arendt mit Butlers raumrelationaler Performativität vergleichen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Travestie oder Drag im Sinne Butlers. Diese wird insofern als performativ betrachtet, als eine bestimmte Drag- Performance sich von der bloßen Darstellung zur subversiven Performativität verschiebt, indem sie in einem Raum stattfindet, in dem sie die sichere Raumdemarkation überschreitet. Ein anschauliches Beispiel ist Rosa Parks’ Weigerung, ihren Platz im vorderen Teil des Busses aufzugeben (vgl. HS, S. 230). Diese scheinbar einfache Handlung, das Platznehmen im Bus, führte »zu Furcht, Zorn, ja zu Gewalt« (Butler 2002a, S. 314). Der Bus, zuvor ein alltäglicher Raum, wurde durch diese Handlung zu einem außergewöhnlichen, politisch umstrittenen Raum. Außerhalb der gesetzlich geschützten Bühne, wo nicht leicht davon gesprochen werden kann, dass »[d]as [...] ja bloß ein Spiel« (ebd.) ist, wo derselbe Akt eine ganz andere, riskante Bedeutung in Szene setzt und er die alltäglich herrschenden Normen sowie die bisherige phantasmatische Wirklichkeit bedrohen kann, eröffnet sich performativ der politische Raum Butlers.
Weder Individuum noch Subjekt, sondern die Körper inszenieren sich
Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Raum und Performativität bringt die Thematik der Pluralität ins Spiel, indem sie untersucht, wer als Subjekt in einen öffentlich-politischen Raum eintreten kann und wer nicht. In Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung entwickelt Butler ihre Fragestellung weiter, ob Arendts Pluralität als »verkörperte und plurale Formen performativen Handelns« (Butler 2018, S. 313) neu in Betracht gezogen werden kann. Diese Fragestellung weist gewisse Parallelen zu Arendts konstruktivem Verständnis von Pluralität auf, aber Butlers Perspektive distanziert sich von Arendts Pluralität des öffentlichen Raums - vielleicht mehr als von Butler selbst intendiert. Während Butler dem Körper, sich im Spannungsfeld von Unterwerfung, Handlungsfähigkeit, Anerkennung und Öffentlichkeit bewegt, die performative Bedeutung zuschreibt, die dazu dient, autonome, souveräne und kohärente Subjektivität zu stören, ist die körperliche Daseinsform in Arendts Denken mit der Unfreiheit und Entrechtung assoziiert (vgl. TV, S. 64)257.
Bei dieser Auseinandersetzung zwischen Arendt und Butler spielt das Verständnis des Sprechakts eine zentrale Rolle. Nach Butler ist »Hannah Arendt [...] wahrscheinlich eine der ersten politischen Denkerinnen des 20. Jahrhunderts, die gewichtige Argumente für das performative Sprechen liefert, ein Sprechen, das eine neue Möglichkeit für gesellschaftliches und politisches Leben begründet oder >einsetzt< (>enstates<)« (SPZ, S. 22). Allerdings wird der selbst- und weltschaffende Redeakt bei Arendt nicht als per se egalitär betrachtet, sondern bezieht sich vielmehr auf die Ungleichheit (vgl. Rebentisch 2022, S. 248f.). Ein Grund dafür liegt in Arendts [257] In ihren früheren geschlechtsspezifischen Arbeiten wendet sie sich zunächst bezüglich Beauvoir und Luce Irigaray gegen den Phallogozentrismus und erarbeitet die Frage nach der problematischen phallogozentrischen Kombination zwischen der körperlosen Sprache und dem öffentlichen Politischen. Indem Butler Handlung als »ein rätselhaftes und problematisches Erzeugnis des sprechenden Körpers« (HS, S. 24) auffasst, macht sie deutlich, dass die Handlung »den Gegensatz zwischen Körper und Geist, zwischen Materie und Sprache [zerschlägt]« (ebd.). Daran anschließend bemüht sich Butler ferner, die Begriffe Handeln und Pluralität in Bezug auf die Vulnerabilität neu zu betrachten und zu definieren. Dies soll im Verlauf des letzten Teils dieses Kapitels thematisiert werden. strenge Ablehnung der Körperlichkeit im politischen Bereich.257 In Arendts Denken gibt es eine harte Version des Phallogozentrismus, in der »Männlichkeit als entleiblichte Universalität« (UG, S. 31) und »Weiblichkeit als verleugnete Körperlichkeit« (ebd.) einander gegenübergestellt werden.258 Auf dieser grundlegenden Hierarchisierung werden nach Arendt die bevorzugte Reihe von Männlichem, Sprachlichem und Öffentlich-Politischem und die benachteiligte Reihe von Weiblichem, Somatischem und Privat-Entrechtetem in Kontrast gesetzt. Diese phallogozentrische Dichotomie ruft das Problem hervor, dass die Prekarität und Verletzbarkeit des Menschlichen im Zentrum des arendtschen Politischen gar nicht thematisiert werden. Obwohl Arendts Redeakt zur Schaffung der Freiheit einen wesentlichen Beitrag leisten kann, erweist es sich dennoch als schwierig, ihn zur Bekämpfung von Ungleichheit einzusetzen.259
Basierend auf diesem einführenden Verständnis des Sprechens bei Arendt lassen sich die Forschungsfragen aufwerfen: Welche Bedeutung haben die Körperlichkeit, das Sprechen und Handeln bei den beiden Theoretikerinnen? Wie kann die performative Handlung mit dem Körper ins Verhältnis gesetzt werden? Ist nach Arendt Erscheinung eine spezifische Form des Redeakts eines bereits als mutig erscheinenden Individuums oder kann sie etwas sein, »was durch soziale Bewegungen und viele Stimmen >ausgesprochen< oder >inszeniert< wird« (Butler 2019b, S. 102)? Anders formuliert: Ist im Sinne Arendts die gemeinsame Erscheinung der verschiedenartigen, pluralen Körper überhaupt möglich? Wer in Erscheinung treten kann, ist der entscheidende vergleichende Punkt zwischen Arendt und Butler. Im Gegensatz zu Arendt ist Butler hierbei vielmehr der Meinung, dass »Körper, wenn sie sich [...] (einschließlich virtuellen) versammeln, ein plurales und performatives Recht zu erscheinen geltend machen« (TV, S. 19). Wie es in Butlers politischem Denken kein vorgefertigtes Subjekt260 gibt, wird die politische Zusammenkunft in und während der plural-körperlichen Inszenierung als ein anderes, neues >Wir< hervorgebracht (vgl. ebd., S. 81). Dieses unerwartet in Erscheinung tretende Wir sind nach Butlers Worten diejenigen, »die nicht als >Subjekte< im hegemonialen Diskurs erscheinen können« (ebd., S. 51), die dennoch versuchen, als verleugnete Körper in den öffentlich-politischen Raum einzutreten (vgl. ebd., S. 117).
Butler vertieft ihre Fragen dahingehend, was geschieht, wenn nicht nur die Subjekte, sondern auch die prekären Körper zusammenkommen und wie diese nebeneinanderstehenden Körper selbst politisch performativ gedacht werden können. Zur Beantwortung dieser Fragen ist die zentrale Bedeutung des Körpers in Butlers Politiktheorie nochmals hervorzuheben. Ihr Fokus verschiebt sich tendenziell von der Auseinandersetzung zwischen Individuum261 und Subjekt zu derjenigen zwischen Subjekt und Körper und schließlich auf die »verkörperte[n] Subjekt[e]« (EP, S. 70), oder auf die ungezählten Körper, die sich inszenieren können. Butler argumentiert, dass Wertbegriffe wie Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit nicht aus liberal-individualistischer Perspektive betrachtet werden sollten (vgl. ebd., S. 62). Je stärker der klassische Liberalismus die Autonomie und Selbstgenügsamkeit des individuellen Subjekts hervorhebt, desto mehr werden »das Sichverlassen auf soziale und materielle Struktur« (EP, S. 59) und der Bedarf an Unterstützungen stillschweigend oder absichtlich verschwiegen. Im Gegensatz zu diesem Phantasma262 des seine Eigeninteressen allererst und bestmöglich vertretenden souveränen Individuums haben die Körper als politische Träger einen gewichtigen Vorteil, aufzuzeigen, dass Menschen von Anfang an als das interdependente Wesen existieren (vgl. Butler 2018, S. 318). Der Körper erlaubt somit ein neues Verständnis der politischen Performativität, insofern er »weniger [als] eine Entität [...], vielmehr [als] eine lebendige Menge von Beziehungen« (TV, S. 88) begriffen wird, die die Körper sowohl unterwerfen als auch unterstützen. Für Butler sind diese Beziehungsgewebe - oder anders gesagt: die Interdependenz, die das Leben überhaupt erst ermöglicht - die »wesentliche[n] Bestandteile des Handelns« (ebd., S. 99). Selbst widerständig handelnde Körper bleiben nach Butler auf diese Unterstützungsnetzwerke angewiesen, da die Handlungsfähigkeit nicht als Gegensatz zur Verletzbarkeit zu verstehen ist (vgl. ebd., S. 238). Aus diesem Verständnis heraus gewinnen die Fragen grundsätzlich politische Relevanz: Wie können Körper in der Welt unterstützt werden und wie bzw. wodurch können die verletzbaren Körper als solche zusammen handeln (vgl. ebd., S. 98, 157, 238)?
In dem Artikel Noch einmal: Körper und Macht weist Butler auf eine bestimmte Form der Macht, die gewöhnlich als Handlungsfähigkeit bezeichnet wird, durch das plurale Pronomen >sie< hin, um zu vermeiden, dass >sie< vorschnell auf den Begriff des Subjekts in personifizierter Weise reduziert wird. Nach Butler gerät dieses plurale >sie< ins Schwanken zwischen »einer Gruppe von Personen und einer Gruppe von Machtbeziehungen« (Butler 2003, S. 54). Unter dieser Annahme vertritt Butler den Körperbegriff, der sich nicht nur in der und durch die Normenmatrix materialisiert, sondern auch »als Art und Weise der Übernahme jener Handlungsfähigkeit in Erscheinung tritt, die zuvor dem Subjekt zugeschrieben worden war« (ebd., S. 55). Sofern Butler Subjektivation durch einen unendlich ständigen Prozess charakterisiert, wird der Körper aus derselben Perspektive als »räumliche[] Entfaltungsprozesse[]« (RK, S. 174) gekennzeichnet. Er offenbart sich als »eine Art
der Dramatisierung und der >Reproduktion< einer geschichtlichen Situation« (Butler 2002a, S. 305), die »|j]ene sozialen Kategorien, die wir nicht selbst gewählt haben, [...] auf bestimmte Weisen [durchziehen]« (TV, S. 129). In diesem Sinne kann das Subjekt nicht allein ein vollkommenes Vorrecht als Akteur des Widerstandes besitzen, nicht nur weil das butlersche Subjekt sich die Stelle des Subjekts nur durch die tropologische Inauguration aneignen kann (vgl. PM, S. 9; HS, S. 218).
Wenn sich die Subjektivität bei Butler im Körperlichen niederschlägt, ist hervorzuheben, dass nicht nur die Charakteristika des Körpers mit denen des Subjekts zusammenhängen, sondern mitunter der Körper über den prioritären Status des Subjekts hinausgeht. Der gemäß Butler und Foucault nicht als reine Materie verstandene Körper verweist auf eine Räumlichkeit, die nicht als bloße passive Oberfläche vorgestellt wird, sondern als eine, »an der die Macht selbst übertragen wird« (Butler 2003, S. 58). Durch diesen Körperraum wird einerseits die Fragilität des Subjekts enthüllt, in ihm weist es andererseits darauf hin, dass die Handlungsfähigkeit mit Vulnerabilität verknüpft ist, in der die Verletzbarkeit mit Performativität in Zusammenhang stehen. Als eine Bewegung zwischen Unterwerfung und Produktivität manifestiert sich der Körper als »Durchgangspunkt der Machtbeziehung« (ebd., S. 57) sowie als »einer der Orte ihrer Umlenkung, ihres Überfließens und ihrer Umwertung« (ebd., S. 58). An dieser Stelle ist Butlers Argumentation sorgfältig zu beachten: Weder nimmt der Körper Macht an, noch ist die Macht im Körper verankert. Denn von dem Körper als Topos der Macht und den auf ihn übertragenen Machtbeziehungen kann »nicht einfach passiv in der einen und aktiv in der anderen Hinsicht« (ebd.) gesprochen werden (vgl. TV, S. 183, 301). Auf eine Weise, in der die Handlungsfähigkeit den Körpern »weder besessen noch nicht besessen [wird]« (Butler 2003, S. 54), tritt der Körper als der Ort der Transformation der Macht an die Stelle des Subjekts. Butler stellt den Körper vor, der als der vulnerable eine bestimmte Handlungsfähigkeit vorwegnehmend ausüben und der sich gegen die Normen wenden kann, die ein bestimmtes Vorrecht auf das Leben in der Gesellschaft ungleich verteilen. In diesem Sinne steht Materialisierung in einer Beziehung der An- und Enteignung zu den Machtbeziehungen, da der Körper »Träger und Instrument einer immerwährenden Arbeit« (ebd., S. 58) der Machtbeziehungen und zugleich »beharrend und widerständig gegen jede Einwirkung« (ebd.) ist.
Nach Butlers Ansicht ist somit der von Anfang an im Bedeutungsmuster und den Machtbeziehungen liegende Körper der sprachlich handelnde Körper, wenngleich er durch den herrschenden Bedeutungsrahmen abgelehnt wird. Dies heißt allerdings nicht, dass alle Körper die vorrangige und sozial anerkannte Sprachfähigkeit besitzen oder ausführen können. Butler betont, dass die Körper stets schon am Sprechen beteiligt sind und ihr Sprechen sich nicht auf das Gesagte reduzieren lässt (vgl. TV, S. 16). Kann sich die Verschiedenartigkeit der Vielen im politischen Spielraum nicht nur im arendtschen Sinne durch Meinungsvielfalt manifestieren, sondern vielmehr durch die kollektiven, vulnerablen Körper? Obzwar Butler von Arendts Begriff der Pluralität ausgeht, hebt sie die »Fähigkeit der Menschen, sich zu versammeln« (ebd.) noch deutlicher hervor, die sich nicht vollständig mit der Meinungsfreiheit deckt. Butler weist kritisch darauf hin, dass »|d]ie Performativität häufig mit der individuellen Performanz assoziiert worden [ist]« (ebd., S. 17), und laut dieser Kritik ist Arendts Handeln als Neuanfang keine Ausnahme. Während Arendt durch ihre Begriffe Handeln und Sprechen, Denkfähigkeit und Urteilskraft den Redeakt in den Fokus stellt und dementsprechend die Körperlichkeit im politischen Denken versäumt, stellt Butler den Körper als zentrales Element der politischen Theorie in den Vordergrund. »Der Kampf um die Frage nach dem öffentlichen Raum« (ebd., S. 99) bezieht sich bei Butler nicht nur auf die gemeinsam sprechenden, inszenierenden Körper, sondern auch auf die verletzten, daher unterstützungsbedürftigen Körper. Butlers Augenmerk liegt zudem darauf, dass bzw. inwiefern sich die politische Performativität aus den Körpern ableiten lässt, die Performativität, die ein spezifisch rhetorisches Sprachvermögen und den als das Muster des politischen Handelns verstandenen Redeakt nicht immer voraussetzt (vgl. ebd., S. 63f.), die nicht immer mit der sozial anerkannten Handlungsfähigkeit übereinstimmt und die schließlich nicht von der Vulnerabilität getrennt ist.
Butler gegen Arendt: Von der Pluralität zur performativen Versammlung
Die neue Interpretation der sich versammelnden Körper bietet einen Maßstab der Unterscheidung zwischen der auf Erscheinung basierenden Pluralität bei Arendt und der Inszenierung bei Butler. Butlers Beschreibung der Versammlung als »nah genug beieinanderstehen« (TV, S. 231) ist nicht schlicht eine Erweiterung des Pluralitätsbegriffs Arendts: Sie kann sogar als der genaue Gegensatz zum Pluralitätsbegriff betrachtet werden. Für die Unterscheidung zwischen Pluralität und Versammlung ist eine bestimmte politische Distanzempfindung zunächst von zentraler Bedeutung. Arendt definiert die Pluralität nicht nur als das gemeinsame Tun. Vielmehr beruhen die Existenz und Dynamik der Pluralität auf dem lebendigen und agonalen Zwischen, das weniger durch physische Anwesenheit als vielmehr durch die Meinungsaustausche sowie Meinungsdifferenzierungen der Beteiligten gekennzeichnet ist. In diesem Sinne ist die arendtsche Pluralität ein Spiel der Distanzierung, das das Dazwischen erzeugt und darin agiert, indem die erscheinende Subjekte einerseits sich miteinander assoziieren, andererseits sich stärker voneinander unterscheiden.
Im Gegensatz zu Arendts Position gewinnt die körperliche Nähe in Butlers Konzept der Versammlung zunehmend an politischer Bedeutung. Butler schreibt Arendts Begriff in subversiver Weise neu, indem sie die Pluralität, die bei Arendt als Pluralität der Meinungen263 in der Öffentlichkeit verstanden wird, als die Pluralität der Körper und als das körperliche Zwischen neu definiert. Der Erscheinungsraum lässt sich nicht durch einzelne Körper eröffnen - bis hierher sagen Butler und Arendt fast das Gleiche. Doch Butler verschiebt ihren Akzent: Die performative Handlung »findet nur >zwischen< Körpern statt, in einem Raum, der die Lücke zwischen meinem eigenen Körper und dem eines oder einer anderen konstituiert« (TV, S. 105). In Butlers Verständnis wird der Körper in zweierlei Weise mit dem Raum ins Verhältnis gesetzt: Erstens können die sich versammelnden Körper vor jeder Erklärung einen neuen oder anderen öffentlichen Raum eröffnen - oder anders formuliert: Ihre Erklärung drückt sich darin aus, »die öffentlichen und räumlichen Bedingungen ihrer Äußerung zu gestalten« (Butler 2019b, S. 117). Wesentlicher ist jedoch die zweite Weise, die die erste ermöglicht. Während der Versammlung kann der Körper, der eine räumliche Aufenthaltsform des Menschlichen ist, eine Möglichkeit mit sich bringen, als menschlich lebenswerter Körper im Sozialen neu bzw. erneut in Erscheinung zu treten. Durch die Exponierung der Prekarität machen die Körper ihre interdependente Beziehungsförmigkeit abermals geltend, sodass sie sich als die spezifischen räumlichen Öffentlichkeiten manifestieren können (vgl. ebd., S. 123).
Die in der gestellten Frage beinhalteten Gegenüberstellungen - Pluralität vs. Versammlung, Meinungsfreiheit vs. Körperinszenierung - richten sich schließlich darauf, welche Rolle und Deutung Arendt oder Butler jeweils dem Körper bei der Performativität zuschreibt, mit anderen Worten: Worin liegt die Kontingenz als politische Dynamik bei Arendt und Butler? In Arendts Denken weist Pluralität auf die politisch-agonale Form hin. Solange die Pluralität existiert, entsteht die Kontingenz bei Arendt aus der heftigen und wettbewerblichen Differenzierung der Meinungen, die in der Ungewissheit besteht, wie andere auf eine Meinung reagieren. Im Gegensatz dazu stellt Butler heraus, dass die politische Kontingenz aus den Körpern entsteht. Deutlicher noch als bei Arendt wird bei Butler hervorgehoben, dass intersubjektive Handlung und Relationalität nicht als eine selbstverständliche Serialität der einzelnen Subjekte entstehen - vielmehr kann eine Serie der Ereignisse in Form der Konstellation entdeckt werden. Butler setzt weiterhin ihren Schwerpunkt anders: Die Körper an Körper, die verletzten und prekären Körper mit anderen Körper, die aufeinander angewiesen sind und im Widerspruch zueinander stehen, inszenieren ihre beschädigte Relationalität und Unerträglichkeit wie eine >Choreografie<, indem sie »in allen möglichen Haltungen, Gesten und Bewegungen sein werden, um diese Relationalität auszudrücken« (Butler, Lustiger, Dornick und Hark, 2018, S. 379; vgl. Butler 2019b, S. 127). Durch diese Körperinszenierung weist Butler auf ein Spiel zwischen Kontingenz und Ortsgebundenheit hin: Es gibt ein Da, ein Außen, das aus den verleugneten Körpern besteht. Und dieses Da, das sich als das Ausgeschlossene vom Hier zu entfernen scheint, offenbart sich in unerwarteter Weise als das Inmitten des Hier, wenn die Körper während der Versammlung gemeinsam in Erscheinung treten.
Interessanterweise fokussiert Butler gewissermaßen weniger darauf, wofür oder wogegen sich die Demonstranten streiten,264 sondern eher darauf, in welcher Art und Weise die Versammlung ihre Form erhalten und sich bewegen kann. Neben der »zeitliche[n] Serialität und Koordination, [...] akustische[n] Reichweite, aufeinander abgestimmte[n] Stimmäußerung« (TV, S. 231) hebt Butler die körperliche Nähe und die daraus folgenden körperlich geteilten Erfahrungen in der Versammlung hervor und misst ihnen eine neue politische Bedeutung bei.265 Wenn die
Versammlung über das Gesagte hinausgeht und als gemeinsame körperliche Inszenierung sowie plurale Performativität verstanden wird, zeigt sich darin noch etwas Grundsätzliches, das an ihre frühere Arbeiten anknüpft und nun weiterentwickelt wird (vgl. ebd., S. 16). Butler stellt die chiastische Beziehung zwischen Körper und Sprache fest, dass beide »stets schon im anderen mitenthalten, immer schon über das andere hinausschließend, [...] niemals vollkommen identisch noch vollkommen verschieden [sind]« (KG, S. 105). Butlers Betonung der Materialität des Körpers verdeutlicht erneut, dass das körperliche Zusammenfließen >bereits< als sprachlich und zugleich performativ verstanden werden sollte. Jede Handlung ist immer schon körperlich-sprachlich. Da Körper in Handlungen unweigerlich die Spuren von Machtbeziehungen tragen, kann Butler argumentieren, dass sie nicht nur bei dem Gespräch wörtlich oder schriftlich mitsprechen, sondern dass es »eine Zusammenkunft von Körpern [gibt], die gleichsam auf andere Weise spricht« (TV, S. 203): »[P]lurale Formen des politischen Ausdrucks [können] auch die Form einer Rede, Geste, Bewegung annehmen, was den Körper als Ort des politischen und expressiven Widerstreits in den Vordergrund stellt« (Butler 2019b, S. 104). Als plurale Form des Bedeutungsmusters drücken die sich versammelnden Körper sogar etwas >Mehr< aus. Die Inszenierung der Körper, die sich »nicht vollständig auf Behauptungen [assertions]« (TV, S. 212) reduzieren lässt, sollte in diesem Sinne als der Moment verstanden werden, in dem das politische Potenzial266 des sprechenden Körpers gemeinsam in Erscheinung tritt. Butlers Position stellt eine subtile und subversive Differenzierung zu Arendt dar, die sogar über das hinausgeht, was Butler selbst erkennt. Einerseits stellt sie im Gegensatz zu Arendt heraus, dass Körper und Sprache untrennbar miteinander verbunden sind und Körper nicht als außersprachliche Materie abgewertet wird. Andererseits stellt sie fest, dass nicht jede politische Forderung unbedingt als Meinung oder Äußerung in Anspruch genommen wird. Mehrere intersektionale Probleme hinsichtlich der Prekarität und Verletzbarkeit des Menschlichen können sich durch die Inszenierung der Körper manifestieren, deren Inhalte sich oft als vielschichtig, unterschiedlich und unkonkret erweisen. Doch gerade durch den performativen Sprechakt des körperlichen Überschusses können sie infrage gestellt und politisiert werden.
Recht auf Erscheinung vs. Recht auf Versammlung und Rechte auf Lebbarkeit
Der abschließende Abschnitt dieses Kapitels widmet sich den Auseinandersetzungen über das Recht auf Rechte im Diskurs zwischen Arendt und Butler und skizziert die Körperpolitik im Hinblick auf Performativität und Prekarität. Im großen Rahmen stimmen die beiden Theoretikerinnen darin überein, dass das erstgenannte singuläre Recht eine vorrangige performative Bedeutung einnimmt, insofern das Recht, durch das sich die >Rechte< besitzen lassen, »von keinem Staat jemals bewilligt werden, nicht einmal die Petition zugelassen [würde]« (SPZ, S. 45). Der entscheidende Angelpunkt zwischen Arendt und Butler liegt dennoch darin, dass Arendt das Recht auf Rechte als das Recht auf Erscheinung feststellt, von dem aus Pluralität267 entstehen kann, während Butler es mit der Versammlungsfreiheit268 verknüpft. Die Pluralität im arendtschen Sinne und die Versammlung bei Butler, insbesondere die Inszenierung der Körper, sind nicht gleichbedeutend. Dies ist ein Moment, in dem Butler mit und gegen Arendt das Denken Arendts erweitert, indem sie insbesondere die Versammlungsfreiheit als ein performatives Recht der Körper interpretiert. Eine Versammlung verletzter und prekarisierter Körper, die sich »in nicht regulierter Weise bewegen« (TV, S. 208f.), »[inszenieren] ihre politischen Forderungen in einem Raum, der dadurch öffentlich wird oder ein bestehendes Verständnis des Öffentlichen neu definiert« (ebd.).
Im Gegensatz zu den abstrakten Menschenrechten, die einerseits auf der nationalstaatlichen Souveränität269 und andererseits auf dem Naturrecht270 beruhen, postuliert Arendt ein einziges Recht auf Rechte - das Recht auf Erscheinung, das darauf hinweist, »in einem Beziehungssystem zu leben, wo man nach seinen Handlungen und Meinungen beurteilt wird« (Arendt 1949, S. 760). Das Verhältnis zwischen dem einzigen Recht, von dem aus das menschlich lebendige Leben garantiert werden kann, und den Rechten konkretisiert sich in Arendts Unterscheidung zwischen positiver und negativer Freiheit. Arendt versteht die negativen Freiheiten als bürgerlichen Rechte, die sich durch den Verfassungsstaat gewährleisten lassen (vgl. Arendt 1994, S. 247). Im strikten Sinne werden die durch negative Freiheiten unterstützten Aktivitäten nicht als politische Handlungen angesehen. Hingegen verbindet Arendt die positive Freiheit mit der Freiheit des Redeakts, die als ein Recht verstanden wird, in der Öffentlichkeit zu sprechen und gehört zu werden (vgl. ebd., S. 248). Die politische Freiheit, »frei zu sein im Handeln« (ebd., S. 239f.), wird in und durch einen Erscheinungsraum ermöglicht, und dieser kann auf ihrer Grundlage etabliert werden.
In Bezug auf arendtschen Erscheinungsraum, der eine Grundlage der politischen Freiheit bildet, entwickelt Butler ihren eigenen Ansatz, der im Zusammenkommen von Körpern einen neuen öffentlichen Handlungsraum eröffnet. Dieser Ansatz wird in Butlers Frage nach der fragilen Verbindung zum >National-Staat< vertieft, der - wie der Bindestrich signalisiert - bereits als etwas Gespaltenes von nationaler Zugehörigkeit (State) und Zustand (state) existiert.271 In dieser Spaltung spiegelt sich der Unterschied zwischen dem Recht auf Erscheinung und dem Recht auf Versammlung wider. Butler argumentiert, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen im National-Staat in einen Zustand versetzt werden, der darauf zurückzuführen ist, dass der Staat gewisse Verfahren des Rechtsschutzes und der staatlichen Verpflichtung aussetzt (SPZ, S. 8). Dabei stellt die räumliche Trennung zwischen dem öffentlich anerkannten Handlungsraum (State) und dem ausgeschlossenen state eine zentrale Funktionsweise der Souveränität dar. Diese Souveränität basiert auf der Regulierung von dem Recht auf Mobilität und - damit verbunden - dem Recht auf Zugehörigkeit, indem sie eine Grenze zwischen dem lebbaren Leben und den unzählbaren Körpern zieht. Im Gegensatz zu dieser Souveränität, die definiert, wie und wer vom ausgegrenzten Zustand hin zur nationalen und sozial anerkannten Öffentlichkeit übergehen kann und zugehörig sein kann, stehen die sozial marginalisierten Körper, deren Inszenierung auf einen Zustand hinweist, der als ein Außen innerhalb des Rechtsstaates272 existiert. Diese Körper-Inszenierung eröffnet die Möglichkeit, die Grenzen von Zugehörigkeit, Anerkennung und der Lebbarkeit anfechtbar zu machen.
In diesem Zusammenhang scheint Arendts Erscheinungsraum, der auf dem Recht auf positive Freiheit beruht, nicht ausreichend Distanz zur Strategie der Souveränität zu wahren - auch wenn unter der Souveränität bei Arendt die Vielfältigkeit der Meinungen in der Pluralität verstanden wird. Im Gegensatz zur souveränen Mobilität schlägt Butler die Körperpolitik als eine Form des Widerstandes vor, die diese fragile und zugleich gewaltwirksame Verbindung zwischen zugehörigkeitsbasiertem, herrschendem Innen und dem Außen erschüttert, wenn die prekären Körper in dieser Grenze leidenschaftlich verbleiben. Gegen die souveräne Einteilung und Ausschließung exponiert sich die Zusammenkunft der Körper als eine performative Deklaration, die jedoch nicht auf ein schlichtes Gefühl der Inklusion hinweist, wie etwa »>Auch< wir sind das Volk« (TV, S. 234, Hervorh.: Choi). Sie manifestiert sich vielmehr als ein Sprechakt273, der inmitten wachsender Ungleichheit eine Form der Gleichheit einfordert (vgl. TV, S. 235) - die Gleichheit, die die Voraussetzung für die soziale und politische Existenz bildet, um die Bevölkerung repräsentieren zu können (vgl. ME, S. 265). Aus diesem performativen Sprechakt, der auf dem neuen Körper-Raum basiert, entstehen ein demokratischer Wille und eine (Gegen-)Souveränität, von der ein Teil »unübersetzbar, [...] nicht übertragbar, ja sogar unsubstituierbar [bleibt]« (TV, S. 211).275
Während in Arendts Politiktheorie die positive und die negative Freiheit deutlich hierarchisch festgelegt sind, stehen bei Butler das Recht auf Versammlung, das »durchaus eine Grundvoraussetzung von Politik selbst sein kann« (TV, S. 208f.), und die Rechte, die die Lebbarkeit der verschiedenen Lebensformen konkret unterstützen, in einem engeren Zusammenhang. Für Butler ist das menschliche Leben nicht ausschließlich auf die positive Freiheit einerseits und auf negativen Freiheiten andererseits angewiesen. Vielmehr erhalten bei ihr die Rechte, die bei Arendt als soziale und nicht per se als politische Fragen gelten, eine neue politische Bedeutung, insofern das, was in der Versammlung inszeniert wird, in Form von Rechten Ausdruck findet. Diese Rechte werden von Butler weder als rein bürgerliche Rechte verstanden und sie gehören noch ausschließlich zu den anerkannten Bürgern. Stattdessen verweisen diese Rechte auf die Rechte auf Lebbarkeit, die es ermöglichen, auf bisher nicht anerkannte Verletzbarkeit und die gewaltsamen Spuren der Macht öffentlich aufmerksam zu machen. In diesem Zusammenhang wird nicht nur das Recht auf Pluralität in das Recht der Versammlung transformiert, sondern diese Transformation erfordert eine weitere Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Raum und politischem Handeln, um festzustellen, welches Recht in welchem Raum ausgeübt werden kann. Die Forderungen nach >Rechten< können dabei gerade in dem auf der Inszenierung der verletzten Körper basierenden Raum stattfinden. Dieser neue öffentliche Handlungsraum dient nicht nur dazu, die Prekaritätsfrage aufzuzeigen und sie als konkrete politische Agenda zu formulieren, sondern auch soziale Ungleichheit in verkörperter und kollektiver Weise zu kritisieren - insbesondere eine Kritik an Rechtsstaat, der bestimmte Körper ungleich in prekäre Situationen treibt und dadurch Ungleichheit (re)produziert. Das Zusammenkommen der verleugneten Körper ist sowohl mit dem einzigen Recht als auch mit den sozialen Rechten verflochten. Anders ausgedrückt: Die Inszenierung der bislang unsichtbaren Körper kann sowohl das einzige Recht als auch die Rechte performativ zur Geltung bringen. In diesem wechselseitigen Verhältnis zwischen den Rechten auf Lebbarkeit und dem Recht auf Versammlung entsteht zudem ein Konflikt: einerseits zwischen Souveränität des Rechtsstaates und anderseits Souveränität als Gegenmacht, die eine konstitutive Kritik an der vorhandenen Souveränität hervorruft, indem sie die gewaltsame Grenzziehung der Souveränität infrage stellt.
In diesem Kapitel wurde das Verständnis von Zeitlichkeit und Räumlichkeit in den Theorien von Arendt und Butler dargelegt - Zeitlichkeit und Räumlichkeit, welche sowohl den Hintergrund von politischer Kontingenz und Subjektivität darstellen als auch sie maßgeblich charakterisieren. Es ist [275] Butler warnt selbst davor, die performative Kraft der Inszenierung rein optimistisch zu interpretieren. Denn die performative Kundgebung lässt sich nicht mit deren Verwirklichung gleichsetzen, »[o]b diese Ausübung wirksam ist oder nicht, ist eine andere Frage« (SPZ, S. 35). Butler fordert stattdessen, »die Lücke zwischen Ausübung und Verwirklichung zu verkünden und beides auf eine Weise in den öffentlichen Diskurs einzubringen, daß die Lücke sichtbar wird und zu mobilisieren vermag« (ebd., S. 47).
zu betonen, dass die Kritik an der arendtschen kontingenten Zeitlichkeit und der darauf basierenden Subjektivität nicht nur im Vergleich zu Butlers Zeitverständnis steht, sondern auch zu Butlers Raumverständnis in Bezug auf Körper. Im ersten Abschnitt von Kapitel V wird die Zeitlichkeit in den Theorien beider Denkerinnen verglichen, die sich durch kontingente Unterbrechungen in einer Art Kettenform auszeichnet. Trotz des angenäherten Ansatzes unterscheiden sich ihre Auffassungen von Zeitlichkeit in wesentlichen Aspekten, insbesondere hinsichtlich der Frage, wovon der kontingente Unterbruch im homogenen Zeitfluss ausgeht: Während Arendt das Handeln als Neuanfang betont, stellt Butler Wiederholung und Iterabilität in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Der kontingente Charakter der Geschichtlichkeit wird in Arendts Charakteristikum der Subjektivität deutlich, vor allem in Bezug auf ihren Begriff des Denkens. Der Denkende offenbart sich bei Arendt als Subjekt, das seine eigene Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft selbst schafft. Allerdings lässt sich diese Vorstellung des Subjekts mindestens aus zweierlei Hinsicht kritisieren: Erstens stellt sich die Frage nach der Pluralität, ob Menschen gemäß Arendt tatsächlich gemeinsam erscheinen können, wenn jedes Subjekt in seine eigene Gegenwart eintritt und als souverän-autonomes und entkörpertes Subjekt erscheint. Die zweite Frage betrifft die Tatsache, dass die Öffentlichkeit und Freiheit in Arendts Politiktheorie nicht in der Lage sind, die Verletzbarkeit des Menschen zur Diskussion zu stellen. Aufgrund des Fokus auf das Denken, aus dessen Wirkung sich die Ereignishaftigkeit der Erscheinung ergeben kann, geraten der Körper und körperliche Bedürfnisse in der Öffentlichkeit aus dem Blick. Wenn Hilfsbedürftigkeit oder Schwäche aus dem Politischen ausgeschlossen werden, ruft dies die Gefahr hervor, dass die politische Freiheit bei Arendt begrenzt bleibt. Denn im Gegensatz zum freibeweglichen Subjekt gibt es immer diejenigen, die in Prekarität geraten und sich nicht nahtlos in Arendts Konzept von politischem Freisein einfügt.
Aus Butlers Perspektive besteht eine mögliche Antwort auf die Kritik an Arendt darin, gemeinsame Erscheinungen prekärer Körper als alternative Räumlichkeit des Politischen zu verstehen. Butlers Fokus liegt darauf, klarzumachen, dass über die arendtsche Unterscheidung zwischen dem stummen und un- oder antipolitischen Körper und dem öffentlich-sprachlichen Subjekt hinaus den sich versammelnden Körpern als der interdependenten Gebundenheit die politische Gewichtigkeit und Fähigkeit zugeschrieben werden sollten. Die performative Ermächtigung der Zusammenkunft der Körper kann dadurch zustande kommen, dass sich der menschliche Körper in der Angewiesenheit auf die Matrix der Lebbarkeit beziehungsförmig konstituiert und immer schon durch diese normative Interdependenz vermittelt wird. Wenn die Körper durch ihr Beieinanderstehen auf der Straße ihre Verletzbarkeit exponieren, fordert dies dazu auf, »neu über den Sprechakt nachzudenken, um zu begreifen, was bestimmte Arten körperlicher Inszenierungen tun und schaffen« (TV, S. 29). Butler stellt heraus, dass das Beisammenbleiben der Körper, die konzentrierten körperlichen Aktionen und jene Bestandteile der Versammlung, die über die auf >Meinungen< nicht reduzierbare Botschaft sprechen, die »Grundsätze der Freiheit und der Gleichheit zum Ausdruck bringen [können]« (ebd., S. 68). Butlers Ansicht zur Inszenierung der Körper dekonstruiert das Vorbild der Performativität, welches in Bezug auf die Autonomie sowie Souveränität ausreichende Distanz nicht wahrt. Die Versammlung der Körper gewährleistet nicht, dass alle ihre erledigte Prekarität durch diese Zusammenkunft überwinden können. Die Performativität der gemeinsamen Inszenierung wird somit nicht mit der Souveränität oder der Autonomie gleichgesetzt. Dies heißt dennoch nicht, dass dieser Kampf nutzlos, sinnlos oder kraftlos ist. Im Gegenteil manifestiert er sich durch diejenigen, die verletzbar und prekär sind und deswegen zugleich widerständig - und in diesem Sinne vulnerabel - handeln. Diese Art von Widerstand, nämlich der immobile Widerstand hinterfragt gemeinsam, warum Unterstützungen ungleich verteilt werden und wer als Mensch anerkannt wird und wer ausgeschlossen bleibt. In diesem Sinne ist die Inszenierung der Körper, die sich von Arendts Pluralitätsbegriff unterscheidet, als ein Leitbild der Widerständigkeit der Immobilität zu verstehen, die im Gegensatz zur souveränen Mobilität als schwache, verletzbare und zugleich subversive Performativität zur Gleichheit definiert ist.
VI. Immobilität und Widerstand: Gewaltlosigkeit und Möglichkeit radikaler Demokratie
Die Konzepte von Mobilität und Immobilität laden dazu ein, über Subjektivität und Handlungsfähigkeit im Kontext der räumlichen Dimension neu nachzudenken. Im abschließenden Kapitel werden diese Konzepte unter Berücksichtigung von Butlers jüngsten Arbeiten näher beleuchtet. Die Konzeptualisierung der Immobilität - verstanden sowohl als eine ontologische Seinsweise als auch als eine aktiv-passive Praxisform des gewaltlosen Widerstands - setzt an, ein bestimmtes Leitbild des souveränen Subjekts zu hinterfragen, das durch die mit spezifischer Bewegungskapazität einhergehende Handlungsfähigkeit definiert wird. Die Kritik an Mobilität zielt somit darauf ab, den politischen Sinn des Bleibens - insbesondere für Bevölkerungsgruppen, die in Verletzlichkeit, Prekarität oder Trauer verharren - neu zu konzipieren und aufzubewerten.
Vor einer detaillierten Konzeptualisierung von Mobilität und Immobilität ist es sinnvoll, den Begriff der Welt als die zugrunde liegende Räumlichkeit zu klären. Trotz einer gewissen begrifflichen Unschärfe lässt sich feststellen, dass die Welt der Mobilität im Grunde genommen auf der dualistischen Kontrastierung und dem Übergang zwischen beiden basiert: von einem Ort, wie dem privaten und dunklen Bereich, zu einem anderen, öffentlich und politisch anerkannten Raum. Die verbindende Rolle von »bestimmte[n] Medien, Foren oder Institutionen« (von Redecker 2018, S. 189) tritt im Zusammenhang mit Mobilität in den Hintergrund274, sofern das Verhältnis zwischen dem Handeln und politischer Freiheit nahezu ohne intervenierende Wirkungen eines Dritten als unmittelbar betrachtet wird. Im Gegensatz dazu wird die Welt der Immobilität durch vermittelnde Medien275 wie Diskursen, Konventionen und Normen strukturiert. Diese organisieren und regulieren die von Butler als grundlegend erachteten Beziehungsgeflechte, von denen sowohl das Subjekt als auch das Performative abhängig sind und aufgrund deren Wirkungen Beziehungsförmigkeit nicht als abgeschlossene Dyadik276 betrachtet wird (vgl. EG, S. 42).277 Das genealogische Dispositiv von Normen erscheint im ersten Blick als bereits vorhanden und gegeben. Dieses Dispositiv ist Teil von Strukturen, die unser Leben bedingen, ohne dass wir eine Wahl haben wie Zwangsheterosexualität oder Neoliberalismus (vgl. ME, S. 110f.). Diese
Normenstruktur, nämlich Matrix der Lebbarkeit, gewährleistet das Überleben bzw. das soziale Leben und bedroht es zugleich (vgl. MG, S. 344). Insofern ihre normativen und regulatorischen Wirkungen von der Gewalttätigkeit nicht deutlich getrennt werden, wirkt diese Matrix gleichermaßen als ein gemeinsames Widerstandsnetz der Immobilität. In >einer< vermittelten Welt können die Widerstände durch das leidenschaftliche Bleiben an bestimmten Ereignissen miteinander verbunden werden. In dieser Verbindung können bestimmte lokale Ereignisse über die Zugehörigkeit und Ähnlichkeit hinaus als vernehmbar, übersetzbar und zudem gegeneinander affizierbar betrachtet werden. Dadurch kommt die ethische Unbegrenztheit der Immobilität als politisches Potenzial für gewaltlose und performative Kraft zum Ausdruck.
In den vorangegangenen Kapiteln wurden die politischen Theorien von Hannah Arendt und Judith Butler im Hinblick auf Räumlichkeit, Subjektivität und Pluralität untersucht. Das Kapitel VI widmet sich einer detaillierten Auseinandersetzung mit den Konzepten Mobilität und Immobilität. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels werden Mobilität und Immobilität im Kontext der Räumlichkeit und der Frage des Ankommens vorgenommen. Einerseits werden die souveränen Momente der Mobilität hinsichtlich ihrer Grenzziehungen und Beschränkungen kritisch beleuchtet. Andererseits wird aufgezeigt, dass Immobilität, die sich als die Existenzform des Menschen und auch als eine Art und Weise des Widerstandes verstehen lässt, nicht als passiv, untätig oder inaktiv missverstanden werden darf. Vielmehr wird die verletzbare und genau dadurch widerständige und unbewegliche Beweglichkeit der Immobilität hervorgehoben. Der zweite Abschnitt fokussiert darauf, Immobilität im Hinblick auf Betrauerbarkeit sowie Gewaltlosigkeit als eine Widerstandspraxis der radikalen Demokratie aufzufassen. Der Ansatz der Radikaldemokratie betont die performative Kraft unbetrauerbarer Körper, insofern sie durch beharrliches Verharren die ungleich verteilte Prekarität und Betrauerbarkeit zur Debatte stellen und somit gemeinsam Kritik üben, »um ihre Gegnerschaft gegen bestehende Machtregime zum Ausdruck zu bringen« (TV, S. 276).
6.1 Mobilität und Immobilität
Eine nähere Betrachtung des Konzepts der Mobilität
Die Konzeptualisierung von Mobilität und Immobilität beginnt mit der kritischen Überlegung, inwieweit sich Teilungen von Räumen und Bewegungen zwischen Räumen auf die Handlungsfähigkeit, die Machtentstehung und -wirkung sowie auf die politische Kontingenz beziehen. Arendts wichtige Begriffe von Handeln, Erscheinung und Pluralität bieten hierbei einen theoretischen Ansatz, der zur Konzeptualisierung der Mobilität entwickelt werden kann. In ihrer politischen Theorie nimmt Bewegungsfähigkeit, insbesondere das Gehen eine besondere Relevanz ein. Für Arendt ist das Freisein - verstanden als der Sinn der Politik und auch das Ziel des guten Lebens - untrennbar mit einer spezifischen Fähigkeit zum Gehen verbunden, die jedoch nicht mit der modernen Bewegungsfreiheit gleichzusetzen ist (vgl. WiP, S. 44).278 In diesem Kontext verweist der Begriff Erscheinung auf ein politisches Gehen in das Unvorhersehbare, das den eigentlichen Sinn der Politik ausmacht, und auf ein spezifisches Gehen in eine eigene Gegenwart, die zuvor nie erlebt wurde. Mobilität wird somit als Denkweise verstanden, die hervorhebt, dass Handlungen und ihre Wirkungen auf der Beweglichkeit des Einzelnen beruhen. Sie manifestiert sich als Konzept, das einer bestimmten politisch-konstruktiven Beweglichkeit, durch die das Ich als autonom und souverän in Erscheinung treten kann, politische Würde und Autorität verleiht. In den vorhergehenden Kapiteln wurde Mobilität sowohl als vertikaler Aufstieg vom privaten in den öffentlichen Bereich als auch als spezifisch horizontale Bewegung zwischen ebenbürtigen Beziehungen im Erscheinungsraum definiert, wodurch die mobile Subjekte ihre individuelle Tugend aufzeigen und sich voneinander unterscheiden - entsprechend dem »Unterschied zwischen dem Wunsch, [bloß: Choi] zu leben und [...] dem Wunsch nach dem guten Leben« (TV, S. 260). Um dieses Gehenkönnen zu bewirken, das darauf hinweist, in Erscheinung zu treten und innerhalb mobiler Subjekte zu mobilisieren und ebenfalls mobilisiert zu werden, betont Arendt, dass die »Kluft zwischen einem gesicherten Leben innerhalb einer Familie und dem erbarmungslosen Ausgesetztsein der Person innerhalb der Polis« (VA, S. 45) bestehen bleiben muss.
Das Konzept der Mobilität ermöglicht es, die Erscheinung als Welt- und Selbstkonstruktion zu verstehen und zugleich zu problematisieren. Mobilität stellt den Versuch dar, Arendts Kunst der Unterscheidung zwischen Erscheinung, Sichtbarkeit und Positionierung im öffentlichen Raum einerseits sowie Ausgeschlossenheit, Unsichtbarkeit und Verhaftetsein im dunklen Bereich andererseits umzuschreiben und neu zu betrachten (vgl. LGD, S. 78).279 Um von einer Welt in die andere überzugehen, müssen restriktive materielle und soziale Bedingungen sowie bestimmte Handlungsund geistige Fähigkeiten erfüllt sein, von denen Arendt jedoch selten detailliert erklärt, wie und wodurch Menschen entsprechend befähigt werden können. Die erste bekannte Voraussetzung ist nach Arendt, dass der Sich-Bewegende als geschlechtlich männlich bestimmt wird, der >Herr des Hauses< ist und »sich durch Herrschaft von den Notwendigkeiten des Lebens befreit hat« (FuP, S. 218). Daher zeigt sich der >Herr< als Besitzender, der sein Eigentum als Grundlage für seine Erscheinung zur Verfügung stellen kann. Er verfügt ebenso über Fähigkeiten zur politischen Partizipation, wie Sprachfähigkeit, Denkfähigkeit oder Urteilskraft. Wenn das Eigentum als Ort fungiert, der diese Fähigkeiten zur politischen Partizipation bereitstellt, manifestieren sich die geistigen Fähigkeiten zwar konstruktiv in der Erscheinung oder in der Pluralität, dennoch haben sie aufgrund ihres Bezugs zum Besitzindividualismus eine inhärente Grenze. Die auf dem privilegierten Eigentum basierende politische Fähigkeit birgt die Gefahr, dass sie die Abweichenden ausschließt und letztlich die Pluralisierung der Pluralität beeinträchtigt (vgl. Rebentisch 2022, S. 198).
Wenn Mobilität nicht nur als eine Bewegung des Aufstiegs oder Übergangs verstanden wird, sondern auch als eine Form der Selbstpositionierung280 in der Welt, ist diese Auffassung mit Arendts Betonung des Mutes verknüpft; dem Mut, dem eine politisch Heldenhaftigkeit zugrunde liegt, die ein atomistisches Subjekt voraussetzt, das ohne Angst mit eigener Stimme innovative und tugendhafte Redeakte ausübt (vgl. Butler 2019b, S. 103). Die auf solchem Mut basierende Selbstpositionierung lässt sich nicht als Fixierbarkeit betrachten. Die Selbstpositionierung in der öffentlichen Welt widersetzt sich nicht dem bewegenden Charakter der Mobilität, genauso wie mutiges Handeln sich nicht auf erstmaliges bzw. einmaliges Übersteigen und Auftreten reduziert, das den angenehmen privaten Raum verlässt. Aus dieser Perspektive ist das agonale Handeln wie das Voneinander-Unterscheiden im Erscheinungsraum von besonderer Bedeutung. Innerhalb der Gesetzesmauern, die Handeln garantieren und zugleich einschränken, erlebt ein Subjekt das »erbarmungslos[e] Ausgesetztsein« (VA, S. 45), das darauf hinweist, dass seine eigenen Meinungen zur Diskussion gestellt und der Kritik anderer ausgesetzt werden. Nach Arendt ist somit nicht das Dulden, sondern vielmehr das Genießen dieses intensiven Ausgesetztseins eine Tugend des politischen Mitgliedes, dessen Bürgerlichkeit nicht allein durch die Tatsache der Geburt festgelegt wird. Ähnlich dem Handeln, das nicht endet - abgesehen davon, dass die Konsequenzen des Neuanfangs in die Geschichte übertragen werden -, bleiben das strittige Ausgesetztsein und der Wettbewerb um die politische Tugend ebenfalls bestehen. Als mutige Offenheit und Unvorhersehbarkeit wird Mobilität folglich als eine Bewegung betrachtet, die es ermöglicht, dass das >Wer< der Person nicht fixiert ist, sondern wesentlich durch Kontingenz und Unvorhersehbarkeit geprägt wird (vgl. Rebentisch 2022, S. 37). Mit anderen Worten wird Mobilität als eine anstrengende Bewegung verstanden, den eigenen Standort in der Welt des Zwischen lebendig - im Sinne von ständig - zu aktualisieren. Die neue bzw. erneute Selbstlokalisierung ist daher ein integraler Bestandteil der Mobilität, die spezifische Risiken mit sich bringt - wie den Verlust der eigenen, bisherigen Position. Sollte die sich- und weltschaffende Erscheinung dennoch nicht als autonom betrachtet werden? Sollten dieses Wagnis, sich immer wieder neu zu positionieren und die Haltung, niemals auf »die Empfindung des Lebendigseins« (LGD, S. 128) aufzugeben, nicht als souverän gedacht werden?
Solange das Ertragen von Risiken als Ausdruck der Überlegenheit und Souveränität der Mobilität verstanden wird, bietet das erbarmungslose Ausgesetztsein einen interessanten Vergleichspunkt zwischen Arendt und Butler: Aus welchem Grund kann das Ausgesetztsein im Kontext der arendtschen Mobilität als souverän, im Kontext der butlerschen Immobilität hingegen als verletzbar interpretiert werden? Zudem ist zu klären, wie sich die Perspektiven der Relationalität zwischen Arendt und Butler unterscheiden, insbesondere wenn Arendt nicht nur von >Ausgesetztsein< spricht, sondern auch von der bestimmten Relationalität, einer Gebundenheit an die anderen, von der eine Identität empfangen werden kann (vgl. D, S. 734). In Arendts Perspektive - hier sei beispielhaft erwähnt, den Meinungen anderer ausgesetzt zu sein, vom Standpunkt anderer her zu denken oder Identität in der Pluralität zu empfangen (vgl. Arendt 1991, S. 80) - verliert das handelnde Ich nie seine Schlüsselstellung: Dieses singuläre und einzigartige Ich, das als gewissermaßen antiessenzialistisches und konstruktives Ich in der Pluralität existiert und als solches von Bedeutung ist, wird im Gegensatz zur butlerschen Vorstellung der Enteignung die performative Verletzbarkeit nicht vollständig verkörpert. Stattdessen wird das strikte Ausgesetztsein, das sich in der Heftigkeit des Meinungsaustauschs zeigt, als Lust am Handeln und somit als politische Tugend verstanden. Wird das Begehren nach dem lebendigen Leben und das Gehenkönnen in Zusammenhang mit dem Performativen betrachtet, lässt sich Arendts Politiktheorie weniger über den Begriff der grundlegenden Interdependenz, sondern vielmehr über das Konzept der Mobilität erfassen - als Gehenkönnen, das mutige Eintreten in eine unvorhersehbare Welt, eine politische Seinsweise, die niemals statisch erstarrt, sondern in der Dynamik politischer Freundschaft zwischen den tugendhaften Mitbewerbern verankert ist.
Eine kritische Dimension davon, dass das Ausgesetztsein in der Pluralität auf das performative Sich-Exponieren und die mobile Selbstschaffung hinweist, zeigt außerdem, dass die Mobilität auf systematischer Beschränktheit und Ausschließung beruht, die mit der Gewalt der Herrschaft verbunden sind (vgl. Rebentisch 2022, S. 49). Vor diesem Hintergrund treten zwei zentrale Probleme der Mobilität in den Fokus: Einerseits stellt sich die Frage, wie Mobilität nicht nur durch die Gewalt der Ausschließung in Gang gesetzt wird, sondern selbst eine Form solcher Gewalt fungiert. Andererseits erfordert dies eine kritische Reflexion der Begriffe Handeln und Performativität sowie der Freiheit. Die Bedingungen der Mobilität können nicht ausschließlich dadurch erfüllt werden, männlich-erwachsener Herr und Eigentümer zu sein, obwohl diese Bedingungen bereits geschlechtliche und besitzindividualistische Prioritäten implizieren. In den soziokulturell beschränkten Bedingungen für das Aufsteigen und Sich-Lokalisieren wird der Körper als das erste mobile Eigentum281 vorausgesetzt, der jedoch im Erscheinungsgeschehen beseitigt werden soll. Diese Körperlosigkeit der Mobilität bedeutet keineswegs, dass der öffentliche Raum frei von Diskriminierungen des Körpers wäre. Im Gegenteil verweist eine radikale Form des Ausschlusses, die den öffentlichen Erscheinungsraum als beschränkten Ort privilegierter Kämpfe zementiert, auf eine biopolitische Form des Rassismus. Dieser Rassismus, der die Maßstäbe für als bewegungsfähig bestimmte Körper festlegt, operiert, indem er lebbare von unlebbaren und unzählbaren Körpern unterscheidet.
Im Hinblick auf rassistische Ausschlüsse nähert sich Rebentischs Kritik an Arendt gewissermaßen mit Butlers Lesart von Frantz Fanon. Butler macht darauf aufmerksam, dass Merleau-Pontys Körperschema - »die Organisation stillschweigender strukturierender körperlicher Bezüge zur Welt« (EP, S. 145) - nach Fanon bereits >historisch-rassistisch< funktioniert. In diesem Sinne verweist Rebentisch auf die in Arendts Politiktheorie inhärent wirkende >institutionelle und herrschenden Optik<, die bestimmt, wer in einem gemeinsamen Handlungsraum sichtbar werden und dadurch erscheinen kann und wer nicht (vgl. Rebentisch 2022, S. 84). Diese herrschende Optik wirkt bereits als >vorgeprägt<, bevor ein Individuum handelt, und fungiert als eine sozialnormative Grenze der Mobilität, die Sichtbarkeit und Ausschluss reguliert. Ohne diese herrschende und institutionelle Optik< und infolgedessen ohne den Bereich der Unsichtbarkeit ist Mobilität undenkbar und kann nicht zustande kommen. Die Idee der Mobilität geht in diesem Sinne unausweichlich mit Gewalt einher - nicht nur, weil Mobilität auf dem notwendigen Außen beruht, sondern auch, weil die Souveränität der Mobilität im- und explizit auf Herrschaft gründet. Soll der Ausschluss nicht lediglich als individuelle Verantwortung gelten, sondern vielmehr als »das Ergebnis einer in dieser Welt institutionalisierten politischen Optik« (Rebentisch 2022, S. 84), stellt sich umgekehrt die Frage, ob die mobile Subjektivität überhaupt als Errungenschaft des einzelnen Subjekts betrachtet werden kann. Die Mobilität - schon immer ein beschränktes Vorrecht des Verlassens und Ankommens - basiert ihre konstruktive Kraft nicht allein auf individuellen Kapazitäten. Die Souveränität und Autonomie - alles, was als Effekt der Mobilität gilt -, sind vielmehr spezifische Phantasmen. Mobilität kann sich erst dann manifestieren, wenn nicht nur die Tatsache kaschiert wird, dass die Bedingungen sowie der Zugang zu den Unterstützungen für Mobilität von vornherein ungleich verteilt sind. Die Vorstellung der souveränen und autonomen Mobilität wird sondern auch dadurch ermöglicht, dass die politisch bedeutsame Tatsache ausgeblendet wird, dass es ohne materielle und soziale Unterstützung weder Erscheinung noch Neuanfang gibt (vgl. TV, S. 100). Mobilität verschleiert somit ihre Angewiesenheit auf die Fähigkeit vom Gemeinsamen, indem sie diese negiert.
Rebentisch stellt weiter fest, dass die Beschränktheit nicht lediglich als Entzug der Chance verstanden wird, politisch lebendig zu sein und als politisch würdiges Subjekt anerkannt zu werden. Die Problematik der Mobilität ist darüber hinaus mit der Frage nach der Freiheit verbunden. Arendt verknüpft die Selbstzweckhaftigkeit des Politischen mit der politischen Tugend des Subjekts, das nicht nach Eigeninteresse oder Sicherheit, sondern nach politischem Ruhm strebt, der zur Vielfältigkeit bzw. Lebendigkeit der Pluralität beiträgt. In diesem Sinne lässt sich Mobilität als eine souveräne Form der Freiheit betrachten, in der erstrebenswert ist, das eigene Freisein mit der Freiheit der politischen Pluralität in Einklang zu bringen. Doch wenn Freiheit auf der Beschränktheit des Zugangs zur Welt beruht und dadurch das Politische sowie die Freiheit ihre Würde garantiert werden, stellt sich die Frage, ob diese Freiheit per definitionem als Freiheit verstanden werden kann. Dieses Problem besteht nicht nur »in einer Zugangsbeschränkung zur Freiheit, sondern in der Beschränktheit der Freiheit selbst (vgl. Rebentisch 2022, S. 92). Es zeigt sich als ein paradoxes Moment der auf Arendts politischer Theorie basierenden Mobilität: Die Mobilität - verstanden als Aktivität der Liebe zur Freiheit - weist auf einen Freiheitsbegriff hin, der der Gleichheit kritisch entgegensteht.
Immobilität aus ontologischer Perspektive
Die Immobilität282, die in dieser Untersuchung als ein neues politikwissenschaftlichen Konzept entwickelt wird, verweist zunähst auf eine Weigerung, bestimmte Formen der Beweglichkeit implizit oder bewusst mit der Durchsetzungsfähigkeit, Handlungsfähigkeit oder auch Performativität gleichzusetzen. Im Gegensatz zur Mobilität rückt Immobilität in den Fokus, wie nicht der agonale Neuanfang zum politischen Freisein, sondern politische Forderungen nach lebbaren Leben in Erscheinung treten und ein bestehendes gesellschaftliches Dispositiv verändern können - selbst wenn die Akteure eines solchen politischen Ereignisses scheinbar von der Handlungsfähigkeit getrennt sind, die auf der Vorstellung eines liberal-individualistischen souveränen Subjekts basiert. Zur näheren Präzisierung des Konzepts der Immobilität werden zwei räumliche - oder zumindest räumlich vorstellbare - Dimensionen analysiert: eine ontologisch-relationale sowie eine örtlichpraxisbezogene. Aus sozialontologischer Perspektive wird Immobilität als eine Seins- und Handlungsform verstanden, die ein leidenschaftliches Verbleiben in der grundlegenden Relationalität verkörpert, das in Form von Enteignung zum Ausdruck kommt. In diesem Zusammenhang verschiebt sich das bei Mobilität zentrale Begriffspaar Verlassen und Ankommen hin zum Außer-sich-Stehen und In-der-Relationalität-Verhaftetsein. Diese Verschiebung macht deutlich, dass Immobilität weder als reine Bewegungsunfähigkeit noch als statische Ortsgebundenheit zu verstehen ist. Vielmehr manifestiert sie sich als eigenständige Unbeweglichkeit, die weder eindeutig aktiv noch passiv ist, sondern gerade durch ihre Vulnerabilität als performativ begriffen werden kann. An diese sozialontologische Dimension schließt die räumlich-praxisbezogene Dimension an, wobei Lokalität, Umkehrbarkeit und Übertragbarkeit der Immobilität als ihre Widerständigkeit thematisiert werden.
Während Mobilität mit dem autonomen Subjekt assoziiert wird, steht die durch Enteignung charakterisierte Immobilität in Zusammenhang mit der Dekonstruktion des Subjekts: Das immobile Subjekt ist somit verletzbar, prekär und zugleich performativ. Die wesentliche Ambivalenz der Immobilität besteht im Verhaftetsein in der Relationalität, die einerseits außerhalb283 des Selbst existiert, andererseits sich als die Fremdheit innerhalb des Selbst manifestiert. Wichtig ist dabei, dass das In-der-Relationalität-Verhaftetsein bereits auf interdependente, vom Selbst unkontrollierbare und unabschließende Verwicklungen verweist, in denen sich eine neue Form der solidarischen Handlungsfähigkeit entfalten kann. Die Fortexistenz als das Menschliche ist von vornherein von den anderen abhängig, solange jedes Ich als »schon ein soziales Wesen [...] an eine soziale Welt gebunden [ist], die über die Sphäre des Vertrauten hinausgeht und weitergehend unpersönlich ist« (EP, S. 129). In dieser grundlegenden Relationalität erlebt das immobile Subjekt ein Dem-anderen-Ausgeliefertsein und folglich die Unmöglichkeit, als Selbst vor diesem Ereignis zurückzukehren (vgl. GL, S. 64). Dieses Nichtzurückkehren deutet einerseits auf die fortwährenden Transformationen des Selbst hin, bei denen »[i]ch mir selbst gleichsam immer anders [bin] und es keinen abschließenden Moment [gibt]« (EG, S. 41). Andererseits zeigt sich hier, dass das immobile Subjekt nicht nur mit dem Geschehen verbunden ist, sondern auch im Ereignis gefangen bleibt. Dieses Ereignis vergeht nicht vollständig und ist nicht lediglich ein abgeschlossenes Element der Vergangenheit des Subjekts. Mit Blick auf Butlers Konzept der ontologischen Enteignung lässt sich die nicht-souveräne Subjektivität des immobilen Subjekts herausstellen, insofern als ein Leben sich einerseits zu eigen ist und doch gleichzeitig nicht vollständig sich einet, wodurch ein Leben zu einem sozialen und zu einem lebendigen menschlichen Leben werden kann (vgl. TV, S. 257).
Diese Enteignung des Subjekts führt darüber hinaus zu einem ontologisch-räumlichen Gespaltensein, das eine wesentliche Eigenschaft der Immobilität darstellt. Nach Butler existiert das Ich, solange es »hier [ist], getrennt von dem, von dem >Ich< abhäng[t]; aber zugleich, und das ist entscheidend, [ist] >Ich< auch dort« (EP, S. 126, Hervorh.: Choi). In dieser sozialontologischen Dimension der Immobilität wird deutlich, dass das Ich nicht vollständig hier ist - da es immer schon außer sich steht - und zugleich wahrscheinlich nie vollständig dort - da es immer noch in der Relationalität verhaftet bleibt. Wo ein Ich in ambivalenter Weise beharrlich verharrt, wird zu einem Ort der Immobilität: ein Ort, von dem aus das Selbst vertrieben wird und an dem es sich zugleich im engeren Sinne, ohne anzukommen, befindet. Diese spezifische Räumlichkeit der Immobilität verkörpert eine Form des Bleibens zwischen Außer-sich-Stehen und In-der-Relationalität-Verhaftetsein.
Immobilität aus räumlicher Perspektive: Beharrliches Bleiben ohne Ankommen
Immobilität birgt sich eine vulnerable Widerständigkeit, die sich insbesondere durch ihre praxisbezogene räumliche Dimension interpretieren lässt. Die Beharrlichkeit, mit der sich Prekarisierte lebensbedrohender Gewalt widersetzen, verweist auf ein Potenzial, die strukturelle Gewalt infrage zu stellen und zu unterlaufen (vgl. EP, S. 39). Dies deutet nicht nur darauf hin, wie Widerstände aus Immobilität in ungünstigen Situationen entstehen können, sondern noch wesentlicher darauf, wie widerständige Handlungsfähigkeit unabhängig von der atomistisch- tugenhaften Bewegungsfähigkeit der Mobilität gedacht werden kann. Der Schwerpunkt des Konzepts der Immobilität liegt dabei auf der spezifischen Unmöglichkeit des Ankommens sowie der politischen Bedeutung des beharrlichen Verbleibens. Als Denkversuch, politische Kontingenz und Subjektivität aus einer räumlichen Perspektive zu betrachten, hinterfragt Immobilität den vermeintlichen Zusammenhang von Verlassen und Ankommen und kritisiert die Mobilität, insofern sie den festen Zusammenhang zwischen Verlassen und Ankommen als souverän und performativ interpretiert. In der Mobilität setzt die selbst- und weltschaffende Handlungsfähigkeit das Angekommensein voraus.284 Das Verlassen des privaten Bereichs und das Betreten des öffentlichen Raums, das in Arendts Politiktheorie eine wesentliche politische Dynamik hervorbringt, basiert auf der Annahme, dass »Menschen nicht von ungefähr in die Welt geworfen werden, sondern von Menschen in eine schon bestehende Menschenwelt geboren werden« (VA, S. 226). Anders ausgedrückt: Dieses Geborensein als das erste Ankommen - dass jeder als Angeborener bereits mindestens einmal in der Welt angekommen ist - ermöglicht die Erscheinung, d. h. das zweite Ankommen in der öffentlichen Welt.
Immobilität beginnt damit, dass es keine Garantie gibt, das Verlassen, Ankommen und Eintreten kontinuierlich in Gang zu setzen. Sie hinterfragt somit die Annahme der Mobilität, ob jede Person von Anfang an einmal in der Welt angekommen sein kann285, bevor die Fähigkeit des Verlassens und Aufsteigens in Betracht gezogen wird. Wenn bestimmte Personengruppen irgendwo nicht angemessen ankommen können, da das Kontinuum zwischen Ankommen und In-Erscheinung- Treten nicht allen erlaubt wird, stellt sich die Frage, wo diese Menschen, wie etwa die Geduldeten, sich befinden und wo sie verhaftet sind. Kafkas Parabel Vor dem Gesetz bietet einen Schlüssel zur Vorstellung einer Räumlichkeit der Immobilität, die als ein Spalt zwischen Ankommen und Eintreten oder als eine problematische Kombination zwischen dem Nichtankommen und dem leidenschaftlichen Dableiben interpretiert wird. In der Parabel wird ein Mann vom Land dargestellt, dem ohne eindeutigen Grund verwehrt wird, Eintritt in das Gesetz zu erlangen. Nahezu sein gesamtes Leben wartet er darauf, dass ihm der Türhüter Einlass gewährt. Kurz bevor er stirbt, fragt der Mann vom Land den Türhüter, warum während seines lebenslangen Wartens niemand außer ihm versucht habe einzutreten. Der Türhüter antwortet, dass dieser Eingang nur für ihn bestimmt war, und er werde ihn nun schließen.
Der Ort, an dem der Mann in Kafkas Parabel Vor dem Gesetz steht, lässt sich als eine Räumlichkeit der Immobilität interpretieren: Obwohl er dort angekommen ist, bleibt ihm der Eintritt vorbehalten. Dieser Ort symbolisiert im butlerschen Sinne die gespaltene Zeitlichkeit zwischen der Zeit der Normen und der Zeit des Menschen. Damit stellt sich die Frage, inwieweit die auf dem Ausschluss basierenden Zeit der Normen, in deren Rahmen das Ich konstituiert wird, der Zeit des prekären Individuums entgegentritt, das als Ausgeschlossener eine neue Form der Gleichheit in Anspruch nimmt. Das lebenslange Warten des Mannes vom Lande deutet allerdings darauf hin, dass das alternative Jetzt, das sich als ein Dissens des Status quo öffnet, für das prekarisierten Individuum nicht rechtzeitig realisierbar ist. Dennoch ist es von Bedeutung, dass das hartnäckige Verweilen des Mannes diesen Zeitunterschied und die Gewalt der herrschenden Zeit infrage stellen oder anklagen kann.
Das Verbleiben des Mannes vom Land verdeutlicht die Ambivalenz des konstitutiven Außen. Das bestehende Gesetz beruht auf bestimmten Ausschlüssen, wobei die Kraft des Gesetzes, das darüber entscheidet, wem der Zutritt gewährt wird und wem nicht, durch das beharrliche Verharren vor dem Gesetz sichtbar wird. Das Tor in dieser Parabel markiert eine Grenze und kennzeichnet diesen Ort vor dem Gesetz als ein >asymmetrisches< Außen, worin das Gesetz bereits als eine Form des Verbots wirkt, dessen Gewalt sich über das gesetzliche Innere und das gesetzliche Bürgertum hinaus entfaltet. Bestimmte Personen, wie der Mann vom Land, können weder im Einklang mit dem ebenfalls im Außen wirksamen Gesetz eine Öffentlichkeit oder eigene Rechte erlangen, noch sich der Gewalt des Gesetzes entziehen. Doch im Kontext dieses Weder-Noch wird Immobilität durch das aktiv-passive Moment charakterisiert: Einerseits bleibt der Mann vom Land dort passiv verhaftet, da ihm weder das Eintreten noch das Verlassen möglich ist, andererseits verharrt er aktiv vor dem Gesetz, da er den Eintritt ins Gesetz anstrebt und dadurch die Gewalt des Gesetzes anprangert.
Unter der Annahme, dass die Räumlichkeit der Immobilität - wie sie in von Kafkas Parabel untersucht wird - durch die Komplizenschaft mit der Gewalt charakterisiert ist, wird im Folgenden der Frage nachgegangen, wie der Ort der Immobilität dennoch als ein Ort aktueller Ereignisse neu betrachtet werden kann. Das hartnäckige Bleiben muss als politische Handlung neu bewertet werden, die eine singuläre, doch übersetzbare Lokalität hervorbringt. In der Tat gab und gibt es zahlreiche soziale Bewegungen, die sich in Form des Ohne-Ankommen-beharrlichen-Dableibens manifestieren. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist die Occupy-Wall-Street-Bewegung von 2011, die gegen wirtschaftliche und soziale Ungleichheit kämpfte und sich über die Vereinigten Staaten hinaus auf über 900 Städte in 82 Ländern ausbreitete, darunter London, Paris und Berlin. Der Slogan der Bewegung, >Besetzt die Wall Street<, wurde von den Demonstranten monatelang im Zuccotti Park in New York umgesetzt. Eine gewaltlose Form der Besetzung wurde von Marsha Spencer, damals 56 Jahre alt, verkörpert, die beharrlich den Platz besetzte, indem sie zusammen mit anderen >strickte<. Auch in Deutschland gibt es viele Beispiele: »Gegen den Kohletagebau wird mit >Alle Dörfer bleiben< und für den Wald mit >Danni bleibt<, >Moni bleibt< oder >Fechi bleibt< mobilisiert. >Wir bleiben alle< ist die Kampfansage gegen Gentrifizierung und Verdrängung aus der Stadt. Gegen jede Abschiebung von Geflüchteten steht die Forderung nach sicherer Bleibe« (von Redecker 2023, S. 10f.). Es ist nicht zufällig, dass Butler - wie auch die Universität Berkeley - einen Besetzungsstreik als Beispiel286 anführt, um vor allem die politische Bedeutung des »hartnäckigen] Da-Sein[s]« (TV, S. 139) zu betonen. Die Besetzung von Gebäuden auf dem Campus von Berkeley ist nach Butler eine Aktion der Fragestellung nach dem Zugang zum öffentlichen Bildungswesen, »ob die Universität öffentlich oder privat ist« (ebd., S. 127). Sie verleiht der Besetzung von Studierenden die Bedeutung, »sich eine Plattform zu schaffen, ja die materiellen Voraussetzungen für das Erscheinen in der Öffentlichkeit zu sichern« (ebd., S. 127f.).
In Bezug auf die beharrliche Ortsgebundenheit287 zeigt die Unmöglichkeit des Ankommens eine weitere Bedeutung auf. Das spezifische Verlassen und Ankommen ist nun unmöglich, da die Eingekerkerten der Immobilität immer noch und immer schon hier und da sind - wie die Studierenden an der Universität oder die Arbeitenden in der Fabrik, jedoch ohne bestimmte Rechte wie das Zutrittsrecht. Prekäre und verletzte Menschen verharren dort, insofern »>[sie] bislang noch nicht beseitigt [sind]. [Sie] haben [sich] nicht sang- und klanglos aus dem Licht der Öffentlichkeit verabschiedet; [sie] sind noch nicht in der grell leuchtenden Leere verschwunden, auf der euer öffentliches Leben beruht«« (ME, S. 265). Aus dieser Perspektive lässt sich feststellen, dass sie letztlich nicht ankommen, sondern vielmehr sich nun kollektiv dort inszenieren, wo sie bereits und noch immer existieren (vgl. TV, S. 234f.). Die gemeinsame Inszenierung, die durch das hartnäckige Dableiben an einem bestimmten Ort zutage tritt, kann den bestehenden Status quo unterbrechen, der funktioniert, indem er spezifische Verletzungen außer Acht lässt. Die prekarisierten Menschen, die an einem ungerechten Ort verhaftet sind, weigern sich somit nicht allein, den vorhandenen Status zu verlassen. Ihr Verbleiben erweist sich als eine körperlich-deklaratorische Form, die Gewalt des Status quo nicht weiter zu übersehen und auch nicht weiter zu erdulden. Indem der Ort des Widerstandes zum Ort der Deklaration werden kann, wird die konkrete und aktuelle Lokalität, die durch das trotzige Dableiben entsteht, mit der Performativität in Verbindung gebracht.
Umkehrbarkeit: Unbewegliche Bewegung der Immobilität
Wenn Immobilität mehr als eine verletzbare Seinsweise oder passive Unbeweglichkeit bedeutet, ergeben sich daraus zentrale Fragen: Wie lässt sich die Lokalität der Immobilität konzipieren? Inwiefern kann ein beharrliches Verharren über die kontextspezifische Ortsgebundenheit hinaus performative und widerständige Effekte ausdehnen? Und wie kann Immobilität neue Koalitionen der Widerstände hervorbringen? Butlers Überlegungen zur Übertragbarkeit und Reversibilität von Nähe und Distanz bieten Ansätze zur Beantwortung dieser Fragen. Sie versteht die Nähe als etwas, durch das das Ich definiert wird. Die Nähe verweist in diesem Sinne auf die das Selbst umfassenden Beziehungen, die außer sich stehen. Der Umfang der Nähe bestimmt dabei die Grenzen der Selbstverteidigung. Nähe bezieht sich nicht nur auf das eigene Ich oder den eigenen Körper, sondern auch auf Nahestehende sowie auf materielle und immaterielle Infrastrukturen, insofern sie »in einer gemeinsamen Nationalität, Kultur oder einem geteilten Schicksal [...] begründet, in einer Rechtsgenossenschaft [...] verankert [ist]« (Pistrol 2023, S. 73). Das Selbst ist somit nicht nur Teil dieser relationalen Nähe, sondern auch von ihr beständig abhängig, da ohne diese Relationalität »wir als die Geschöpfe, die wir sind, nicht weiterexistieren können« (EP, S. 128). Im Gegensatz zur Nähe wird das Ferne durch Fremdheit gekennzeichnet, die zwar im Hier »nicht in Abrede gestellt [wird]« (TV, S. 124), sondern medial kommuniziert und vermittelt werden kann - doch ohne vollständig übersetzbar zu sein. Eine Reversibilität von Nähe und Ferne ereignet sich dann, wenn ein lokales Geschehen im >Dort< unauflösliche Differenzen beinhaltet288, die eine Nähe »irritier[en], erschüttern], entsetz[en], enteigne[n]« (ME, S. 16). In solchen Fällen kann dieses Geschehen von Fern durch die Übertragbarkeit und Umkehrbarkeit als politisches Ereignis neu interpretiert bzw. bestätigt werden (vgl. ebd., S. 124, 138). Somit stellt die Umkehrbarkeit von Nähe und Distanz als ein Ereignis dar, in dem bestimmte lokale Phänomene in einen anderen gesellschaftlich-kulturellen Kontext übertragen werden und folglich ein Dort auf unerwartete Weise in einem Hier eröffnet werden kann (vgl. TV, S. 130).
Ein zentrales Moment zum Verständnis der Immobilität als unbewegliche Bewegung liegt in der Begegnung von der Fremdheit des Fernen und der Fremdheit des Selbst. Die Fremdheit des Ich ist dabei nicht als eine Eigenschaft des Subjekts zu verstehen289, sondern besteht »aus den rätselhaften Spuren der anderen« (GL, S. 63f.). Wenn eine solche Begegnung stattfindet, bietet die aufgedrängte Fremdheit nicht nur eine Möglichkeit, über die anderen nachzudenken. Butler beschreibt die Fremdheit des Selbst als einen Zugang zu anderen: »dem Anderen auf eine Art und Weise ausgeliefert [zu sein], die ich nicht ganz vorhersagen oder steuern kann« (ebd., S. 64; vgl. EG, S. 114; Waldow 2013, S. 43). Dieser Zugang ist nicht aktiv herbeizuführen; zum ihm »bewegen [wir] uns nicht einfach selbst, sondern durch andere außerhalb unserer selbst bewegt [werden]« (ME, S. 16). In diesem Zusammenhang fragt Butler, »was letzten Endes den Nahestehenden vom nicht Nahestehenden unterscheidet und unter welchen Bedingungen diese Unterscheidung als ethisch begründbar gelten könnte« (EP, S. 73). Sie wendet sich dabei gewissermaßen gegen Levinas ein, insbesondere in Bezug auf seine Festlegung einer ethischen Verpflichtung, sich selbst und die Nächsten zu verteidigen. Eine solche Verpflichtung, so Butler, »rivalisiert mit der uneingeschränkten Verantwortung für den Anderen und drängt sie machmal in den Hintergrund« (Delhom 2016, S. 93). Die Immobilität entwickelt Butlers Idee der Umkehrbarkeit weiter, zu zeigen, wie die Aufforderungen fremder, leidender Körper des Fernen durch die grundlegende Relationalität - vermittelt durch einen zeitgenössischen Rahmen der Anerkennung, der das gegenwärtige Wir konstituiert - auf unerwartete Weise verbreitet werden (vgl. Prager 2018, S. 197) und wie eine kontingente Konstellation der Widerstände aus der unbeweglichen Bewegung der Immobilität entstehen kann. Der Moment des Übertragens kann beispielsweise affektiv und ansteckend sein, wobei Affekt290 eine unterstützende Rolle in der Dynamik der Umkehrbarkeit spielt (vgl. WW, S. 105), insbesondere wenn »die Nichtanwesenden durch die Bilder und Töne, die sie empfangen, eine Art direkten Zugang haben« (TV, S. 123f.). Im Moment des Übertragens ist es nicht möglich, sich vollständig gegen Affekte wie Empörung, Wut, Trauer oder Betrauerbarkeit zu immunisieren, die Letztere im Kapitel 6.2 näher erörtert werden. Bei der Umkehrbarkeit entsteht eine aktiv-passive Bewegung der Immobilität, in der entweder ein Ich im Hier dem Leiden des Fernen ausgeliefert und darin verwickelt wird, oder das Ferne plötzlich beharrlich im Hier präsent wird - das Ferne wird in diesem Fall zu einer neuen Umgebung, von der das Ich abhängt und durch die es als solches existieren kann. Die Umkehrbarkeit wird so zu einem Ereignis, in dem die Fremdheit des Selbst der Fremdheit des Fernen auf passive, aufgedrängte und ansteckende Weise aufeinandertreffen.
Die weltweiten feministischen Bewegungen können als Beispiel für diese Umkehrbarkeit herangezogen werden. Erwähnenswert ist der Slutwalk 291 oder bekannt als >Marsch der Schlampen<, der gegen sexuelle Belästigung in Toronto im Jahr 2011 begann und sich sowohl deutschlandweit - von Berlin über Hamburg, Frankfurt, München, Dortmund und darüber hinaus - als auch weltweit von Paris über London und Boston bis Sydney verbreitete. Die Slutwalk- Bewegung weist nicht nur darauf hin, wie ein bestimmtes lokales Ereignis an entfernte Orte getragen werden kann; die weltweit verbreitete Vergewaltigungskultur dient dabei ironischerweise als Bedingung für die Möglichkeit kultureller Übersetzung. Sie zeigt auch, wie sich durch ein Ereignis aus dem Fernen eine neue Lokalität jedes Hier schaffen lässt. Zum Beispiel brachte die Slutwalk -Demonstration in Seoul292 den damals aktuellen Fall sexueller Belästigung an der KoreaUniversität mit der Slutwalk- Bewegung in Verbindung. Ebenso wurden bei der Slutwalk - Demonstration Vergewaltigungsvorwürfe gegen den ehemaligen Chef des Internationalen Währungsfonds, Dominique Strauss-Kahn, aufgegriffen, der ein Zimmermädchen in einem New Yorker Hotel zum Sexualakt gezwungen haben soll - durch Aufschriften wie >Wir sind alle Zimmermädchen«
Die Umkehrbarkeit, die von einer konkreten Lokalität ausgeht, stellt eine spezifische Form der Beweglichkeit der Immobilität dar und wird nicht ausschließlich als einmalige Veranstaltung betrachtet. Vielmehr kann in reversiblen Szenen eine Konstellation des Performativen als Resonanz verschiedener Lokalitäten entstehen. Diese Umkehrbarkeit betrifft sowohl Räumlichkeit als auch Zeitlichkeit. Sie wirkt als eine Unterbrechung des reibungslosen Flusses von Vergangenheit in die Gegenwart, wodurch die Zeitlichkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie die Räumlichkeit des Hier und Da in Unordnung geraten (vgl. RK, S. 127). Ein Beispiel hierfür ist die Demonstration am 8. Dezember 2023 auf dem Marktplatz von Guernica. An diesem Ort, wo im April 1937 Flugzeuge aus Hitler-Deutschland und Mussolini-Italien Zivilisten bombardiert und hunderte Menschen töteten, fand eine solidarische Demonstration für Gaza statt.293 Diese Demonstration zielte - wie der Titel eines Zeitungsartikels andeutete - darauf ab, eine Verbindung zwischen den faschistischen Bombardierungen von 1937 und dem Völkermord in Gaza< 2023 herzustellen.294 Eine solche Konstellation der Widerstände präsentiert sich als lebendiges Echo, das sich übersetzen, resonieren und wiederholen lässt (vgl. WW, S. 96). Auf diese Weise können auch die vermeintlich hierarchischen Verbindungen von Zeitlichkeit und Räumlichkeit - z. B. die moderne und freie Gegenwart der westlichen Welt im Vergleich zur gewaltsamen und vormodernen Vergangenheit der nichtwestlichen Welt - erschüttert werden.
Nahezu ein Jahr vor Beginn der MeToo-Bewegung tauchten in Südkorea plötzlich HashtagBewegungen gegen sexuelle Belästigung und Vergewaltigungskultur unter dem Hashtag #SexuelleGewalt_in auf, z. B. sexuelle Gewalt in der Literatur- und in der Sportwelt, in der Theaterbranche und Filmindustrie, in der klassischen Musikszene, an der Universität, innerhalb der Familie, innerhalb der Kirche usw. Nach der weltweiten Ausbreitung der Metoo-Bewegung seit 2017 wurden Hashtag-Bewegungen gegen sexuelle Gewalt in zahlreichen verschiedenen Bereichen ebenfalls als >MeToo< bezeichnet. Trotz des zeitlichen Vor- und Nachverhältnisses und der unterschiedlichen kulturellen und sozialen Kontexte lässt sich feststellen, dass diese HashtagBewegungen in Südkorea eine kontingente Konstellation des immobilen Widerstandes durch Aktionen des Hier bilden. Diese Konstellation wird nicht als lediglich einmalige und nicht immer kurzlebige Episode betrachtet. Ein bekannter Streit gegen sexuelle Gewalt in der Literaturwelt dauerte sieben Jahre - von 2016 bis 2023 -, bis das Opfer gewann, das zahlreiche Unterstützende hinter sich hatte. Dieser Fall in Südkorea weist darauf hin, dass sich die vulnerable Widerständigkeit für die und/oder von den Unterdrückten als eine Form des Wartens auf Gerechtigkeit präsentiert (vgl. AS, S. 55). Es handelt sich um ein fragiles und unzuverlässiges Warten, da »es keinerlei historische Garantie dafür gibt, dass sich Gerechtigkeit rechtzeitig einstellen wird oder verwirklichen lässt« (ebd., S. 135). Diese sieben Jahre, in denen das Opfer nach der aktiven Welle der MeToo-Bewegung beharrlich für seine Würde kämpfte, markieren einerseits einen immobilen Zeitraum, in dem es sich weigerte, sich der herrschenden Zeitlichkeit anzupassen, die Schweigen erzwingt. Andererseits dienten diese Jahre dazu, zu verhindern, dass das Verbrechen des Täters unbeschwert in Vergessenheit gerät und seine Zeit ohne Konsequenzen weiterläuft.
In der Übertragbarkeit und Umkehrbarkeit zwischen Nähe und Ferne manifestiert sich der ethische Charakter der Immobilität, der es ermöglicht, spezifische immobile Erfahrungen wie Schwäche, Verletzbarkeit und Enteignung politisch subversiv zu deuten. Dabei stellt sich die Frage, wie Menschen, die von den Leiden des Fernen affiziert werden, ohne klare souveräne Entscheidung ethisch handeln können. Das Moment der Umkehrbarkeit - entweder dem Fernen ausgeliefert zu werden oder als Fremdes im Hier beharrlich zu verharren - gründet auf der Ambivalenz zwischen der Substituierbarkeit und der Unsubstituierbarkeit. Eine von Affekten ausgehende Substituierbarkeit impliziert zugleich eine Unersetzlichkeit, die jemanden in singularitätssensibler Weise zum ethischen Handeln auffordert (vgl. Waldow 2013, S. 45; Pistrol 2023, S. 62). Jeder erfährt den Ruf des/der anderen und die damit verbundene grundlegende Abhängigkeit auf je eigene Weise: »Kein Ausgesetztsein fällt mit einem anderen zusammen« (Pistrol 2023, S. 62). Selbst wenn ein durch Medien vermitteltes Ereignis bereits allgemein bekannt ist, kann niemand an meiner Stelle in genau derselben Weise dem Leiden des Fernen ausgesetzt sein und darauf re-agieren.
Diese ambivalente Umkehrung der Substituierbarkeit - >das hätte wohl ich sein können< - zur ethischen Unsubstituierbarkeit der Verantwortung - >nicht andere, sondern ich sollte etwas tun< - lässt sich mit Butlers Lesart vom Messianischen bei Levinas verbinden. Butler bringt eine Diskussionsszene aus Levinas’ »Das jüdische Denken heute« ein, in der die Frage aufgeworfen wird, »[w]ie wir wissen [können], wer der Messias ist« (AS, S. 55). Die Antwort »Ich könnte ebenso gut der Messias sein« (ebd.) bietet einerseits eine aktive Formulierung des ethischen und solidarischen Moments der Immobilität, in dem jemand handeln muss, weil niemand durch eine andere Person substituierbar ist. Andererseits tritt das ethische und immobile Subjekt in einem passiven Moment auf, begleitet von den zweifelhaften Fragen: >Wer, ich?< und >Könnte ich ein Messias sein?<. Entscheidend ist, dass das Auf-sich-Nehmen des Leidens des/der anderen nicht auf keiner willentlichen oder selbstbegründeten Entscheidung beruht. Wenn wir eine ethische Entscheidung treffen - oder genauer gesagt, getroffen werden -, ist diese vielmehr als eine Entscheidung im Namen des/der Anderen zu verstehen, da »im Moment der Entscheidung die Andersheit irgendwie involviert ist« (Moebius 2006, S. 106). Diese ethische Antwort in der Szene der Immobilität wird von solchen Momenten >heimgesucht< - von passiven und anfälligen Momenten, in denen das Subjekt nicht umhin kann, auf den Aufruf des anderen zu antworten. Diese Heimsuchung verweist auf die »Wahrnehmung eines Lebens, noch bevor man es wirklich kennt« (RK, S. 95). Diese Heimsuchung, durch die eine unendlich ausdehnbare Verantwortung getragen wird, kann nicht als individuelle, eigene Handlung privatisiert werden. In diesem Sinne schwingt die aktiv-passive Performativität der Immobilität stets mit der Ambivalenz zwischen Substituierbarkeit und Unsubstituierbarkeit mit.
In diesem Kapitel wurde eine Konzeptualisierung von Mobilität und Immobilität aus räumlicher und ontologischer Perspektive untersucht. Während bezüglich des räumlichen Aspekts Mobilität zunächst als ein Aufstieg vom privaten, dunklen und sprachlosen Raum hin zum öffentlichen und politischen Raum definiert wird, ist Immobilität durch eine beharrliche Ortsgebundenheit charakterisiert, insofern verletzte, prekarisierte Menschen gezwungen sind, an einem spezifischen Ort zu verharren, an dem sie nicht vollkommen angekommen sind. Diese gegensätzliche räumliche (Un-) Beweglichkeit geht jeweils mit dem ontologischen Charakter der Subjektivität einher. Die Souveränität der Mobilität beschränkt sich nicht auf einen einmaligen räumlichen Sprung, sondern manifestiert sich auch als fortwährende Praxis, sich neuen, unerwarteten Herausforderungen zu stellen und dadurch Abstände zwischen den Subjekten im öffentlichen Raum zu erzeugen. Somit wird die souveräne und sich beweisende - im Sinne von selbstschaffende - Differenzierung des Lebens bei der Mobilität im Gegensatz zur vulnerablen Subjektivität der Immobilität hervorgehoben, die von der grundlegenden Relationalität abhängt. Immobilität basiert auf der Dekonstruktion der modernen und mobilen Subjektivität und stellt davon ausgehend eine schwache Subjektivität heraus. Das Subjekt der Immobilität kann daher nicht nur das bereits anerkannte Subjekt sein, sondern es kann auch Körper, die sich gemeinsam inszenieren können, oder das Gespenstische, das ohne gültiges Recht für die Lebbarkeit und gleiche Betrauerbarkeit kämpft.
Im Zusammenhang von Räumlichkeit, Bewegungsfähigkeit, Performativität lässt sich Immobilität nicht einfach mit der Unfähigkeit zur Bewegung oder politischen Mobilisierung gleichsetzen. Sie deutet vielmehr darauf hin, dass das subversive Performative in Form von Enteignung in der grundlegenden Relationalität entsteht - ohne heroischen oder vortrefflichen Sprung. Die immobilen Subjekte münden in passiver Weise in das Ereignis, insofern sie die Risiken des Widerstands für ein lebbares Leben in Kauf nehmen, statt zu schweigen (vgl. Butler 2019b, S. 104). Im Gegensatz zur souveränen Handlungsfähigkeit der Mobilität, die auf individuellem Mut basiert, eröffnen die zwischenmenschlichen Handlungen von immobilen Subjekten die Möglichkeit, »unser Verständnis von Mut als einer (dem Individuum zugehörigen) moralischen Tugend auf das einer Funktion und eines Akkumulationseffekts solidarischen Handelns umzustellen« (ebd., S. 112). Am Ende der Widerstände steht daher kein selbstschaffendes Subjekt: Vielmehr existieren inmitten der unbeweglichen Bewegung der Immobilität immer noch ein prekäres, verletzbares Subjekt sowie die Zusammenkunft von Körpern, die weder allein als aktiv noch ausschließlich als passiv betrachtet werden können. In diesem Sinne kann Immobilität als eine grundlegende Form der Existenz und des Widerstandes verstanden werden, durch die sich die Bedeutung der Performativität neu begreifen lässt. Diese Performativität geht über die Grenze von Zugehörigkeit und Ähnlichkeit hinaus und entfaltet sich in gemeinsamer Inszenierung von Körpern, die als kleine Pforten wirken - die Performativität, die nicht mit der Durchsetzungskraft gleichgesetzt wird, weil sie von den Verletzbaren und Prekarisierten, von denen, die noch nicht angekommen sind, inszeniert wird. Im Kapitel 6.2 wird weiter untersucht, wie die Immobilität und das immobile Subjekt eine neue Perspektive der Demokratie eröffnen können.
6.2 Gewaltlosigkeit, Betrauerbarkeit und Immobilität: Zur radikalen Demokratie
Im letzten Kapitel wird untersucht, wie Immobilität in Verbindung mit Butlers Überlegungen zur Gewaltlosigkeit steht: Wie kämpft das beharrliche Verharren der Körper gegen systematische Gewalt und welchen Beitrag kann Immobilität als Form gewaltlosen Handelns zur Förderung von Gleichheit leisten? Butlers Konzept der Gewaltlosigkeit setzt bei der Frage an, »ob Gewalt ein legitimes Mittel zur Durchsetzung von Freiheit und Gleichberechtigung sein kann« (Butler 2019b, S. 149). Als ein Konzept, das darauf abzielt, die der Ungleichheit verpflichtete Gewalt zu durchbrechen, wird Gewaltlosigkeit zunächst nicht mit einem friedlichen Zustand gleichgesetzt. Sie betrifft weder eine Reinigung von Gewalt noch den Ausschluss von Gewalt aus der Spähre der Normativität (vgl. RK, S. 158). Ganz im Gegenteil betont Butler, dass die Möglichkeit des gewaltlosen Widerstands untrennbar mit der Verstrickung in Gewalt einhergeht. Insoweit bestimmte Menschen immer schon in Gewalt verstrickt sind, versteht sich Gewaltlosigkeit als »ein sozialer und politischer Kampf, um den Zorn aufzudrücken und ihm Wirkung zu verleihen« (ebd., S. 168).
Vor diesem Hintergrund rücken mindestens drei Arten von Gewalt in den Fokus. Erstens gibt es ontologische und normative Gewalt, die jede Person in Form von konstitutiver Verletzbarkeit erfährt. Die produktive und prohibitive Gewalt der Subjektivation und Anerkennung konstruiert Menschen beispielsweise als Frauen oder Männer, Bürger oder Subjekte sichtbar und handlungsfähig, während sie zugleich gewisse Bevölkerungsgruppen unsichtbar macht und ins Außen stoßt. Diese erste Form der Gewalt ist insofern grundlegend, als die Existenz des Menschen immer schon von den Wirkungen der Matrix der Lebbarkeit abhängt. Butler argumentiert demnach, dass das menschliche Leben unmöglich wird, wenn die konstruktive Gewalt vollständig eliminiert würde (vgl. EG, S. 138). Die zweite Art von Gewalt ist die Gewalt der Prekarisierung, die auf dem Prinzip der Ungleichheit beruht. Sie wirkt im Allgemeinen als systematische Gewalt, die in verschiedenen institutionellen und strukturellen Kontexten unsichtbar bleibt - etwa als Gewalt des Kapitals oder Staatsgewalt. So kann »die politische >Derealisierung des ,anderen’<« (GL, S. 51) als eine Form staatlicher Macht verstanden werden, ebenso wie »die staatliche Regulierung von Prekarität eine Form staatlicher Gewalt« darstellt (Ludwig 2016, S. 129). Diese Gewalt wird daher zum Ziel gemeinsamen Widerstands (vgl. EP, S. 27). Die dritte Art der Gewalt betrifft die Unterscheidung zwischen Gewalt, Gewaltlosigkeit und Kritik. Sie manifestiert sich in der Gewalt der Bezeichnungspraxis, die »kraft eigener Macht andere Positionen bestimmter Gruppen als >gewalttätig< kennzeichnet« (ebd., S. 15). Walter Benjamin wirft hierzu die Frage auf, ob »ein nach der Monopolisierung der Gewalt strebendes Rechtsregime jede Bedrohung oder Herausforderung dieses Regimes als >Gewalt<« (ebd., S. 168) markiert. Als Beispiele können genannt werden, dass Widerstände gegen die Prekarisierung von Arbeitenden und Arbeitslosen absichtlich als Unruhen oder Gewaltaktionen fehlinterpretiert werden, oder dass »die Kritik fortdauernder kolonialer Gewalt als gewalttätig gilt (Palästina), [...] eine Friedenspetition als kriegerischer Akt gilt (Türkei), [...] der Kampf für Gleichheit und Freiheit als gewaltsame Bedrohung der staatlichen Sicherheit gilt (Black Lives Matter) oder >Gender< als ein gegen die Familie gerichtetes Nukleararsenal betrachtet wird (Anti-Gender-Ideplogie)« (ebd., S. 39). Diese Beispiele verdeutlichen, inwieweit das bestimmte Streben nach lebbarem Leben durch gesetzliche oder polizeiliche Gewalt genauso leicht als >Gewalt< bezeichnet werden kann, aufgrund dessen, dass die Betreffenden »die Produktion und Selbstbestätigung von Rechtfertigungsmustern hinterfrag[en]« (ebd., S. 168).
Es ist von Bedeutung zu betrachten, wie diese drei Formen der Gewalt mit Gewaltlosigkeit und Immobilität zusammenhängen. Butler fordert dazu auf, Gewaltlosigkeit als »eine andauernde Anstrengung« (ebd., S. 38) zu begreifen, die die konventionellen Vorstellungen von Stärke und Schwäche hinterfragt und die Möglichkeit einer Macht aus Schwäche eröffnet. Dabei wird Gewaltlosigkeit nicht als individualistisch-moralische Haltung verstanden, sondern als eine Form gemeinsamer Praxis, die »ohne eine Verpflichtung auf Gleichheit sinnlos ist« (EP, S. 43; vgl. ebd., S. 35). Insofern Gewaltlosigkeit eine ethische und politische Ambiguität in betracht zieht, die zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit oszilliert, ist es wichtig zu betrachten, dass gewaltlose Widerstände der Immobilität mit Gewalt verbunden sind - nicht nur mit der ontologischkonstitutiven Gewalt, sondern auch mit der Gewalt der Prekarisierung sowie mit der Gewalt, die Kritiken an staatlicher oder kapitalistischer Gewalt als gewalttätig stigmatisiert. Die von staatlicher Gewalt besonders prekarisierten Gruppen stehen hierbei in einem Spannungsverhältnis: Sie sind zugleich der Gewalt des Staates ausgesetzt und dennoch auf diesen angewiesen. Diese Ambivalenz zeigt sich darin, dass sie »Schutz beim Staat [suchen], während sie Schutz vor eben diesem Staat suchen« (RK, S. 32). Die zentralen Fragen lauten daher: Wie können in dieser Komplizenschaft sensible Grenzen zwischen Gewaltarten gezogen werden, und wie lässt sich eine neue Form gewaltlosen Widerstands entwickeln? Diese Fragen stehen in engem Zusammenhang mit der Idee der Radikaldemokratie.
Dieses Kapitel behandelt vier zentrale Ansatzpunkte, um den widerständigen Charakter der Immobilität - verstanden als »eine unnachgiebige und körperliche Demonstration der politischen Handlungsfähigkeit« (EP, S. 36) - mit Butlers Überlegung der Gewaltlosigkeit in Verbindung zu bringen. Zunächst wird die Bedeutung der Begriffe Gewalt und Verletzbarkeit im butlerschen Kontext untersucht, wobei ein Vergleich mit der Vertragstheorie von Hobbes herangezogen wird. Im zweiten Schritt wird Betrauerbarkeit als Ansatzpunkt der Gewaltlosigkeit thematisiert. Dabei wird die ungleiche Metrik der Lebbarkeit hinterfragt, indem Betrauerbarkeit und Immobilität in Beziehung gesetzt werden. Das In-der-Trauer-beharrlich-Bleiben erweist sich als eine affektive und praxisorientierte Unterbrechung, in der Gewaltlosigkeit und Rechtfertigung der Gewalt intensiv diskutiert werden. Weiterhin wird analysiert, wie sich gegen die Lust auf Gewalt und die als individuell verstandene Fähigkeit zur Kritik eine gemeinsame Fähigkeit zur Gewaltlosigkeit in Form von Immobilität herausarbeiten lässt. Im abschließenden Teil wird thematisiert, wie Gewaltlosigkeit die Gewalt der Zugehörigkeit infrage stellt. Dabei wird - in Abgrenzung zur arendtschen Pluralität, die darauf gründet, dass das Recht auf Pluralität als das einzige und exklusive Recht dem Recht auf Existenz gegenübergestellt wird, einem Recht, das sich nicht auf das individuelle Recht reduzieren lässt - eine alternative Pluralität der Immobilität skizziert. Insofern Gewaltlosigkeit als eine beharrliche politisch-ethische Kritik an der Ungleichheit betrachtet wird, zeigt sich Immobilität als eine gewaltlose Aufforderung zu gleicher Lebbarkeit. Sie eröffnet somit eine subversive Möglichkeit der radikalen Demokratie in der gemeinsamen und verletzlichen Form.
Gewaltlosigkeit in Anbetracht von Verletzbarkeit und Interdependenz
Im Hinblick auf die Gewalt lässt sich Butlers politisches Denken - notwendigerweise ungenau - weder der arendtschen Tradition zuordnen, die eine strikte Unterscheidung zwischen Macht und Gewalt hervorhebt, noch der hobbesschen, die Politik unmittelbar aus Gewalt295 herleitet. Allerdings scheinen Hobbes und Butler eine unerwartete, grundlegende Perspektive auf Gewalt zu teilen, die jedoch gegensätzlich interpretiert wird: die Vorstellung der Gleichheit, wonach alle gleichermaßen fähig sind, zu verletzen und verletzt zu werden. Nach der hobbesschen Vertragstheorie präsentiert sich ein Individuum im Naturzustand, das »von Natur stark genug ist, den anderen totzuschlagen« (UT, S. 320). Dieses Individuum wird als bereits fähig beschrieben, eigene Interessen zu fördern und dafür gegen alle zu kämpfen. Trotz individueller Unterschiede gilt die Gesamtheit der Fähigkeiten von Einzelnen als nahezu gleich, da »Schwäche sich durch List ausgleicht« (ebd.). Dabei macht Butler darauf aufmerksam, dass hobbessche Individuen im Naturzustand nicht nur als geschlechtlich männliche, sondern bereits als erwachsene Personen dargestellt werden, die nicht nur möglichst rationell für sich selbst eintreten, sondern auch »von Eigenliebe und ohne Bedürfnis nach anderen [erfüllt sind]« (EP, S. 45; vgl. ebd., S. 53).296 Aus dieser Annahme ergeben sich nach Hobbes sowohl das Recht auf Selbstverteidigung, das von der vermeintlichen und fiktionalen Individualität ausgeht, als auch eine politische Souveränität, indem jeder sein eigenes Recht auf Selbstverteidigung und das Recht, andere seinem Willen nach zu verletzen, aufgibt und überträgt. Diese Übertragung ermöglicht es den Individuen, potenzielle Gefahren zu vermeiden und relative Sicherheit sowie Unantastbarkeit zu erlangen.
Butlers Forderung nach Gewaltlosigkeit und einer anderen Demokratie ist jedoch nicht als eine raffinierte Version der Vertragstheorie zu verstehen, von der sich Butler ausdrücklich distanziert (vgl. Butler 2018, S. 318). Butler begründet nicht deswegen die gewaltlose Politik, weil Menschen mögliche Verletzungen und Schäden vermeiden wollen, sondern sie hebt hervor, inwiefern die Gewaltlosigkeit im Gegensatz zum liberalen Ideal von Autonomie und Unantastbarkeit steht. Im Gegensatz zu Hobbes’ Annahme, die die Souveränität des Individuums und Konflikte zwischen Individuen als die elementaren Formen menschlicher Beziehungen voraussetzt, stellt Butler die Frage: Weshalb können die Interdependenz und Verletzbarkeit297, die »wir mit dem Erwachsenwerden [...] nicht überwinden« (EP, S. 59), nicht als eine primäre leidenschaftliche Beziehungsförmigkeit von Menschen, d. h. als die politische Grundlage vorgestellt werden (vgl. ebd., S. 44)? Verletzbarkeit und Abhängigkeit gelten bei Butler nicht als Zeichen von Unmündigkeit, sondern weisen auf die grundlegende und fortbestehende Bedingung des Subjekts hin, die die vollständige Individualisierung letztlich verhindert (vgl. ebd., S. 65)300, wie in Kapitel IV bereits thematisiert wurde.
Nach Butler ist die Verletzbarkeit des Menschen doppelt zu verstehen: Einerseits sind wir alle potenziell in der Lage, andere zu verletzen - etwa durch Sprache, Berührung oder »durch die Erinnerung daran, wie sich der andere anfühlt« (GL, S. 40). Andererseits können wir verletzt werden von den (anonymen) anderen, von denen wir abhängen, sowie »durch den möglichen Verlust derjenigen [...], die wir anerkennen und von denen wir wiederum anerkannt werden« (Delhom 2016, S. 77f.). Die Annahme, dass Menschen nicht unantastbar bleiben können, wirft für Butler kritische Fragen auf: Wie kann die Möglichkeit des Zunichtemachens - im Gegensatz zur hobbesschen Idee - nicht mit Gewalt erwidert werden und warum sollte trotz gewaltsamer Erfahrungen auf Gewalt zur Selbstverteidigung verzichtet werden (vgl. EG, S. 134f.)? Butler argumentiert, dass beim Einsatz von Gewalt die Unterscheidung zwischen Mittel und Zweck oder zwischen techne und praxis nicht aufrechterhalten werden kann, da »das Werkzeug bereits Teil einer Praxis ist und eine Welt voraussetzt, die seinem Gebrauch zuträglich ist [...]« (EP, S.33).30[1] Selbst wenn eine Gewaltanwendung zur Selbstverteidigung und Selbsterhaltung stattfinden mag, entfaltet sich sie unbegrenzt und unkontrollierbar, sodass am Ende Gewalt bzw. Töten »unterschiedslos gerechtfertigt und gebilligt [wird]« (AS, S. 118; vgl. EG, S. 135). Solange »Gewalt sich ihren Nutzer zunutze machen kann« (EP, S. 33), bringt die Idee, dass sich Gewalt zur Selbstverteidigung nutzen lässt, eine Gefahr mit sich, unsere >eine< Welt in eine gewaltsame Welt zu verwandeln - eine Welt, in der alle Menschen und alle Lebewesen unausweichlich zusammenleben müssen. In diesem Kontext lässt sich die Gewaltlosigkeit als politische Forderung vorstellen, die sowohl der physischen und normativen Gewalt als auch dem Besitzindividualismus entgegengesetzt ist. Dabei wird sie nicht als schwache Tatenlosigkeit, sondern als eine performative Gegenpraxis verstanden.
Im Gegensatz zu Hobbes, bei dem das Übertragen der eigenen Souveränität und demnach das Beenden eines kriegerischen Zustandes im Wesentlichen auf die Konstitution des politischen Körpers298 299 300 bezogen ist, kann bei Butler die gegenseitige Verletzbarkeit nicht durch eine andere oberste Autorität aufgelöst werden (vgl. GL, S. 163, 177). Butler legt im Anschluss an Levinas’
Überlegungen301 die Gewaltlosigkeit als permanente Spannung fest, die »zwischen der Angst, Gewalt zu erleiden, und der Angst, Gewalt zuzufügen« (ebd., S. 163) ertragen werden muss. Diese andauernde Spannung wird nach Butler als eine spezifische Form der Aggression für radikale Gleichheit und für die darauf basierende Demokratie interpretiert. Auf dieser Grundlage begreift Butler Frieden als »aktiv[en] Kampf gegen die Gewalt« (AS, S. 75) und »gewaltsam[en] Prozess [...] im Namen der Gewaltlosigkeit« (ebd.). Um bestehende Gewalt und Gewalt, die Kritik unterdrücken will, einzudämmen und gegen solche Gewalten nicht selbst gewaltsam zu reagieren, nimmt die Gewaltlosigkeit eine spezifische Aggressivität und gewaltlose Kraft an. Als politischethische Frage manifestiert sich die Gewaltlosigkeit als ein Aufruf, »in einem Kraftfeld von Gewalt« (EP, S. 19) gemeinsam Wege finden, um Gewalt zu kontrollieren, zu mindern oder deren Stoßrichtung zu ändern, insbesondere »in ebenjenen Momenten, wo [die Gewalt] die Welt völlig zu erfüllen und keinen Ausweg zu lassen scheint« (ebd., S. 22).
Betrauerbarkeit als Ansatz für Gewaltlosigkeit
Butler zufolge leben alle Individuen in einer fundamentalen Verletzbarkeit »durch den anderen, [...] einer Verletzbarkeit gegenüber einer plötzlichen Attacke von irgendwoher, die wir nicht verhindern können« (GL, S. 45f.). Ausgehend von ihrer Annahme, dass alle Lebewesen von der Relationalität abhängen und unweigerlich der Verletzbarkeit ausgesetzt sind, bietet der Begriff der Betrauerbarkeit einen Ansatzpunkt für die Verknüpfung von Gewaltlosigkeit und Immobilität. Die Verletzbarkeit der grundlegenden Relationalität ist »von Anfang an nicht ohne Gewalt« (AS, S. 75), insofern sie darauf basiert, dass »alle irgendeine Vorstellung davon [haben], was es heißt, jemanden verloren zu haben« (GL, S. 36f.). Wir können nicht nur bestimmte Bezugspersonen, die unsere Umgebung und Nähe ausmachen, sondern auch die Beziehungsförmigkeit selbst verlieren, durch die das Ich konstituiert wird und ohne die man selbst unergründlich und unerklärbar wird (vgl. ebd., S. 39). Von der Verletzbarkeit und diesem Verlust aus findet Butler einen neuen Ansatz für ein ethisches Wir, das mit der Betrauerbarkeit einhergeht (vgl. ebd., S. 36f.), die Butler im spezifischen Kontext des 9/11-Terrors302 konzipiert: Wessen Verletzbarkeit lässt sich anerkennen und wessen hingegen nicht? Die Betrauerbarkeit verweist zunächst auf eine grundlegende Frage nach der Vermenschlichung, insoweit die Definition dessen, wer als anerkennbarer und werthafter
Mensch gilt, davon abhängig ist, welches Leben als bedauernswert betrachtet wird - oder konkreter gefragt, inwiefern ein Leben als menschliches Leben bevorzugt oder benachteiligt betrauerbar wird (vgl. ebd., S. 36; MG, S. 54, 345; EP, S. 79).303 304 Betrauerbar zu sein bedeutet in diesem Sinne, »angesprochen [zu] sein auf eine Weise, die mich wissen lässt, dass mein Leben zählt, dass sein Verlust nicht bedeutungslos ist, dass mein Körper als einer behandelt wird, der zu leben und zu gedeihen imstande sein sollte und dessen Prekaität so gering wie nur möglich sein sollte, wofür auch förderliche Bedingungen gegeben sein sollte« (EP, S. 80). Im Gegensatz dazu verweist die Unbetrauerbarkeit, die darauf beruht, dass sich »beim Verlust [jemandes] Lebens nicht [der gleiche Schrecken und Zorn] empfinden« (RK, S. 47) lässt, auf die Derealisierung des Menschen, der »weder lebendig noch tot, sondern [...] gespenstisch« (GL, S. 51) ist. Betrauerbarkeit offenbart somit nicht nur eine ungleiche Verteilung der Gewalt, sondern auch ungleiche und ungerechte »Vorentscheidungen über jene [...], gegen die Gewalt gebracht oder nicht gebracht werden soll« (EP, S. 78). In diesem Sinne stellt sich die Hierarchie der Betrauerbarkeit als eine Metrik des Lebens dar.
In Butlers jüngsten Arbeit wird Betrauerbarkeit nicht mehr lediglich als ein verwandter Begriff der Verletzbarkeit angesehen305, sondern als ein Konzept konkretisiert, das »ganz wesentlich den Umgang mit lebendigen Geschöpfen [bestimmt]« (EP, S. 77). Butler verknüpft die drei Begriffe Gleichheit, Betrauerbarkeit und Gewaltlosigkeit miteinander, indem sie hervorhebt, dass soziale Ungleichheit ohne das Verständnis der ungleichen Verteilung von Betrauerbarkeit nicht nachvollziehbar ist (vgl. WW, S. 93). Diese Ungleichverteilung der Betrauerbarkeit bildet einen fundamentalen Rahmen der Gewalt. Butler argumentiert, dass die Unterscheidung zwischen betrauerbarem und unbetrauerbarem Leben wie ein Klassenunterschied funktioniert. Die Einordnung einer Person in die Kategorie der Unbetrauerbaren impliziert, dass ihr Leben als entbehrlich, überflüssig oder verzichtbar gilt (vgl. ebd.). Diese Gewaltwirkung lässt sich mit Butlers Begriff der Zählbarkeit erfassen, der sowohl eine arithmetische Reihe als auch Bedeutung-Haben umfasst (vgl. ME, S. 140). Die Frage nach der Zählbarkeit richtet sich darauf, wer als Mensch in der öffentlichen Sphäre präsent sein darf und als Person gezählt wird. Durch den Zusammenhang von Zählbarkeit und Betrauerbarkeit wird Butlers Konzept der Gleichheit deutlich: Jedes Leben muss über die Unterscheidung zwischen erhaltenswertem und entbehrlichem Leben hinaus als ein voneinander differenziertes, jedoch gleiches Leben gezählt werden (vgl. EP, S. 24). In diesem Sinne wird der Widerstand gegen ungleiche Betrauerbarkeit zum Widerstand gegen soziale Ungleichheit, der ein zentrales Element gewaltloser Politik bildet (vgl. WW, S. 94). Oder anders gesagt: Die Voraussetzung gleicher Betrauerbarkeit, die es erlaubt, andere Menschen zu bejahen und anzuerkennen, stellt somit einen neuen Grundsatz für radikale Demokratie dar.
Immobilität eröffnet eine Möglichkeit, die zeitliche Dimension der Betrauerbarkeit mit einer Form des gewaltlosen Widerstands zu verbinden. Die Betrauerbarkeit deutet nicht allein darauf hin, dass Trauer notwendigerweise zeitlich nach jemandes Tod stattfindet (vgl. WW, S. 101). In der Betrauerbarkeit stellt Butler die spezifische Zeitform des » futurum exactum « (RK, S. 22) dar, in dem zwei zeitlich unterschiedliche Modalitäten aufeinander Bezug nehmen. Zum einen existiert eine Art und Weise, Betrauerbarkeit >im Voraus< zu denken, insofern sie von der Geburt des Menschen ausgeht. In dieser Perspektive wird Betrauerbarkeit zur Bedingung, eine Geburt als die eines Menschen geltend zu machen, denn »der Wert dieses Lebens [kann] zutage treten« (ebd.), insoweit der Verlust dieses Lebens betrauert werden kann. Die Betrauerbarkeit bildet in diesem Kontext einen Angelpunkt zwischen Arendt und Butler, der bestimmt, was den Menschen als Menschen ausmacht und in welcher Beziehung das Politische und die Ontologie des Menschlichen zueinander stehen: Während Arendt das Neugeborene als initium festlegt und die Fähigkeit des Anfangens mit der Tatsache des Lebens verbindet (vgl. LGW, S. 248), kann das Neugeborene bei Butler dadurch seine Bedeutung erhalten, wie sein Verlust betrauert wird (vgl. Prager 2018, S. 202). Diese Perspektive enthält nun eine unerwartete Umkehrung von Neuanfang und Betrauerbarkeit: Die Sterblichkeit aller kann betrauert werden, insofern das Neugeborene als das auf die Matrix der Lebbarkeit angewiesene, verletzbare Wesen in die Welt kommt.
Zum anderen setzt Betrauerbarkeit >nachträglich< in Form von Heimsuchungen ein, etwa durch ein Foto oder einen Zeitungsartikel. Diese Form der Betrauerbarkeit beschränkt sich nicht allein darauf, dass jemand gelebt hat und nun nicht mehr existiert (vgl. RK, S. 94). Butler bringt die Zeitform des Fotos, die von Roland Barthes beschrieben wird, mit der Zeitform der Betrauerbarkeit in Verbindung: Ein Foto, das »Jemand wird gelebt haben<« (ebd., S. 95) zum Ausdruck bringt, weist auf die doppelte Nachträglichkeit der Betrauerbarkeit hin. Einerseits wird Betrauerbarkeit in einer konkreten Gegenwart erlebt, in der der Verlust einer Person betrauert wird - in diesem Sinne geschieht die Betrauerbarkeit im Nachhinein. Andererseits bezieht sich die Feststellung »Jemand wird gelebt haben<« (ebd.) auf »eine kommende Zeit und einen kommenden Verlust« (ebd.). Aus dieser Perspektive ist Betrauerbarkeit ein Akt der Vorwegnahme, der in der Gegenwart eine nicht erreichbare Zukunft reflektiert(vgl. ebd.). Die Betrauerbarkeit lässt sich insofern als >nachträglich< betrachten, als der vergangene Verlust aus der Perspektive eines vollendeten Futurs gesehen und von dieser Perspektive aus rückwirkend in Betracht gezogen wird. Zwischen dem Gewesensein, d. h. dem Verlust, und dem Gewesenseinwerden gibt es einen Zeitraum, eine kommende Zeit, die das verstorbene Leben, das durch die Trauer »noch gar nicht vorbei ist« (ebd., S. 94), verloren hat und die vielleicht seine Gegenwart und Vergangenheit sein könnte.
Die zeitliche Dimension der Betrauerbarkeit verweist auf die Forderung nach Gleichheit, insofern Butler feststellt, dass die Betrauerbarkeit in gewissem Sinne unabhängig von individuellen Leistungen oder Handlungen verstanden werden sollte. Der Begriff der Betrauerbarkeit zeigt, wie Butlers kritische und negativ formulierte Fragestellungen dazu beitragen kann, die Gleichheit der Menschen zu fördern und den Aufbau einer gewaltlosen Gesellschaft zu unterstützen. Dabei lenkt sie den Fokus nicht auf die Frage, wessen Taten oder Worte erinnert werden sollten, sondern vielmehr darauf, in welchen Fällen die Betrauerbarkeit verweigert oder unterbrochen wird und welche Verluste in der Öffentlichkeit unsichtbar bleiben. In diesem Sinne bildet Betrauerbarkeit nicht nur eine Grundlage für Gleichheit, sondern bietet auch eine Möglichkeit, den Bereich der Gleichheit auszuweiten, indem die Grenze der Betrauerbarkeit hinterfragt wird.
In-der-Trauer-beharrlich-Bleiben als eine Form des gewaltlosen Widerstands
Wenn Betrauerbarkeit dazu beitragen kann, in Perspektive der Vulnerabilität des Menschen einen neuen Rahmen der Gleichheit zu schaffen, soll nun untersucht werden, inwiefern sich Immobilität als das In-der-Trauer-Bleiben mit einer konkreten Handlungsform der Gewaltlosigkeit ins Verhältnis setzen lässt. Betrauerbarkeit lässt sich nicht nur durch Immobilität verstehen und in Form von Immobilität praktizieren, sondern sie kann zugleich durch Immobilität ihre Bedeutung bereichern. Gewaltlosigkeit lässt sich in diesem Zusammenhang als aktiv-passiver Widerstand der Immobilität konkretisieren - ein Widerstand, ausgeübt von denjenigen, die jemanden bzw. etwas verloren haben und die »Macht der Schwachen« (EP, S. 38) hervorbringen können, insofern »sich eine bestimmte Konzeption der Verantwortung überhaupt nur aus der Sicht der Verletzung verstehen lässt« (EG, S. 137).
Die Betrauerbarkeit stellt eine charakteristische Dimension der Immobilität bereit, indem sie nicht nur als das »Ausharren mit dem Schmerz« (GL, S. 47) sondern auch als das Nicht- vorschnell-Trauer-Auflösen verstanden wird. Die Zähigkeit der Immobilität, die sich als das In-der- Trauer-unnachgiebig-Bleiben manifestiert und eine Grundlage der Gegenmacht bildet, verweist auf eine doppelte Zurückweisung; den betroffenen Verlust weder durch Gewalt aufzulösen noch voreilig in den normalen Alltag vor dem Verlust zurückzukehren, also sich »in die alte Ordnung zurückzuversetzen« (ebd.). Dieses spezifische Weder-noch ist verbunden mit Levinas’ Auseinandersetzung »zwischen der Angst, Gewalt zu erleiden, und der Angst, Gewalt zuzufügen« (ebd., S. 163). In diesem Sinne sollte das In-der-Trauer-beharrlich-Bleiben nicht als ein tatenloser Frieden oder als eine homogene Ruhe angesehen werden. Diese Spannung zwischen den Ängsten stellt vielmehr eine »verstrickte und konflikthelle Lage eines Subjektes« (RK, S. 159) und »ein[en] aktiv[en] Kampf gegen die Gewalt« (AS, S. 75) dar, der die vorhandene Gewalt »in Schach zu halten sucht« (ebd.). Dabei ist bei Butler darauf aufmerksam zu machen, dass sich die Furcht davor, Gewalt auszuüben, größer und wesentlicher zeigt als die Furcht, Opfer der Gewalt zu werden. Immobilität, verknüpft mit der Betrauerbarkeit, manifestiert sich schließlich als politische Praxis, bei der die Betroffenen teilweise auf das Recht der Selbstverteidigung verzichten und dessen Ausübung verweigern. Die Gewalt der Selbstverteidigung beruht auf einer Unterscheidung zwischen den als privilegierten Individuen, denen ein Phantasma der Autonomie und Souveränität zugeschrieben wird und die daher als Träger des Rechts auf Selbstverteidigung als schützenswert eingestuft werden306, sowie anderen, die nicht als betrauernswert erachtet werden. Diese demografische Grenzziehung, die mit dem Individualismus und der Gewalt »im Namen der Selbstverteidigung« (EG, S. 135) einhergeht, gefährdet nicht nur die Gleichheit der Lebbarkeit und Betrauerbarkeit, sondern verstärkt auch die Ungleichheit der Lebbarkeit weltweit. Daher können nach Butler weder die tatsächliche Anwendung von Gewalt zur Selbstverteidigung noch die aus der Logik der Selbstverteidigung resultierende Gewalt der Ausschließung gerechtfertigt werden, da beide dazu neigen, die >eine< Welt gewalttätig zu gestalten.
Wie lässt sich auf das Recht auf Selbstverteidigung in einer konkreten Situation verzichten? Das In-Trauer-Verharren, verstanden als ein spezifischer Zusammenhang von Immobilität und Betrauerbarkeit, spielt eine zentrale Rolle als politisch-ethische Hemmung der Gewalt. Ein immobiler Widerstand, der zwischen den Ängsten entsteht und strikt darauf achtet, Gewalt nicht zuzufügen, eröffnet nicht nur die Möglichkeit, politisch-performative Handlung jenseits autonomer, souveräner und individueller Subjektivität zu denken. Er fordert, einen Weg zu finden, wie die Gegenmacht aggressiv gegen Gewalt kämpfen kann, ohne selbst zu einer neuen Gewalt zu werden. Hierbei bietet die »Fähigkeit zur Kritik« (Butler 2018b, S. 284f.) eine Brücke, indem sie im Gegensatz zu ihrem primär individuellen Charakter bei Freud als eine kritische Fähigkeit der gemeinsamen Menge neu interpretiert wird.307 Freud zufolge tritt die Gewaltneigung auf der Ebene der Masse durch »[blinde] Wut« (ebd., S. 275) zutage, die durch eine hypnotische Gefühlsansteckung ausgelöst wird. Diese Übertragung der blinden Wut und die damit verbundene Suggestibilität führen dazu, dass die Masse, die gern »»beherrscht und unterdrückt werden< [will]« (ebd., S. 283) von einem Führer, der den Einsatz von Gewalt befürwortet, leicht dazu getrieben wird, äußeren Impulsen schnell und unreflektiert nachzugeben sowie soziale Hemmungen zu untergraben oder gar zu zerstören - Nach Freud eskaliert diese massenhafte »Lähmung der >Fähigkeit zur Kritik<« (ebd.) die Gewaltneigung.
Insofern die Immobilität einen Zeitraum der Betrauerbarkeit eröffnet, in dem die Grenzen der Betrauerbarkeit hinterfragt werden, stellt dieses In-der-Trauer-unnachgiebig-Bleiben einen Gegensatz zur massenphänomenologischen »Lust auf Gewalt« (GL, S. 163) dar. In diesem Kontext lässt sich die Kritikfähigkeit als gemeinsame und zugleich politische Fähigkeit neu begreifen, die nicht im Schweigen der manipulierten Masse verbleibt. Die neu definierte Fähigkeit zur Kritik, die Abstand zur Neigung und Anwendung von Gewalt wahrt, nimmt dabei auch eine gewisse Distanz zur Urteilskraft oder Denkfähigkeit, die von bereits fertig konstituierten und politisch vortrefflichen Subjekten ausgeht (vgl. Jaeggi 1997, S. 82).308 Diese Distanzierung von der Gewaltneigung ist nicht als Einsamkeit oder tugendhafte Isolierung zu verstehen. Die neue gemeinsame Kritikfähigkeit basiert vielmehr auf körperlichem Beisammensein. In der Zusammenkunft drücken die Gesichter der anderen die Botschaft aus, dass niemand mehr verloren gehen sollte und die Anwendung von Gewalt daher niemals erlaubt werden darf. Diese körperliche Botschaft verbindet sich nicht nur mit Trauer, sondern auch mit Affekten309 wie Aggression oder Wut (vgl. EP, S. 70). Insbesondere kann gemeinsame Wut neue Räume für öffentlichen Widerstand und Versammlung wie Trauerakten bieten, in denen politische Handlungen auf gewaltlose, jedoch durchaus aggressive Weise zum Ausdruck gebracht werden können.310
Im Widerstand gegen das Unbetrauerbar-Werden, das die Verstorbenen zu nie gelebten und nie lebenswerten Wesen degradiert, versammeln sich rechtlose Körper, um ihre Verwundbarkeit öffentlich zu machen und ihre gesellschaftliche Unbetrauerbarkeit zu betrauern. Sie erheben sich aus gewaltloser Wut, dass »dieses verlorene Leben nicht hätte verlorengehen dürfen, dass es betrauerbar ist und als solches lange vor jeder Verletzung hätte anerkannt werden müssen« (EP, S. 97). Das In-der-Trauer-Ausharren verkörpert in diesem Sinne eine ethisch-solidarische Kraft, die sich sowohl in sichtbarer Form - z. B. bei Antikriegsdemonstrationen - als auch in unsichtbarer Solidarität gegen Gewalt äußert. Jeder, der in Trauer verharrt und zugleich »nach gewaltsamer Rache strebt und sich dennoch gegen solches Tun auflehnt [...]« (RK, S. 159), kann sich gegen die Lust auf Gewalt kraft deiner und anderer Unbekannter wenden (vgl. EG, S. 46). Als gemeinsame Praxis verweist Betrauerbarkeit auf eine Form des kollektiven Kampfs um ethische Verantwortung - die Verantwortung dafür, dass niemand von uns zu einem Gewalttäter werden oder »eine Auflösung der Trauer durch Gewalt [herbeiführen darf: Choi]«(GL, S. 47). Wenn die Gewalt der Ungleichheit und das daraus folgende Leid durch die gemeinsame, affektive und zwischenmenschlichen Kritikfähigkeit angeprangert werden, kann diese beharrliche Akte der Betrauerbarkeit ein neues Wir hervorbringen, das die grundlegende Relationalität neu und erneut betont. Die Immobilität im Zusammenhang mit der Betrauerbarkeit manifestiert sich als ein umstrittenes Moment, in dem nicht nur die Fragen gestellt werden, was und wer >wir< sind, um etwas zu betrauern, sondern auch, was wir werden können und sollten, um uns gegen Gewalt und deren Neigung zu stellen und uns zugleich als Ausdrucksform einer gewaltlosen, aber aggressiven Wut zu gestalten (vgl. Butler 2019b, S. 132).
Wie sich Gewaltlosigkeit in Butlers Denken »nicht einfach als Abwesenheit von Gewalt oder als Enthaltung von Gewalt begreifen lässt« (EP, S. 41), ist Immobilität ebenso wenig als bloße Handlungsunfähigkeit oder als rein passive Unterlassung zu verstehen. Im Folgenden wird untersucht, inwiefern Immobilität die gewaltlose Forderung nach Gleichheit und radikaler Demokratie praktizieren kann. Gewaltlosigkeit ist dabei eine aktiv-passive311 Form der politischen Handlung, die es ermöglicht, in der Spannung zwischen Angst und Furchtlosigkeit - ohne Überwindung der Angst vor Gewalt - gemeinsam zu handeln und zu sprechen (vgl. Butler 2019b, S. 104). In diesem Sinne ist sie als >militanter Pazifismus< zu verstehen (vgl. EP, S. 246f.), der sowohl einen Kampf für Frieden312 darstellt, der am Schauplatz der Gewalt stattfindet, als auch eine Praxis, die »erst mit der Androhung von Gewalt ins Spiel [kommt]« (TV, S. 246). Diese Form des Widerstands wirft kritische Fragen nach der Gewalt auf: Was ist Gewalt, und welche Handlungen gegen Gewalt können als gewaltlos gelten? Unter welchen Bedingungen werden widerständige Handlungen, wie beispielsweise eine menschliche Barrikade gegen einen Polizeieinsatz, dennoch als Gewalt bezeichnet (vgl. EP, S. 84)?
Der aktiv-passive Charakter der Immobilität manifestiert sich als gewaltlose Gegenpraxis, die »selbst nachhaltig - und möglicherweise durchaus aggressiv durchgesetztes - Handeln erfordert« (EP, S. 41) und als eine Gegenmacht »auf substanzielle Änderungen des Status quo [abzielt]« (ebd., S. 176). Die Immobilität findet Ausdruck in vielfältigen Formen wie gewaltlosen Besetzungen, Trauerakten, Menschenketten, Straßenpartys, (Hunger-)Streiks, Verbraucher- und Kultur-Boykotten, der Sammlung und Mobilisierung von Petitionen sowie in öffentlichen Versammlungen (vgl. ebd.). Im gewissen Sinne ist Immobilität mit direkter Aktion oder zivilem Ungehorsam vergleichbar, insofern diese Handlungsformen der Gewaltlosigkeit Gemeinsamkeiten aufweisen: Sie lassen durch gemeinsames Handeln »ein konkretes Modell für das [entstehen], was sich die Akteure als freie Gesellschaft vorstellen« (Graeber 2013, S. 27) und nehmen eine bestimmte Zukunft in der Gegenwart vorweg. David Graeber begreift direkte Aktion als ein Ideal, »das in Reinform wahrscheinlich unerreichbar bleibt« (ebd.). Direkt Aktion stellt eine Handlungsform dar, »bei der Mittel und Zweck im Grunde ununterscheidbar werden; eine Methode, aktiv in die Welt einzugreifen, um Veränderungen herbeizuführen, wobei die Aktionsform oder zumindest die Art, wie sie organisiert wird, selbst modellhaft für die Veränderung steht, die man herbeiführen möchte« (ebd.). Gleichwohl unterscheidet sich Immobilität von der direkten
Aktion, die sich durch ihre anarchistische Perspektive auszeichnet. Immobilität manifestiert sich und wirkt in der Komplizenschaft mit der Gewalt, und nähert sich in diesem Sinne teilweise dem zivilen Ungehorsam an.
Der zentrale Unterschied zwischen Immobilität und zivilem Ungehorsam liegt in der Bedeutung, die rechtlichen Verfahren oder Verhaftungen im Widerstand zukommt. Im zivilen Ungehorsam wird nicht vorrangig versucht, Verhaftungen zu entgehen. Vielmehr werden Verhaftungen und rechtliche Verfahren häufig als Gelegenheiten genutzt, »der Welt zu erklären, was man getan hat und warum, oder das ungerechte Gesetz infrage zu stellen« (Graeber 2013, S. 184). Im immobilen Widerstand hingegen gelten Verhaftungen und rechtliche Verfahren weniger als strategische Mittel des Widerstands, sondern vielmehr als unvermeidliche Konsequenzen und Gegenstände der Kritik, die durch kollektive und körperlich-beharrliche Handlungen ausgeübt wird. Die prekarisierten und immobilen Körper haben gar kein Mittel, Verhaftungen oder polizeilicher Gewalt zu entgehen. Dennoch bleiben sie beharrlich, da sie keine andere Wahl haben, als für ein lebbares Leben weiterzukämpfen. Sie versammeln sich, um einen Zustand der Ungleichheit zu beenden, der »länger ertragen wurde, als sie hätte ertragen werden sollen« (Butler 2019b, S. 125; vgl. ebd., S. 153). In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass Gewaltlosigkeit nicht zwangsläufig eine mildere Form von Gewalt darstellt (vgl. TV, S. 248). Gewaltlose Widerstände entstehen nicht aus dem Grund, weil Demonstrierende unfähig oder unbefugt wären, Gewalt auszuüben, Gewalt auszuüben, wie etwa Molotowcocktails zu werfen. Sondern sind sie der Versuch, subversive Handlungen des Widerstands ohne Gewaltanwendung zu ermöglichen. In diesem Sinne sollte Immobilität nicht als pessimistische oder zynische Haltung interpretiert werden. Sie ist eine >aktive< Widerstandspraxis der Gewaltlosigkeit, da sie »nicht einfach Nein zu einer Welt der Gewalt [sagt], sondern das Selbst und seine Beziehung zur Welt neu [gestaltet]« (TV, S. 242).
Daher ist zu betonen, dass nicht alle Formen gewaltlosen Widerstands auf passiven Widerstand reduziert werden können. Dennoch manifestiert sich die Praxis der Gewaltlosigkeit oft in der spezifischen Passivität der Immobilität. Es gibt die Formen des körperlichen, subversiven und zugleich passiven Widerstands, die eine doppelte Weigerung zum Ausdruck bringen, einerseits einen bestimmten Ort zu verlassen und andererseits auf konfrontierte Polizeigewalt mit Gewalt zu reagieren (vgl. EP, S. 235).313 Wenn verletzbare und unvernehmbare Körper sich gemeinsam der (Polizei-)Gewalt exponieren und gegen diese systematische Gewalt in gewissem Sinne auf das Recht auf Selbstverteidigung verzichten, entsteht aus diesem passiven Performativen die gewaltlose Kraft, die »etwas ganz anderes als destruktive Gewalt ist und sich in solidarischen Widerstandsbündnissen und Standfestigkeit manifestiert« (ebd., S. 244). Beispielsweise stellt Butler dar, dass der eigene Körper vor der Polizeigewalt erschlafft oder »die Arme sinken [...] lassen« (ebd., S. 36) und somit selbst zum Hindernis des Status quo wird. Diese Haltung vergleicht sie mit Gandhis Konzept der satyagraha (Seelenstärke) (vgl. ebd.). Es handelt sich dabei um eine Handlung, die auf den ersten Blick eigene Handlungsfähigkeit aufgegeben zu haben scheint, jedoch gerade durch ihre extreme Passivität als subversiv und performativ verstanden werden kann (vgl. TV, S. 243). Ein Beispiel hierfür ist die Die-in Aktion: Demonstrierende legen sich auf ein Signal hin in der Öffentlichkeit plötzlich wie tot zu Boden, um auf lebensbedrohende oder unmenschliche politische Missstände wie Krieg, Menschenrechtsverletzungen, Rassismus oder die Klimakrise aufmerksam zu machen. Ebenso kann ochetuji - ein buddhistisches religiöses Ritual - als ein weiteres Beispiel herangezogen werden. Unter ochetuji versteht man eine spezifische Form der Prostration, bei der fünf (o) Teile des menschlichen Körpers (che: zwei Ellbogen, zwei Knie und die Stirn) den Boden (ji) berühren. Dieses religiöse Ritual, das Respekt gegenüber anderen ausdrückt, indem man sich extrem demütigt, wird häufig als eine Form des Widerstands eingesetzt, etwa in Südkorea. Auf den ersten Blick scheint dies eine Art des Ersuchens zu sein, jedoch dient ochetuji als kraftvolles Mittel der Demonstration, das durch die Selbstdemütigung politischen Druck ausübt, insbesondere um die politische Forderung nach Gleichheit der Lebbarkeit und Betrauerbarkeit zu artikulieren.314
Die bisher dargestellten Merkmale der Immobilität als gewaltlose Gegenpraxis lassen sich wie folgt zusammenfassen: Erstens richtet sich »die spezifische Macht der Prekarisierten« (ME, S. 169) auf i) die Erweiterung der Öffentlichkeit, um »denjenigen Gehör zu verschaffen, die begrifflich annulliert worden sind« (EP, S. 38), ii) die Durchsetzung der Gleichheit der Betrauerbarkeit für diejenigen, »die für entbehrlich erklärt wurden« (ebd.) und iii) die Erweiterung und Etablierung der Gerechtigkeit. Zweitens tritt Immobilität als performative und antizipierende Praxis gegen die Bezeichnungspraxis der herrschenden Gewalt zutage, indem sie auf »jene unautorisierte Ausübung eines Existenzrechts« (ME, S. 142) hinweist. Drittens verkörpert die aktiv-passive und >körperliche< Form der Immobilität Gewaltlosigkeit, insofern das Beharren sich »unter Bedingungen der Gefährdung [...] als eigene Art von Stärke [erweist], eine Stärke, die sich eben nicht aus Unantastbarkeit ableitet« (EP, S. 243). In der Gegenpraxis und gewaltlosen Kraft aus Schwäche gibt es »keine wundersame oder heldenhafte Überführung von Gefährdung in Stärke« (ebd., S. 235). Stattdessen gibt die Inszenierung von vulnerablen Körpern eine Möglichkeit, Körper als gewaltlose Sprache in Erscheinung treten zu lassen, insbesondere wenn zusammenkommende Körper der Staats- und Rechtsgewalt ausgesetzt sind.
Zwei Aspekte des Körpers sind hinzufügend zu berücksichtigen: Einerseits muss erneut betont werden, dass der Körper in Butlers Perspektive weder auf das bloße Überleben reduziert noch über das Körperliche hinaus betrachtet werden sollen. Der Körper verweist auf »die Bedingung des räumlichen Aufenthalts [des Menschen: Choi]« (RK, S. 174) in dem Sinne, dass er den Ort der sozialen Verletzbarkeit und Prekarität darstellt. Die Körper stehen mit Machtbeziehungen und Gewalt der Normen in chiastischer Beziehung, da jeder Körper Normen und Sprache in und auf sich verkörpert, d. h., Körper sind somit immer schon materialisierte und sich materialisierende Körper. Butlers Verständnis des Körpers lässt sich in diesem Sinne weder in agambenscher Unterscheidung zwischen zoe und bios noch in Benjamins Unterscheidung zwischen bloßem Leben und der Seele der Lebendigen einordnen - wenn Benjamins Unterscheidung wie folgt zusammengefasst wird: »Leben selbst ist kein notwendiger oder zureichender Grund für Widerstand gegen positives Recht, während die >Seele< des Lebens sehr wohl ein solcher Grund sein kann« (AS, S. 99f.). In Abgrenzung zu Benjamins Standpunkt, wonach »[tatsächlich die göttliche Gewalt gerade im Namen der Seele des Lebendigen [handelt]« (ebd., S. 99), konstatiert Butler mit ihrem Körperbegriff, dass ihre prekäre Stellung öffentlich demonstrierender Körper im Namen des Lebendigen gewaltlose Gewalt zum Ausdruck bringen können (vgl. EP, S. 235). Wenn Körper sich unnachgiebig der Polizei- und Staatsgewalt exponieren, wird durch diese Exposition politisch deutlich, dass nämlich die Körper »noch nicht ausgelöscht [sind] und weiter Forderungen im Namen [ihrer] eigenen Lebendigkeit [erheben]« (ebd., S. 238). Andererseits weisen Körper bei Butler im Moment der Immobilität, beispielsweise bei der gemeinsamen Inszenierung, auf die politische deixis hin(vgl. ebd.). Wenn sich versammelnde Körper durch »die eigene performative und verkörperte Beharrlichkeit« (ebd.) gemeinsam in Erscheinung treten, manifestieren sie sich bereits als sprachlich, »um [ihren] Forderungen Nachdruck zu verleihen« (ebd.). Wenn die Sprache durch die »gesellschaftlich regulierte[n] und im Stich gelassene[n]« (ebd.) Körper, die sich beharrlich der Ungleichheit widersetzen, zum Ausdruck gebracht wird, stellt sich die Frage, ob diese körperliche Sprache, die die politische Forderung nach Lebbarkeit und Gleichheit artikuliert, nicht als die von Butler in Benjamins Denken gefundene aggressive und zugleich gewaltlose Sprache der Gegenmacht verstanden werden soll.
Immobilität, Gegenmacht und die Möglichkeit radikaler Demokratie
Obwohl Immobilität zunächst aus spezifischen sozialen und/oder wirtschaftlichen Prekarisierungen eines konkreten Kontexts entsteht, eröffnet sie im weiteren Verlauf die Möglichkeit, grundlegende politische Prinzipien wie Zugehörigkeit, Gleichheit und letztlich Demokratie kritisch zur Debatte zu stellen. Im Zentrum der Debatte um Zugehörigkeit steht der moderne Nationalstaat, der durch eine ambivalente Doppelfunktion gekennzeichnet ist: Einerseits fungiert er als »das [juristische] Bindemittel der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten« (SPZ, S. 8). Andererseits ist er zugleich das, »was Bedingungen aufheben kann und dies auch tut« (ebd., S. 8f.), was zur Entrechtung, Ausgrenzung und Verstoßung bestimmter Bevölkerungsgruppen führt (vgl. ebd., S. 9). Diese normative und gesetzlich wirksame Staatsmacht offenbart sich als die Wirkungsweise der Mobilität, insofern die Ausschlussmechanismen dazu dienen, die Bevölkerung - mit arendtschen Worten - in Kategorien wie Volk, Nation, Masse oder Mob zu klassifizieren und zu regulieren, indem die Betrauerbarkeit und Lebbarkeit ungleich verteilt und angewendet werden.
Im Hinblick auf die Themen Gewalt, Zugehörigkeit und Mobilität lassen sich in Arendts Politiktheorie zwei zentrale Unterscheidungen identifizieren: Erstens besteht gemäß der Spannung zwischen dem republikanisch-jakobinischen Modell und dem französischen Volkssouveränitätsmodell eine Unterscheidung zwischen dem Volk im kantischen Sinn315 und der Nation, die durch Geburt und Abstammung charakterisiert ist und als Träger der Volkssouveränität eine Kategorie politischer sowie kultureller Nähe repräsentiert (vgl. Brunkhorst 1999, S. 90). Zweitens kommt es zu einer Hierarchisierung zwischen Volk, Masse und Mob. Das Volk, das entweder bereits das aktive Staatsbürgervolk ist oder entschlossen ist, es zu werden (ebd., S. 86), wird mit der Figur des mobilen Subjekts verknüpft. Wenn sich das politisch-öffentliche Zwischen, das die Pluralität bildet und aus dem Macht entstehen kann, aus mobilen Subjekten ergibt, die auf der hierarchischen Unterscheidung zwischen Volk und Mob basieren, markiert Mobilität die Grenzen des politisch-anerkannten Subjekts. Sie bestimmt, wer als Subjekt handeln kann und damit als Teil eines >Wir< einen Umfang der Selbstverteidigung formiert.
Im Gegensatz dazu steht der Mob als eine vorpolitische Entität, die bestenfalls zur Masse werden kann und sich »politisch außerhalb und sozial unterhalb des eigentlichen Volkes« (ebd., S. 88) befindet. Der Mob, aus Deklassierten der gesellschaftlichen Schichten bestehend und als Komplement zur Pluralität des Volkes betrachtet, gilt nicht nur als prekär und proletenhaft. Als Abweichung von der Definition des Menschen als das sich- und weltschaffende Subjekt stehen die Mitglieder des Mobs weder in isonomischen Beziehungen zueinander noch differenzieren sie sich voneinander. Daher gilt der Mob nach Arendt politisch als handlungsunfähig, weil seine Mitglieder sich weder gegenseitig affizieren noch von anderen affiziert werden können. Jedoch stellt sich die Frage, wie sich Mob politisch neu betrachten lässt, dessen Mitglieder kulturelle Gemeinsamkeiten nicht teilen und in ungleichen, nicht isonomischen Beziehungen stehen. Wie kann er als solcher in Erscheinung treten und politisch handeln - selbst wenn es bedauerlicherweise keine Garantie dafür gibt, dass ein derartiges Kollektiv im Rahmen demokratischer Prinzipien agiert? Die Auseinandersetzung mit dieser neuen Form der Pluralität, die weder auf dem Privaten sowie dem Vorpolitischen noch auf den durch die Ausschluss bedingten Ähnlichkeiten basiert, ist eng mit der Frage nach dem Charakter und Bereich der politischen Performativität verbunden.
An diesem Punkt setzt Butlers Konzeption der radikalen Demokratie an. Es ist nicht unmöglich, eine Version demokratischer Politik der Mobilität vorzustellen, die vorrangig auf die Freiheit abzielt und die Unterscheidung zwischen bloßem Überleben und einem politisch selbst- und weltschaffenden Leben basiert, das eigene Freisein mit der Freiheit der politischen Pluralität in Einklang bringt. Im Gegensatz dazu zielt die Radikaldemokratie bei Butler weniger primär auf eine Erweiterung der Freiheit, sondern vielmehr auf eine Förderung der Gleichheit ab. Radikale Demokratie versteht sie als die beste praktische Umsetzung der Gewaltlosigkeit, die mit dem durch und durch egalitären Ansatz zum Schutz des Lebens zusammenhängt (vgl. EP, S. 76). Aus Butlers Perspektive tritt die Performativität der radikalen Demokratie in Verbindung mit Prekarität und Verletzbarkeit in Kraft, insofern sie auf der »Abhängigkeit und Verwundbarkeit, also auch [auf den] Daseinsweisen des lebendigen Körpers« (TV, S. 265) basiert. Ein Ziel der radikalen Demokratie besteht folglich darin, den politischen Charakter eines Widerstandes zum Überleben
und seine Performativität neu zu bewerten, insbesondere wenn diese Widerstände die ungleiche und ungerechte Teilung der Lebbarkeit und Betrauerbarkeit offenlegen: Die Betrauerbarkeit muss in diesem Kontext nicht nur auf theoretischer Ebene, sondern auch konkret durch »die soziale Organisation von Gesundheitsversorgung, Nahrungsverteilung, Wohnung, Arbeit, Liebesleben und bürgerlichen Leben« (EP, S. 80) verwirklicht werden. Die gewaltlos-radikaldemokratische Praxis ruft dafür Dissens gegen den Status quo hervor, um den Bereich des anerkennbaren Lebens auszuweiten - jedoch nicht durch die einfache Aufnahme der Ausgeschlossenen in eine bestehende Ontologie, sondern durch die Infragestellung dieser Ontologie und das Entwerfen eines neuen Wir (vgl. GL, S. 50; Hark u. Meißner 2019, S. 232f.).
In diesem Zusammenhang lässt sich die performative Ausübung des Existenzrechts als Praxis radikaler Demokratie verstehen, insbesondere wenn dieses Recht in Form der Immobilität unbetrauerbarer Körper ausgeübt wird. Immobilität manifestiert sich als aktiv-passives und körperliches Verharren, das sich als deklaratorische Weigerung formuliert: weder der bestehenden Gewalt zu unterliegen noch diese durch Gewaltanwendung oder durch die Einbeziehung privilegierter Kategorien die vorliegende Situation zu überwinden. Das Existenzrecht der Prekarisierten - ein Recht derjenigen, die vom Gesetz im Stich gelassen werden - fordert eine Gleichheit, die nicht auf das Recht heroischer Individuen reduziert werden sollte, sondern als unteilbar und >relational< zu begreifen ist (vgl. EP, S. 240; ME, S. 169; TV, S. 243). Dabei können jede konkrete Fragen der Lebbarkeit und der egalitären Betrauerbarkeit nicht isoliert betrachtet werden. >Ein< Widerstand in Form von Immobilität gegen ein konkretes Moment prekärer Bedingungen beinhaltet stets schon eine grundlegende politische Forderung nach gleicher Lebbarkeit oder Betrauerbarkeit, insofern die sich versammelnden und widerständigen Körper sozial, wirtschaftlich und kulturell verschieden bzw. proletenhaft sind. Wenn die Demonstrierenden sich für eine bestimmte Agenda z. B. gegen Mieterhöhungen versammeln, trägt diese Demonstration parallel zur Forderung nach erschwinglichem Wohnraum auch das Recht auf Wohnung und implizit das Recht auf Lebbarkeit mit sich. Die feministische Bewegung Ni Una Menos, die 2015 in Argentinien entstand, veranschaulicht dies eindrücklich. Ihr Hauptanliegen bestand darin, auf misogyne Gewalt sowie die Unbetrauerbarkeit von Frauen - insbesondere auf Femizide - aufmerksam zu machen. Ihre Proteste verbanden dieses Anliegen mit Forderungen gegen die Lohndiskriminierung von Frauen, gegen kapitalistische Ausbeutung, gegen die Diktatur sowie letztlich mit der Forderung nach einer neuen, offenen Form der radikalen Demokratie auf der Straße (vgl. WW, S. 103f.). In diesem Sinne lässt sich sagen, dass die Versammlungen, die die Prekarität und Verletzbarkeit der Demonstrierenden in Form von Immobilität öffentlich sichtbar machen, »die Art von Gesellschaft oder politischer Ordnung, in der wir leben wollen, vorwegnehmen [können]« (Butler 2019b, S. 116). Das leidenschaftliche Sich-Exponieren der Prekarität und das beharrliche Dableiben vor der (staatlichen wie polizeilichen) Gewalt fordert von der Gesellschaft und der bestehenden Politik nicht nur: >Du solltest nicht töten<, sondern darüber hinaus: >Du sollst nicht länger übersehen, wie ungleich, verletzlich und unbetrauerbar wir sind<.
Das politische Potenzial der Immobilität zeigt sich darin, dass ein immobiler Widerstand nicht nur die eigene Gleichheit einfordert, sondern auch die Gleichheit anderer. Die intermittierende Zusammenkunft der Prekarisierten, die ihrer Definition nach keine vollständige Einheit darstellen 224
kann, tritt als Restmenge des Volkes politisch von Bedeutung zutage. Ihre unausweichliche Unvollkommenheit verdeutlicht, dass es immer noch Ausgeschlossene gibt, die im Moment des Widerstands abwesend und dem Vergessen ausgeliefert sind. Diese verletzte Pluralität führt zu einem Effekt der Repräsentation, der sich aus der Umkehrung der Immobilität ergibt: Die Versammelnden und/oder die außerhalb der Demonstration Stehenden können unerwartet und unausweichlich den abwesenden Ausgeschlossenen ausgeliefert sein, die sich in dem Moment nicht an der Versammlung beteiligen können. Diese Form der Repräsentation kann folglich die Grenzen der Öffentlichkeit erschüttern, die »die Eingesperrten, die Isolierten, die Inhaftierten, die Vertriebenen und die Verschwundenen definieren« (TV, S. 223f.). Die performative Schaffung einer unvollkommenen und alternativen Pluralität weist zudem auf einen antagonistischen Trennungsakt hin, der eine intermittierende Grenze zwischen der auf ungezählten Körpern beruhenden Gegenmacht, die Butler als >Volkssouveränität< bezeichnet, und der kulturell hegemonialen Staatssouveränität zieht. Diese kontingente Spannung erweist sich als ein spezifischer Hiatus, der einen widerständigen Raum der Immobilität eröffnet.
Die performative Kraft der Gewaltlosigkeit, die von der Prekarität des Körpers ausgeht und auf Körpern basiert, ist keineswegs durch die auf ermächtigende und selbstschaffende Fähigkeiten zurückführbare Konstruktivität gekennzeichnet. Die Gegenmacht kann durch die leidenschaftlich an Relationalität gebundenen immobilen Körper zum Vorschein kommen, die sich durch ihre Verletzbarkeit performativ manifestieren. Diese Gegenmacht existiert nicht unabhängig von der »ein Sein konstituierende^] Macht epistemischer Gewalt« (Hark 2021, S. 92), welche bestimmten Gruppen von Menschen Anerkennung verleiht, jedoch das Leben anderer bedroht. Das Potenzial dieser Gegenmacht liegt genau in diesem >In-Gewalt-verstrickt-Sein< (vgl. RK, S. 158), daher kann der Kampf um Lebbarkeit und gleiche Betrauerbarkeit häufig oft scheitern (vgl. ebd.). Das Scheitern eines Aufstandes, als ein eingrenzbares Ereignis betrachtet, in gewisser Weise Voraussetzung seiner Definition (vgl. Butler 2019b, S. 144). Dennoch lässt sich abermals sagen, dass jede schwache und aktiv-passive Widerstände der Immobilität, obwohl sie gescheiterte Versuche sein mögen, zusammen genommen erfolgreich sind, insofern jede Widerstände für sich genommen eine Wiederholung sowie eine Konstellation der Widerstände darstellen (vgl. ebd., S. 156f.).
Die neue Pluralität, in der die Kraft des körperlichen Sprechakts durch das beharrliche Ausgesetztsein, nämlich durch die Immobilität zur Geltung kommt, fordert das Recht auf ein gemeinsames Leben ein. Diese Pluralität verweist stets schon auf ein Leben, das die Unterscheidung zwischen gutem Leben und dem bloßen Überleben unterbricht und eng mit körperlicher Verletzbarkeit und Prekarität verknüpft ist. Der subversive Widerstand der Immobilität und ihre schwache Gegenmacht weisen einen Weg zur Gleichheit der Lebbarkeit und Betrauerbarkeit sowie schließlich zu einer radikalen Demokratie, die durch solidarische Zugehörigkeit eine gewaltlose Koexistenz in >einer< Welt anstrebt. Somit lässt sich zusammenfassen, dass Immobilität als Praxis sowie als ethische und ontologische Seinsform eine performative Gegenmacht in sich trägt. Wenn sich die vulnerablen Körper im Sinne von Butler und im Sinne mit und gegen Arendt gemeinsam beharrlich inszenieren, eröffnen sich politisch subversive Möglichkeiten zur Vorstellung einer radikal demokratischen und weniger gewalttätigen Welt.
Fazit: Immobilität als ein neues Dispositiv der Interdependenz
Die Konzepte von Mobilität und Immobilität werden als ein theoretischer Denkansatz entwickelt, der darauf abzielt, Subjektivität, Performativität und Pluralität im Zusammenhang mit der Räumlichkeit zu beleuchten.316 Abschließend wird die Frage der Kohabitation als eine zentrale globalpolitische Herausforderung untersucht, die sich insbesondere mit der verletzlichen und zugleich widerständigen Performativität der Immobilität auseinandersetzt: Wie kann ein gewaltloses und zugleich demokratisches Zusammenleben aller Menschen und nichtmenschlichen Wesen in >einer< Welt möglich sein kann - einer Welt, die sowohl durch wirtschaftliche Ungleichheit, Prekarisierung und Ausbeutung als auch durch bewaffnete Konflikte und Kriege sowie die neu auftauchende weltweite Klimakrise oder Pandemien bedroht ist?
Im Kontext dieser Fragestellung rückt die Betrachtung der Räumlichkeit der Welt bei Arendt und Butler erneut in den Fokus. Die Welt verweist nicht lediglich auf eine als unveränderlich oder gegeben betrachtete Kugelfläche des Globus, sondern auch auf einen normativen und regulierenden Zeit-Raum, der das biologische und sozial-politische Leben der Menschen unterstützt, aufteilt und bisweilen gefährdet. Die arendtsche Welt gründet auf einer dualistischen Raumordnung, die - wie bereits bekannt - zwischen dem dunklen, sprachlosen sowie privaten Bereich und dem öffentlichen Raum unterscheidet. Mit Blick auf die Frage der Kohabitation schließt sich in Arendts Politiktheorie eine weitere Unterscheidung an, und zwar die zwischen der naturgemäßen, als gegeben betrachteten Erde, die den biologischen Lebensrahmen des Menschen bildet, und dem Mundus, der durch menschliche Taten und Worte hergestellt wird (vgl. Marchart 2005, S. 87). Diese Differenzierung reflektiert zugleich den Gegensatz zwischen dem schlichten Auf-der-Erde->Wohnen< und einem tätigen, lebendigen sowie politisch-öffentlichen Frei->Sein< im Mundus (vgl. D, S. 555): Arendt argumentiert, dass »der Mensch auch irdisch erst zu sein anfangen kann, wenn er nicht mehr [wohnt]« (ebd.). Diese vertikal lebensdifferenzierende Unterscheidung zwischen dem Freisein im Mundus und dem bloßen Wohnen auf der Erde lässt sich mit Butlers Kritik an der ungleichen Verteilung von Betrauerbarkeit verknüpfen. Butler zeigt auf, dass unter den koexistierenden Lebewesen auf der Erde bestimmte Leben im Voraus als weniger schützenswert betrachtet und daher leichter als andere in den Bereich des Unlebbaren verdrängt werden, wenn diese bloß Bewohnenden wie Überlebenden als unbetrauerbar gelten.
Für Arendt ist das Bewohnen auf der Erde eine grundlegende Bedingung menschlicher Vielfalt, die das individuelles Freisein und die politische Pluralität erst ermöglicht. Diese Perspektive verdeutlicht sie insbesondere am Ende ihres Buchs Eichmann in Jerusalem: Niemand hat das Recht zu entscheiden, »wer die Erde bewohnen soll und wer nicht« (EJ, S. 404). Völkermord wird in diesem Sinne als ein Verbrechen an der Menschheit und am »Status des Menschseins« (ebd., S. 391) definiert, insofern er ein wesentliches Merkmal der menschlichen Vielfalt angreift. Vorsichtig - jedoch mit Nachdruck - lässt sich feststellen: Arendt begreift das politische Ideal der Kohabitation nicht als radikale Gleichheit aller Leben. In ihrer Vorstellung basiert das Zusammenleben der Menschen weder auf einer vollständigen Gleichheit, noch zielt es darauf ab, dass >alle< Menschen >im Mundus< frei sein können. Ein Grund für diese Interpretation könnte liegen, dass die Freiheit für Arendt nur als das konkrete Freisein jedes Subjekts und als jede aktive Pluralität zustande kommen kann und muss. Dafür soll bzw. kann solche Pluralität nicht ungezähmt expandieren, sondern erfordert eine angemessene Begrenzung, da nach Arendt nicht alle Menschen das Freisein selbst schaffen oder sich leisten können. Demnach bleibt immer eine hartnäckige Differenz zwischen denen, die sich als Subjekte der Mobilität im Mundus etablieren, und jenen, die bloß auf der Erde wohnen und sich aufgrund dieser Hierarchisierung mit dem reinen Überleben zufrieden geben müssen.
Im Hinblick auf das Ziel, Völkermord entgegenzutreten und das Zusammenleben auf der Erde zu sichern, bringt Arendt wiederum die Denkfähigkeit ein, die es erlaubt, sich selbst in Bezug auf die abwesenden anderen zu vergegenwärtigen (vgl. Arendt 2002a, S. 15). Ein prägnantes Gegenbeispiel bietet Adolf Eichmann, den Arendt heftig kritisiert wegen seiner »nahezu totale[n] Unfähigkeit, jemals eine Sache vom Gesichtspunkt des anderen her zu sehen« (EJ, S. 124). Allerdings weist Arendts Kritik an Eichmanns Denkunfähigkeit einen entscheidenden Schwachpunkt auf: Selbst wenn Eichmann seine Denkfähigkeit ausgeübt hätte, bleibe die Frage der Kohabitation dennoch ungelöst. Dies liegt daran, dass die Frage der Kohabitation von der Denkfähigkeit abhängt, die an die Unterscheidung zwischen Freisein und bloßem Überleben gebunden bleibt, das Letztere leicht in den Bereich des Unlebbaren verdrängt wird. Es ist daher von Bedeutung zu hinterfragen, mit welchem Ansatz die politische Herausforderung der Kohabitation zu behandeln ist: Kohabitation gelingt nicht durch die Fähigkeit zur Repräsentation, >sich selbst< mit den anderen zu vergegenwärtigen, sondern vielmehr durch die politische Sensibilität, die es ermöglicht, sich >aufgrund der anderen und kraft der anderen< vorzustellen. Diese Sensibilität macht uns verletzlich und durch sie sind wir auf unwiderstehliche Weise den Unbekannten ausgesetzt und an sie gebunden. Sofern sich die politische Forderung nach Kohabitation nicht auf die als politisch-ethische Verletzbarkeit, Relationalität oder Interdependenz bezieht, bleibt bedauerlicherweise eine weniger gewaltsame, demokratischere Kohabitation auf der Erde unwahrscheinlich. Wie kann dann Kohabitation in dieser verletzbaren, körperlich- performativen Weise neu gedacht und konzeptualisiert werden?
Während in Arendts Politiktheorie die Welt, die die Forderung nach Koexistenz betrifft, durch die Unterscheidung zwischen dem Auf-der-Erde-Wohnen und dem politisch-öffentlichen Freisein im Mundus thematisiert wird, ist aus butlerscher Perspektive die Welt ein Lebensraum, der jedem Lebewesen ein Dach über dem Kopf bietet und vor allem durch die Matrix der Lebbarkeit reguliert wird. Diese Matrix der Lebbarkeit fungiert nicht nur als ein Dispositiv aus Normen, Diskursen, Konventionen oder Kulturellem, sondern auch als eine variable, veränderbare und genealogische Kartografie der Gewalt, die Bevölkerungsgruppen miteinander verbindet und gleichzeitig einige von ihnen ausschließt. Butlers Konzept der Welt wird daher in stärkerem Maße monistisch betrachtet als das von Arendt, jedoch nicht in dem Sinne, dass sämtliche Lokalitäten auf der Erde differenzlos, vorrechtlos oder grenzenlos wären. Diese immanente Figur der Welt, die als vermittelnde und vermittelte, umkehrbare Räumlichkeit fungiert, ist insofern von Bedeutung, als die Welt einen bewohnbaren Raum für das Leben darstellt, das nicht auf eine Seite der Unterscheidung zwischen gutem Leben und bloßem Überleben reduziert wird (vgl. WW, S. 30).
Im Gegensatz zur Mobilität, die sich auf einer spezifischen Bewegungsfähigkeit basierend zur menschlichen Freiheit und politischen Würde orientiert, nähert sich die Immobilität der Forderung nach Zusammenleben in zwei Weisen. Erstens setzt die Forderung nach gewaltlosem Zusammenleben an der grundlegenden Tatsache an, dass das Leben immer schon in Form verschiedener Körper >räumlich< existiert - sei es im Haus, in der Stadt, im Staat und letztlich auf der Erde. Immobilität verdeutlicht dabei, dass die Forderung nach Kohabitation untrennbar mit Raumfragen verbunden ist: Die Möglichkeit eines lebbaren Lebens, die darauf hinweist, >als Körper in einer Welt zu leben< (vgl. WW, S. 32), hängt von einer bewohnbaren Welt ab (vgl. ebd., S. 29). Ein Widerstand gegen die Prekarisierung und für Lebbarkeit, der nicht selten um die Anerkennung ungleich verteilter Verletzbarkeit kämpft, impliziert somit immer schon einen Widerstand für die bewohnbare317 Erde. Zweitens manifestiert sich der immobile Widerstand als die negativen Fragestellungen zur Gleichheit: Wie können weltweit unerträgliche und unbewohnbare Lebensbedingungen minimiert werden? Wie lassen sich die unbetrauerbaren Verluste von Leben verringern? Immobilität verbindet in diesem Kontext die Frage nach Betrauerbarkeit mit jener der Kohabitation. Die Hierarchie der Betrauerbarkeit fungiert als Metrik des Lebens, da sie zeigt, wer in bewohnbarem Raum leichter ausgelöscht wird und weniger betrauerbar wird (vgl. EP, S. 185).
In diesem Zusammenhang lässt sich Immobilität als Widerstand verstehen - als Versuch, einen Raum für lebbares Leben zu eröffnen und diese neuen Lebensräume miteinander zu verbinden - wie eine Konstellation der Widerstände. Gemäß Butler verbinden uns der Körper und das Körperliche: »To be a body at all is to be bounded up with others and with objects, with surfaces, and the elements, including the air that is breathed in and out, air that belongs to no one and everyone« (WW, S. 37f.). Diese körperlich-relationale Dimension des Politischen ist sowohl ein Grund als auch eine Grundlage der Widerstände. Die durch den Körper geprägte Interdependenz fordert uns auf, die Idee der Kohabitation über das liberal-individualistische Verständnis von
Rechten hinaus zu erweitern. Das Recht auf Koexistenz basiert auf den beziehungsförmigen Abhängigkeiten, die die Existenz des Menschen und den Menschen selbst als soziales und lebendiges Wesen bestimmen (vgl. EP, S. 63). Dies verdeutlicht das Prinzip auf Gleichheit, das uns aufzeigt, dass niemand unantastbar oder unverletzbar ist und dass wir als solche miteinander verbunden sind. Kohabitation verweist daher auf die Abhängigkeit von jenen, auf die wir bereits bezogen sind, noch bevor wir entscheiden können, wie diese Beziehung am besten gestaltet werden soll (vgl. WW, S. 40). In diesem Sinne lässt sich festhalten, dass die immobilen Widerstände für die Kohabitation immer schon dringend und verspätet wirken (vgl. Butler 2019b, S. 132). Diese Widerstände entstehen in einem Moment, in dem nicht nur die globale Relationalität bereits sozial anerkannt ist, sondern auch die bewohnbare Erde sowohl für das eigene Leben, als auch für das Leben anderer und anderer Lebewesen geschützt werden muss (vgl. WW, S. 43). Unter diesem Vorrang der Interdependenz geht es um ein Zusammenleben mit »[denjenigen] auf der anderen Seite der Mauer oder [denjenigen] ohne volles Bürgerrecht diesseits der Mauer« (AS, S. 118). Diese anderen, mit denen wir die Welt teilen, definieren durch ihre Existenz das >Wir< und >Hier<. Kohabitation stellt in diesem Sinne eine kritische Reflexion über die Beziehungen dar, von denen die Grenzen des Selbst abhängen, »das sich selbst zu erhalten sucht« (ebd.). Gleichzeitig fungiert sie als ein dekonstruktiver Prozess, der die festen Grenzen des >Ich<, >Wir< und >Hier< ins Wanken bringt.
Die Kohabitation kann nicht einfach darauf hinauslaufen, dass die Privilegierten anderen einen Zugang zum besseren Leben gewähren - auch wenn dies in der Realpolitik häufig so erscheint. Aus der Perspektive der Immobilität hängt die Frage der Kohabitation vielmehr von der körperlichen Performativität derjenigen ab, die nicht durch eigenen und souveränen Aufstieg in Erscheinung treten können und dadurch unsichtbar bleiben oder in der Lücke zwischen Anerkennung und Verkennung verhaftet sind. Die körperlich-plurale Performativität, die aus der Versammlung der beharrlich orts- und gewaltgebundenen Körper entsteht, hat das Potenzial, »über die Formen von Individualismus hinaus[zu]gehen, die unsere Vorstellung vom Mut als einer Tugend und von der Rede als Ausdruck des Individuums prägen und einengen« (Butler 2019b, S. 111). Damit steht Immobilität als die körperlich-performative Inszenierung im Gegensatz zur arendtschen Pluralität, die als politische Gemeinschaft mobiler Subjekte konzipiert ist. Die hartnäckige Zusammenkunft immobiler Körper manifestiert sich als eine politische Deklaration, die eine alternative politische Ordnung vorwegnimmt - eine Ordnung, die ein würdigeres Leben ermöglicht (vgl. ebd., S. 116). Diese Form des immobilen Widerstands macht die Bedeutung des Zusammenlebens anspruchsvoller und radikaler: Die Frage des Zusammenlebens auf einer Erde reduziert sich nicht auf das bloße Leben, das durch die hierarchische Differenzierung zwischen gutem Leben und bloßem Überleben sowie zwischen freiem Beweglichsein und lediglichem Bewohnen bestimmt ist. Vielmehr begreifen die immobile Widerstände Kohabitation als eine Aufforderung zur sensibleren und gleichberechtigteren Lebbarkeit. Die Gegenmacht aus den immobilen Körpern verkörpert in diesem Sinne eine Ambivalenz von Stark und Schwäche. Sie manifestiert sich als eine schwache Macht, die sowohl die Stärke der Gewalt zur
Selbstverteidigung als auch die ungleichen Grenzziehungen kritisiert, welche Leben in schutzwürdiges Leben und bloßes Überleben auf der Erde hierarchisch unterteilen (vgl. EP, S. 38).
Im Hinblick auf Immobilität ist die Forderung nach Zusammenleben eng mit der Forderung nach Gleichheit verbunden, die durch die Verringerung unerträglicher Gewaltwirkungen auf menschliches Leben erreicht werden kann. Die Kohabitation im Rahmen der Immobilität wirft daher kritische Fragen auf: Wie und inwieweit kann die Interdependenz als soziale Ressource zur Förderung von Gleichheit und radikaler Demokratie dienen? Wird der politische Anspruch auf die Kohabitation als eine globale Praxis der Kritik verstanden, ist zu klären, welche und wessen Interdependenzen vorrangig anerkannt werden können und welche und wessen hingegen nicht. Diese Fragen nach ungleich anerkannten Interdependenzen weisen demnach darauf hin, mit wem sich ein >Wir< schaffen lässt. Die Ausweitung egalitärerer Anerkennung gegenseitiger Interdependenz setzt voraus, dass alle Menschen als soziale Lebewesen zu >einer< Erde gehörig sind. Dennoch bleibt offen, warum bestimmte Interdependenzen allerdings gesellschaftlich als nachrangig oder gar nicht relevant gelten. Die Interdependenz großer Unternehmen wird beispielsweise fast ohne Weiteres anerkannt und unterstützt - etwa durch staatliche Finanzhilfen oder Steuervergünstigungen -, ohne dass die Unternehmen als unfähig, unselbstständig oder nutzlos kritisiert oder beschimpft werden. Im Gegensatz dazu werden Investitionen ins lebbare Leben der Prekarisierten im Hinblick auf die Reduzierung sozialer Kosten oft als unerwünscht betrachtet. Eine mögliche Antwort auf diese Ungleichheit bietet Kyoung-Seok Park, ein südkoreanischer Aktivist mit Behinderung, der in der Einleitung dieses Buches vorgestellt wurde. Bei einer Demonstration gegen Armut im Jahr 2022 warf er die Frage auf, warum die südkoreanischen Regierungen trotz mehr als 20-jährigen Widerstands von Menschen mit Behinderung deren Aufforderung nach Bewegungsfreiheit noch nicht nachkommen. Er beantwortete die Frage selbst: »Denn wir, die Behinderten, sind unproduktiv, nutzlos, vergeblich.«318
Noch einmal: Als politische Aufgabe hebt Kohabitation die Bedeutung der Interdependenz hervor und thematisiert, wie diese anerkannt wird und welche sozialen Kosten dabei zu tragen sind - insbesondere für diejenigen, »die wir uns nie ausgesucht haben« (AS, S. 36), die wir im Zuge unserer Selbstverteidigung und Selbstermächtigung als unproduktiv, nicht nutzbar oder gar vergeblich betrachtet haben. Dabei ist zu betonen, dass das politische Nachdenken über Interdependenz nicht notwendigerweise individualistische oder liberale Toleranz voraussetzt. Vielmehr liegt der Fokus darauf, dass die Maßstäbe der Gerechtigkeit sowie die weltweiten Grenzen der Lebbarkeit und Betrauerbarkeit von den Widerständen der schwachen, körperlich- performativen Immobilität abhängig festgelegt werden. In gewisser Hinsicht sind der sogenannte normale Alltag und die bürgerliche Gesellschaft auf diese verletzbaren Widerstände der Immobilität angewiesen. Anders ausgedrückt: Der körperlich-performative Widerstand der Immobilität - verkörpert durch die Menschen, die im physischen und politischen Sinne nicht frei beweglich sind und oft diskriminiert und unsichtbar behandelt werden - eröffnet der Gesellschaft einen alternativen Zugang zur Anerkennung und Unterstützung von Verletzbarkeit und Prekarität. Die
Frage der Kohabitation im Kontext globaler und lokaler Interdependenz ist daher nicht bloß eine Kritik und Praxis >für< die unsichtbaren und immobilen Prekarisierten, sondern vielmehr >mit< ihnen und >durch< sie. Denn gerade diese Menschen beharren im Aussetzen ihrer Verletzbarkeit und Prekarisierung und bringen durch ihren aktiv-passiven Widerstand einen Dissens in einen reibungslosen Status quo ein. Hierdurch tritt die von Verletzbarkeit und Prekarität ausgehende Performativität als eine radikaldemokratische Gegenmacht der Schwachen zutage.
Wenn Kohabitation mit der Immobilität als Form des Widerstandes einhergeht, wird sie zu einer politischen Forderung, die über die ungleiche Gewichtung der Betrauerbarkeit und die Logik der Selbstverteidigung hinaus das >Hier< und >Wir< dekonstruieren kann (vgl. EP, S. 154). Als ontologische Seinsform betont Immobilität einerseits die Verletzbarkeit und gegenseitige Angewiesenheit. Durch diese Vulnerabilität verbindet sie uns miteinander und zwingt uns, in der relationalen Interdependenz leidenschaftlich zu verharren. Andererseits kann Immobilität, untrennbar mit ihrer ontologischen Dimension verbunden, als Praxis der Gewaltlosigkeit eine performative und subversive Gegenmacht hervorbringen. In dieser Hinsicht bietet Immobilität einen Ansatz, gewaltsame Verhältnisse der Interdependenz zu transformieren und neue Rahmenbedingungen für Interdependenz zu organisieren, ohne dabei vorauszusetzen, dass diese Gewalt durch individuelle Souveränität und Handlungsfähigkeit überwunden werden kann. Die Interdependenz erweist sich in diesem Sinne als die Grundlage für die Gleichheit der Lebbarkeit und Betrauerbarkeit und fordert diese Gleichheit gleichermaßen ein. Das gleiche Recht auf Lebbarkeit - das Recht, in einem bewohnbaren Raum zu wohnen - und das gleiche Recht auf Betrauerbarkeit - die Unterstützung und den Schutz jeder Behausung - können durch die schwache, verletzbare und leidenschaftliche Gegenmacht der Immobilität vorangetrieben werden. Immobilität lässt sich somit als eine Ambivalenz zusammenfassen, die auf eine passiv-subversive, schwach-performative Subjektivität hinweist, die häufig scheitert und immer noch prekär bleibt. Dennoch sind es genau die Immobilität und die daraus ergebende schwache Kraft, die uns verbinden und uns dazu auffordern, eine radikalere Demokratie anzustreben.
Abkürzungen
Hannah Arendt
D Denktagebuch
EJ Eichmann in Jerusalem
FuP Freiheit und Politik
KuP Kultur und Politik
LGD Vom Leben des Geistes: Das Denken
LGU Vom Leben des Geistes: Das Urteilen
MuG Macht und Gewalt
UT Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft
ÜR Über die Revolution
VA Vita activa
WF Wir, Flüchtlinge
WiP Was ist Politik?
WuP Wahrheit und Politik
Judith Butler
AS Am Scheideweg
AV Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod
EG Kritik der ethischen Gewalt
EP Die Macht der Gewaltlosigkeit: Über das Ethische im Politischen
GL Gefährdetes Leben
KG Körper von Gewicht
ME Die Macht der Enteigneten
MG Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen
PM Psyche der Macht
TV Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung
RK Raster des Krieges
SL Sorgfältiges Lesen
SPZ Sprache, Politik, Zugehörigkeit
UG Das Unbehagen der Geschlechter
WW What World is this?
Literaturverzeichnis
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[...]
1 Handeln kann gemäß Arendt als eine spezifische Form des Sprechens definiert werden, die darauf hinweist, »in der Öffentlichkeit zu sprechen und gehört zu werden« (Arendt 1994, S. 248). Politische Freiheit basiert auf diesem Sprechen, das ebenso eine politisch-anthropologische und subjektstiftende Rolle einnimmt (vgl. Bajohr 2011, S. 85.). Diese konstruktive Form des Sprechens, in der das Menschsein und das Freisein der Pluralität zusammenfallen, wird in dieser vorliegenden Untersuchung als Redeakt bezeichnet, der sich von Sprechakt bei Butler unterscheidet, der sich im Anschluss an J. L. Austin und L. Althusser und J. Derrida entwickelt hat.
2 Kyoung-Suk Park, der Vorsitzende von SADD (Solidarity Against Disability Discrimination), kämpft seit über 20 Jahren für die öffentlichen Rechte von Menschen mit Behinderungen. Die Kernagenda von SADD ist das Recht auf Mobilität, Arbeit, Bildung und Deinstitutionalisierung. Park stellt heraus, inwiefern diese vier Rechte notwendig sind und ohne einander nicht funktionieren können, um Menschen mit Behinderung zur Anerkennung als Menschen zu verhelfen. Die besagte Form des >kämpferischen< Widerstands für das Recht auf öffentliche Mobilität, die von der Polizei als illegal betrachtet und gewaltsam unterdrückt wurde, bestand lediglich darin, dass Menschen mit Behinderungen versuchten, in die U-Bahn einzusteigen (einige Strecken mit der U-Bahn zu fahren) und aus der U-Bahn auszusteigen. https:// www.ohmynews.com/NWS_Web/View/at_pg.aspx?CNTN_CD=A0o02846127;https://www.beminor.com/news/ articleView. html?idxno=25997
3 Antonia Grunenberg fasst zusammen: »Während Macht und Freiheit nahezu synonym sind, da beide einander freisetzen und bedingen, ist das Handeln, aus dem Macht und Freiheit hervorgehen, von der Tatsache der Gemütlichkeit und der Sterblichkeit geprägt. [Beziehungen zwischen sterblichen Menschen - in denen Möglichkeiten des Handelns verborgen lägen - sind für Arendt das einzig dauerhafte Element im politischen Gemeinwesen.]« (Grunenberg 1995, S. 86).
4 Im Gegensatz zur Pluralität verwendet Arendt das Wort Kollektivität im negativen Sinne. Kollektivität bei Arendt bedeutet einerseits einfach eine Herde von Menschen, die ohne einander unterscheidbar sind und gegeneinander anonym bleiben. Selten weist Arendt andererseits auf Kollektivität als eine Staatsform hin, die ihrer Ansicht nach nicht politisch konstituiert wird.
5 »Anders als beim Herstellen geht es beim Arbeiten primär um die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse, die den Menschen in den Kreislauf der Natur einbinden. Wie die Naturprozesse wiederholt sich das Arbeiten permanent, während das Herstellen mit dem Wert endet« (Schönherr-Mann 2006, S. 122).
6 Arendt bestimmt Arbeit als die kreisförmige Bewegung der Körperfunktionen, die gewissermaßen durch die zweigeschlechtliche und biologische Gegenüberstellung zwischen männlicher Arbeit und weiblichem Gebären organisiert wird. »Daß die Sorge für die Erhaltung des Einzelnen Manne und die für die Erhaltung der Gattung der Frau oblag, [...] die beiden natürlichsten Funktionen des Menschen, das Arbeiten des Mannes, das der Nahrung dient, und das Gebären der Frau, das der Fortpflanzung dient, waren gleicherweise dem Drang und Trieb des Lebens untertan« (VA, S. 40). Hinzufügend argumentiert H. Bajohr im Anschluss an S. Benhabib, »dass Arendt keine dezidiert anti-feministischen Positionen vertritt« (Bajohr 2011, S. 53).
7 Anders als Arbeiten, das räumlich fest bedingt und in einem bestimmten Bereich verhaftet ist, sind das Denken und die Geistestätigkeiten frei von räumlichen und materiellen Bedingungen. Diese besondere Eigenschaft des Denkens wird in Kapitel I 1.2 und 2.2 sowie 5.1 thematisiert.
8 Im Vergleich mit der Theorie Butlers scheint mir die Ansicht von Arendt interessant, dass die Wiederholung als unproduktive und homogene Tätigkeit abgewertet wird und darüber hinaus Arbeit mit der Wiederholung im Zusammenhang steht. Welche spezifische Rolle Butler dem Begriff Wiederholung im Gegensatz zum arendtschen Verständnis zuteilt, wird im Kapitel III detailliert dargestellt.
9 Interessant ist, dass das Merkmal der Arbeit sich nicht verändert, wenn ein Arbeiter keinen Herrn hat und kein Sklave ist. Er wird durch die Arbeit selbst gezwungen und bleibt auch unfrei in der Arbeit verhaftet, denn »[d]er Arbeiter gerade arbeitet für sich, gezwungen von sich« (D, S. 366).
10 »Tun ist entweder poiesis und als solches kreativ, Herstellen von etwas Neuem, oder techne, technisch im Sinne des blossen Wiederholens der ursprünglichen poiesis und des blossen Benutzens von gegebenen Kräften und bereits gefundenen Regeln« (D, S. 283).
11 Ein Grund dafür, dass das Herstellen nicht als selber politisch, sondern als mittelbar bezeichnet wird, liegt in dem von Arendt unterschiedlich bestimmten Erscheinungsgrad: »Beim Herstellen fällt das ganze Gewicht der Erscheinung auf das Hergestellte, das der Tätigkeit ein Ende setzt und als dauerhafte Erscheinung nach der Tätigkeit fortbesteht. [...] Der Herstellungsprozeß wird mit dem Produkt abgeschlossen und zeichnet sich dadurch aus, hat also gegenüber Arbeiten eine differenzierte Erscheinungsform. Diese ist aber eigentlich allein das Produkt und nur uneigentlich die Tätigkeit« (Penta 1985, S. 20).
12 Obzwar Homo Faber nicht selten mit seinem Lehrling etwas fabriziert, ist er eigentlich allein tätig. Diese Isolierung hält Arendt als ein Schicksal von Homo Faber fest.
13 »[U]nd ohne die gleichen herstellenden Künste von Homo faber, aber jetzt auf ihrem höchsten Niveau, in der vollen Glorie ihrer reinsten Entfaltung, ohne die Dichter und Geschichtsschreiber, ohne die Kunst des Bildes und die des Erzählens, können das Einzige, was redende und handelnde Menschen als Produkt hervorzubringen vermögen, nämlich Geschichte [...] niemals sich so dem Gedächtnis der Menschheit einprägen, daß sie Teil der Welt wird, in der Menschen leben« (VA, S. 212).
14 Karlfriedrich Herb führt aus: »Um solche Privatheit zu schützen, ist Privateigentum vonnöten: Es garantiert das Welthaben des Privatmenschen. Wer in dieser Verknüpfung modernen Liberalismus wittert, sieht sich getäuscht. Zum Selbstzweck [...] kann das Private bei Arendt nicht aufsteigen« (Herb 2014, S. 31). Ja, Arendts Definition nach kann das Private an sich nicht in Erscheinung treten - sonst ist es nicht mehr das Private für die Öffentlichkeit, sondern das Soziale. Insofern das Eigentum als eine notwendige Bedingung für das politische Freisein betrachtet wird, das Eigentum, das sich nicht mit dem Bereich der Lebensbedürfnisse gleichsetzen lässt und das einen Raum des Denkens und Sprechens für die Erscheinung bereitstellt, bleibt m. E. eine kritische Möglichkeit, Arendts Erscheinung mit dem Liberalismus in Verhältnis zu setzen. Dass Arendts Eigentum nicht frei von Besitzindividualismus ist, wird im zweiten Kapitel thematisiert.
15 Trotz dieser Bestimmung von Arendt gibt es verschiedene Aspekte, wie sich das Verhältnis von Handeln und Sprechen verstehen lässt. Wie K. Meyer systematisch resümiert, fasst S. Benhabib die performative Kraft des Sprechens in Bezug auf Handeln auf. Demgegenüber unterscheidet M. Canovan den Begriff Handeln vom Sprechen: Handeln ist eine Tätigkeit vom Anfangen und Sprechen für die Enthüllung wie Erscheinung des Menschen. G. Kateb betont einen Zusammenhang zwischen Sprechen und Handeln. Betont wird nun, dass Arendt sich immer wieder zu der Überzeugung bekennt, dass Handeln mit Sprechen zusammenhängt. Eine weitere Präzisierung, welche Rolle Handeln besonders plastisch im Feld des Politischen spielt, erfolgt in den Kapitel 1.2 und 2.2 (vgl. K. Meier 2016).
16 Während in Arendts Theorie die Kontemplation sowie der ziel- und zweckgerichtete Verstand dem Herstellen zugeordnet werden, steht das Denken mit dem Handeln in Beziehung: »[...] der Verstand möchte die Welt organisieren und beherrschen. Dabei produziert er eine Vielzahl von technischen Welten, die jedoch keine gemeinsame Welt der Menschen herstellen, weil es ihnen nicht um das Gespräch der Menschen geht« (Schönherr-Mann 2006, S. 156).
17 In der Frage nach dem Zweck-Mittel-Verhältnis bzw. dem Selbstzweck liegt auch Arendts Unterscheidung zwischen dem Herstellen und Handeln. »Zwecklos - aber nicht sinnlos. Sobald man zweckmässig handeln will, handelt man nicht mehr, sondern braucht Gewalt in einer ihrer Formen« (D, S. 471).
18 Trotz arendtscher Unterscheidung müssen die beiden Begriffe aber nicht einfach mechanisch-dualistisch wie folgt verstanden werden: Versprechen gegenüber der Zukunft und Verzeihen gegenüber der Vergangenheit. Wichtig ist vielmehr, wie die beiden Arten des Handelns einen Neuanfang ermöglichen, d. h., wie sie eine unerwartete Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft öffnen. Versprechen spielt nach Arendt eine Rolle bei der Abgrenzung von der Vergangenheit, damit es mit einer unerwarteten Zukunft verbunden wird. Einen neuen Anfang zu setzen, ermöglicht Verzeihen durch eine Unterbrechung der Vergangenheit. In diesem Sinne ist Verzeihen eine Tätigkeit, die für die Zukunft steht. Durch die beiden kann Handeln in einer Zeitform des Zwischen liegen. Und dieses Zwischen, wie es gewöhnlich genannt wird, ist eine Gegenwart, die ohne Handeln, Versprechen und Verzeihen niemanden betreffen kann.
19 Ein anderes Beispiel von »Arendts Bild des Politischen als eines Ortes, wo der öffentliche Auftritt zum Selbstzweck wird, ist in [...] der modernen revolutionären Räte-Versammlung gezeichnet« (Marti 1992, S. 519).
20 In Anlehnung an Aristoteles führt Arendt aus, dass Polis eine hoch spezifische Organisation der Menschen war. »Aristoteles, für den das Wort <politikon> durchaus ein Adjektiv der Polis-Organisation und nicht eine beliebige Beziehung für menschliches Zusammenleben überhaupt war, meint keineswegs, daß alle Menschen politisch seien oder daß es Politik, nämlich eine Polis, überall gäbe, wo Menschen lebten« (WiP, S. 37).
21 Nach Ivana Perica stellt Bajohr die durch Institutionalisierung geprägte politische Öffentlichkeit heraus, die mit dem relativ gesicherten Raum verbunden ist, und diese Auffassung Bajohrs wird von Hanna Pitkin kritisiert, insofern sie »eine Lektüre [entwickelt], die den Raum des Politischen von der Institution und Institutionalisierung entbinden möchte« (Perica 2016, S. 108).
22 »Im Gegensatz dazu steht die >Assoziations<-Vorstellung des öffentlichen Raums. Dieser eröffnet sich immer dort und dann, wo, in Arendts Worten, >Männer im Einverständnis miteinander handeln« In diesem Modell ist der öffentliche Raum die Sphäre, >in der die Freiheit in Erscheinung treten kann<« (Benhabib 1991, S. 151).
23 Benhabib stellt fest, dass das Assoziationsmodell des Handelns »prozedural« ist, wodurch sich irgendein Ort der Kommunikation in den politischen Raum verwandeln lässt, während sie das agonale Handeln und dessen Raum als begrenzt und vorausgesetzt ansieht (vgl. Benhabib 1991, S. 152 f.). Auffällig ist, dass Benhabib in beiden Texten die arendtsche Politiktheorie als Essenzialismus liest. Daher wird Benhabib heftig kritisiert, da sie den arendtschen Begriff der Erscheinung und des Handelns als essenzialistisch missverstehe, weil sie das agonale Handeln als Manifestwerden des Inneren konzeptualisiere. Es fällt auch auf, dass ihrer Interpretation nach die Zweideutigkeit des Handelns der Zweideutigkeit der Öffentlichkeit entspricht. Benhabib denkt ihre Differenzierung des arendtschen Handlungsbegriffes mit dem Begriff der Öffentlichkeit sowie der Unterscheidung des öffentlichen Raumes zusammen, der dem privaten Bereich gegenübersteht. Nach Benhabib gibt es zwei Arten öffentlicher Räume: Zum einen den öffentlichen Raum in Bezug auf agonales Handeln, der institutionell und prinzipiell allen zugänglich ist, und zum anderen den Erscheinungsraum in Bezug auf narratives Handeln, der die Begrenztheit des Politischen und der Pluralität im Sinne von Arendt bezeichnet (vgl. Benhabib 2006, S. 205 ff.). Diese räumliche Differenzierung von Benhabib, die sich in der Spannung des Handlungsbegriffes in Bezug auf den Raum des Öffentlichen nochmals unterscheidet, schwingt m. E. im gegensätzlichen, aber zugleich füreinander notwendigen Verhältnis zwischen Handeln und Herstellen mit.
24 Rahel Jaeggi resumiert das benhabibsche Verständnis bezüglich der arendtschen Macht folgendermaßen: »Sie [Benhabib] problematisiert in ihrem Buch >The Redundant Modernism of Hannah Arendt< das Verhältnis Arendts zum Alltag, in dem sich ihr antimoderner Zug manifestiert, und versucht in einer kritischen Rekonstruktion von Arendts Handlungsbegriff, das Handeln, das sie als >narratives Handeln< versteht, in die alltäglichen Lebensvollzüge zu reintegrieren« (Jaeggi 1997, S. 66).
25 Mein eigener Einwand gegen Passerin d’Entreves, dass Arendts Handeln und ihr Politisches zwar als konstruktiv, aber nicht als performativ betrachtet werden können, wird in Kapitel 2.1 genauer thematisiert.
26 Eine verwandte Darstellung ist die von Bluhm (2012), der Arendts Handeln als kreativen Neuanfang betrachtet. Während der Terminus Innovativität die Maßstabslosigkeit im Prozess des Handelns hervorhebt, erweist sich die Kreativität des Handelns nach Bluhm »als Invention, als de[r] Entwurf des Neuen« (Bluhm 2012, S. 91). Er behauptet, dass der Schwerpunkt von Arendts Handelns im Anfangen und in der Möglichkeit des Neubeginns liegt, weniger im Prozess des Durchführens, inwiefern der gesetzte Anfang innovativ in Gang setzt (vgl. Bluhm 2012, S. 94).
27 Das Konzept der Selbstgestaltung des arendtschen Individuums wird in Bezug auf die Subjektivation im Kapitel II 2.2 noch einmal thematisiert.
28 Marchart vergleicht den Eintritt des Messias mit dem Handeln bei Arendt. Hier ist aber Handeln so zu verstehen, dass es sich immer und überall ereignen kann. » Jeder Augenblick kann, mit Benjamin gesprochen, die Pforte sein, durch die der Messias (= die Revolution) tritt, nur daß bei Arendt, und im Unterschied zu Benjamin, der Messias unablässig durch eine Unzahl von Pforten tritt, die sich überall dort öffnen, wo Menschen politisch zu handeln beginnen« (Marchart 2005, S. 135).
29 Schönherr-Mann merkt diesbezüglich an, dass Arendts Begriff der Pluralität gewissermaßen durch den von Jaspers beeinflusst ist. »Freiheit verwirklicht sich in Gemeinschaft. Ich kann nur frei sein in dem Maße wie die Anderen frei sind. [...]« (Karl Jaspers, Der philosophische Glaube 1948, S. 38, München 1954) (Schönherr-Mann 2006, S. 129).
30 »In ihrer Dissertation Der Liebesbegriff bei Augustin hatte sie festgestellt, dass die christliche Nächstenliebe den anderen per definitionem nicht in seiner weltlichen Bedeutsamkeit adressiert, sondern bloß indirekt, in seinem Bezug auf die Gnade Gottes, wodurch das menschliche Miteinander zu einem bloßen Durchgangsstadium degradiert und letztlich >zersprengt< werde« (Rebentisch 2022, S. 107f.).
31 Bei Arendt ist hingegen die politische Liebe, die der Liebe zum Leben entgegengesetzt wird, vor allem die Liebe zur Welt, Amor mundi, die Liebe zur Freiheit (vgl. WiP, S. 44). Die politische Liebe richtet sich auf die Welt, verankert sich in dem politischen Raum wie in der Polis, und durch die Räumlichkeit des Politischen wird die Liebe zur Freiheit bewahrt und begrenzt (KuP, S. 285). Es wird noch kritischer und schlimmer, wenn die Liebe in der Familienbeziehung, die zwischen zwei Menschen - bei Arendt gewöhnlich im Hinblick auf Heteronormativität ein Mann und eine Frau als Ehepaar - eingegangen wird, sich mit der Liebe zum Leben um des Lebens selbst willen verbindet. Diese Liebe zum Leben weist »eine Restriktion menschlichen Lebens auf die Reproduktion des >schier[en] Lebendigseins<« (Rebentisch 2022, S. 102) auf. Somit kritisiert Arendt heftig die Wertlosigkeit der privaten Liebesbeziehungen und warnt davor, dass »die Orientierung auf das Leben um des Lebens selbst willen oder die Brüderlichkeit oder beide zusammen politisch an Bedeutung gewinnen« (ebd., S. 103).
32 »Nur die Rede der Liebenden ist frei von dem >über<; in ihr spricht man mit dem Du wie mit sich selbst, weil dies Du das Du nur eines Ichs ist, so wie das Selbst das Selbst nur eines Ichs ist« (D, S. 214). Neben der Liebesbeziehung gibt es noch bei Arendt einen Bereich, durch den kein menschliches Zwischen entstehen kann. Insofern Arendt der Pluralität des Politischen die Einsamkeit der Philosophie gegenüberstellt, ist der Philosoph, der mit sich selbst flieht, »um den Dialog des Denkens führen zu können« (D, S. 464), außerstande, über die Welt zu sprechen.
33 Eine vergleichbare Position sieht man darin: »Die Freundschaft hat nicht genug Abstand von der Brüderlichkeit, von deren >alle Unterschiede verwischende[r] Distanzlosigkeit< Arendt sich doch im Namen der Pluralität immer wieder dezidiert abgrenzt« (Rebentisch 2022, S. 50)
34 Aus unterschiedlichen Perspektiven und wie verschiedene Theoretiker - beispielweise Madison und Montesquieu - hebt Arendt nicht selten die Rolle der Meinung und des Meinungsaustausches im Politischen hervor. »Es gehört zu den Freuden der Pluralität, dass die Welt sich niemals zwei Menschen in dem genau gleichen Aspekte zeigt« (D, S. 392). »Der grösste Teil des echten noXiTEÜsiv ist das lebendige Einander-Mitteilen der öö^a, das Hin und Her und Wider. In diesem Mit- und Gegeneinander sich zur Geltung zu bringen ist: äpioTEÜsiv« (D, S. 393).
35 »Nach Plato ist der Staatsmann derjenige, der Rat weiss (und der Ratgebende braucht keine Freunde wie der Handelnde) und Macht hat (und darum der Freunde, die zum Handeln wegen mangelnder Macht des Einzelnen erforderlich sind, entbehren kann)« (D, S. 80f.).
36 Als der gemeinsame Neuanfang unterscheidet sich die Revolution von der Befreiung, die das eklatante und gewalttätige Moment ihrer ersten Phase ist. Arendt unterscheidet nicht nur beide, sondern kritisiert an der Gleichsetzung von Revolution und Befreiung: »Daß Befreiung und Freiheit nicht dasselbe sind, daß Freiheit zwar ohne Befreitsein nicht möglich, aber niemals das selbstverständliche Resultat der Befreiung ist« (ÜR, S. 34f.).
37 Die politische Dynamik zwischen dem gemeinsamen Handeln als Revolution und Konstitution entsteht nicht allein aus dem Handeln, sondern aus der Wechselwirkung von Handeln und Herstellen.
38 »Der Mut [...] gehört bereits [...] zum Handeln und Sprechen als solchen, nämlich zu der Initiative, die wir ergreifen müssen, um uns auf irgendeine Weise in die Welt einzuschalten und in ihr die uns eigene Geschichte zu beginnen« (VA, S. 232).
39 Arendt fügt hinzu, dass »jedes Ereignis seine Wirksamkeit erst in der Erinnerung« (vgl. D S. 488f.) entfaltet, »die es geschichtlich macht« (vgl. D, S. 489). Bei ihr ist die Geschichte, »die von einem Handeln in Bewegung gebracht wird, [...] immer eine Geschichte der Taten und Leiden derer, die von ihr affiziert werden« (VA, S. 236f.). Die Geschichte, die aus der Erinnerung und dem Narrativ ausgeht, wird in Kapitel 5.1 genauer thematisiert.
40 »Wo einer etwas tut, gibt es immer einen, der etwas erleidet. Beides gehört zusammen. Der Ruhm eines Menschen besteht in der Art, wie er tut und wie er leidet« (D, S. 401).
41 Mit ihren Worten: » Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner« (MuG, S. 45).
42 Die reine Potentialität der Macht Arendts lässt sich »durch den Vergleich zu der Entstehung einer Symphonie verdeutlichen, worauf Hannah Arendt in ihrer Diskussion der Kontingenz des Wollens mit Bezug auf Bergson anspielt« (Penta 1985, S. 99). Penta versucht zu erklären, dass »eine außerordentliche Konvergenz zwischen Hannah Arendts Machtbegriff und einem hermeneutisch verfaßten Begriff der Sprachlichkeit besteht« (ebd., S. 105). Nach Penta lässt sich die kontingente Beziehung zwischen den musikalischen Noten und einer Symphonie mit Gesprächen und der Sprache vergleichen: »Die Spontaneität der Sprache geht dem Gedanken nicht voraus, sondern jeder Gedanke ist als Gedanke schon sprachlich verfaßt. Doch kann man nicht behaupten, daß die Sprache die Gedanken schon enthält. Es ist aber gerade diese Art von der Sprache her zu entwickelnde Potentialität, die Hannah Arendts Charakterisierung der Macht entspricht« (ebd., S. 100).
43 Arendt behauptet jedoch andererseits, dass »die bürgerliche Gesellschaft der Neuzeit ihre Kategorien dem Paradigma des Eigentums nachordnete« (von Redecker 2023, S. 59f.). Demnach basiert der moderne bürgerliche Staat, den Arendt mit Hobbes’ Leviathan analysiert, auf der Akkumulation von Macht, die mit der Besitzakkumulation einhergeht (vgl. ebd.; UT, S. 323f.).
44 Sie führt dafür einige Beispiele an wie Sklavenhaltung in der Antike, Partisanen im Vietnamkrieg, Rebellierende an der Universität etc.
45 Arendt erwähnt ferner, dass es möglich sei, dass Autorität mit Macht zusammenfällt. Aber »[d]ieser Art Macht, die sich als souverän und als Autorität aufspielt, eignet es in der Tat, immer Unrecht zu tun. Daher kam die Macht >moralisch< in Verruf« (D, S. 186).
46 Katrin Meyer fasst die Machttheorie von J. Habermas im Anschluss an Arendt wie folgt zusammen: »So kann man erstens versuchen, den Prozess der anfänglichen, gemeinsamen Willensbildung so zu definieren, dass er strengen Kriterien folgen muss, die auf den Bruch mit Hierarchien, Manipulationen und strukturellen Zwängen abzielen. Dies ist der Weg, den Jürgen Habermas im Anschluss an Arendt einschlägt. Der Willensbildungsprozess, durch den sich eine Gemeinschaft etabliert, ist demnach zugleich der Prozess, in dem strukturelle Machtverhältnisse, die einem egalitären Konsens entgegenstehen, kritisiert und überwunden werden können. Der gemeinsame Anfang, so Habermas, verdankt sich der Macht diskursiver Kritik« (Meyer 2016, S. 47).
47 Andererseits fasst Brunkhorst den Unterschied zwischen den Machtbegriffen von Arendt und Habermas zusammen. Anders als Habermas betont Arendt die Konkretheit der Macht, welche sich durch die Erscheinung in der Pluralität kennzeichnet: »Dieses Verständnis von Wahrheit und Wirklichkeit ist jedoch auf die Anwesenheit derer, die die Sache aus ihren verschiedenen Perspektiven betrachten, angewiesen. Sie [Arendt] lässt sich nicht aus dem öffentlichen Raum abstrahieren, in dem sie erscheint. Hier liegt der Unterschied zu Habermas, das kommunikativen Geltungsansprüchen verknüpft, die ihr eine von der je konkreten politischen Gemeinschaft unabhängige Legitimität sichern sollen. [...] Für Arendt kommt es nämlich gerade auf die konkrete Erscheinung der Sache und nicht auf den abstrakten Sachverhalt an« (Brunkhorst 1999, S. 132).
48 In dieser habermasschen Kritik an Arendt steckt der Einwand, dass die arendtsche Macht- und Politiktheorie für die moderne Gesellschaft nicht geeignet ist. Seiner Meinung nach sind die radikale Gleichsetzung des Handelns, des Freiseins und der Politik sowie die scharfe Abgrenzung des Gesellschaftlichen vom Politischen die Gründe für den Mangel an Realismus in der arendtschen Politiktheorie. »[I]ch will nur an die eigentümliche Perspektive erinnern, von der Hannah Arendt sich leiten läßt: ein Staat, der von der administrativen Bearbeitung gesellschaftlicher Materien entlastet ist; eine Politik, die von Fragen der Gesellschaftspolitik gereinigt ist; eine Institutionalisierung öffentlicher Freiheit, die von der Organisation der Wohlfahrt unabhängig ist; eine radikale demokratische Willensbildung, die vor gesellschaftlicher Repression haltmacht - das ist kein denkbarer Weg für irgendeine moderne Gesellschaft« (Habermas 1979, S. 295f.).
49 Es lässt sich sagen, dass Meyer in ihrer Arbeit versucht, den normativen Anspruch der arendtschen Machtkonzeption mit ihrer Vielschichtigkeit zu versöhnen.
50 »Der Extremfall der Macht ist gegeben in der Konstellation: Alle gegen Einen, der Extremfall der Gewalt in der Konstellation: Einer gegen Alle« (MuG, S. 43).
51 Meyer bezeichnet diese Machtteilung in staatliche und zivilgesellschaftliche Instanz als vertikale und horizontale Beziehung. »Politische (staatliche) Autorität ist demnach nur dann legitim, wenn sich die vertikale Unterordnung der Bevölkerung unter das Gesetz einem horizontalen Konsent zwischen allen Bürgerinnen und Bürgern verdankt und in einen solchen immer wieder übersetzbar ist. Umgekehrt müssen horizontale Bindungen innerhalb des Volkes die Autoritäten von Gesetz und Verfassung erzeugen und stabilisieren können« (Meyer 2016, S. 112).
52 Die Gemeinsamkeiten des Machtbegriffes zwischen Arendt und Foucault scheinen ebenfalls deutlich, wie M. Saar in Bezug auf den Machtbegriff von Foucault zusammenfasst: »Macht >gehört< niemandem; sie besetzt keinen eindeutigen Ort oder ist nicht eindeutig bestimmten Institutionen allein zuzuordnen; sie ist mehr als die Durchsetzung eines bestimmten sozialen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisses; und sie fügt sich nicht der Alternative, dass sie soziale Ordnung entweder durch Gewalt oder ideologische Manipulation herstellt« (Saar, in: Machtanalyse nach Foucault: 40 Jahre Überwachen und Strafen, S. 3).
53 Schönherr-Mann erwähnt auch, dass Arendts konstitutiver Machtbegriff mit dem von Foucault verglichen werden kann. Mit seinen Worten: »Damit antizipiert Arendt jenen Begriff von Macht, den auch der späte Michel Foucault entwickelt und mit dem er seine frühe Konzeption der Macht als Repression und Disziplinierung hinter sich läßt« (Schönherr-Mann 2006, S. 143).
54 Eine weitergehende Auseinandersetzung mit den Begriffen von Macht, Freiheit und Raum findet sich im Kapitel 5.2, insbesondere in Bezug auf die Transponibilität.
55 Amy Allen sagt deutlich, dass das Machtkonzept von Arendt und Foucault sich relational präsentiert. Aber sie macht auch auf den Unterschied zwischen beiden aufmerksam. Über die Macht von Foucault lasse sich die strategische und produktive Seite betonen, während Allen die Macht von Arendt eher als kommunikativ und normativ auffasst (vgl. Allen 2002, S. 142). Meines Erachtens beruht dieser Unterschied auf der Eigenschaft der Relationalität von Macht. Die Normativität der arendtschen Macht kommt aus den Handelnden, aus denen die Macht entsteht, und die nach Freiheit streben.
56 Ferner wirft Saar die Frage nach der Subjektivität bei Foucault auf: »Er bleibt systematisch zurückhaltend darin, auszubuchstabieren, wie auch im Subjekt bei aller Formierung und Konstitution von außen im Inneren die Fähigkeit zur Reflexion und zum Handeln entsteht und wie diese Kräfte nutzbar sind« (Saar 2013, S. 166).
57 Jaeggi macht auf die Ambivalenz aufmerksam, dass Arendt einerseits das Politische vom Privaten wie Gesellschaftlichen scharf abgrenzt, andererseits das Politische von Anfang an radikal konstitutiv definiert. Davon ausgehend betont Jaeggi, die arendtsche Grenzziehung zwischen dem Politischen und Sozialen sei als »eine Unterscheidung zu verstehen, die sich weniger auf Gegenstandsbereiche als vielmehr auf den Modus der Thematisierung von Fragen bezieht« (Jaeggi 2007, S. 244).
58 Neben dem theoretischen Ziel Arendts, festzulegen, dass das Politische und die politische Organisation von der Freiheit ausgehen und auf ihr basieren, lieferten die Gewalttätigkeit der Studentenbewegung und ihre Verherrlichung der Gewalt unter dem Einfluss von Sorel und Sartre in den Sechziger Jahren einen historischen und aktuellen Hintergrund, um Macht von Gewalt zu unterscheiden (vgl. Penta 1985, S. 60).
59 Meines Erachtens führt Arendt aus, dass das Politische in ihrer theoretischen Systematik mehr als etwas Gewaltloses und Gewaltfreies zu begreifen ist. Zudem bin ich aus dieser Perspektive nicht der Meinung von Solmaz: Beispielsweise fasst er zusammen, dass Arendt »zum einen ein neues Verständnis des Politischen entwickelt, das sich durch Gewaltlosigkeit auszeichnet, zum anderen hat sie einen neuen Begriff der Gewalt konzipiert, in dem Gewalt ein apolitisches Phänomen darstellt. Ihre politische Theorie ist somit ein Versuch, Politik und Gewalt voneinander zu trennen bzw. einen Begriff von einer gewaltfreien Politik genauso zu entwickeln wie den Begriff einer apolitisch verstandenen Gewalt« (Solmaz 2016a, S. 145).
60 In ihrem berühmten Buch Macht und Gewalt nähert Arendt Gewalt an Stärke an, »da die Gewaltmittel, wie alle Werkzeuge, dazu dienen, menschliche Stärke bzw. die der organischen >Werkzeuge< zu vervielfachen, bis das Stadium erreicht ist, wo die künstlichen Werkzeuge die natürlichen ganz und gar ersetzen« (MuG, S. 47).
61 »Macht bedarf keiner Rechtfertigung, da sie allen menschlichen Gemeinschaften immer schon inhärent ist. Hingegen bedarf sie der Legitimität. Macht entsteht, wann immer Menschen sich zusammentun und gemeinsam handeln, ihre Legitimität beruht nicht auf den Zielen und Zwecken, die eine Gruppe sich jeweils setzt« (MuG, S. 53).
62 »Die Vorurteile, die in der heutigen Krise einem theoretischen Verständnis von dem, worum es in der Politik eigentlich geht, entgegenstehen, betreffen nahezu alle politischen Kategorien, in denen wir zu denken gewohnt sind, vor allem aber die Zweck-Mittel-Kategorie, die das Politische unter einem außerhalb seiner selbst liegenden Endzweck versteht, ferner die Vorstellung, dass der Inhalt des Politischen die Gewalt ist, und schließlich die Überzeugung, dass Herrschaft der zentrale Begriff der politischen Theorie sei« (WiP, S. 79).
63 Dazu: »Denn >[w]as Menschen herstellen können, kann von ihnen auch wieder vernichtet werden, was sie zerstören, kann von ihnen auch wieder aufgebaut werden. Das Zerstören- und das Herstellen-Können halten sich die Waage. Die Kraft, die die Welt zerstört und ihr Gewalt antut, ist noch die gleiche Kraft unserer Hände, die der Natur Gewalt antat und ein natürliches Ding zerstörte - etwa einen Baum, um Holz zu gewinnen, um etwas Hölzernes herzustellen -, um Welt zu bilden< (WiP, 81)« (Solmaz 2016a, S. 154).
64 Solmaz unterscheidet das vorpolitische Handeln als den agonalen Neuanfang vom politischen Handeln als deliberativem Sprechakt. Ich bin mit seiner Unterscheidung nicht ganz einverstanden, insofern - ganz grob gesagt - Solmaz die Mobilität von Arendts Politiktheorie in die vorpolitische Dimension verschiebt.
65 Aber dies bedeutet nicht, dass sich Handeln, aus dem die Pluralität entsteht, als eine voluntaristische Handlung ansehen lässt. Das Prinzip des Handelns, woran das Wollen sich orientiert, liegt beispielsweise nicht in einer kausalen Kette wie im Fall des Herstellens, sondern vielmehr in seinem Vollzug selbst (vgl. Rosenmüller 2013, S. 60 f.).
66 Die Unverträglichkeit zwischen Sprache und Gewalt formuliert Walter Benjamin ebenfalls: »daß es eine in dem Grade gewaltlose Sphäre menschlicher Übereinkunft gibt, daß sie der Gewalt vollständig unzugänglich ist: die eigentliche Sphäre des Verständnisses, die Sprache«« (Penta 1985, S. 65).
67 1. »Erstens kann Gewalt durchaus einen selbstzweckhaften Charakter annehmen und ,autotelisch‘ sein (Reemtsma 2008, 108 ff.); zumindest kann sie [...] neben ihrer instrumentellen Funktion auch eine nicht-substituierbare Form der Manifestation von Macht sein«. (Strecker 2014, S. 108f.). 2. »Umgekehrt fügen sich zweitens die Beispiele, die Arendt selber anführt, nicht der Charakterisierung von Macht als etwas, das im Gegensatz zur Gewalt nicht durch Repression und Konflikt charakterisiert sei. [...] [I]mmer geht es um konfrontative Situationen, Konfliktkonstellationen und Beziehungen sozialen Widerstreits. Schon dies ist ein Indiz für die grundlegende soziale Bedeutung der Repressionsfunktion von Macht« (ebd., S. 109). 3. »Ferner sprechen auch einige begriffliche Unklarheiten dagegen, dass es Arendt gelungen sein könnte, repressive Macht als bloß abgeleitete Form von konstitutiver Macht zu konzipieren. In der Bestimmung des Verhältnisses von Macht und Herrschaft bleibt sie nämlich widersprüchlich. [...] Nur aus der Teilnehmerperspektive der Akteure handelt es sich hierbei um einen Gegensatz [alle gegen einen vs. einer gegen alle: Choi]; aus der Perspektive einer soziologischen Beobachterin hätte Arendt dagegen erkennen müssen, dass es sich in beiden Fällen um ein und dieselbe Konstellation handelt« (ebd.) 4. »Diese Probleme ergeben sich letztlich aus Arendts unzulänglicher Beschreibung der Machtbasis. [...] [W]eil ihr ein Kriterium fehlte, anhand dessen sich zwischen freiwilliger und faktischer Zustimmung, zwischen einem authentischen Konsens und einem auf Gewaltverhältnissen beruhenden (ideologischen) Scheinkonsens unterscheiden ließe« (ebd., S. 110).
68 Mit den Begriffen Konsens und Agon stellt Meyer fest, dass Arendts Macht eine offene politische Dynamik annimmt (vgl. Meyer 2016, S. 102, 119).
69 1. »Der erste Effekt der Dramatisierung besteht darin, Aufmerksamkeit und öffentliches Interesse zu erzeugen. [...] Dramatisierung heißt also, Missständen eine öffentliche Bühne bereitzustellen und sie sichtbar zu machen« (Meyer 2014, S. S. 23). 2. »Dramatisierende Gewaltaktionen wirken zweitens sinnhaft und kommunikativ. [...] Die Hoffnung einer gewalttätigen Protestbewegung mag sein, dass sich die Herrschenden selbst entlarven, das heißt, dass sie ihre Masken ablegen und auf der Bühne ihr wahres Gesicht zeigen. [...] Dieser Bezug zur Wahrheit verbindet die entlarvende Gewalt wiederum mit dem politischen Handeln. So ist die gewaltförmige Provokation zwar kein Ausdruck vernünftiger Deliberation, aber dennoch eine Form sinnhafter Praxis« (ebd., S. 24). 3. »Dramatisierende Gewalt entsteht drittens aus einem Affekt und appelliert an Leidenschaft und Gefühle. Sie evoziert Reaktionen des Abscheus, der Solidarität oder des Mitgefühls, die wiederum in Wut und Empörung münden und zu neuem Protest anstacheln können« (ebd., S.25).
70 »Damit unterscheidet Arendt zwei Formen der Unterbrechung, die sich leicht verwechseln lassen. Mit den zwei augus- tinischen Begriffen des Anfangens aus der Vita activa lassen sich diese beiden Unterbrechungstypen näher konturieren: Während der eine Anfangstyp, das principium, als causa ein Kausalkette in Gang setzt und mit der Schöpfung durch Gott gleichgesetzt wird, ist das initium (VA 166, 353; Anm. 3) in Augustinus’ etwas rätselhafter Bestimmung auf den innerweltlichen Charakter des Menschen bezogen« (Rosenmüller 2013, S. 55).
71 »Entschließt man sich aber, daran festzuhalten, daß das Ziel einer Rebellion nur die Befreiung ist, während das Ziel der Revolution die Gründung der Freiheit ist, so wird wenigstens die politische Wissenschaft sich nicht von der Geschichtswissenschaft dazu verlocken lassen, den Akzent auf das Anfangsstadium der Revolution zu legen, das für den Historiker natürlich viel reizvoller ist, weil der Aufstand gegen die Zwangsherrschaft nahezu alle eigentlich dramatischen Elemente der Geschichte enthält, die er zu erzählen hat« (ÜR, S. 184).
72 Über das Verhältnis von Macht und Pluralität in diesem Hinblick siehe auch Schulze Wessel 2013a, S. 41-57.
73 Ein Kommentar im Deutschlandfunk argumentiert: »Strafverfolgung darf nicht bei der Machtclique um Putin enden« https://www.deutschlandfunk.de/den-haag-putin-kriegsverbrechen-100.html
74 Arendt sagt deutlich: »[E]ine Tyrannis [braucht] doch keineswegs durch Unproduktivität und Schwäche der Einzelnen charakterisiert zu sein. Wenn der Tyrann >aufgeklärt< genug ist, um seine Untertanen in ihrer Isoliertheit in Frieden zu lassen, können Künste und Wissenschaften blühen« (VA, S. 256).
75 Arendts Auffassung über die Bürokratie ist mit Max Weber vergleichbar. »Insbesondere die Bürokratie charakterisiert Weber immer wieder als Maschine oder als Mechanismus. Die formal-rationale Bürokratie basiert auf straffer arbeitsteiliger Organisation, hierarchisch abgestuften Gehorsamsverhältnissen, fachlicher Schulung und vor allem auf einer sachlichen Erledigung ihrer Aufgaben nach berechenbaren Regeln« (Thaa 2005, S. 33). Diese regelgebundene >kühle Sachlichkeit funktioniert ohne >Ansehen der Person< und kann mit materialen Gerechtigkeitsvorstellungen kollidieren, ganz ähnlich wie die kapitalistische Geld- und Gewinnrechnung sich von gesellschaftlichen Bedürfnissen und Produktionszielen lösen kann« (Thaa 2005, S. 33f., 40).
76 In Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft findet sich eine besondere Form der Bürokratie. Arendt nennt sie »die totalitäre Bürokratie«, die »sich in alle Angelegenheiten der Bürger, private wie öffentliche, seelische wie äußere mit gleicher Konsequenz und Brutalität einzuschalten verstanden [hat]« (UT, S. 520). Anders als bürokratische Regime, »[werden] die totalitären Regime mit der Spontaneität und Produktivität in allen Zweigen menschlicher Tätigkeit fertig. Der politischen Unproduktivität folgte die totale Sterilität« (UT, S. 520 f.).
77 Beispielsweise fasst Arendt Eichmanns eigene Argumente theoretisch zusammen: Jeder, »von ganz oben bis ganz unten, der irgendetwas mit öffentlichen Angelegenheiten zu tun hatte, war tatsächlich ein Rädchen« (Arendt 1991, S. 26), »also [muss] jede Person ersetzbar sein, ohne dass das System geändert wird« (ebd., S. 25).
78 »In dieser Verlassenheit gehen Selbst und Welt, und das heißt echte Denkfähigkeit und echte Erfahrungsfähigkeit, zugleich zugrunde« (UT, S. 977)
79 In dieser Hinsicht spielt Terror als Waffe des Totalitarismus eine weitere wichtige Rolle, um Menschen, die ohne rechtliche Gründe inhaftiert werden, in Vergessenheit geraten zu lassen.
80 Für eine ausführliche Diskussion siehe Kapitel 4.2, Untertitel »Totalitarismus als Facette der Biopolitik«.
81 »In Wahrheit gab es nur einen Weg, im Dritten Reich zu leben, ohne sich als Nazi zu betätigen, nämlich, überhaupt nicht in Erscheinung zu treten: sich aus dem öffentlichen Leben nach Möglichkeit ganz und gar fernzuhalten war die einzige Möglichkeit, in die Verbrechen nicht verstrickt zu werden, und dieses >Nichtteilnehmen< war das einzige Kriterium, an dem wir heute Schuld und Schuldlosigkeit des einzelnen messen können [...] (EJ, S. 221)« (Marchart 2005, S. 117 f.).
82 Aber als eine Lösung ist die Nichtteilnahme schon bei Arendt selbst problematisch. Denn dies betrifft ebenso die Frage, ob es nach Arendt möglich ist, >überhaupt nicht in Erscheinung zu treten« wenn man unter der Erscheinung nicht nur einen unerwarteten Neuanfang versteht, sondern eine Methode, Person zu werden, als Mensch gültige - im arendtschen Sinne weltliche - Öffentlichkeit zu erhalten (dies wird im Kapitel II. 2.1 thematisiert). Weil »sich totale Herrschaft auf alle Bereiche des Lebens [erstreckt], nicht nur auf den politischen« (Arendt 1991, S. 30), kann man unter dem Totalitarismus »juristischer und moralischer Verantwortung aus dem Weg gehen« (ebd., S. 31), wenn man das öffentliche Leben im engeren Sinne fasst. Die politische Verantwortung bleibt in diesem Fall umstritten.
83 Die Selbstentfaltung und die Freiheit der Bürger der Ersten Welt basieren in gewissem Maße auf dieser Ausbeutung. Beispielsweise werden viele Frauen aus ärmeren Ländern von der privilegierten weißen Klasse auf unterschiedliche Weise ausgebeutet - sei es als weibliche Arbeitskräfte, insbesondere im Pflegebereich, oder durch kommerzielle Leihmutterschaften in Indien.
84 Diese Proteste zeigen im arendtschen Sinne, dass die menschliche Fähigkeit zu sprechen keine Garantie dafür bietet, nicht zum aneu logou degradiert zu werden (vgl. ebd., S. 161). Arendt definiert den Menschen in Anlehnung an Aristoteles als ein Wesen, das über die Macht der Sprache und des Denkens verfügt (Gündogdu 2015, S. 158). Wer sich in der Polis nicht öffentlich äußern konnte - wie die Sklaven und Barbaren außerhalb der Polis - war aneu logou (vgl. ebd.).
85 Die meisten der von Guantanamo-Häftlingen verfassten Gedichte wurden vernichtet oder konfisziert, da das Pentagon behauptete, dass »Gedichte aufgrund von »Inhalt und Form< »eine besondere Gefahr< für die nationale Sicherheit [darstellten]« (RK, S. 59). Butler fragt hingegen kritisch, »was an Inhalt und Form der Gedichte so gefährlich sein soll« (ebd.). Diese Zensur und Vernichtung der Gedichte zeigen aber ironischerweise die Kraft des Sprechakts in extremer Situation deutlich - z. B., ein Gedicht, das einen Krieg für den Frieden hinterfragt. »Frieden, sagen sie. Frieden des Geistes? Frieden auf Erden? Welcher Frieden? Ich sehe sie reden, streiten, kämpfen - Was für einen Frieden suchen sie? Warum töten sie? Was planen sie? Ist es nur Gerede? Warum streiten sie? Ist es so einfach zu töten? Ist das ihr Plan? Ja, natürlich! Sie reden, sie streiten, sie töten - Sie kämpfen für den Frieden« (RK, S. 60).
86 Ein Gedicht von Al-Haj: »Ich wurde in Fesseln gedemütigt. Wie kann ich Verse schreiben? Wie kann ich jetzt noch schreiben? Nach den Fesseln und den Nächten und dem Leid und den Tränen, Wie kann ich Gedichte schreiben?« (RK, S. 59)
87 In diesem Sinne verweist die Gewalt des privaten Bereichs weniger auf die grausame Unterdrückung oder den Zwang der Reproduktion als vielmehr auf das bestimmte Verhaftetsein, das im Gegensatz zur Erscheinung das Überflüssigsein und Entwurzeltsein hervorruft (vgl. D, S. 337). Wenn man nicht im politischen Erscheinungsraum aufsteigen kann, wird die Chance vertan, »in die endlose Welt der Menschen ein[zutreten] und an der Unsterblichkeit [der Pluralität: Choi] [zu partizipieren]« (D, S. 284).
88 Zum Beispiel: Als ein Phänomen der Pluralität ruft die Macht die Freiheit hervor und in demselben Moment pluralisiert sie sich innerhalb des bestimmten Raums, und zwar des politischen Handlungsraums, in dem die Macht immer neu etabliert, bewahrt und erweitert wird bzw. werden kann (vgl. Brunkhorst 2007, S. 14, Volk 2010, S. 264).
89 Arendt zieht die Perspektive der Performativität Nietzsches in Betracht, weil sie nicht nur gegen die vorausgesetzte innere Essenz ist. Sie knüpft Nietzsches Kritik vielmehr deshalb an ihrer Politiktheorie an, weil sie ein Bollwerk gegen Kausalitätsbetrachtung im politischen Bereich aufzubauen versucht, die den unberechenbaren Neuanfang in den linearen und berechenbaren Prozess verwandelt (vgl. D, S. 113f.).
90 Er hält fest: »The expressivist concept assumes a core self, a basic or essential unity of innate capacities that are expressed, actualized or concretized in the world of appearances« (Villa 1995, S. 90).
91 »Diese Maske hatte offenbar eine doppelte Funktion: sie sollte das natürliche Gesicht des Schauspielers verbergen oder besser ersetzen, und sie mußte gleichzeitig so konstruiert sein, daß die natürliche Stimme noch durchklingen konnte« (ÜR, S. 135f.).
92 Kurbach fasst die Funktionen der geistigen Tätigkeit bei der Erscheinung zusammen: »Die geistigen Tätigkeiten bieten als geistige Erfahrungen je unterschiedlich Gelegenheit zu solch einem >Vor sich selbst erscheinen^ bezeichnen ein Selbst-Verhältnis, in dem wir je anders erscheinen: im Denken ist es das >Zwei-in-einem<, das ideale freundschaftliche Verhältnis, das die Möglichkeit zum kritischen, angeregten Austausch gibt; im Wollen ist es der Zwist mit sich selbst, die Uneinigkeit mit sich selbst, die dennoch beredtes Zeugnis von der eigenen Individualität in Form des eigenen Wollens gibt, und im Urteilen - so die Mutmaßung - könnte es der plurale dauerhafte Disput sein« (Kurbacher 2023, S. 19).
93 Arendt unterscheidet das wahre transzendentale Verstehen von dem Verstehen, »das dem Wissen vorausgeht« (Straßenberger 2005, S. 84), und von den Objekten der Wissenschaften. Das Verstehen sucht keine eindeutigen und endgültigen Ergebnisse, sondern ist eine nicht endende Bemühung, die das Geschehene in der Welt sprachlich, interpretativ und perspektivisch erfasst (vgl. Straßenberger 2005, S. 19).
94 Die gemeinsam erscheinende Welt entdeckt sich stets schon als verschiedenartig, insofern sie je nach Standpunkt, Meinung und Wahrnehmungsorgan anders erscheint. Doch dies heißt nicht, dass die Welt je nach Wahrnehmung beliebig konstituiert wird und erscheint. Die Wirklichkeit folgt dem Gemeinsinn, den Arendt als das Mittel des Verstehens betrachtet (vgl. D, S. 317).
95 Eine Weigerung des Verstehens bedeutet umgekehrt bei Arendt, »dass derjenige, der sich nicht um seine Verwurzelung bemüht, auf ein Verstehen der gemeinsamen Welt verzichtet und sich mit seiner eigenen Perspektive zufrieden gibt, sich also auf sie und eine gewisse Weltfremdheit beschränkt« (Heuer 2012, S. 259). Die Folge des Verzichtes auf Verstehen ist es, außerhalb der Pluralität zu sein.
96 Aber bei dieser Einbildungsfähigkeit geht es »weder um Einführung noch darum, mit Hilfe der Vorstellungskraft irgendeine Majorität zu ermitteln und sich ihr dann anzuschließen« (WuP, S. 342). Vielmehr ist Denken eine Geistestätigkeit, um sich durch bestimmte repräsentative Diskussionen von den anderen zu differenzieren und sich zu positionieren.
97 In diesem Sinne hat Judith Butler Recht, dass das Denken »eine allokative Dimension [hat], die die zentrale Rolle der freien Selbstkonstitution in ihrer Haltung unterstreicht« (AS, S. 200).
98 Das Notwendige wird in dem Privaten eingeordnet, das als Raum für »Grundbefindlichkeiten des unpolitischen Menschen« (VA, S. 77) nicht nur das unauflösbare Geheimnis der Natalität, Leiblichkeit und Mortalität gewährt.
99 Es fällt auf, dass die politische Freiheit und das Recht auf Mobilität auf dem Recht auf Rückzug und auf das Nicht- beobachtet-Werden beruht (vgl. Perica 2016, S. 111f.).
100 Die Räumlichkeit und die das Politische umfassende Materialität, die aus dem Herstellen kommt, spielt eine entscheidendere Rolle, wie Arendt selbst betont. Herstellen leistet einen Beitrag dazu, das menschliche Alltagsleben zu bilden bzw. zu unterstützen und das Zwischen zu regulieren: »Gesetze regeln den >politische<, d. h. den Bereich des Zwischen der menschlichen Welt. Wo immer dies Zwischen, das zugleich Abstand und Verbindung herstellt und als solches den Raum konstituiert, in dem wir uns miteinander bewegen und gegeneinander verhalten, durchschlagen wird, also in der Liebe zum Beispiel, gelten Gesetze nicht mehr, verlieren sie ihre Relevanz« (D S. 150). Die Erscheinung bei Arendt kennzeichnet sich durch die Bewegung zwischen zwei Heimaten, von den eigenen vier Wänden über die Gesetzmauer hin zur Dingwelt, in der das menschliche Zwischen in Erscheinung tritt. Nun weist das Herstellen auf eine Tätigkeit hin, durch die die erste Heimat, die man für das freie Leben verlassen soll, und die zweite Heimat, die als die Räumlichkeit der Mitwelt die Dingwelt ist, gebildet wird.
101 »If personhood ist an artifact, and not an inherently given essence - if there is no intrinsic overlap between humanness and personhood, in other words - then it is quite possible that not every human being is automatically recognized as a person« (Gündogdu 2015, S. 102).
102 »Theaterspielen, [...] Reden halten, Argumentieren, [...] sich versammeln, etwas versprechen, etwas verzeihen, Geschichten erzählen, [...] Zustimmen, Meinungen äußern, [...] eine Revolution machen, Urteile verkünden, [...] eine Stadt oder einen Staat gründen, einen Wettstreit oder einen Zweikampf austragen, homerische Heldenstücke vollbringen [...] usw.« (ebd.).
103 Obzwar Arendt den Begriff Manifestieren nicht ausführlich entwickelt, führt sie im Denktagebuch eine Unterscheidung zwischen »Erscheinen - Sichzeigen - Manifestieren« (D, S. 740) durch. Mit dem Terminus Manifestieren kann man z. B. den spezifischen Status des Denkenden vorstellen, der zwar nicht erscheint, aber auch nicht mit dem Arbeitenden gleichgesetzt wird.
104 Neben dem räumlichen Rahmen der Bewegungsfreiheit kann auch argumentiert werden, dass sich Arendts Konzept des Verzeihens als ein Beispiel des zeitlichen Rahmens der Bewegungsfreiheit auffassen lässt. Verzeihen bei Arendt deutet nicht auf eine bloße Vergessenheit der Vergangenheit hin, sondern es ist eine Handlung, die sich weigert, in der Vergangenheit zu verbleiben. »Gegen die Gefahr, Gefangener seiner eigenen Taten und Ängste zu sein, verkünden die Fähigkeit des Verzeihens und Versprechens die frohe Botschaft (VA 243) vom möglichen Neuanfang« (Gebhardt 2014, S. 210).
105 Das Gehenkönnen, die Mobilität wird seit der Antike als ein Vorrecht betrachtet, das einen freien Bürger von Sklaven unterscheidet (vgl. Kurbacher 2023, S. 8).
106 »Im Empfinden der Angst sollten die Menschen seiner Auffassung nach weder - wie die Alten - zu übertriebener Angst und damit Feigheit neigen, noch sollten sie - wie die Jungen - »hitzig und voller Hoffnung< übermäßig furchtlos sein« (ebd., S. 61).
107 Die Freundschaft, die Arendt von Aristoteles übernimmt, bedeutet die Isonomie eine bestimmte politische Beziehung, in der »der Freund wie ein Anderer meines Selbst ist und [...] eine Selbstreflexivität als Kenntnis (und nicht Erkenntnis!) von sich über den Weg des Gegenübers gesucht und vorgestellt wird« (Kurbacher 2023, S. 20).
108 Mit Arendts Worten in Vita activa lässt sich sagen, dass »[d]as eigentlich personale Wer-jemand-jeweilig-ist unserer Kontrolle darum entzogen [ist], weil es sich unwillkürlich in allem mitoffenbart, was wir sagen oder tun« (VA, S. 219).
109 Wenn die Menschen »zumeist miteinander über etwas sprechen und einander etwas weltlich-nachweisbar Gegebenes mitteilen«, sagt Arendt, dass »wir unwillkürlich in solchem Sprechen-über auch noch Aufschluß darüber geben, wer wir, die Sprechenden, sind« (VA, S. 224).
110 Den konstitutiven Charakter des Sprechens bei der Erscheinung, dass der Erscheinende nicht nur über sich selbst, sondern auch über die Welt spricht, nimmt Arendt vielmehr aus der griechisch-homerischen und rhetorischen Darstellung: »Ihren Bezugspunkt stellt eher die homerische Dichtung dar, mit ihrem Zusammenhang zwischen den großen Taten der Helden und den großen Worten des Dichters« (Bajohr 2011, S. 51)
111 Durch den souverän gesetzten Anfang entsteht die Pluralität im arendtschen Sinne, die aus dem Führenden und den vielen Helfenden besteht. Der Erscheinende als das Subjekt Arendts will bzw. kann wollen, dass er selbst einer ist, der diesen souverän gesetzten Anfang tut, der im Handlungsraum entweder zeitgenössisch die anderen als Helfende mobilisiert oder der als ein Beispiel in der erinnernswerten Geschichte von der Nachwuchsgeneration zitiert wird. Obwohl ein souverän gesetzter Anfang als die durch das Handeln festgelegten Spielregeln eine spezifische Gültigkeit gewinnt, steht dies nicht im Widerspruch zur Maßstabslosigkeit des Handelns sowie zum Prinzip der Pluralität. Das Urteil, welcher Handlung eine »exemplarische Gültigkeit» zugestanden wird, kommt auf die Bestätigung der anderen Erscheinenden, auf die Pluralität an (vgl. Straßenberger 2005, S. 89).
112 Brunkhorst fasst diese Unterscheidung als einen extremen Gegenpol (vgl. Brunkhorst 1999, S. 104): »Während die klassische Ethik den Unterschied zwischen dem Leben des Hausherrn und dem des Bürgers eher als Unterschied qualitativ geschiedener Stufe einer auf beiden Stufen positiven Freiheit des guten Lebens beschrieben hat, das im Haus anfängt und sich auf öffentlichen Plätzen vervollkommnet, billigt Arendt der häuslichen Existenz ausschließlich den Status einer negativen Freiheit von der Notwendigkeit zu, die im Unterschied zur Freiheit des politischen Lebens keinen intrinsischen Wert hat« (Brunkhorst 1999, S. 104).
113 Die Grenzen spielen in Arendts Politiktheorie eine zentrale Rolle, um die politische Kontingenz entstehen zu lassen, insofern sie als Abgrenzung und Verbindung zwischen den Räumen und deren Tätigkeiten fungieren. Arendts mit dem Akt der Grenzziehung wie Grenzüberschreitung einhergehende Raummetapher scheint zu zwei gegensätzlichen Folgen zu führen. Zum einen scheint Arendts Konzept der Grenze vorausgesetzt oder schon gegeben zu sein, gleichzeitig sieht die Grenze jedoch so aus, als ob sie sich erneut oder neu konstituiert, obwohl weder der Raum noch die Grenze sich immer und jedes Mal dabei spontan konstituieren lässt. Es ist hier noch einmal zu betonen, dass Arendts Grenzen nicht schlechthin durch Handeln, sondern durch das Zusammenwirken von Handeln und Herstellen gezogen werden, insofern sie Herstellen und Dingwelt parallel zu Handeln und Mitwelt stellt (vgl. KuP, S. 286). Somit problematisiert Arendts Grenzkonzept zum anderen ihre Lokalisierungen der Tätigkeiten. Durch die Auswirkung des Herstellens, der Welt Dauerhaftigkeit und Beständigkeit zu verleihen, wird der Raum zeitlich vor dem Handeln als schon gegeben oder präexistent betrachtet, doch zugleich kann die Nachzeitlichkeit des Handelns durch die »Zeiterfahrungen« gegenüber der »zyklischen Zeit der Natur« (Rosenmüller 2013, S. 425f.) wieder umgekehrt werden. Die Raumstruktur, die nicht allein durch Handeln hergestellt wird, wirkt sich auf die politischen Handlungen aus, sie gestaltet die Grenzen, die durch das Handeln überschritten werden können bzw. sollen.
114 Arendt verbindet den politischen Raum mit den Staatsformen. »Man kann zusammenfassen, dass der politische Raum dort entsteht, >wo immer Menschen handelnd und sprechend miteinander umgehen<. Als solcher >liegt er vor allen ausdrücklichen Staatsgründungen und Staatsformen, in die er jeweils gestaltet und organisiert wird<« (Perica 2016, S. 110). In diesem Sinne übernimmt Brunkhorst die Worte von Margret Canovan: »Arendt [war] keineswegs, wie es aus vielen ihrer Äußerungen hervorzugehen scheint, von vornherein eine scharfe Kritikerin des Nationalstaats. Das Gegenteil ist richtig« (Brunkhorst 2007, S. 8).
115 »Territorium in diesem Sinne meint nicht so sehr, und vor allem nicht primär, ein Stück Land, es bezieht sich vielmehr auf den >Raum<, der zwischen den Gliedern einer Gruppe unweigerlich entsteht, wenn sie in jahrtausendealten Bezügen sprachlicher, religiöser und geschichtlicher Natur miteinander verbunden sind, die sich zudem in Sitten und Gesetzen niedergeschlagen haben, die sie gegen die Außenwelt schützen und untereinander differenzieren. Solche Beziehungen werden räumlich dadurch manifest, daß sie selber den Raum konstituieren, innerhalb dessen die verschiedenen einzelnen Gruppe sich aufeinander beziehen und miteinander umgehen« (EJ, S. 384).
116 Eine politische Verwendung der Repräsentation ist die Monarchie, in der »der König das Gemeinwesen repräsentiert« (Hartmann u. Offe 2011, S. 298), oder als deren korrumpierte Form eine Tyrannei, die Arendt kritisiert (vgl. D, S. 162). Arendt nimmt Stellung zu einigen Kritikpunkten an Monarchie und Tyrannei: Der König oder Tyrann habe eigentlich keine Fähigkeit, das ganze Volk symbolisch in und durch seinen Körper zu repräsentieren, weil er als isolierter Starker bei Arendt keine Macht besitzt. Ferner wendet Arendt sich gegen die Darstellung, die sich das politische Gemeinsame als eine ausgedehnte und systematisch organisierte Familie oder als einen gigantischen, ausgedehnten Menschen vorstellt.
117 Es ist bekannt, dass Arendt das repräsentative Modell der Parteiendemokratie kritisierte, weil ihrer Ansicht nach ein Parteiensystem mit der Bürokratisierung einhergeht, die die Politik auf die kanalisierte Berufung hinweist. Arendts Kritikpunkt ist auf das Scheitern der Repräsentation gerichtet: »[E]s geht Arendt nicht um die Anlehnung am Repräsentationsprinzip als solchem, sondern um die Privilegien der Repräsentantenauswahl wie um die Monopolisierung des Handlungsraums (vgl. ÜR, 357)« (Förster 2009, S. 446).
118 Der erste Grund der Ungesichertheit des Volkes liegt im Grunde in Arendts Konzipierung der Pluralität. Beim Begriff der Pluralität geht es um ein bestimmtes Phänomen des Politischen, das nur existieren und fortbestehen kann, solange Menschen als die voreinander Erscheinenden handeln und umgekehrt ohne diese Handlungsgruppe verschwinden würden. Wenn man diese phänomenologische Unbeständigkeit der Pluralität in Verbindung mit dem arendtschen Volksbegriff versteht, lässt sich sagen, dass das Volk mit Instabilität einhergeht. Zweitens ist anzumerken, dass das arendtsche Volk, das aus dem Handeln im Zwischen entsteht, von vornherein nicht die Fähigkeit hat, mit dem vorherigen, vergangenen Selbst identisch zu sein. Da das Handeln bzw. die Ereignisse aus dem Handeln nach Arendt nicht rückgängig gemacht werden können (vgl. Marchart 2005, S. 154 f.), ist das demokratische Volk nicht in der Lage, den Vorgang der Selbstkonstruktion des Volkes zu beherrschen und vom Anfang bis zum Ende zu kontrollieren.
119 Die Unsicherheit und Instabilität des demokratischen Volkes kann aber zuallererst dadurch erklärt werden, dass es keine höhere Instanz oder keine Garantie durch die Autorität gibt, welche ihm die entsprechende Souveränität verleiht (vgl. Marchart 2005, S. 155). Dieser Mangel an Legitimation des demokratischen Volkes ergibt sich ursprünglich aus der Maßstabslosigkeit des Handelns, die das wesentliche Kriterium des Handelns ist, nach dem man das Handeln als Neuanfang vom planerischen Herstellen unterscheiden kann.
120 Das Denken lässt sich nicht lediglich als eine Voraussetzung oder Vorbedingung für das Urteilen betrachten. Ohne diese Fähigkeit kann man in der Öffentlichkeit die Meinungen von anderen nicht beurteilen.
121 Das Denken an sich kann nicht als politisch, in gewisser Hinsicht sogar als unpolitisch oder gegenpolitisch betrachtet werden, weil es als isolierte Tätigkeit außerhalb der Öffentlichkeit liegt (vgl. Penta 1985, S. 24). Anhand der Unterscheidung des Gemeinsamkeitsgrades stellt Penta das Denken als eine bestimmte isolierte Tätigkeit dar, nämlich als Solitude. Somit charakterisiert das Denken nicht die Verlassenheit z. B. der Masse oder die Einsamkeit des Herstellens, sondern seine dialogische Dualität.
122 Es ist umstritten, ob Versprechen und Verzeihen exakt zu den geistigen sowie kognitiven Tätigkeiten Arendts gehören (vgl. VA, S. 315; Förster 2009, S. 275ff.). Ich bin der Meinung, dass das Versprechen und das Verzeihen neben dem Denken, Wollen und Urteilen in den kognitiven, geistigen Fähigkeiten verortet werden können und die Ergebnisse beider Fähigkeiten, nämlich des Vertrauens und der Verantwortlichkeit, mit dem Handeln in der Öffentlichkeit wirken.
123 Vor dem historischen Hintergrund - nach der Kriegszeit und nach dem Eichmann-Prozess - unterscheidet Arendt individuelle Schuld von der kollektiven und politischen Verantwortung. Denn »der Aufruf >Wir sind alle schuldig< [...] [diente] in Wirklichkeit nur dazu, diejenigen in einem erheblichen Maße zu entlasten, die tatsächlich schuldig waren. Wo alle schuldig sind, ist es keiner. Schuld, anders als Verantwortung, sondert immer aus; sie ist ausschließlich persönlich« (Arendt 1968, S. 4). Arendt wendet sich gegen diese Einführung des Schuldgefühls und versucht einen Weg zu finden, wie man in der Verwüstung die Würde des Politischen und die des Menschen wieder ins Leben rufen kann.
124 Ferner lässt sich sagen, dass es im Verzeihen eine bewusste oder unbewusste Entscheidung gibt, die nicht »dieser Verantwortung oder »dieser Bürde als Erbe auf die kommenden Generationen überträgt.
125 »»[W]ie es möglich ist, daß die Menschen politikfähig sind? Die Antwort der Philosophie läßt sich in zwei Begriffen zusammenfassen: Handeln und Urteilen. Negativ formuliert: Mangelte es den Menschen an Handlungsfähigkeit und an Urteilsvermögen, gäbe es keine Politik, sondern nur die menschliche Gesellschaft« (Saavedra 2002, S. 112).
126 Im Folgenden wird das reflektierende Urteilen als die Urteilskraft thematisiert. »Das reflektierende Urteil ist [...] das Produkt der geistigen Operationen unserer Urteilskraft, durch die wir mit dem Neuen und bisher Nicht-Gesehenen, ohne einen Maßstab zur Verfügung zu haben, konfrontiert werden und es beurteilen müssen« (Saavedra 2002, S. 124).
127 Wenn durch Urteilskraft die individuelle Vortrefflichkeit gezeigt und die Zustimmungen von anderen mobilisiert werden, stellt sich andererseits die Frage, ob das Politische bei Arendt von der bloßen Arbitrarität abhängig ist. Saavedra setzt Urteilskraft und Meinung, die Arendt ihm zufolge als fast identisch sieht, mit der Stabilität des Politischen ins Verhältnis. Insofern die durch die Urteilskraft gemeinsame Meinung als eine weltbildende Sprache fungiert, besitzt diese Meinung eine einstweilige Gültigkeit und ferner bietet sie im Gegensatz zu Wahrheit oder Wissen eine relative Stabilität des Politischen. Diese Stabilität sollte nicht die Rolle des Fundamentes für das Handeln übernehmen. Arendt legt diese unvollkommene Stabilität als Basis des Politischen fest, um sich dagegen zu wenden, dass das auf dem Handeln beruhende Politische sich in die auf dem Herstellen beruhende Herrschaftsbeziehung verwandelt. Diese unvollständige und nicht determinierende Stabilität, die sich aus der aktiven Entfaltung der Urteilskraft jedes Handelnden ergibt, kann die Legitimität behalten und neue Anfänge garantieren.
128 Also gehe ich hier nicht darauf ein, dass der frühe Ansatzpunkt Arendts, das Politische von der Philosophie zu unterscheiden, ihrer späteren Position, nämlich eine tendenzielle Verschiebung zu philosophischen, beobachtenden Urteilen, entgegensteht. Für diese fruchtbare Interpretation siehe Rosenmüller 2013, S. 165 -170.
129 »Sich ein Urteil zu bilden, enthält immer ein Risiko. Es ist eine Expedition ins Ungewisse, da man seine Meinungen dem Widerspruch und Tadel - um das wenigste zu sagen - exponiert. Der Mut ist die Kardinaltugend der Urteilenden: Mut zum Selbstdenken und an Stelle anderer zu denken - es ist übrigens kein Zufall, daß diese Tugend politischen Ursprungs ist« (Saavedra 2002, S. 138).
130 Über Arendts Urteilskraft mache ich auf ihre doppelte Distanzierung, und zwar nicht nur von Platon, sondern auch von Kant aufmerksam. Arendt wendet sich gegen den platonischen Gegensatz, in dem ein anschauender einsamer Wissender, der ein Befehlender ist, vielen Durchführenden trennscharf gegenübersteht. Bei Kant steht dem Akteur der unparteiische Zuschauer entgegen. Die Perspektive Arendts stimmt m. E. mit der Kants nicht ganz überein, weil ihre Betonung auf dem Handeln in und durch Pluralität liegt und sie ferner die Spannung zwischen der Handlung als öffentliche Zustimmung und der Handlung als Neuanfang auszugleichen versucht. Arendt versucht ein spezifisches Verhältnis zwischen Akteur und Zuschauer zu finden, in dem sich beide situativ, je nach Ereignis, unterscheiden, aber nicht eine Seite die andere determiniert.
131 »Der Zuschauer ist nicht mit dem Akt, aber immer mit den Mit-Zuschauern verbunden« (LGU, 99). Wegen dieser pluralen Form der Zuschauer betont J. Föster, dass »[d]ie Zuschauer, das Publikum, erst den öffentlichen Raum [bilden]« (Förster 2009, S. 341).
132 »Je weiter die Ausdehnung, je größer der Bereich, in dem sich das aufgeklärte Individuum von Standpunkt zu Standpunkt bewegen kann, desto >allgemeiner< wird sein Denken sein« (LGU, S. 69f.).
133 Christian Volk sagt dazu, dass die Staaten in der Zwischenkriegszeit »nicht-legale Abschiebepraktiken« (Volk 2012, S. 198) ausgeübt haben, weil sie gegenüber den entrechteten Staatenlosen keine legale Möglichkeit besessen haben, diese namenlosen Menschen legal deportierbar zu machen: »Die Fähigkeit eines Staates, Menschen den Aufenthalt auf dem Staatsgebiet zu erlauben, basiert auf der Möglichkeit, sie auch ins Nachbar- oder Herkunftsland abschieben bzw. ausweisen zu können. Nur dort, wo ein Staat sowohl legal als auch faktisch in der Lage ist, das Aufenthaltsrecht zu verweigern, kann überhaupt die Rede davon sein, Aufenthalt zu gewähren. Mit den de facto staatenlosen Flüchtlingen der Zwischenkriegszeit fällt diese Möglichkeit weg. Man kann sie nicht ausweisen, weil kein Land sie annimmt. Sie >gehören< zu keinem Staat und sind folglich >undeportierbar<« (Volk 2012, S. 196).
134 »Es ist sinnlos, für jemanden Freiheit zu verlangen, der gar nicht unterdrückt wird, ja, dessen Unglück man dadurch definieren könnte, daß niemand ihn auch nur zu unterdrücken wünscht« (UT, S. 612).
135 Die Problematik der Staatenlosen zeigt sich im Vergleich zum Asyl deutlich. Ein wichtiges Merkmal der Staatenlosen ist für Arendt, dass sie eigentlich aus dem politischen Ergebnis resultieren. Bei der Entstehung der Staatenlosen stehen zwei Krisenentwicklungen im Hintergrund: »die durch die expansive Dynamik des Imperialismus verursachte Krise des Nationalstaats auf der einen Seite, die Etablierung von totalisierenden und antipolitischen Einstellungen in der Politik [...] auf der anderen Seite« (Meints-Stender 2007, S. 255). Anders gesagt, ihre Existenz ist von vornherein mit der strukturellen Gewalt unmittelbar verbunden. Hingegen wird einem Menschen Asyl gewährt, wenn er »aufgrund seines religiösen Bekenntnisses, politischer Überzeugung oder regimekritischer Dissidenz, also aufgrund seiner Taten oder seiner Meinung verfolgt oder verstoßen wurde« (Schulze Wessel 2013, S. 75). Darum weist das Asylrecht auf ein bestimmtes Individuum hin. Aber Flüchtlinge wurden und werden durch die Erschütterung »der alten Dreieinigkeit von Volk-Territorium-Staat, auf der die Nation geruht hatte« (UT, S. 560), hervorgebracht. Diese Eigenschaft von Staatenlosen beschreibt Arendt mit einem Wort: unschuldig. Ohne eigene Schuld werden sie durch die politischen Ergebnisse oder strukturelle Gewalt zufällig zu Rechtlosen, die alle ihre rechtlichen und gesellschaftlichen Bezüge verloren haben (vgl. Blättler 2000, S. 692).
136 Eine vergleichbare Zusammenfassung über den Charakter der Staatenlosigkeit sieht man bei Franziska Piper (2007). Der Status der Staatenlosen wird durch das Wort >überflüssig< gekennzeichnet. Im Hinblick auf die absolute Gewalt des Totalitarismus enthält die Staatenlosigkeit Franziska Piper zufolge drei Merkmale: »die Auslöschung des Individuums (1) als Rechtssubjekt, (2) als moralische Person und (3) die Auslegung der Individualität« (Piper 2007a, S. 464). Zuerst wird man durch Nationalstaaten entrechtet und diese Rechtlosigkeit dient als Prämisse für die totalitäre Herrschaft. Zweitens bemerkt Piper, dass die Entrechteten das Recht auf Erinnerung verlieren, sodass sie besonders in den Lagern kein menschliches, also erinnerbares Leben führen können. Schließlich unterstreicht Piper, dass die totalitäre Gewalt die »Rückgängigmachung der Individualität« durchsetzt (vgl. Piper 2007a, S. 466).
137 »Wen immer die Ereignisse aus der alten Dreieinigkeit von Volk-Territorium-Staat, auf der die Nation geruht hatte, herausgeschlagen hatten, blieb heimat- und staatenlos; wer immer einmal die Rechte, die in der Staatsbürgerschaft garantiert waren, verloren hatte, blieb rechtlos« (UT, S. 560)
138 Um die Sprachlosigkeit zu erklären, übernimmt Arendt die Definition des Menschen von Aristoteles: »Der Verlust der Relevanz und damit der Realität des Gesprochenen involviert in gewissem Sinne den Verlust der Sprache, zwar nicht in einem physischen Sinne, wohl aber in dem Sinne, in dem Aristoteles den Menschen als ein Lebewesen definierte, das sprechen kann« (UT, S. 615).
139 »>Flüchtlinge< sind heutzutage jene unter uns, die das Pech hatten, mittellos in einem neuen Land anzukommen, und auf die Hilfe der Flüchtlingskomitees angewiesen waren« (WF, S. 9).
140 Penta unterscheidet die Verlassenheit von dem Alleinsein oder der Einsamkeit, dass »[ü]ber die Abwesenheit von anderen hinaus Verlassenheit die Tatsache bedeutet, daß auch die Möglichkeit des Verkehrs mit sich selbst, des syneidenai, des Bei-sich-Selbst-Wissens, ausbleibt« (Penta 1985, S. 22).
141 Die Existenz der Staatenlosen im Naturzustand erweist sich als eine Schwelle, die »der Ort der Souveränität [ist]« (Agamben 1995, S. 37), wie Giorgio Agamben Arendts Grenzfigur des Staatslosen im Anschluss an die Souveränitätslehre C. Schmitts als seine eigene Theorie des Ausnahmezustands und als Homo sacer entwickelt.
142 Und bei Arendt ist »wahre Geschichte [... ] immer »politischer Geschichte, Geschichte der handelnden und leidenden Menschen [...]« (D, S. 284).
143 Zum Beispiel wenn die Parias im fremden Land ihr Eigentum hätten, also wenn sie ihre kulturellen Bedingungen erfüllen würden, könnten sie diejenigen sein, die das Recht auf Rechte haben und es ausüben können. Zeigt der Fall der Parias vielleicht nicht doch, dass die Subjekte der Mobilität, die sich für die eigene Tugend qualifizieren können, fast immer nur wenige sein können?
144 Grob gesagt findet man eine tendenzielle Verschiebung in Butlers Politiktheorie: In ihrer frühen Arbeit wird die Performativität in Bezug auf die geschlechtliche Identifikation oder individuelle Subjektivation dargestellt, wobei die Resignifikation der Normen als Effekt der Performativität im Vordergrund steht. In ihrer jüngsten Arbeit fokussiert sie mit Bezug auf Levinas und Arendt die von der nicht allein auf die wirtschaftliche Unsicherheit reduzierbaren Prekarität ausgehende Performativität ungezählter Körper. Sie erarbeitet nun die Performativität, die sich auf die Gleichheit fördernde Gewaltlosigkeit und Radikaldemokratie bezieht. Diese Performativität wird in 5.2 und 6.2 detailliert thematisiert. In diesem Kapitel wird auch der frühe Performativitätsbegriff Butlers näher betrachtet.
145 Katrin Meyer führt einen Vorteil der Verwendung des Terminus Matrix aus: »Mit diesem Begriff wird deutlich, dass das Raster den Subjekten nicht äußerlich ist, sondern dass es das Raster selber ist, das die Subjekte in ihrer spezifischen Positionalität erzeugt« (Meyer 2017, S. 86). Als »ein erschaffendes und formatives Prinzip, das die Entwicklung eines Organismus oder eines Objekts eröffnet und prägt« (KG, S. 58), lässt sich die Matrix von Butler auch als »das intersektionale Raster der Machtstrukturen« (ebd.) verstehen, das »durch Normen funktioniert« (ebd., S. 87).
146 Die Matrix der Lebbarkeit soll nicht einfach als eine strategisch funktionierende Reglementierungsmaschine verstanden werden. Diese Matrix ist nicht einfach ein Dispositiv von Diskursen, Technik oder Institutionen und Gesetzen, sondern sie erweist sich auch als die Medien, die als das Fleisch des Sozialen einen »Teil eben jenes performativen Prozesses« (Prager 2018, S. 193) angehen, »der Subjekt-Werden >ist<« (ebd.).
147 Butler wird häufig die Kritik Kritik entgegengebracht, dass, »wenn >alles Diskurs ist<, der Körper sich in Diskurs oder Sprache auflöst und damit als materielle Einheit verschwindet« (Bublitz 2010, S. 44). Dem entgegnet Butler deutlich: »Ich denke weder, dass sich Materialität vollständig auf den Diskurs reduzieren lässt, noch, dass der Diskurs Materialität vollständig bestimmt« (Butler 2018, S. 314). Was sie zur Geltung bringen möchte, ist vielmehr »eine Überkreuzung zwischen Materialität und Diskurs, die permanent erneuert wird« (ebd.), und zwar das chiastische Verhältnis zwischen Sprache und Körper.
148 Dabei wird zuerst sein Diskursbegriff als »einmal allgemeines Gebiet aller Aussagen« oder als »individualisierbare Gruppe von Aussagen« (Reisigl 2006, S. 86) bezeichnet. Diskurs ist in diesem Sinne »eine größere, kohärente Gruppe von Aussagen, die für die Art und Weise grundlegend sind, wie die Menschen bestimmte historische Momente wahrnehmen und kommentieren« (Geller 2005, S. 27). Dabei kann hinzugefügt werden: »Mit Diskurs ist im Folgenden und in enger Orientierung an Foucault gemeint: Jene zeit- und ortsgebundene, d. h. historische >Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören< (Foucault 1982, S. 156) und die [historisch spezifische >Menge von Aussagen« Choi] die vor allem sprachlich verfasste Möglichkeit der Bedingung von Sinn darstellen. Diskurse sind demnach Aussagensysteme bzw. gesellschaftlich organisiertes Wissen, das wiederum gesellschaftskonstitutiv ist« (Paula-Irene Villa 2013, S. 60f.).
149 Mit Foucaults Worten: »Das Wesentliche aber ist die Vermehrung der Diskurse über den Sex, die im Wirkungsbereich der Macht selbst stattfinden: institutioneller Anreiz, über den Sex zu sprechen, und zwar immer mehr darüber zu sprechen; von ihm sprechen zu hören und ihn zum Sprechen zu bringen in ausführlicher Erörterung und endloser Detailanhäufung« (Foucault 1977, S. 24).
150 Das strategische Verständnis der foucaultschen Macht bezieht sich ferner auf das Dispositiv der Macht, das Foucault zufolge darauf hinweist, dass es nicht nur die Macht, sondern die Machtbeziehungen untersucht und erläutert.
151 »Grundlage dieser universalen Struktur von Subjektbildung und von Kommunikation ist die ödipale Konstellation (die Triade Vater, Mutter, Kind). Innerhalb dieser Konstellation fügt sich das Kind über den Erwerb der Sprache in die Ordnung des Symbolischen ein, indem es sich aus der symbolischen Abhängigkeit von der Mitter löst und sein Begehren in sozial erwünschten Formen reguliert« (Meißner 2012, S. 21).
152 »Anders ausgedrückt, ist eine Mutter eine Person, mit der Sohn oder Tochter keine sexuellen Beziehungen unterhlaten, die vielmehr nur mit dem Vater sexuelle Beziehungen hat etc.« (AV, S. 39).
153 »Zwangsheterosexualität bezeichnet ein System, in dem sie [alle Menschen] als sexuelle Person nicht außerhalb der Begriffe der Heterosexualität lesbar sind« (Butler 2013b, S. 66). Zweigeschlechtlichkeit funktioniert gewissermaßen immer schon als eine (Vor-)Bedingung der Subjekte und bestimmt zugleich die Lesbarkeit des Lebens.
154 Somit entspricht meiner Meinung nach die Aussage von Casto Varela und Dhawan nicht ganz dem Gedanken Butlers, dass »[Butler] ein juridisches Machtmodell zurück[weist], demzufolge ein Subjekt einem anderen etwas zufügt« (Casto Varela u. Dhawan 2018, S. 128). Das, was Casto Varela und Dhawan mit dem Begriff >normative Gewalt< (ebd., S. 127) betonen, spielt in Butlers Denken eine ebenso wichtige Rolle als erzwungene Wirkung der Macht.
155 »Es gibt >autoritative< Diskurse über das Geschlecht - das Rechtssystem, die Medizin, die Psychiatrie, um nur einige zu nennen -, die bestrebt sind, das menschliche Leben in klar abgegrenzten Geschlechtsbegriffen zu definieren und zu erhalten, doch gelingt es ihnen nicht immer, die Wirkungen der von ihnen ins Spiel gebrachten Geschlechtsdiskurse zu kontrollieren« (TV, S. 46, Hervorh. Choi .).
156 Oder mit anderen Worten Butlers: »[D]as Gesetz, das die sexuelle Vereinigung verbietet, ist genau dasselbe, das zugleich zu ihr einlädt, sodass sich die repressive Funktion des juridischen Inzesttabus nicht mehr von seiner produktiven Funktion trennen läßt« (UG, S. 119f.)
157 Davon spricht sie selber in einer Fußnote: »Obwohl Foucault in Sexualität und Wahrheit (Band 1, Der Wille zum Wissen [...]) zwischen juridischen und produktiven Machtmodellen unterscheidet, habe ich den Standpunkt vertreten, daß die zwei Modelle einander voraussetzen« (KG, S. 336).
158 Unter der juridischen Macht versteht Foucault das Gesetz des Verbots, das vor allem zum Verbot und zur Ausschließung führt und deswegen im Gegensatz zur produktiven Macht ganz und gar negativ dargestellt wird. In Sexualität und Wahrheit: Erster Band: Der Wille zum Wissen grenzt Foucault deutlich das produktive Machtverhältnis vom »juridisch-diskursiven« (Foucault 1977, S. 84) Machtverständnis ab: »Diese Macht wäre zunächst arm an Ressourcen, haushälterisch in ihrem Vorgehen, monoton in ihren Taktiken, unfähig zur Erfindung und gleichsam gezwungen, sich beständig zu wiederholen. Sodann wäre es eine Macht, deren Mächtigkeit sich darin erschöpfte, nein zu sagen, außerstande, etwas zu produzieren, nur fähig, Grenzen zu ziehen, wesenhaft Anti-Energie« (Foucault 1977, S. 87). Die souveräne Eigenschaft der juridischen Macht verbindet Foucault mit dem sterilen Gehorsam: »[I]mmer handelt es sich um eine juridische Form, deren Wirkungen man als Gehorsam bestimmt. Gegenüber einer Macht, die Gesetz ist, ist das >Subjekt<, das zum Untertanen unterworfen ist, ein gehorchendes« (Foucault 1977, S. 86).
159 Wie Butler kritisch äußert, dass »[d]ie Trennung des Symbolischen von der sozialen Sphäre die Unterscheidung zwischen dem >Gesetz des Vaters< und veränderlichen Gesetzen [ermöglicht]« (MG, S. 81), stellt sie fest, dass man das Symbolische als Normen betrachtet, die innerhalb der sozialen und kontingenten Rahmen von den kollektiven Wiederholungen der Menschen nicht unabhängig sind (vgl. MG, S. 80ff.). Wenn sich das Symbolische als Bereich bzw. Sache der Normen begreifen lässt, zieht man daraus resultierend die Konsequenz, dass man in »die das Begehren ermöglichende Struktur« (MG, S. 82) intervenieren kann.
160 Butler fasst die Funktion und den Effekt dieser bestimmten Regulierung als Norm auf. Sie »beschränkt und reguliert nicht einfach und ist daher auch nicht schlichtweg eine juridische Form der Macht [im Sinne von Foucault: Choi]« (MG, S. 95). Die Regulierung der Norm gilt nach Butler weder als Disziplin noch als Überwachung.
161 Wie Heike Kämpf zutreffend feststellt, ist »die räumliche Metaphorik der Erzeugung eines >Außen<, die auch bei Butler selbst immer wieder verwendet wird [], nur bedingt geeignet« (Kämpf 2006, S. 231), insbesondere zur Beschreibung der Wirkung der Matrix der Lebbarkeit.
162 Das Intelligibelsein wird demnach als eine Frage der vielschichtigen Art der Anpassung betrachtet, inwiefern sich eine Person mit bestimmten, herrschaftsförmigen Diskursen vernähen kann und dadurch zu einem konkreten, öffentlichen Menschen wird (vgl. Paula-Irene Villa 2013, S. 66.). Die Wirklichkeit des Menschen ergibt sich dennoch nicht nur aus der Wirkung der Matrix der Lebbarkeit, sondern auch aus ständigem und beharrlichem Bemühen des Individuums um Intelligibilität.
163 Hier kann ein kurzer Absatz von Butler zum Verständnis beitragen: »Wir wissen gleichwohl, dass Habermas nicht jede >geordnete< Charakteristik einer beliebigen Sozialordnung als ein notwendiges Gut akzeptieren würde. Einige Ordnungen müssen eindeutig beseitigt werden, und das aus gutem Grund. Tatsächlich mag sich die Ordnung der Intelligibilität der Geschlechtszugehörigkeit durchaus als eine solche Ordnung erweisen« (MG, S. 350). Ein Unterschied zwischen Habermas und Butler liegt darin, dass Butler dem Geschlecht und der Geschlechtszugehörigkeit, welche er beseitigt, eine große Bedeutung bezüglich der sozialen Intelligibilität beimisst.
164 Butler zeigt mit dem Terminus >morphe> ein Zusammenspiel von körperlicher Gestalt sowie linguistischer und bedeutungstragender Morphologie auf (vgl. KG, S. 105): »Ursprünglich ein von Goethe geprägter Terminus in der Wissenschaft der lebenden Organismen, wurde er im 19. Jahrhundert in die Sprachwissenschaft übernommen. Dort bezeichnet der Begriff des Morphs das >kleinst[e] bedeutungstragend[e] lautlich[e] Segment einer Äußerung auf der Ebene der Parole<« (Anna-Lisa Müller 2009, S. 45).
165 Im Anschluss an Beauvoir stellt Butler die Verbindung zwischen dem Geschlecht und der Geschlechtsidentität als ein nicht notwendiges Verhältnis dar: »Wenn wir Beauvoirs Formulierung in ihrer unausgesprochenen Konsequenz zu Ende denken, wird es in der Tat unklar, ob das Geschlecht in irgendeiner Weise mit dem Sex in Verbindung gebracht werden muß oder ob diese Verbindung nicht selber bereits eine kulturelle Konvention ist« (Butler 1991, S. 64).
166 In diesem Text spreche ich häufig von der Konstruktion oder Bildung des Körpers, aber, wie Butler schon sagt, werden »wir zwar unsere Geschlechter, nicht aber unsere Körper« (Butler 1991, S. 58). Jeder wird mit und in dem Körper geboren und existiert in und mit dem Körper. Der Ausdruck »Konstruktion des Körpers< zeigt, dass ohne Bezug auf (Zwangs-)Heterosexualität der Körper nicht gesehen, wahrgenommen und anerkannt werden kann und in diesem Sinne als der menschliche Körper gebildet oder (re-)konstituiert wird.
167 Butlers Behauptung, über die Unterscheidung zwischen sex und gender hinauszugehen, gewinnt in jüngster Zeit zunehmend an Bedeutung. Diese auf der Biologie oder Anatomie basierende essenzialistische Sichtweise auf das Geschlecht ist ca. 30 Jahre nach dem Erscheinen von Das Unbehagen der Geschlechter von Judith Butlers nicht ausgelöscht. Die menschliche Identifizierung, die dadurch festgelegt wird, dass man auf sein Genital zurückgreift, spielt seit 2008 besonders in der antifeministischen Bewegung von TERF, Trans-Exclusionary Radical Feminism, erneut eine große Rolle. TEFT, die sich trennscharf vom Feminismus der dritten Welle unterscheidet, bezeichnet ihre eigene Position als zwei Ablehnungen, und zwar gegen Transgender, besonders gegen MtF (Mann zur Frau), und gegen intersektionalen Feminismus. Für weitere Ausführungen: https://rationalwiki.org/wiki/Trans-exclusionary radical feminism
168 Statt einer Antwort kann der oben gestellten Frage mit einer anderen Frage begegnet werden: Warum haben bestimmte Körperteile wie Genitalien oder Brust einen Vorrang gegenüber anderen Körperteilen, sodass man aufgrund dieses Körperteils einen Menschen als Mann oder Frau identifizieren kann (vgl. von Redecker 2011, S. 68f.)? Butler argumentiert mit Wittig, dass nur einige privilegierte Körperteile das gesellschaftliche Schicksal des Menschen bestimmen und nur sie als das Natürliche scheinen, das die Menschen binärgeschlechtlich reguliert. »Sie [Wittig: Choi] weist darauf hin, daß es andere Arten von Unterschieden zwischen den Menschen gibt, etwa Unterschiede in Gestalt und Größe, in der Form des Ohrläppchens oder der Länge der Nase, aber wir fragen nicht, wenn ein Kind geboren wird, welche Art von Ohrläppchen es hat. Wir fragen sofort nach gewissen sexuell differenzierten anatomischen Merkmalen, weil wir annehmen, daß diese in irgendeiner Weise das gesellschaftliche Schicksal des Kindes bestimmen, und dieses Schicksal, was immer es auch sein mag, wird strukturiert durch ein Geschlechtssystem, das auf einer scheinbaren Natürlichkeit binärer Oppositionen, d. h. der Heterosexualität, beruht« (Butler 1991, S. 66).
169 Für Butler erweist sich die »Kategorie des >sex< von Anfang an [als] normativ« (KG, S. 21). Daran anschließend konstruiert sich der Körper, der als die irreduzible Materie angesehen wird, in der und durch die juridische und produktive Wirkungsweise der Matrix der Lebbarkeit. »Wenn gezeigt werden kann, daß diese >irreduzible< Materialität in der Geschichte ihrer Konstitution durch eine problematische geschlechtsspezifische Matrix konstruiert wird, dann ontologisiert und fixiert die diskursive Praxis, durch die die Materie irreduzibel gemacht wird, in der Tat zugleich jene geschlechtsspezifische Matrix« (KG, S. 55).
170 Wenn Butler feststellt, dass der Körper in und durch die Matrix der Lebbarkeit hergestellt wird und von Gewicht ist, weist diese »zeitliche Umwandlung« (KG, S. 337) des Körpers umgekehrt auch darauf hin, dass die Materie, die durch Materialisierung als etwas Natürliches erkennbar wird, nicht von der symbolischen und sozialen Ordnung getrennt werden kann.
171 In ihrem Buch Körper von Gewicht (1997), in dem sie sich mit der Materialisierung des Körpers intensiv auseinandergesetzt hat, verwendet sie das Wort Konstruktion für die Erklärung der Körperformierung. Später sagt sie in Raster des Krieges (2009) über ihre eigene Veränderung der Terminologie, dass sie weniger Konstruktion als vielmehr Performativität benutzen will, um die Themen der Materialisierung und des subversiven Potenzials der Iterabilität zu beleuchten (vgl. RK, S. 180, FN 115). Auf dieses Thema und ihre Perspektivenverschiebung werde ich in den folgenden Kapiteln zurückkommen.
172 Bemerkenswert ist, dass Butler den Stil nicht als willentlichen und voluntativen Akt konzipiert, weder beim performativen Werden, nämlich bei der Aneignung des Geschlechts, noch bei der Inszenierung bzw. Ausführung der subversiven Parodie. »Freilich lassen sich diese Stile niemals vollständig als Selbst-Stilisierungen begreifen, da sie eine Geschichte haben, die ihre Möglichkeiten bedingt und beschränkt« (UG, S. 205). Butler betont die Kontingenz der Bündel von Normen und gleichzeitig deren Geschichtlichkeit.
173 »[D]ie Identifizierung gehört nicht zur Welt der Ereignisse« (KG, S. 152).
174 »Es gibt nicht ein einziges Außen, weil die Formen mehrere Ausschlüsse benötigen; sie existieren und vervielfältigen sich selbst durch das, was sie ausschließen, dadurch, daß sie nicht Tier, nicht Frau, nicht Sklave sind; ihre Richtigkeit ist erkauft durch Eigentum, nationale und rassische Abgrenzung, Ausrichtung aufs Maskuline und Zwangsheterosexualität« (KG, S. 84).
175 Zu Butlers Verständnis des Subjekts und zur Diskussion mit den Feministinnen siehe Streit um Differenz (1993) von Seyla Benhabib, Judith Butler, Drucilla Cornell und Nancy Fraser.
176 Man kann die Struktur der Kultur, des Diskurses, der Sprache, durch die Subjekte hervorgebracht werden, nicht als »personifizierte« (KG, S. 31) Macht verstehen, die »den Menschen als Ursprung von Tätigkeit ersetzt zu haben [scheint]« (KG, S. 31). Nach diesem Machtverständnis ist Butlers Konstruiertheit des Subjekts nicht allein eine Folge des Machteffekts.
177 Butler fügt hinzu, dass es in der Homosexualität einen bestimmten Zorn gibt, der in Bezug auf die gesellschaftliche Bedrohung, das Überleben und die Anerkennung als Homosexuellen berücksichtigt werden muss. Wenn sich dieser Zorn auf sich selbst richtet, kann er selbstmörderisch sein. Deswegen hält Butler die Sichtbarkeit sowie öffentliche und kollektive Trauerinstituieren für die Homosexuellen (oder für alle sexuellen Minderheiten) als »überlebenswichtig« (PM, S. 139). Im Fall der homosexuellen Melancholie setzt Butler der Homosexualität die Heterosexualität nicht trennscharf entgegen, sondern »die heterosexuellen Reste einer solchen Identität müssen genau dadurch bewahrt werden, daß man auf der nahtlosen Kohärenz einer spezifisch schwulen Identität beharrt« (PM, S. 140), wie sich Heterosexualität durch die Verwerfung des homosexuellen Begehrens formt und wegen und durch diese Verwerfung die Homosexualität als der konstitutive Verlust bewahrt werden kann.
178 Butler erläutert auch mit derselben Logik, wie ein cis-maskuliner Mann durch Verleugnungen konstruiert werden kann: »For some, to be a man means precisely never having loved another man and never having lost a man. This 'never having' loved and lost ist eine Verleugnung, die in das betreffende Geschlecht eingebaut wird, eine melancholische Formation, die eine unbewusste Bindung unter denen bildet, die in dieser Version von Männlichkeit verweilen« (WW, S. 91).
179 »Wichtiger ist jedoch, daß die Stimme zu einem Bild der souveränen Macht gehört, in dem sich eine als Emanation eines Subjekts vorgestellte Macht in einer Stimme vortut, dessen Effekte als die magischen Effekte dieser Stimme erscheinen. Mit anderen Worten, die Macht wird nach dem Vorbild der göttlichen Macht der Benennung begriffen, nach dem die Äußerung zugleich den geäußerten Effekt erschafft« (HS, S. 57).
180 Im Gegensatz zu Foucaults Bio-Macht, die einen gesellschaftlichen Körper bildet, der statistisch erfasst wird und dessen Gesundheit, Arbeitskraft und Geburtenrate reguliert wird, stellt Butler eine heterosexuelle Wirkungsweise der Macht heraus, gemäß der der menschliche Körper sichtbar und wahrnehmbar werden kann. Ferner lässt sich dies als ein Prinzip der gesamten Gesellschaft verstehen, das den Körper der angeblichen Bevölkerung als heterosexuellen Gegenstand vorstellbar macht. Gegenüber Foucault kann Butlers Ansatz zur Bio-Macht als eine spezifische regulierende und totalisierende Form der Macht betont werden, sodass sie nicht nur im Hinblick auf die Sexualpolitik, sondern auch bezüglich der internationalen Politik der Ethik auf die Konsequenz oder den Effekt der Biopolitik aufmerksam macht, um die ungleich geteilte Prekarität infrage zu stellen und Prekarität neu zu konzipieren (vgl. TV, S. 92).
181 Butlers Verständnis der Materie ist von zwei Auseinandersetzungen geprägt: Aristoteles und Foucault auf der einen Seite und Luce Irigaray und Platon auf der anderen Seite. Was die Auseinandersetzungen der beiden Seiten in Verbindung bringt, sind das Verhältnis zwischen Materie oder Körper und die Wirkung der Macht, die Materie zu formieren und zu signifizieren. Bei der zweiten Auseinandersetzung ist es wichtig, die folgenden Fragen zu betrachten: Wie kann der Körper oder die mit dem Körper assoziierte Weiblichkeit vom Phallogozentrismus ausgeschlossen werden? Welchen Unterschied zwischen Irigaray und Platon berücksichtigt Butler bei der Problematik der Nichtthematisierbarkeit sowie Unrepräsentierbarkeit der Materie? Platon legt fest, dass die Materie oder der Körper nicht repräsentativ und intelligibel sein kann, denn der Körper wird eigentlich innerhalb seiner metaphysischen Hierarchie zwischen dem Mann, der Frau und dem Tier ausgeschlossen. Der männliche Körper, dessen Inhaber als Eigentümer und gleichzeitig als Bürger gilt, wird entmaterialisiert und demgegenüber hat das Weibliche keinen Körper, weil nach Platon die Weiblichkeit keine Morphologie hat (vgl. KG, S. 79). Nach Irigaray kann die Weiblichkeit innerhalb der phallogozentristischen Ökonomie auch nicht repräsentiert werden und durch diese ausgeschlossene Weiblichkeit wird die Materialität derart geformt, dass sie von der phallogozentristischen Ökonomie ausgeschlossen werden muss und selbst nicht repräsentierbar ist. Aber auf ihr kann das System der Repräsentation in Erscheinung treten und als solches fungieren.
182 Insofern die Seele hauptsächlich als eine Einrahmung des Körpers verstanden wird, übersieht man die leidenschaftliche Bewegung der Psyche, die parallel zur Materialisierung des Körpers steht, sodass sie sich dagegen wendet und durch Verlust verletzt wird. Butler hebt hervor, dass Foucault durch »[d]ie Überführung der Seele [...] gleichsam das Innere des Körpers [entleert] und dieses Innere zu einer bloßen geschmeidigen Oberfläche für die einseitigen Einwirkungen der Disziplinierungsmacht [macht]« (PM, S. 84).
183 Wenn Butler darlegt, dass der Körper zuerst in der und durch die Matrix hergestellt wird, bieten die Diskurse und das Gesetz des Vaters, mit anderen Worten die Sprache der Norm, die Morphologie des Körpers an. Wobei noch einmal betont werden muss, dass diese Erläuterung von Butler nicht damit identisch ist, »daß der Körper einerseits lediglich sprachlicher Stoff sei« (KG, S. 104). Ihre Hervorhebung besteht darin, dass »[der Körper] mit der Sprache in einem ständigen Zusammenhang [steht]« (KG, S. 104) und in diesem Sinne »also Sprache und Materialität nicht entgegengesetzt [sind], weil die Sprache sowohl das ist als auch auf das verweist, was materiell ist, und was materiell ist, entgeht niemals ganz dem Prozeß, durch den es signifiziert wird« (KG, S. 104).
184 Beispielsweise erweist sich Melancholie, die bei der geschlechtlichen Identifizierung eine psychisch-dynamische Rolle spielt, als eine spezifische Form des Verhaftetseins, das inmitten des Normkomplexes auf der Verweigerung der Trauer beruht (vgl. PM, S. 167).
185 Balzer fasst Benhabibs Kritik an Butler in Streit um Differenz zusammen: »Mit ihrer These von >Täter jenseits der Tat< (Benhabib, Streit um Differenz 1993a, S. 15) beraube Butler alle Konzepte der Handlungsfähigkeit >ihres Nimbus< (ebd.), denn ihre Subjekte seien >bloße< Effekte von diskurs- und machtförmigen Prozessen und insofern auch >bloße< >Agen- ten< der Macht. Butlers Theorie setze >eine bemerkenswert deterministische Sicht von Individuations- und Sozialisationsprozessen voraus [...]< (Benhabib, Streit um Differenz 1993b, S. 110); es sei fraglich, wie man >von einem Diskurs konstituiert sein [kann], ohne von ihm determiniert zu sein< (ebd. 109)« (Balzer 2014, S. 428).
186 Wie Butler »Austins Behauptung, daß die Kraft der Illokution nur erkennbar ist, wenn sich die >gesamte< Situation des einzelnen Sprechaktes bestimmen läßt« (HS, S. 12), kritisiert, können die Bestandteile der gültigen performativen Äußerungen nicht jedes Mal geprüft werden. Und wer mit einer bestimmten Konvention und in einer bestimmten Situation sprechen kann, kann ebenfalls nicht allemal bestätigt werden. Sollte nach Butler diese Stelle des Sprechers strikt eingeschränkt werden?
187 Wie Nicole Balzer zu Recht sagt, übernimmt Butler die Idee der Anrufung Althussers nicht nur für die Subjektivation. »Butler adaptiert diese Szene, indem sie sie mit der (ebenso spezifischen) Anrufung des Geschlechts eines Neugeborenen bzw. Kleinkindes spiegelt. So deutet sie den Ausruf >Es ist ein Mädchen!< als >Anrufung des sozialen Geschlechts< (KG, S. 29), mit der >das Kleinkind von einem ,es‘ zu einer ,sie‘< (ebd.) wechselt« (Balzer 2014, S. 444). Wichtig ist auch, dass diese Anrufung vom Arzt mit einer autoritären Stimme ausgeübt wird und sie eine gewisse Autorität besitzt, obwohl sie eine Verkennung verleihen kann.
188 Im Hinblick auf Butlers Dekonstruktion von sex und gender bleibt ihr Performativitätsbegriff heftig umstritten, da ihre Behauptung über Performativität sich von beiden Positionen entfernt: zum einen von der »humanistische[n] feministische[n] Position« (UG, S. 28), »die Geschlechtsidentität als Attribut einer Person« (ebd.) und geschlechtlich bestimmte Substanz als Kern der Person zu begreifen, zum anderen von der Annahme, Feminismus auf einer festen Kategorie der Frau zu begründen.
189 Obzwar sie ihre Position doch deutlich abgrenzt - »[w]enn drag performativ ist, bedeutet das nicht, daß alle und jede Performativität als drag zu verstehen ist« (KG, S. 317) -, wird Butlers Performativität anders als ihr Gesichtspunkt mit dem etwas Voluntarisches sowie Beliebiges missverständlich gleichgesetzt (vgl. Zerilli 2010, S. 267). Aber das Performative lässt sich nicht individuell willentlich ausüben, wie »die Geschlechtsidentität gleiche Kleider oder Kleider machen die Frau« (KG, S. 317): »The publication of Gender Trouble coincided with a number of publications that did assert that >cloths make the woman<, but I never did think, that gender was like clothes, or that clothes make the woman« (Bodies that matter, S. 231).
190 Ergänzend ist zu erwähnen: Trotz ihrer Differenzierung zwischen Performativität und Theatralität bewertet Butler Theatralität nicht allein als negativ. Nach Butler kann Performance und theatralische Darstellung auch politisch von Bedeutung sein, besonders wenn die übertriebene Geste von Theatralität einen Effekt der Politisierung und Mobilisierung hervorruft. Grob gesagt: Die Rolle der Theatralität ist mit der dramatisierenden Gewalt nach Katrin Meyer vergleichbar. Beide können ein gewisses öffentliches Interesse auf sich ziehen und dadurch kann ferner eine weitere neue Öffentlichkeit eröffnet werden. Butler sagt, dass »die theatralische Wut Teil des öffentlichen Widerstands gegen jene beschämende Anrufung [ist]« (KG, S. 320).
191 Um ihren Begriff der Performativität nicht nur als genealogisch, sondern auch als iterierbar aufzufassen, fokussiert Butler in dem von Nietzsche übernommenen berühmten Satz, >Es gibt keinen Täter, der hinter der Tat steht<, darauf, »daß es kein >Sein< hinter dem Tun, Wirken, Werden gibt« (HS, S. 74). Butlers Performativität beruht nicht auf der singulären, vereinzelten Tat. Über die Performativität »liegt kein Bezug auf die Tat vor, sondern nur auf das Tun und den Täter« (HS, S. 75).
192 Das Wesen, das als das vordiskursives und zugrunde liegendes Ich angesehen wird, befindet sich vielmehr »unwiderruflich >draußen<« (Butler 2002a, S. 316). In diesem Sinne lässt sich das Performative als die bestimmte Kritik an den »Mechanismen der Naturalisierung des Geschlechts und der Körper im allgemeinem (UG, S. 216)« auffassen (Balzer 2014, S. 421).
193 In diesem Sinne bezieht sich Butlers Performativitätsbegriff, der gegen das expressive Modell steht, somit auf die nietzschesche Genealogie. Im Hinblick auf die Genealogie untersucht Butler nicht nur, wie bzw. unter welchen diskursiven und normativen Bedingungen die intelligiblen und anerkennbaren Menschen sowie Subjekte hervorgebracht werden können, sondern auch, wodurch das regulative Regime der Wahrheit entsteht und sich verändern kann.
194 Zum Beispiel sagt Butler: »Die Normen werden uns nicht einfach gegen unseren Willen auferlegt, sondern sie konstituieren den Willen, der wiederum die Normen reartikuliert. Aber in der aktiven Reartikulation der Normen, die uns konstituieren, liegt auch die Ressource für Abweichung und Widerstand« (Butler 2001b, S. 591).
195 Ich bin der Meinung, dass die Konformität die Möglichkeit der Subversion nicht gänzlich ausschließt. Das KonformSein, »[e]in Anwendungsfall der Norm zu werden« (MG, S. 87), verweist nicht allein auf die gewiss unkritische Automatisierung, sondern eher darauf, »einer abstrakten Gemeinsamkeit unterworfen zu werden« (MG, S. 87), die Gemeinsamkeit, die zur gemeinsamen Basis der Subversion werden kann.
196 Die Normen, die in Form de Zitierung wiederholt werden, erweisen sich andererseits als die strategische Machtbewegung, die mit der Wechselwirkung von zwei Wirkungsweisen der Matrix der Lebbarkeit vergleichbar ist.
197 Honneth, Axel 2004, S. 113: Antworten auf die Beiträge der Kolloquiumsteilnehmer, in: Halbig, Christoph/Quante, Michael (Hg.): Axel Honneth: Sozialphilosophie zwischen Kritik und Anerkennung (Münsteraner Vorlesungen zur Philosophie, Band 5), Münster, S. 99-121.
198 Wie in Kap. 3.1 dargestellt wurde, lässt sich diese soziale Dimension, die Butler mit ihrem Verständnis von Foucault als die juridisch-prohibitiv und produktiv-generativ wirkenden Normen konzipiert, als die Matrix der Lebbarkeit zusammenfassen: Ihr Fungieren, Intelligibilität herzustellen und zu organisieren und zugleich die anderen Möglichkeiten des Lebens zu verwerfen oder sogar auszuschließen, ist auch bei der Anerkennung entscheidend.
199 Nach Butler spielt die Intelligibilität im Vergleich zur Anerkennung eine Rolle, die als »allgemeines historisches Schema oder als Reihe allgemeiner historischer Schemata, die das Erkennbare als solches konstituieren« (RK, S. 14), betrachtet werde kann. Insofern sich die Intelligibilität als menschliche Öffentlichkeit verstehen lässt, ist es bemerkenswert, dass die Vernehmbarkeit des Menschlichen qua Intelligibilität organisiert wird, z. B. ein Leben »gewissen Konzeptionen des Lebens entsprechen [muss], um anerkennbar zu werden« (ebd.). Butler verschiebt die Frage nach der Intelligibilität und Öffentlichkeit, die Frage, »wer oder was als wirklich und echt angesehen wird« (MG, S. 49), in die Frage nach dem Wissen und deswegen der Macht, und schließlich die Frage nach der Anerkennung.
200 Kohl Bernhard fügt den drei Modi der Anerkennung von Deines die Sprache als eine zusätzliche Dimension hinzu (vgl. Bernhard 2017, S. 196 usw.). Doch spielt Sprache bei der Subjektivation und Anerkennung immer schon eine inhärente und immanente Rolle, ohne Sprache ist sowohl Prägung als auch AnVerkennung und auch Ausschluss nicht erklärbar. Daher werden hier nach Deines die drei Modi thematisiert.
201 Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive lässt sich Ausschluss außerdem als »eine Steigerung der vertikalen Ungleichheitslogik« (Meyer 2017, S. 64) definieren, die Regina Becker-Schmidt zufolge als eine »»Rangfolge sozialer Benachteiligung^ die über die Derivation bis zum Ausschluss aus der Gesellschaft als »unterste Stufe der Prekarität< führt« (ebd.). Im Anschluss an Gudrun-Axeli Knapp fügt Meyer dabei hinzu, dass sich »die horizontalen und vertikalen Ungleichheits- und Differenzierungslogiken miteinander verbinden [können]« (ebd.).
202 Im Gegensatz dazu wird der extreme Fall des Ausschlusses in Arendts Politiktheorie im nächsten Kapitel in Bezug auf die Biopolitik Foucaults als Exkurs thematisiert.
203 Der Titel des Artikels fasst treffend diese weniger öffentlichen oder unbetrauerbaren Todesfälle zusammen: »Junge Menschen, die auch im Tod >vermisst< werden« (05.09.2023). Ein herausragendes Problem bei Sozialarbeitern als eine Form von Ersatzdienstleistenden besteht darin, dass sie dem Wehrdienstgesetz unterliegen, sie jedoch weder Soldaten noch Arbeiter sind. Aus diesem Grund werden Selbstmordfälle unter Sozialarbeitern oft an die Polizei weitergegeben. Angesichts der Tatsache, dass Sozialarbeiter in einer von Männern dominierten Gesellschaft oft als Bürger zweiter Klasse behandelt werden und mit Vorurteilen wie >mit ihnen stimmt etwas nicht<, >schwach< >sie leben bequemer als Soldaten im aktiven Dienst< konfrontiert sind, geraten ihre Todesfälle während des Ersatzdienstes in Vergessenheit. https://www.neosherlock.com/archives/23057
204 In Anlehnung an die intersektionale Perspektive lässt sich mit Blick auf die strukturelle Unsichtbarkeit noch allgemeiner definieren, »dass bestimmte Individuen und Gruppen, die aufgrund ihrer komplexen und mehrdimensionalen Diskriminierungen und Marginalisierungen in dominanten, gesellschaftlichen Theorien und Praktiken unsichtbar sind, nicht zählen und als handlungsfähige Subjekte ausgelöscht werden« (Meyer 2017, S. 74). Meyer setzt der Unsichtbarkeit die Anerkennung (der Differenz) entgegen und erläutert weiter, dass die Unsicherheit »das Prinzip der Gleichheit und der Anerkennung von Differenz [verletzt], denn sie schwächt die Möglichkeit der Betroffenen, in einer Gesellschaft handlungsmächtig und selbstbestimmt zu leben, politisch zu partizipieren, Gehör zu finden und als Teil der Gemeinschaft (an)erkannt zu werden« (Meyer 2017, S. 75f.).
205 Nach Agamben wird Souveränität dadurch definiert, dass sie eine Unterscheidung zwischen nacktem Leben und politischer Existenz, zöe und bios, sowie zwischen Ausschluss und Einschluss trifft, nämlich einen Ausnahmezustand festlegt. Der Ausnahmezustand erweist sich als ein Raum, der von der allgemeinen Norm ausgeschlossen ist, und als eine Schwelle der Souveränität, in der die Grenzfigur des Lebens liegt (vgl. ebd., S. 27, 37).
206 Demgegenüber fokussiert Butler das Verhältnis von Prekarität und Prekarisierung, das im nächsten Kapitel thematisiert wird.
207 Butler betont, dass ein unmögliches, unlebbares Leben, das sogar im Ausnahmezustand als kein menschliches Leben bezeichnet wird, dennoch als (Über-)Leben gilt (vgl. Butler & Worms 2023, S. 11).
208 Die Prägung im Moment der Anerkennung Butlers lässt sich von der Missachtung in intersektionalen Studien differenzieren. »Missachtung bedeutet, die personale Einzigartigkeit eines Menschen zu negieren und die kulturellen Leistungen, die eine soziale Gruppe für die Gemeinschaft beiträgt, abzuwerten« (Meyer 2017, S. 65). Unter der Prägung bei der Anerkennung und der Konformität bei der Subjektivation versteht man vielmehr den Prozess, durch den man sich identifizieren und handlungsfähig werden kann.
209 Ein Beispiel Butlers ist eine Demonstration von illegalen Einwanderern in den USA, bei der Demonstranten die ins Spanische übersetzte Nationalhymne sangen. Die Demonstranten verhielten sich auf der Straße so, als käme ihnen tatsächlich dort ein Recht auf Versammlungsfreiheit zu, »wo es gesetzlich verboten ist« (SPZ, S. 40f., 44).
210 Tendenziell lässt sich zusammenfassen, dass Butlers Interesse sich auf Geschlechtsforschung und Dekonstruktivismus des Menschlichen auf dem Feld des Ethischen und Politischen - oder auf das Verhältnis zwischen beiden - richtet. Die Verletzbarkeit tritt aber nicht zum ersten Mal in ihren jüngsten Arbeiten auf. Gezeigt wurde schon bei der Argumentation der heterosexuellen Identifizierung, dass der melancholische Verlust eine konstitutive Rolle spielt, und vor allem geht Subjektivation von Verlust sowie Verletzung aus und als ein wiederholender Prozess spielt sie sich mit beiden gemeinsam ab. Von vornherein macht Butler auf die Problematik des anerkannten und lebbaren Lebens aufmerksam, das auf der Bedrohung der Exklusion gründet. Oder anders gesagt: Obzwar Butler die ethische Frage und Vulnerabilität von Beginn ihrer Arbeit ins Auge gefasst hat, ist etwas Wahres daran, dass sich die Argumentationsweise und die theoretischen Hintergründe bei Butler verschieben: Ihre früheren Auseinandersetzungen mit der Verletzbarkeit beziehen sich meistens auf den Diskurs und die Theorie der Machtbeziehungen, hingegen arbeitet sie tendenziell in ihren jüngsten Schriften mit Levinas und Arendt und das Verhältnis zwischen Ethischem und Politischem sowie die Ethik der Kohabitation stehen deutlich im Vordergrund. Ich bin daher der Meinung, dass bei Butler die ethische Frage mit den politischen Fragen, beispielsweise mit der Frage nach Subjekt, einhergeht. Entsprechend stimme ich auch der Auffassung von Seitz zu, dass die ethischen Fragestellungen »eine immanente Konsequenz von Butlers Denkbewegung selbst [darstellen] und dass in der Tat bereits ihre frühen Schriften - wenn auch zumeist unausgewiesen und implizit - ethische Implikationen mit sich führen« (Seitz 2018, S. 72; vgl. Oberprantacher 2018, S. 216).
211 Zunächst möchte ich klarmachen, wie sich Verletzbarkeit, Prekarität und Vulnerabilität differenzieren lassen, und besonders, wie man Verletzbarkeit und Vulnerabilität voneinander unterscheidet. Zuerst gibt es ein Übersetzungsproblem: In der deutschen Fassung von Notes Toward a Performative Theory of Assembly wird Vulnerability mit Vulnerabilität oder Verwundbarkeit übersetzt, Injurability mit Verletzlichkeit. Spätere Übersetzungen anderer Texte übersetzten Vulnerability mit Verletzbarkeit und Injurability mit Verwundbarkeit. Doch abgesehen vom Übersetzungsproblem und trotz der häufig kontextuellen Wortverwendung Butlers bin ich der Meinung, dass es mindestens drei Dimensionen der Verletzbarkeit bei Butler gibt. In dieser Untersuchung differenziere ich zwischen Injurability die darauf verweist, z. B. durch Normen verletzlich zu sein, als Verletzbarkeit oder Verwundbarkeit, und Vulnerability als Vulnerabilität, die mit Verletzbarkeit nicht vollkommen zusammenfällt (vgl. TV, S. 195).
212 Dennoch weist P Delhom weit auf die wichtigen Unterschiede zwischen Levinas und Butler hin: Im Zentrum von Levinas’ Denken steht die Andersheit des anderen. Im Gegensatz dazu betont Butler, ausgehend von Vorrang des anderen und der Verletzbarkeit, die ethische Verantwortung als Schutz des Lebens des/der anderen, was von vornherein in einem bestimmten sozialen und politische Kontext verortet ist, in dem wir alle relational verbunden sind. Ein weiterer wesentlicher Unterschied besteht darin, dass Levinas die Trennung zwischen Ethik und Politik konsequent beibehält, während Butler »die Beziehung zum Angesicht und die Aufforderung zur Gewaltlosigkeit genauso konsequent und von vornherein im Bereich des Politischen verortet« (Delhom 2016, S. 94).
213 »[...] bemerkt Levinas, dass Leiden (la souffrance) die Grundlage der Verantwortung ist und dass es keine Verantwortung gibt, ohne dass wir Geisel sind« (AS, S. 76).
214 »Wichtig ist, dass diese Art der Verfolgung mich nicht unversehrt lässt, ja diese Verfolgung zeigt gerade, dass ich niemals unversehrt gewesen bin. Ich bin verantwortlich für das, was der Andere getan hat, was nicht bedeutet, dass ich es selbst getan habe, sondern dass ich es erleide und dass ich in diesem Erleiden Verantwortung dafür übernehme« (AS, S. 76).
215 Butler verwendet den Begriff Prekarität je nach Kontext in unterschiedlichen Bedeutungen (vgl. Lorey 2010). In Bezug auf die Verletzbarkeit deutet die Prekarität darauf hin, dass alle Menschen durch die gegenseitige Verletzbarkeit und Interdependenz charakterisiert sind, jeder kann jederzeit ohne Grund in die Unsicherheit geraten. »[I]n einigen der schmerzhaftesten Erfahrungen sozialer und wirtschaftlicher Not [wird] nicht nur unser Gefährdetsein als Einzelpersonen offenbar« (TV, S. 33). Somit erweisen sich in dieser sozial erzeugten Prekarität Angst und ein Gefühl des Scheiterns als soziale Affekte, von denen ausgehend neue Solidarität und Koalitionen entstehen können (vgl. ebd.).
216 Wie Lorey somit zu Recht betont (vgl. Lorey 2010, S. 23f.), ist die Reziprozität zwischen Verletzbarkeit und Prekarität wichtig. In ihren jüngsten Arbeiten zeigt sich eine Tendenz bei Butler dahingehend, dass sie selbst die Verletzbarkeit in die Prekarität hineinbringt und der Prekarität somit besonderes Gewicht beimisst.
217 »Selbst wenn alle Bürger gleichermaßen homines sacri sind, wie er annimmt, so sind sie dies doch nicht in gleicher Weise. Agamben beschränkt sich darauf, zu konstatieren, dass alle ausnahmslos von der Reduktion auf den Status >nackten Lebens< betroffen sind - ohne den Mechanismus der Differenzierung auszuweisen, der zwischen verschiedenen >Lebenswertigkeiten< unterscheidet und innerhalb der scheinbar egalitären Betroffenheit wiederum Spaltungslinien einführt« (Lemke 2004, S. 262).
218 Wenn Butler die Handlungs- und Widerstandsmöglichkeit von Geflüchteten erwähnt, unterscheidet sie sich nochmals explizit von seiner Position, inwiefern die Geflüchteten als sog. nacktes Leben für ihr Leben und die Leben um sich herum aktiv reagieren. »Die an den Grenzen Europas Gestrandeten stehen nicht unbedingt für das, was der politische Philosoph Giorgio Agamben als >bloßes Leben< bezeichnet, Menschen, denen jede Handlungsfähigkeit genommen und deren Leiden nicht anerkannt wird« (EP, S. 235). Butler sagt weiter: »[S]ie improvisieren ein Zusammenleben, nutzen Mobiltelefone und planen und handeln, soweit es eben möglich ist, sie lernen Sprachen, erstellen Karten« (EP, S. 235).
219 In diesem Sinne erwähnt Butler auch D. Haraway: »Wenn man gar nicht wirklich von Körpern sprechen kann, ohne auch deren Umwelt, die Maschinen und komplexen Systeme gesellschaftlicher Abhängigkeit zu berücksichtigen, auf die sie angewiesen sind, dann sind all diese nicht-menschlichen Dimensionen des körperlichen Lebens folglich konstitutiv für das menschliche Überleben und Gedeihen« (TV, S. 173). Wenn Butler in ihren früheren Werken Körper so definiert, dass dieser sich materialisiert - innerhalb der Sprache und des Komplexes von Normen und Diskursen seine Bedeutung verkörpert - lässt sich grob sagen, dass es in ihren jüngsten Texten um den Körper geht, der sich verändert und in Bezug auf die technische und maschinelle Unterstützung altert.
220 Anders als Verletzbarkeit und Prekarität in Butlers Denken findet man Arendts biopolitische Problematik in dem bestimmten historischen Zeitraum des Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Ein wichtiger Unterschied zwischen Arendt sowie Foucault und Agamben besteht darin, dass Agamben den Begriff Biopolitik enthistorisiert, indem er »die Ursprünge von Biopolitik in die römische Rechts-Figur des homo sacer zurückverlegt und ihr zugleich durch die Annahme einer letztlich unhintergehbaren Trennung und >Entkoppelung< von qualifiziertem menschlichem Leben (bios) und natürlichem Leben (zoe) eine ontologische Fundierung verschafft hat« (Wehling 2019, S. 380). Hingegen findet man bemerkenswerte Gemeinsamkeiten zwischen Arendts Totalitarismusanalyse und Foucaults Biomacht, z. B. die Entwicklung des Kapitalismus als historisch-sozialer Hintergrund der Biomacht (vgl. Foucault 1977, S. 136; Wehling 2019, S. 383; Braun 2007, S. 17; Lemke 2004, S. 268). Nach Foucault kann der moderne Nationalstaat vor einem bestimmen historischen Hintergrund zustande kommen, und zwar Kapitalismus und Rassismus, der die politische Rationalität ist, den die »liberalen Demokratien mit totalitären Diktaturen teilen« (Lemke 2004, S. 266).
221 Dass er bei der Argumentation über die Biomacht Foucaults die Akzentuierung weniger auf das Gesetz, sondern auf die Norm und Normalisierung richtet, bildet einen interessanten Schnittpunkt, insofern das unendliche Bewegungsgesetz der totalitären Biomacht Arendts nicht durch das positive Recht, sondern durch die alltäglichen Regulierungen und Normen konkretisiert wird (vgl. UT, S. 953, S. 947). Hier wird auch gezeigt, dass in diesem Zusammenhang sich sowohl bei Foucault wie auch bei Arendt der Staat als die zentrale privilegierte Initiative der Machtbeziehungen erweist (vgl. Foucault 1997, S. 144; Wehling 2019, S. 383). Bei beiden beruht somit die Biomacht bzw. das totalitäre bevölkerungspolitische Projekt auf der totalitären Bürokratie oder dem Verstaatlichungssystem als Mechanismen der Biomacht. Im vergleichenden Kontext der Biomacht Foucaults ist wichtig, dass der Totalitarismus in Gang gesetzt wird, indem das Bewegungsgesetz als die Form »fortlaufender, regulierender und korrigierender« (Foucault 1977, S. 139) Normen von allen verkörpert wird. Indem der totalitäre Staat als biopolitischer Mechanismus fungiert, besitzt Rassismus nach Lemke »eine physische Qualität. Nicht nur ist er als >Staatsrassismus< dem Gesellschaftskörper, seinen Institutionen und Organen eingeschrieben, er materialisiert sich auch in den Alltagspraxen und Affekten der individuellen Körper« (Lemke 2004, S. 266).
222 »Das Wort vulnerability leitet sich vom lateinischen vulnus ab, was sich ins Deutsche als >Verletzung<, >Verwundung< oder >Wunde< übertragen lässt, und ist damit eindeutig negativ kosnotiert. Das Suffix gibt zu verstehen, dass das Wort im Modus des Potentialis steht. Dementsprechend lautet die Definition des Oxford English Dictionary von vulnerable denn auch: >exposed to the possibility of being attacked or harmed< (Soanes 2006, S. 1166)« ((Pistrol 2023, S. 60).
223 Das rückhaltlose Ausgesetztsein ist also »die Bedingung nicht nur für die Erfahrung von Schmerz und Leid, sondern ebenso für das Erleben von Leidenschaft, Liebe und Freundschaft« (Pistrol 2023, S. 61).
224 Nach den intensiven Auseinandersetzungen um den Unterscheid zwischen Hannah Arendt und Judith Butler werde ich darauf eingehen, dass bei Butler Körper, Subjekt und (performative) Handlungsfähigkeit in der merkwürdig engen, aber miteinander nicht deckungsgleichen Beziehung stehen, die sich selbst in der Konsequenz des Politischen zeigt und umgekehrt die politische Kontingenz hervorbringen kann.
225 Das Ausgesetztsein, die ekstatische Struktur und Offenheit wie auch das Geöffnetsein sind miteinander verwandte und relevante Begriffe. Ein kleiner, aber nicht übersehbarer Akzent Butlers liegt auf dem Begriff der Offenheit: Während das Ausgesetztsein sich als eine grundlegende Bedingung ansehen lässt, die nicht ein statischer Status, sondern beweglich und dynamisch ist, ist Offenheit als ein Modus der Erfahrung zu betrachten, den man nicht selbst annimmt, sondern der eher unter der Bedingung des Ausgesetztseins erzwungen ist.
226 Wie schon in Kapitel II dargestellt wurde - anders als die Interpretation, Arendt als Konsens-Theoretikerin, die z. B. S. Benhabib vertritt - bin ich der Meinung, dass Arendts Handeln und Pluralität Begriffe des Antagonismus und der Ago- nalität mehr in den Vordergrund rücken sollen, und von diesem Verständnis ausgehend vertrete ich die Meinung, dass ihre Politik auf einer eigenartigen souveränen Mobilität beruht, die sich auf den politischen Antagonismus bezieht.
227 Daher gäbe es kein Ende des Handelns, sondern das Ende des Neuanfangs ist nach Arendt »also eigentlich unerzählbar« (D, S. 352).
228 »>Erzählbare Geschichten< nennt Arendt auch >die eigentlichen ,Produkte‘ des Handelns< (VA, S. 227), wobei sie das Handeln nicht als auf die Geschichten abzielend versteht, sondern letztere als unintendierten Nebeneffekt jeglichen Handelns bezeichnet« (von Redecker 2018, S. 188).
229 Arendt unterscheidet die historische oder biografische Zeit von der Zeit des Denkens oder der politischen Geschichte, die man durch die unberechenbaren Neuanfänge nicht ohne Unterlass in Gang setzen kann. Es gibt einen Vorbehalt von Arendt, dass die Zeitlücke sich auf das »Gebiet der geistigen Erscheinungen« (LGD, S. 205) bezieht. In diesem Sinne ist die zeitliche Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft eine spezifische Erfahrung des denkenden und handelnden Ich.
230 In Bezug auf das Politische aus dem Handeln, dessen Merkmal als eine radikale Unbestimmtheit und spontane Konstruktivität stets von der Pluralität abhängt, ist das Herstellen nicht immer durch die Gewalt, durch das Mittel-Zweck-Verhältnis beschränkt und die Ergebnisse, die durch Herstellen erzeugt werden, sind ebenso nicht immer un-, prä- oder antipolitisch. Herstellen kann zunächst einen Beitrag dazu leisten, das menschliche Alltagsleben zu bilden und zu regulieren sowie das menschliche Zwischen zu unterstützen. In diesem Sinne nähert sich das Gesetz dem Handeln an, insofern es den Erscheinungsraum und die menschliche Pluralität unterstützt: »Gesetze regeln den >politischen<, d. h. den Bereich des Zwischen der menschlichen Welt« (D, S. 150).
231 >Relativ< bedeutet in dem Sinne, dass menschliche Handlungen und Worte nicht zur Ewigkeit werden und somit anderen Neuanfängen nicht im Wege stehen.
232 Andererseits spricht Arendt von der Sedimentierung des Getanen. Obwohl die Ereignisse in der Geschichte als Unterbrechung auftreten, wird bei Arendt das Getane nach der Zeit als Tatsachen (in) der Geschichte sedimentiert und »[a]ls solche werden sie dem Geschehen assimiliert und verlieren gerade ihren Ereignischarakter« (D, S. 326).
233 »Welt und Menschen wollen gerühmt sein, ihre Schönheit soll nicht unbemerkt bleiben« (LGD, S. 133).
234 In Bezug auf den Begriff Geschichte kommt dem Publikum in Arendts Erklärung offenbar eine zentrale Bedeutung zu. Durch Hören und Erzählen werden die großen Taten der Vergangenheit in der Gemeinschaft des Publikums aufbewahrt (vgl. VA, S. 230). Ferner ist ein Neuanfang lediglich möglich, sofern es die Gemeinschaft von Zuhören und Erinnern gibt. Ausgehend von Erzählen und Erinnern wird eine gemeinsame Identität gebildet, mit deren Hilfe sich die Zuschauer mit dem politischen Gemeinsamen verbinden - wie Passerin d’Entreves zitiert: »As Sheldon Wolin has aptly put it, ,audience is a metaphor for the political community whose nature is to be a community of remembrance.' In other words, behind the actor stands the storyteller, but behind the storyteller stands a community of memory« (Passerin d’Entreves 1994, S. 75f.). Arendt fasst die Geschichte als ein Narrativ vergangener Ereignisse auf, das ohne Erzählt- und Gehörtwerden, also ohne Erinnertwerden, nicht bestehen kann.
235 Aus dieser Perspektive ist zu argumentieren, dass Arendt dem Vergangenen große Bedeutung zuschreibt. Der kontingente und unberechenbare Charakter des Handelns, nämlich der Unterbruch der Tradition, weist nicht darauf hin, die Vergangenheit zu verwerfen oder auszulöschen, sondern ihre Ansicht verkehrt sich völlig ins Gegenteil: »Die Vergangenheit ist die Dimension der Grösse. [...] Wer ohne Vergangenheit lebt, dem fehlt die Dimension der Grösse« (D, S. 290).
236 Vgl. Brubkhorst 1999, S. 123; Kapitel II 2.1
237 Zur wahren Geschichte als Kette der großen Handlungen lässt sich jedoch noch etwas hinzufügen: Arendt stellt im Denktagebuch den Handelnden als ein Individuum dar (vgl. D, S. 284), indem sie mit den Begriffen Erinnerung sowie Handeln und Geschichte das Narrativ, mit dem der sterbliche Mensch zum unsterblichen wird, in Beziehung setzt. »Durch Handeln trete ich in die endlose Welt der Menschen ein und partizipiere an der Unsterblichkeit des Menschengeschlechts. In ihr kann ich als Individuum nur durch Tun >unsterblich< werden« (D, S. 284, Hervorh.: Choi).
238 Die Diskurse, die sowohl produktiv als auch juridisch sind und auf denen die Normen basieren, fungieren strategisch, das heißt, »[e]s ist nicht einfach so, daß Diskurse in Geschichten angesiedelt sind« (KG, S. 380), sondern in der Geschichte sind die Diskurse selbst konstitutiv (vgl. ebd., S. 312).
239 Wodurch man diese vorweggenommene Gegenwart öffnen kann, bleibt bei Butler ebenfalls eine offene Frage. Zum Beispiel kann die alternative Zeit nach Butler dadurch zustande kommen, dass gewisse Wiederholungen zum Stillstand gebracht werden. Dieser Unterbruch bezeichnet eine Art der ethischen Pflicht, »im eigenen Verhalten die Gewalt der eigenen Subjektbildung nicht zu wiederholen« (RK, S. 155).
240 Die Erscheinung Arendts lässt sich nicht als essenzialistisch betrachten, wie z. B. die Ansicht von Dana Villa, die in Kap. 2.1 dargestellt wurde. Erscheinung deutet nicht darauf hin, dass etwas von der innerlichen Essenz aus erscheint. Doch in der Erscheinung gibt es das Verborgene. Analog dazu, dass das Handeln auf dem Arbeiten beruht, kann Arendts Performativität bei der Erscheinung insofern zutage treten, als sie auf dem Verborgenen basiert.
241 Die Nichtlokalisierbarkeit des Denkens deutet darauf hin, dass Denken sich »weder im öffentlichen Bereich, wo wir mit der Welt und dem, was uns gemeinsam ist, beschäftigt sind, noch im Privaten, wo wir es mit dem uns Eigenen und dem zu tun haben, was wir vor der Welt verbergen wollen, noch im gesellschaftlichen Bereich« entfaltet (D, S. 725). Nirgends zeigt sich das Spannungsverhältnis mit der Öffentlichkeit als Topos des Denkens: Dass das Denken von der Öffentlichkeit einen gewissen Abstand hält, heißt einerseits, dass es nicht mit dem Innerlichen gleichgesetzt wird, obzwar beim Denken der Denkende sich zurückzieht. Andererseits ist Denken von der Welt und Öffentlichkeit nicht scharf getrennt, denn diese eigenartige Distanzierung ist dadurch möglich, dass aus den Geistestätigkeiten Arendts nicht nur z. B. die Urteilskraft, sondern auch das Denken nach dem Gemeinsinn, sensus communis, folgt. Der Dialog zwischen mir und dem an den anderen denkenden Ich bezieht sich auf das weltliche Zwischen. Also bezeichnet das Denken nach der arendtschen Unterscheidung bereits das Denken-über, über die Welt und Öffentlichkeit zu denken, worin der Denkende sich einfügt (vgl. LGU, S. 60; LGD, S. 184).
242 Um mögliche Missverständnisse zu minimieren, wird eine zusätzliche Erklärung hinzugefügt: Wenn sich die Souveränität des denkenden und handelnden Subjekts, das fähig ist, sich als seine eigene Zeitlichkeit zu öffnen, mit der Mobilität des Subjekts verknüpft, stellt sich die Frage: Warum wird das Hiersein als ein Kampf gegen den immerwährenden Strom des Zeitflusses nicht zur Immobilität, sondern ebenso zur Mobilität gezählt? Dies lässt sich auf die Art und Weise zurückführen, wie der kontingente Bruch in der homogenen Zeit verstanden werden kann. In Arendts Politiktheorie wird das Hiersein als ein gewisser Bruch im Kontinuum des alltäglichen Lebens geschaffen, woraus eine Hierarchie zwischen öffentlichem und freiem Leben und dem Alltagsleben entstanden wird. Wenn das Hiersein als Schlachtfeld betrachtet wird, ist es eine Schlacht, um diesen hierarchischen und vorrechtlichen Status aufrechtzuerhalten, insofern das Hiersein in Form des Ausweitens ohne ständig mutige und innovative Handlungen nicht bestandet werden kann. In diesem Sinne weist das Hiersein bereits auf einen Beweis für Vortrefflichkeit und politische Tugend hin.
243 Das Wort poiesis verwendet Butler nur selten, z. B. im Gespräch mit Athanasiou im Kontext von Foucaults Entunterwerfung (ME, S. 101; vgl. Butler 2002b, S. 251, S. 264 »Künste der Existenz« usw.), doch diese gelegentliche Verwendung scheint interessanterweise eine Möglichkeit der Auseinandersetzung zu bieten. Insofern entspricht poiesis nach arendtscher Unterscheidung dem Herstellen. Das ist nach Arendt die Tätigkeit, die nach einem vorgegebenen Muster vollzogen wird, und es gibt einen klaren Anfang sowie ein klares Ende. Der Subjektivation als poiesis ist das Muster oder der Vorgang schon gegeben, die Art und Weise der Subjektivation wird bereits bestimmt und in hohem Maße reguliert, aber dies kann geändert werden.
244 Im Kapitel 2.1 wurde bereits dargestellt, dass sich aus dem Begriff der Erscheinung die Subjekttheorie Arendts implizit begreifen lässt. Hauptsächlich wird gezeigt, wie in und durch die Erscheinung, die auf einem spezifischen Redeakt wie dem >Aufschluss-über-sich-Geben< und auf den verschiedenen geistigen Fähigkeiten neben der Fähigkeit zum Handeln und auch auf dem Eigentum basiert, ein sich selbst- und weltschaffendes Subjekt konstituiert, das als souverän und autonom betrachtet wird und somit als ein beispielhaftes Moment der Mobilität thematisiert wird. Hinzufügend lässt sich sagen, dass der Begriff Erscheinung m. E. in der Spannung zwischen Performativem und Expressivem liegt. Das Subjekt der Mobilität, das als selbstschaffend und atomistisch festgelegt ist, lässt sich zwar als konstruktiv, aber weniger als performativ betrachten. Diese Betrachtung ergibt sich daraus, dass die Mobilität im politischen Kontext die Verletzbarkeit und Prekarität ausblendet, welche als die Ergebnisse der Unterwerfungen und Unterdrückungen aus den spezifischen Machtbeziehungen auftreten. Ohne die Verletzbarkeit, Prekarität oder eine mit ihnen einhergehende grundlegende Passivität im Politischen, also die Vulnerabilität, bleibt Performativität als subversive Möglichkeit des Politischen unerreichbar. Hingegen weist die butlersche poiesis, die auf Wiederholung basiert, darauf hin, dass Butlers Subjekt vor allem in Abhängigkeit vom Raster der Intelligibilität und der Anerkennung hergestellt wird - mit anderen Worten durch die Matrix der Lebbarkeit, die dem Subjekt vorausgeht und es reguliert.
245 Nach Kant hält Arendt fest, dass »das Denkvermögen selbst von seinem öffentlichen Gebrauch abhängig ist. Ohne die Überprüfung durch die freie und öffentliche Untersuchung< sind kein Denken und keine Meinungsbildung möglich« (LGU, S. 64).
246 Das Denken weist zudem nicht unbedingt darauf hin, »über sich selbst nachzudenken« (ebd.), sondern vielmehr darauf, »>mit< sich selbst zu denken« (ebd. Hervorh.: Choi).
247 Zum Beispiel hilft das Denken bei der Formulierung der Antwort auf die Frage >Wer bist du?<, wenn das Ich in die Öffentlichkeit tritt: »Denken sei ein Dialog mit sich selbst, an dessen Ende Meinung stehe« (Bajohr 2011, S. 110).
248 Wenn man ferner aus der typisch arendtschen Trennung, ihrem Dualismus zwischen Dunklem und Hellem, zwischen Privatem und Öffentlichem, die Konsequenz zieht, dass sich Körper und Geist in Verbindung mit Freiheit unterscheiden, steht die arendtsche Abspaltung der Inszenierung des Körpers auf der Straße Butler entgegen, was im nächsten Kapitel thematisiert wird.
249 Butlers Interesse oder ihr theoretisches Ziel richtet sich darauf, wie bzw. inwiefern sich dieses konstitutive Außen nicht einfach unter den herrschenden Normen normalisieren oder integrieren lässt, sondern wie bzw. inwiefern sich ein neuer Bereich der Lebbarkeit erweitern lässt.
250 Es lässt sich nicht übersehen, dass das Außen sich auf die Prekarisierung bezieht, doch das Außen wird laut Butler als »dünnste Ränder« (KG, S. 30) des herrschenden, hegemonialen Diskurses kennzeichnet.
251 Dies ist nach Jacques Rancière die Paradoxie, dass die Erscheinenden Arendts so tun müssen, »als ob bereits der Raum existierte, in dem ihr Sprechen und Handeln zählt« (Rebentisch 2022, S. 250), dass die Handelnden oder die Streitenden »das voraussetzen müssen, was sie als Ergebnis anstreben« (ebd.).
252 Eva von Redecker erwähnt auch, dass es wegen »ihr[er] viel moniert[en] Kontrastierung des Öffentlichen mit dem Privaten« (von Redecker 2018, S. 189) eine Spannung in Arendts Politiktheorie gibt zwischen der Öffentlichkeit als Raumgebundenheit, »>die Öffentlichkeit sei ein eindeutig lokalisierbarer Ort« (ebd.), und den »an die Kollektivität konzentriert Handelnden« (ebd.).
253 In einer anderen Untersuchung von Arendts Raumkonzept und politischen Eigenschaften, die von Solmaz durchgeführt wurde, wird die agonale Bühne der Spontaneität dem institutionalisierten Raum der Deliberation gegenübergestellt (vgl. Solmaz 2016b, S. 179).
254 Hingegen bin ich der Meinung, die ich im Kapitel VI versuche zu konkretisieren, dass etwas Nichttransponibles in ambivalenter Weise eine Basis für Widerstand sein kann; im widerständig praxisbezogenen Sinne muss Immobilität, die sich als das leidenschaftliche Ausharren und zugleich als die performative Inbesitznahme erweist, nicht transponibles Da und Hier als die immer schon vermittelte Beziehung zusammenhängend vorstellen.
255 »Wenn männliche Bürger den öffentlichen Platz betreten, um über Fragen der Gerechtigkeit, der Vergeltung, des Krieges oder der Emanzipation zu diskutieren, setzen sie den illuminierten öffentlichen Platz als architektonisch umschlossenes Theater ihrer Rede als gegeben voraus« (TV, S. 103).
256 Die wichtigsten Faktoren beim Handeln, nämlich eigene Virtuosität vortrefflich zu entfalten, etwas Neues anzufangen und daher Lob von anderen zu bekommen, ergeben sich aus dem gegenseitigen Verhältnis zwischen Akteur und Zuschauer. Der Akteur ist insofern von den Zuschauern abhängig, als für den Schauspieler »entscheidend [ist], wie er anderen erscheint« (LGD, S. 99), und »das endgültige Urteil über seinen Erfolg oder Misserfolg bei ihnen [liegt]« (ebd.).
257 »Für Arendt muss das Leben des Körpers größtenteils von dem des Geistes getrennt werden; dem entsprechend unterscheidet sie in ihrem Werk Vita activa zwischen der öffentlichen und der privaten Sphäre« (TV, S. 261).
258 Butler stellt aus geschlechtsspezifischer Perspektive Arendts Raumtrennung infrage, da sie »die Sphäre der Politik den Männern und die Reproduktionsarbeit den Frauen überlässt« (TV, S. 103), und ferner, da »Männer den Übergang von jener privaten Dunkelheit in das Licht der Öffentlichkeit [vollziehen]« (TV, S. 103). Neben der zweigeschlechtlichen Raumzuweisung lässt sich kritisch hinzufügen, dass nach Butlers Ansicht Arendt eine volle Mündigkeit im politischen Feld voraussetzt. Der Handelnde ist nicht nur der männliche Erscheinende, sondern auch der männliche Erwachsene (vgl. EP, S. 53, 65; Kapitel 4.2).
259 In Bezug auf J. Rancieres >die Anteillosen< oder Butlers Lesart von Arendt findet sich eine weitere performative Möglichkeit der Pluralität Arendts. Dennoch gibt es hier immer noch die Gefahr, dass bestimmte Menschen, die ohne Recht auf Erscheinung in Erscheinung treten, als ob bereits ein Handlungsraum für sie existierte und als ob in diesem Raum ihr Handeln und Sprechen von Bedeutung wäre, gewaltsam auf die Dimension der Körperlichkeit zurückgestoßen werden (vgl. Rebentisch 2022, S. 250, 251).
260 Dies bildet schon einen Gegensatz zu Arendts vorgefertigtem Subjekt. Genaueres in Kapitel II. 2.1.
261 Wie schon bekannt, setzt Butler das Individuum mit dem Subjekt nicht in eins. Es ist »die sprachliche Gelegenheit des Individuums, Verständlichkeit zu gewinnen und zu reproduzieren, also die sprachliche Bedingung seiner Existenz und Handlungsfähigkeit« (PM, S. 15). Wenn ein Individuum sich per definitionem auf Einzigartigkeit und auf Bürgertum bezieht, gehört es zur sozial-bürgerlichen Kategorie, die zwar mit der politischen eng verbunden ist, die aber mit der politischen Kategorie nicht deckungsgleich korrespondiert. Im Kontext der Kritik an Agamben lässt sich die Gefahr des Individuumsbegriffs ablesen, der sich implizit darauf bezieht, dass sich das Verhältnis zwischen dem Politischen und dem Leben in das Verhältnis zwischen Souveränität und juridisch-bürgerlicher Mitgliedschaft verwandelt (vgl. SPZ, S. 29 f.).
262 Nach Butler lässt sich dieses Phantasma im Lacanschen Spiegelstadium finden (vgl. KG, S. 356f.). Es bezieht sich auf das zweite Moment in der Subjektivation bei Butler, nämlich auf die Verleugnung, gemäß der ein Subjekt die Selbstwirksamkeit erleben kann. Weitere Details finden sich in Kapitel III. 3.2.
263 Ein relevantes Argument ist in Kapitel 1.2 zu finden und besagt, dass Arendts Pluralität als »Vielfalt der Perspektiven« (Marchart 2005, S. 142) beleuchtet. Die Pluralität Arendts basiert auf der >Pluriperspektivität< und sie existiert als solche.
264 Im Gegensatz dazu, dass Arendt den Sinn und das Ziel des Politischen als Freiheit festlegt, liegt der Grund des Widerstandes bei Butler in einer Unerträglichkeit, »eine Situation zu beenden, die länger ertragen wurde, als sie hätte ertragen werden sollen« (ebd.). Beispielsweise spricht Butler davon, dass die Menschen, die prekarisierten Körper, sich in großer Zahl erheben, »wenn sie empört sind oder ihre Unterjochung satt haben« (Butler 2019b, S. 125).
265 »Sich zeigen, stehen, atmen, sich bewegen, stillstehen, reden und schweigen sind allesamt Aspekte einer plötzlichen Versammlung, einer unvorhergesehenen Form politischer Performativität, die das lebenswerte Leben in den Vordergrund der Politik rückt« (TV, S. 28f.).
266 Bei der Frage, aus welchem Grund sich diese rhetorischen Effekte des sprechenden Körpers als das Ausüben zum performativen Recht ablesen lassen, gibt es gewissermaßen einige Gefahren, wenn Butler diese unkontrollierbaren Effekte der sprechenden Körper auf das politische Potenzial bezieht, das bedauerlicherweise nicht immer demokratisch widerständig sein kann. Trotz dieser Gefahr möchte sie aufzeigen, dass das politische Potenzial auf den gemeinsamen und nicht selten auf den verleugneten Körpern basiert und von ihnen ausgehen kann.
267 Menke fasst das Menschenrecht bei Arendt zusammen, indem er betont, dass das einzige Recht, das »nicht >aus der Nation< entspringt und das einer anderen Garantie bedarf« (Arendt 1949, S. 766), »den Status der Mitgliedschaft in einem politischen Gemeinwesen nicht ungefragt schon voraussetzt« (Menke 2008, S. 140), sondern vielmehr ein Recht »>auf< Mitgliedschaft [ist] - das >Recht, einer politisch organisierten Gemeinschaft zuzugehören< (Arendt 2009, 760)« (ebd., S. 139)
268 Für Butler muss das Versammlungsrecht oder genauer die Versammlungsfreiheit nicht nur »jeder Regierungsform, die das Recht darauf erlässt und schützt, voraus- und über sie hinausgehen« (TV, S. 208), und »>die Legitimationsbedingungen des Staates gehen in dem Moment verloren, in dem die Versammlungsfreiheit ihrer kritischen und demokratischen Funktionen beraubt wird<« (TV, S. 212), was nicht bedeutet, dass die Versammlungsfreiheit von der staatlichen Souveränität unabhängig ist. Sondern nach Butlers Ansicht kann die Staatssouveränität die Versammlungsfreiheit instrumentalisieren, indem sie diese Freiheit eines bestimmten Teils der Bevölkerung selektiv unterstützt oder verbietet. Die Kontrolle der Versammlungsfreiheit ist also eine der herrschaftlichen Strategien, die Prekarität ungleich zu verteilen, und Butler macht darauf aufmerksam, wie die Prekären als solche auf diese gesellschaftliche Verletzbarkeit re-agieren.
269 Aus der erstgenannten Perspektive erweisen sich die Menschenrechte bereits als die Rechte der Mitgliedschaft, die bürgerliche Rechte, die durch Souveränität eines bestimmten Staates in Kraft gesetzt werden. Denn die Rechte nach Jeremy Bendam »gibt es nur aufgrund von Gesetzen. Gesetze aber werden immer nur für bestimmte politische Einheiten, im modernen Verständnis: für bestimmte Staaten, gegeben« (Menke 2008, S. 134).
270 Die zweite Perspektive steht im Gegensatz zur ersten, dass die Menschenrechte unabhängig von staatlicher Mitgliedschaft zu verstehen sind. Mit der Naturalisierung im Hinblick auf Naturrecht »untergräbt die Erklärung der Menschenrechte aber gerade [die Idee der Gleichheit], auf der jede rechtlich geregelte politische Mitgliedschaft beruht« (Menke 2008, S. 136). Denn nach Arendt »[ist] Gleichheit kein Attribut des natürlichen Menschen, sondern des politischen Mitglieds. Deshalb muß gerade die Berufung auf den natürlichen Menschen jeden Anspruch auf gleiche Rechte zerstören« (ebd., S. 136f.). Die naturrechtliche Perspektive kann folglich nicht umhin, die Erklärung von Menschenrechten als apolitisch zu betrachten (vgl. UT, S. 619).
271 Um zu argumentieren, führt Butler in ihrem Gespräch mit Gayatri Spivak, Sprache, Politik, Zugehörigkeit, ein wichtiges Wortspiel ein, das sich daraus ergibt, dass der Staat und der Zustand auf Englisch identisch durch state bezeichnet werden. Für die Unterscheidung wird Staat als State, Zustand als state geschrieben (vgl. SPZ, S. 7-10).
272 In ähnlicher Hinsicht stellt Arendt einen bestimmten verworfenen Zustand von Flüchtlingen als Naturzustand dar, der inmitten der zivilisierten Welt »alle jene Bezüge zur Welt und alle jene Bezirke menschlichen Daseins« (Arendt 1949, S. 763) lädiert. Der zentrale Unterschied zwischen Arendts Naturzustand und dem von Butler in Sprache, Politik, Zugehörigkeit erläuterten Zustand besteht darin, dass Arendt der Ansicht ist, dass in dieser Ausschließung und dem Naturzustand keine politischen Möglichkeiten bestehen können, da nach Arendt diejenigen, die in den Naturzustand zurückgeworfen wurden, keine Spuren hinterlassen und ebenso keinen Beitrag zur gemeinsamen menschlichen Welt leisten können (vgl. ebd.).
273 Butler bemerkt immer wieder plurale und performative Akte wie den öffentlichen Trauerakt oder Demonstrationen sog. illegaler Einwanderer in den USA, bei denen die US-amerikanische Nationalhymne auf Spanisch gesungen wurden. Dabei betont Butler, »dass Singen ein pluraler Akt und Ausdruck von Pluralität ist« (SPZ, S. 41f), darüber hinaus, dass die Demonstranten das Recht darauf, sich frei zu versammeln und zu erscheinen, vorwegnehmend performativ ausüben.
274 Hierbei lässt sich auf den Begriff des Gesetzes bei Arendt eingehen, dessen Rolle als weltkonstituierend und weltverbindend betrachtet wird. Im Konzept der Mobilität, das auf der Politiktheorie Hannah Arendts basiert, scheint das Gesetz weniger eine erweiternde oder verbindende Rolle zu spielen, insofern es die Beziehungen zwischen isonom handelnden Individuen garantiert, als vielmehr eine Grenzziehung zwischen dunklem und öffentlichem Raum für die Mobilität zu verdeutlichen. Somit leistet das erwähnte Modell einen Beitrag, um zu bestimmen, welche Bewegung sich als sinnvolle Mobilität anerkennen lässt - nur dann, wenn die durch das Gesetz geschaffene Grenze überschritten wird.
275 In der Politiktheorie von Butler werden Medien nicht lediglich als Mittel zur Informationsvermittlung betrachtet (vgl. Prager 2018, S. 193). Stattdessen sind sie eine Variante des Darstellungsmodus der Wirklichkeit, der über Szenen berichtet, und zugleich ein Netzwerk von Darstellungen, die nicht von Personen ausgewählt werden und sich ohne Zustimmung aufdrängen. In diesem Sinne werden sie als »selbst Teil des Geschehens« betrachtet (vgl. TV, S. 123).
276 Butlers Hervorhebung besteht darin, strategischen Machtbeziehungen - bei politischer Handlung und der Dynamik des Politischen - als dem Dritten spezifische Bedeutung beizumessen. Dabei unterscheidet sich ihre Perspektive nicht nur von Arendts nahezu unmittelbar kompossiblem Zusammenhang zwischen dem handelnden Subjekt und der Politik, sondern auch davon, dass Levinas’ Auffassung auf einer dualistischen und direkt gegenseitigen Ethik basiert.
277 Erwähnenswert ist, dass die Wiederholung als Handlungsform eine Besonderheit aufweist: Die Handlung beruht nicht nur auf medialen und vermittelten Beziehungen, sondern fungiert auch als eine Vermittlung, indem sie sozusagen das Subjekt der Wiederholung mit den Handlungen anderer und anderen verknüpft. Daher stehen die Matrix der Lebbarkeit - die gesamte Systematik dieser Vermittlungen - und die Wiederholung als Handlungsform in wechselseitiger Abhängigkeit. Eine detaillierte Erläuterung der Matrix der Lebbarkeit ist in Kap. 3.1 zu finden.
278 In der heutigen Welt ist die Mobilität - auch im Sinne der modernen Bewegungsfreiheit, die durch Gesetze garantiert wird und auf der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Individuums beruht - noch politisch von Bedeutung, da sie eine Unterscheidung zeigt: Wer kann die globale Welt genießen, um die ganze Welt unterwegs sein, und wer nicht: Der »deutsche[] Pass erlaubt den visumfreien Besuch von 191 Ländern, einer Bürgerin in Simbabwe [...] steht nicht mal ein Drittel davon offen, schon gar nicht gen Norden« (von Redecker 2023, S. 10). In bestimmtem Sinne lässt sich die Bewegungsfreiheit durch und durch als materiell betrachten. Dieses >materiell< weist auf die wirtschaftliche, soziale Ungleichheit hin. »Bewegungsfreiheit bedeutet zum Beispiel nicht, einfach vors Haus treten zu dürfen, sondern mit privaten Autos, mit Fluggesellschaften und Schienenverkehr mobil zu sein« (ebd., S. 69).
279 Einerseits fokussiert sich Arendt auf die klare Unterscheidung zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, während sich andererseits in ihrer politischen Theorie ein Spektrum der Erscheinung findet (vgl. Kapitel 2.1).
280 Unter diesem mobilen Aspekt lässt sich verstehen, wieso >displaced persons< überflüssig werden und ihre Handlungsfähigkeit verloren geht (vgl. Meints-Stender 2007, S. 256).
281 Während Butler das körperliche Beisammensein hervorhebt, wird bei Arendt die körperliche Anwesenheit im öffentlichen Raum als weniger bedeutsam als der Redeakt betrachtet. Dennoch ist die körperliche Anwesenheit oder der Körper an sich gleichzeitig als Bedingung von Bedeutung, um zu erscheinen.
282 Die Idee, >Immobilität< als einen politikwissenschaftlichen Begriff zu entwickeln, befindet sich in einer kurzen Passage des Gesprächs von Butler mit Gayatri Spivak: »Ich meine aber, daß sowohl Räumlichkeit als auch Örtlichkeit neu gefaßt werden müssen, wenn wir den Weggang von innen heraus - jene Enteignung, die zwingend mit Immobilität einhergeht - betrachten. Ein Beispiel wäre jemand, der in demselben Territorium, von dem er weggeht und wo er zugleich ankommt, neuerdings sowohl einbehalten als auch enteignet wird« (SPZ, S. 16). Butler verwendet das Wort >Immobilität<, um Enteignung als den spezifisch inklusiven Ausschluss von Staatenlosen zu erklären. In der Auseinandersetzung folgt Butler einerseits der Ansicht, dass das Verlassen und das Ankommen am anderen Ort zusammenhängen, wenn sie in gewissem Sinne die Figur der Staatenlosen, die Butler mit dem Modell des Exilanten aufzeigt, mit einer nennenswert negativen Art der Bewegung ins Verhältnis setzt, die »einen Ort verlassen hat und dann am anderen Ort ankommt« (ebd.). Andererseits kehrt Butler mit dem Begriff der Immobilität einen kaum erkennbaren, dennoch wesentlichen Punkt um: Zwar erklärt sie die Immobilität als einen Zusammenhang von Verlassen und Ankommen, jedoch wird Immobilität nicht als eine Bewegung des Verlassens betrachtet, sondern als Bewegung, die »zugleich« (SPZ, S. 16) »in demselben Territorium« (ebd.) ankommt. Durch unscheinbare Termini wie »zugleich« und »demselben« entsteht eine theoretische Gelegenheit, sodass der Immobilität eine gewisse Immanenz zukommt.
283 In diesem Sinne lässt sich nach Butler darstellen, dass »das Selbst jene Art Wesen ist, das unmöglich in sich selbst verharren kann« (EG, S. 41).
284 Dies ist nicht nur eine Kritik an Arendt, sondern teilweise auch an Sabine Hark, an ihrer jüngsten Arbeit im Anschluss an Butlers Arendt-Rezension Gemeinschaft der Ungewählten (vgl. TV, S. 148, 152, 161 usw.). Ihre kurze, jedoch prägnante Zusammenfassung - »kommen, um zu bleiben« (Hark 2021, S. 14f.) - impliziert m. E. die Spannung zwischen arendtscher Mobilität und butlerscher Immobilität. Wenn Hark von einem »Ethos der Kohabitation« (ebd., S. 16) spricht, beruht das Ethos darauf, dass alle Menschen als Ungewählte diese Welt bewohnen. Doch diese Annahme kann nicht gewährleisten, dass diese Menschen bereits in die Welt gekommen sind oder kommen können. Es muss daher erst gefragt werden, wer an welchem Ort angekommen sein kann, welches Ankommen als Eintreten betrachtet werden kann und schließlich ob alle gleichermaßen als Ungewählte gelten können.
285 »Wir sind, mit anderen Worten, in Freud und Leid immer schon voneinander und von einer gesellschaftlichen Welt, die uns trägt, abhängige Wesen, auf eine uns unterstützende Umwelt angewiesen. Das bedeutet nicht, dass alle in eine sie unterstützende Welt hineingeboren würden, ganz und gar nicht« (ME, S. 17).
286 Im Jahr 2011 fand in Südkorea ein 309 Tage dauernder Besetzungsstreik in 35 Metern Höhe am Kran Nr. 85 statt, geführt von der Aktivistin Kim Jin-suk. Sie führte den Protest gegen die Entscheidung von Hanjin Heavy Industries an, 400 Produktionsarbeiter in den Ruhestand zu schicken. Diese Aktion lässt sich als Beispiel für die Lokalität im Sinne widerständiger Immobilität interpretieren, indem Kim Jin-suk durch beharrliches Verbleiben das Problem des ungerechten Arbeitsverhältnisses öffentlich machte und die Forderung erhob, dieses Problem von dem Ort aus gemeinsam zu lösen (vgl. https://taz.de/Streik-in-Suedkorea/!5114684/). Ausführlichere Informationen finden sich im Buch Women in the Air von Nam Hwa-sook von der University of Washington. Dieses Buch rekonstruiert die Geschichte der südkoreanischen Arbeiterbewegung aus der Perspektive weiblicher Arbeiter, von Kang Ju-ryong während der japanischen Kolonialzeit (1931) bis hin zu Kim Jin-suk von Hanjin Heavy Industries.
287 Diese Ortsgebundenheit lässt sich auch mit dem Erscheinungsraum als eine »sehr zeitgenössische Version der öffentlichen Sphäre« (TV, S. 127) bei Butler verbinden, die durch gemeinsame Körper gebildet wird, die der Polizeigewalt ausgesetzt sind. Der Ort der Immobilität - zeigt Immobilität nicht bereits per definitionem ihre Räumlichkeit? - ist kontingent, ortsgebunden, jedoch nicht festgelegt oder begrenzt wie durch das Gesetz. Insofern sich das »hartnäckig[e] Da-Sein« (TV, S. 139) als ein neuer, kontingenter Handlungsraum erweisen kann, weist dieses Dableiben nicht auf die räumliche Festgelegtheit des arendtschen öffentlichen Raums hin, weil der immobile und kontingente Raum an einen anderen woanders übertragbar sein kann.
288 »Die Übertragbarkeit der Szene hängt also paradoxerweise davon ab, die unauflösliche Lokalität des Geschehens im Sinne von etwas, das der Wahrnehmung entzogen ist, anzuerkennen. In anderen Worten: Durch übertragene Szenen hergestellte Allianzen entfalten ihr Potential nicht durch vereinnahmende Identifizierung, sondern in der Wahrnehmung und Anerkennung des erscheinenden, anderen Körpers als solchem, dessen Leben mir notwendigerweise fremd bleibt« (Prager 2018, S. 198).
289 Mit Cavarero argumentiert Butler, dass das Ich dieses Ausgesetztsein gegenüber Fremdheit und gegenüber anderen »nicht willentlich ausschalten [kann]« (EG, S. 47). Somit lässt sich die Begegnung mit der Fremdheit als ein Versuch verstehen, durch die Fremdheit vom Fernen die Unwissenheit des Selbst zu explorieren und über die Unwissenheit Aufschluss zu geben. Denn die Unwissenheit im Selbst kann zum Teil dadurch erkennbar werden, worauf jemand reagiert und wem bzw. welchem Objekt derjenige ausgeliefert ist.
290 Zu beachten ist, dass der Affekt stets sozial reguliert und strukturiert wird. Daher ist die Frage danach, in wen man sich einfühlt, bereits eine politische Angelegenheit und Aufgabe. Zum Beispiel kann jemand sich gegen sexuelle Belästigung von Frauen engagieren, jedoch gleichzeitig nicht gegen die gleiche Gewalt gegen Transgender-Personen. Ebenso kann jemand Kriegsflüchtlinge unterstützen, jedoch gleichzeitig gegen sog. Armutsflüchtlinge sein, wenn sie insbesondere Nichtweiße und Personen mit einem anderen Glauben als dem Christentum sind.
291 Diese Bewegung wurde von folgendem Vorfall ausgelöst: Ein kanadischer Polizist erklärte im Januar 2011 jungen Studentinnen, sie sollten sich nicht wie eine slut kleiden, wenn sie nicht Opfer von sexueller Gewalt werden wollten. Aus diesem Grund konnten insbesondere beim >Marsch der Schlampen< zahlreiche Plakate mit Aufschriften wie >Mein Körper, meine Wahl<, >Meine Kleidung ist nicht meine Zustimmung< oder >Nein heißt Nein< beobachtet werden (vgl. https://www.nrz.de/staedte/dortmund/wir-sind-alle-schlampen-heisst-es-vor-slut-walk-am-samstag-in-dortmund- id4953332.html https://www.welt.de/vermischtes/weltgeschehen/article13425804/Tausende-protestieren-beim-Marsch- der-Schlampen.html).
292 Slutwalk wurde in Südkorea als >Marsch der jabnyeon < übersetzt. Der Begriff jab in jabnyeon weist auf etwas Unbedeutendes, Ausgeschlossenes oder Nichtqualifiziertes hin, und nyeon ist ein abwertendes Wort für Frauen.
293 In der Demonstration, die von der Guernica-Palästina-Bürgerinitiative organisiert wurde, bildeten mehrere tausend Menschen mit ihren Körpern ein riesiges Mosaik, um »den Schmerz der Opfer der israelischen Angriffe auf Gaza und die palästinensische Flagge« darzustellen und anzumerken, dass eine Wiederholung von Guernica nicht toleriert werden darf. Diese plurale und gewaltlose Aktion verdeutlicht, dass der Schmerz von 1937 in Guernica mit dem Völkermord in Gaza im Jahr 2023 zusammenhängt. Anders ausgedrückt: Die Menschen in Guernica im Jahr 2023 werden nicht nur von ihrer Vergangenheit heimgesucht, sondern auch vom Leiden im Gazastreifen der Gegenwart (vgl. In: 11. Dez. 2023, www.wsws.org »In Guernica stellen Tausende Verbindung zwischen den faschistischen Bombardierungen von 1937 und dem Völkermord in Gaza her«, https://www.wsws.org/de/articles/2023/12/10/qyit-d10.html)
294 Ein ähnliches Beispiel ist eine die-in-Aktion in Bilbao, einer Stadt im Norden Spaniens, die während des Spanischen Bürgerkriegs belagert und bombardiert wurde. Am 9. Juni 2024 legten sich in Bilbao die hunderten Demonstranten in der Nähe der berühmten Spinnenskulptur Maman sowie auf der Straße vor dem Guggenheim-Museum wie tote Körper, um an die Massenopfer im israelischen Krieg gegen Gaza zu erinnern und ihre Solidarität zu bekunden. Weitere Information findet sich unter:
295 »Die Gleichheit der potentiellen Mörder versetzt alle in die gleiche Unsicherheit und damit in die gleiche Angst vor einem gewaltsamen Tod, aus der das Bedürfnis nach Staatengründung entsteht« (UT, S. 320).
296 In »Politische Philosophie bei Freud« weist Butler darauf hin, wie sich die hobbessche Figur der Selbsterhaltung infrage stellen lässt. Nach Freud stehen nicht Eigeninteresse und Selbsterhaltung als die zentralen Grundsätze politischer Philosophie im Vordergrund, sondern vielmehr kann Destruktivität als solche von vornherein im Vordergrund stehen (vgl. Butler 2018b, S. 278).
297 Butlers Verletzbarkeit scheint an Merleau-Ponty anzuknüpfen, bei dem die Leiblichkeit als eine Existenzform betrachtet wird, die der Zerstörung irreduzibel ausgesetzt ist. Merleau-Ponty erklärt die Subjektivität durch die Anwesenheit eines konkret leiblichen Anderen, und unter dieser Annahme »ist die Verletzung des Anderen gleichbedeutend mit der Möglichkeit der eigenen Verletzung [...]« (Schriever 2018, S. 85).
298 Ihre Kritik kann gleichermaßen auf die arendtsche Mobilität zutreffen. Um Mobilität in Gang zu setzen, wird ein Herr des Hauses benötigt, der als ein unabhängiger Erwachsener vorausgesetzt wird. Übertrieben lässt sich sagen, dass die arendtsche Mobilität nicht als politische Kontingenz betrachtet werden kann. Dies liegt daran, dass Mobilität durch reife, vollkommene Bürger zustande kommt, da sie sich durch ihre Politik gegen Unmündigkeit und Unreife wenden und die Verletzbarkeit in den politischen Bereich verbannen möchten.
299 Nach dieser Ansicht, bei der die Rechtfertigung der Gewalt bei Arendt in Erinnerung gerufen wird, »[erschöpft sich] Gewalt nicht in der Verwirklichung eines gerechten Zwecks« (EP, S. 34), indem »der Einsatz von Gewalt als Mittel ungewollt selbst zum Zweck werden und zu neuer Gewalt führen [kann]« (ebd.).
300 »Der Grund des Staates ist das Sicherheitsbedürfnis des Individuums, das sich in einer Gesellschaft potentieller Mörder befindet« (UT, S. 320).
301 Die Gegenüberstellung von Hobbes und Butler ist insofern sinnvoll, als sie Butlers Position sowie ihre Levinas-Re- zeption deutlich macht. Zunächst unterscheidet sich Butlers Vulnerabilität von Hobbes’ Vertragstheorie im politologischen Sinn. Im Gegensatz zu Hobbes, der behauptet, dass »der Vertrag ein Weg zur Lösung >natürlicher< (vorrechtlicher) gewaltsamer Konflikte ist« (EP, S. 160) und das Vermögen zum Verletzen und Töten sich mit der Konstitution verbindet, weist Butler im Anschluss an Levinas nicht nur die Vorstellung zurück, dass die Macht sich aus dem Vermögen, die Nächsten töten zu können, ergibt oder die Macht als solches betrachtet wird, sondern sie stellt auch die auf dem Vernichtungsvermögen beruhende Macht dem Begriff der Macht bzw. der Handlungsfähigkeit gegenüber, auf dem ein politisches Gemeinwesen basieren kann (vgl. AS, S. 71; GL, S. 164).
302 »Im Licht der zunehmenden Autoritarisierung des U.S.-amerikanischen Staates nach 9/11 (vgl. GL, S. 69ff.) setzt sich Butler mit der Frage auseinander, warum in der Trauer um die Toten der Anschläge am 11. September 2001 nicht alle Subjekte gleich betrauert werden. So >[fiel] die Trauer um Nicht-Amerikaner wesentlich kleiner aus und [...] illegal Beschäftigte [wurden] überhaupt nicht betrauert< (RK, S. 44) und auch das >Leben der Queers, die am 11. September 2001 umkamen, war der Idee nationaler Identität, die auf den Zeitungsseiten mit Nachrufen ausgebreitet wurde, nicht öffentlich willkommen, und ihre nächsten Angehörigen wurden nur verspätet und sehr selektiv in die Hilfeleistungeneingbezogen< (GL, S. 52). Ebenso macht Butler deutlich, dass es >keine Todesanzeigen für die Kriegsopfer, die die Vereinigten Staaten verursachen, gibt und diese diese auch >nicht geben kann< (ebd., S. 51)« (Ludwig 2016, S. 128).
303 »Four fragile lives found ended in evacuated Gaza hospital« - Dies war ein Titel des Artikels in der Zeitschrift Washington Ports vom 4. Dezember. 2023. Diese beunruhigende Formulierung, insbesondere >found endet<, deutet darauf hin, dass nicht nur Israel, sondern auch einige westliche Länder, die für Israel stehen, die palästinischen Säuglinge nicht als die Leben des Menschen betrachtet und anerkannt haben. Dieses stellt eine Tragödie dar, die die Betrauerbarkeit bei Butler deutlich macht. Die Tatsache, dass vier und möglicherweise mehrere unbekannte unschuldige Säuglinge im Gazastreifen ohne Trauer getötet wurden und getötet werden konnten, zeigt, dass sie von Anfang an weder als das Leben noch als ein Menschen betrachtet wurden.
304 Beispielsweise werden diejenigen, die weiß, wohlhabend oder heterosexuell verheiratet sind, besser und leichter betrauert als diejenigen, die arm, queer, schwarz oder braun oder ohne gültige Papiere sind (vgl. WW, S. 92).
305 Als eine neue Grundlage des Politischen nimmt Betrauerbarkeit einen hohen Stellenwert in Butlers Politiktheorie ein, da sich ihr Performativitätsbegriff und ihr Anliegen dadurch verändern: »von einem >reiterativ-resignifikativen< Modell des Performativen hin zu einem rezeptiv-responsiven Modell einer verkörperten, pluralen Performativität« (Posselt 2018, S. 48). Besonders die Ereignisse des 09.l1.2001 erweisen sich bei Butler als ein Wendepunkt hin zur Performativität, die durch ethische Körperlichkeit und ein Versammlungsrecht gekennzeichnet wird (in Gefährdetes Leben, Die Macht der Enteigneten oder Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung). Diese Tendenz zeigt sich in Butlers Texten deutlich, jedoch bin ich nicht der Meinung, dass Butlers Begriff der Performativität trennscharf in einen frühen und einen jüngeren getrennt werden kann. Vielmehr denke ich, dass die Performativität bei Butler, auf der ihr Politisches beruht, seit jeher - d. h. sowohl in ihren frühen als auch in ihren jüngsten Werken - als kollektiv zu verstehen ist.
306 Die entscheidende Problematik des Selbstverteidigungsrechts, wem Selbstverteidigungsrecht zugestanden wird, »[w]essen Berufung auf Selbstverteidigung etwa vor Gericht mehr Glauben [findet] und wessen Inanspruchnahme von Selbstverteidigung mit größerer Wahrscheinlichkeit verworfen [wird]« (EP, S. 25), weist darauf hin, dass das Recht auf Selbstverteidigung von der Perspektive des Besitzes nicht unabhängig ist.
307 Ich möchte der »Fähigkeit zur Kritik« ein politisches Potenzial zuschreiben, obwohl Butler nach Freud bemerkt, dass die »Fähigkeit zur Kritik« auch Destruktivität enthält und als Verbot und Zwang funktioniert, wenn sie sich mit dem Über- Ich verbindet (vgl. Butler 2018b, S. 289f.): »[Fähigkeit zur Kritik] ist nicht mehr bloß das Vermögen einer Vernunft, die die menschlichen Neigungen kontrolliert, sondern das Werkzeug einer zerstörerischen Kraft und eines unbändigen Sadismus. Wie bereits erwähnt, beinhaltet das Über-Ich eine >destruktive Komponenten die sich gegen das Ich richtet, es für mangelhaft befindet und sogar mit dem Tod bedroht. Die >Fähigkeit zur Kritik<, die nunmehr mit dem Über-Ich gleichgesetzt wird, erlegt ebenso Zwänge und Verbote auf« (Butler 2018b, S. 289).
308 Es ist eine Wandlung, dass die >Fähigkeit zur Kritik< als individuelle Fähigkeit in die gemeinsame Fähigkeit zur Kritik< in der Trauer verwandelt wird, wie Butler von der individuellen Erscheinung Arendts die gemeinsame Inszenierung der Körper abliest.
309 Die Affekte, die vorschnell als inhärent und eigen missverstanden werden, sind in Realität die politischen Ressourcen, die wie andere ökonomische oder soziale Ressourcen strategisch reguliert und geteilt werden (vgl. RK, S. 45). Daher stellt sie mit ihrem Begriff der Betrauerbarkeit eine Frage, wie man gegen das herrschende Affekt-Dispositiv ein neues Dispositiv der Affekte stellen kann.
310 Ein bekanntes Beispiel dafür ist das Names Project gegen AIDS-Phobie, d. h. Traueraktionen gegen Homophobie und AIDS-Phobie: »Es bedeutete etwas, einen Namen zu nennen und bekannt zu machen, Reste eines Lebens zusammenzutragen, den Verlust öffentlich zu zeigen und zu bekennen« (RK, S. 44). Als ein aktuelles Beispiel lässt sich der Trauerakt oder die Trauerfeier für die Opfer am Gazastreifen im Jahr 2023 anführen. Am 2. November 2023 brach die Universitäts-Präsidentin Ute Clement an der Universität Kassel eine Trauerfeier für den aus Kassel stammenden Studenten Yousef Shaban und den Angehörigen seiner Familie ab, die am 24. Oktober desselben Jahres bei einem israelischen Bombenangriff ums Leben kamen. Von Beginn der Veranstaltung an war die uniformierte Polizei auf dem Universitätsgelände präsent. Dieser Vorfall wird von Studierenden als Angriff auf die Demokratie an der Universität betrachtet und wirft Fragen darüber auf, welcher Rassismus und Kolonialismus im Universitätsraum öffentlich diskutiert und behandelt werden kann und welcher nicht (vgl. Kassel: Uni-Leitung und Polizei unterbrechen Trauerfeier für in Gaza getöteten Studenten, 04. 11. 2023. https://www.sozialismus.info/2023/11/kassel-uni-leitung-und-polizei-unterbricht- trauerfeier-fuer-in-gaza-getoeteten-studenten/). Ein weiteres Beispiel für eine Trauerfeier im Zusammenhang mit dem Gazastreifen ereignete sich am 17. November 2023 in Seoul, Südkorea. Dort fand die Traueraktion >Protest der Schuhe< statt, um die ca. 7000 Opfer vom 7. bis 26. Juli 2023 im Gazastreifen zu betrauern. Für diese Veranstaltung wurden über 3000 Paar Schuhe aus dem gesamten Land gespendet. Die für die Aktion genutzten neuen und alten Schuhe symbolisieren anhand der unterschiedlichen Größen und Stile die Vielfalt der Bewohner des Gazastreifens, die dort getötet wurden, sowie ihr Leben.
311 Das Vorurteil, Gewaltlosigkeit sei passiv und wirkungslos, hat seinen Ursprung in den »geschlechterspezifischen Verknüpfungen von Männlichkeit und Aktivität, Weiblichkeit und Passivität« (EP, S. 243f.).
312 In diesem Kontext zitiert Butler Einstein: »Einstein hält fest: >Ich bin nicht nur Pazifist, ich bin militanten Pazifist. Ich will für den Frieden kämpfen. Nicht wirf Kriege abschaffen, wenn nicht die Menschen selbst den Kriegsdienst verweigern. Um große Ideale wird zunächst von einer aggressiven Minderheit gekämpft< (Einstein an Freud 1932: 9)« (Butler 2018b, S. 296f.).
313 Butler macht auf einen Moment der ersten ägyptischen Revolution im Jahr 2011 aufmerksam, in dem der Sprechchor silmiyya (auf Deutsch: friedlich, friedliche) als sanfte Ermahnung wirkte, dass die Demonstranten sich gegen die Lust auf militärische Aggression wenden sollten, um einen radikalen demokratischen Wandel zu erreichen (vgl. TV, S. 122).
314 Zum Beispiel bezieht sich eine derartige Form des Widerstandes auf das sozial unsichtbare Sterben von ausländischen Leiharbeitern, auf gleiche Rechte für Menschen mit Behinderung - oder im jüngsten und drastischsten Fall - auf den Erlass eines Sondergesetzes für die Halloween-Katastrophe in Seoul im Jahr 2022. Bei der Katastrophe in der Nacht vom 29. auf den 30. Oktober 2022 kamen mindestens 159 Menschen ums Leben und weitere 196 wurden verletzt. Die »Washington Post« analysierte die Gründe für das Massengedränge aus verschiedenen Perspektiven. Insgesamt lässt sich sagen, dass die Maßnahmen von Polizei, Feuerwehr und örtlichem Bezirksamt im Gegensatz zu Halloween 2021, vor der Covid-19-Pandemie, völlig unzureichend waren. Die Hinterbliebenen der Opfer dieser Tragödie kämpfen für eine gründliche Untersuchung der Umstände und für die Bestrafung der Verantwortlichen, ferner um die Änderung des Katastrophen- und Sicherheitsgesetzes, das von den Kommunalverwaltungen verlangt, die Verantwortung für das Sicherheitsmanagement bei Veranstaltungen zu übernehmen, bei denen der Veranstalter unbekannt ist, wie es beispielsweise beim Itaewon-Halloween-Festival der Fall war.
315 Dieses Konzept des arendtschen Volks ist von Kant beeinflusst. Brunkhorst fasst zusammen: »Ein >Volk<, das sich zu einer Nation zusammenschließt, unterscheidet sich Kant zufolge dadurch von einer bloßen >Völkerschaft<, die durch Geschichte, Kultur und Stammesverwandtschaft bestimmt ist, daß es einen Staat bildet« (Brunkhorst 1999, S. 86).
316 Das Konzept der Immobilität lässt sich im Vergleich zur Bleibefreiheit bei Eva von Redecker im wissenschaftlichen Feld kontextualisieren. Die grundlegende Idee von Immobilität und Bleibefreiheit besteht darin, dass Freiheit oder politische Kontingenz nicht durch Bewegungsfähigkeit, sondern im Verbleiben gefunden werden. In ökologischer Hinsicht argumentiert Redecker beispielsweise für die politische Bedeutung alltäglicher zyklischer und stets mit anderen geteilten Kreisläufe, die die Möglichkeit von Entwicklung, Varianz oder Neuanfängen beinhalten. Diese Idee lässt sich mit der Immobilität vergleichen, insbesondere mit dem Verständnis, Immobilität als in der Wiederholung zu Bleiben - wie sie in Butlers Politiktheorie dargestellt wird. Jedoch bestehen zwischen den Begriffen einige wichtige Unterschiede. Bleibefreiheit ist zunächst ein Denkversuch, >Freiheit< zeitlich denken, wie Menschen frei bleiben können. Hingegen wendet sich Immobilität gegen Ungleichheit und richtet sich auf die >Gleichheit<. Immobilität, die als ontologische und widerständige Handlungsform definiert wird, bietet ebenso eine neue Vorstellung der Freiheit, jedoch basiert diese auf der neu performativ geschaffenen Gleichheit. Zweitens besteht ein Unterschied darin, dass Bleibefreiheit die Freiheit in der >zeitlichen< Perspektive thematisiert, während Immobilität die Gleichheit >räumlich und körperlich denkt. Eva von Redecker erläutert eine Zeit, in der das prekäre Leben anderer miteinander verwoben ist. Doch meiner Ansicht nach könnte Immobilität im Vergleich zur Bleibefreiheit durch die Hervorhebung verschiedener (ver)räumlicher Dimensionen - wie etwa Raster der Normen, Relationalität, Raum der Betrauerbarkeit, Lokalität und Umkehrbarkeit zwischen Hier und Fern - einen Vorteil bieten, um neue Formen von Interdependenz und Pluralität zu konzipieren. Drittens: Im Unterschied zur Bleibefreiheit, »über die Zeit hinweg an einem Ort bleiben, und auch frei bleiben zu können« (von Redecker 2023b, S. 1) steht bei der Immobilität performative Passivität im Mittelpunkt. Durch diesen aktiv-passiven Charakter ist Immobilität wesentlich mit den Fragen der Prekarität und Verletzbarkeit verbunden.
317 Im Vergleich zur hierarchischen Unterscheidung zwischen der Erde und dem Mundus bei Arendt wird die Erde von Butler derart dargestellt, dass sie nicht allein auf eine notwendige oder materielle Voraussetzung des lebbaren Lebens hinweist (vgl. EP, S. 231f.; WW, S. 31).
318 https://m.khan.co.kr/culture/scholarship-heritage/article/202401031716001#c2b
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- Antigone Ji-Young Choi (Autor), 2024, Politik der Mobilität und Immobilität, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1547690