Der Theorierahmen der Arbeit bildet die Frage der Emergenz von Religiosität und letztlich auch von Religion innerhalb von säkularen, funktional differenzierten Gesellschaften. Die Religion, so die Annahme, verlagert sich in der Moderne in eine eigene "Wertsphäre", um es mit Max Weber zu sagen. Im empirischen Teil der Arbeit werden zwei Erzählungen von Probanden mit transzendenten Erfahrungen, die eine dramatische biografische Diskontinuität zur Folge haben, nach der Methode des narrativen Interview von Fritz Schütze ausgewertet. In einem Fall handelt es sich um eine erfolgreiche Konversion mit sekundärer Sozialisation in einer charismatischen Gruppierung, im anderen um eine misslungene Konversion, die nachträglich als Psychose umgedeutet wird. Die Arbeit basiert erstens auf der Husserl'schen Annahme, dass Bewusstseinssysteme von der Welt ausgeschlossen sind und sich folglich nicht ausdrücken können und zweitens, dass die Erfahrung grundsätzlich intrinsische Qualität ist –und erst in einem (nachträglichen) Deutungsrahmen religiös, mystisch oder auch psychotisch eingeordnet wird. Innerhalb der Auswertung wird unter Einbezug der Theorie von George Herbert Mead ein theoretisches Modell gebildet, das mit der Unterscheidung des 'I' und 'Me' operiert, wobei letzteres die semantischen Rahmenbedingungen liefert, um transzendente Erfahrungen einzuordnen und auf einer sozialen, kommunikativen Ebene plausibel zu machen. In einem folgenden Theoriekapitel unter systemtheoretischen Gesichtspunkten weiterentwickelt wird, wobei davon ausgegangen wird, dass die kommunikative Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz als Kernmerkmal der Religion gilt. In Absprache mit den Probanden werden nur die ausgewerteten Stellen der transkribierten Interviews veröffentlicht, und nicht der gesamte Anhang.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Empirischer Teil: Methodologie des narrativen Interviews
2.1 Formale Textanalyse
2.1.1 Erzähler E
2.1.2 Erzähler A
2.2 Strukturelle Beschreibung
2.2.1 Erzähler E
2.2.2 Erzähler A
2.3 Analytische Abstraktion
2.3.1 Erzähler E
2.3.2 Erzähler A
2.4 Kontrastierender Fallvergleich
2.5 Konstruktion eines theoretischen Modells
3 Theoretische Reflexion
4 Zusammenfassung und Fazit
5 Literatur
6 Anhang: Interviews
6.1 Erzählung E
6.2 Erzählung A
1 Einleitung
Eine besonders in Europa verbreitete Annahme lautet, dass die voranschreitende Moderne und die Religion sich gegenseitig ausschliessen, dass sie sich alternativ zueinander verhalten, nicht komplementär. Sie wurzelt denkhistorisch im Atheismus von Feuerbach, im Materialismus von Marx, in der Gottgleichheit des Menschen bei Nietzsche und der religiösen Illusion bei Freud. Global betrachtet sind diese radikalen Verabschiedungen der Religion jedoch ein europäisches Ausnahmephänomen[1] – und zwar auch ausserhalb von traditionalen Kulturen.[2] Diese Tatsache relativiert die Universalität der Säkularisierung.[3] Im Gegensatz zu traditionalen und vormodernen Gesellschaften bilden moderne jedoch "keinen zusammenhängenden und scharf artikulierten heiligen Kosmos" (Luckmann 1991: 153) mehr. Indem es zur "Entzauberung der Welt" (Weber 1995: 19) bzw. funktionalen Differenzierung (vgl. Luhmann 1998a: 259-357) gekommen ist, hat die Religion ihren universellen Anspruch verloren. Die institutionelle Religion oder die Konfession ist in eine Krise geraten.[4] Doch ist die Religion deshalb nicht verschwunden. Es kommt kaum zu einer eigentlichen Auflösen des Religiösen (Bourdieu 1992)[5] und von einer unsichtbaren Religion (Luckmann 1991) kann zur Zeit keine Rede sein. Die Religion ist sichtbarer denn je (vgl. Casanova 2004: 269-293), was ihre mediale Problematisierung deutlich zeigt (vgl. Müller 2007: 25-40).[6]
Nassehi verweist auf drei Spielarten moderner Religion: Die erste hält an der Dogmatik fest und zieht sich in den Fundamentalismus (gegen die Welt) zurück[7], die zweite beobachtet die Welt unter religiösen Vorzeichen, versucht zu intervenieren und scheitert an den funktionsspezifischen Kommunikationen anderer Systeme[8] und die dritte verlagert sich in die Individualität von Individuen: "Die Glaubensspannung zwischen heiliger Sphäre und profaner Welt wird nun nicht mehr gesellschaftlich aufgelöst, sondern in den einzelnen hineinverlagert" (Nassehi 1995: 115). Diese dritte Variante entspricht der These von Weber, die besagt, dass die Religion sich in einer eigenen Wertsphäre verselbstständigt, wo sie "die irrationale oder antirationale überpersönliche Macht schlechthin" (Weber 1988a: 564) wird. Dies hat im Übergang zur Moderne einen Innerlichkeitskult begünstigt, der im Protestantismus einen vorläufigen Höhepunkt erreicht und sich bald in der Literatur, etwa in der Romantik, niedergeschlagen hat. Die Folge ist eine dramatische Aufwertung der Innerlichkeit,[9] was sich heute im Boom von esoterischen Bewegungen manifestiert, die oftmals nicht ganz zu Unrecht als Konsumphänomene beschrieben werden und aufgrund ihrer Popularität eigentlich als exoterisch bezeichnet werden dürften. Die Religion der Moderne verlagert sich also ins Individuum – doch verschwindet sie dort nicht vollkommen. Sie bleibt ein soziales – oder je nach Sichtweise – kommunikatives Phänomen. Ihr wichtigster Bezugspunkt jedoch ist die Biografie (vgl. Nassehi 1995: 117).
Damit sind wir nach einem kurzen makrotheoretischen Exkurs über Religion in der Moderne beim mikrosoziologischen Thema dieser Arbeit gelangt: bei der religiösen Konversion, bei der biografische Diskontinuität religiös interpretiert oder vielleicht auch konstruiert wird. Das Oxford-Lexikon der Weltreligionen definiert sie wie folgt: "Die Konversion oder Bekehrung ist in ihrem vorläufigen Sinn der 'Verwandlung von Lebensweisen' ein üblicher Vorgang in allen Religionen – d. h. in der mehr freiwilligen Hinwendung des Lebens auf die Ziele der in Frage kommenden Religion" (Bowker 2003: 562).[10] Das wirft besonders in Hinblick auf die eingangs beschriebene Situation moderner Religion Fragen auf: Wieso konvertieren Individuen, wo sie in der Moderne auf Religion verzichten können?[11] Wer vollzieht die Konversion: Das Individuum oder die Gesellschaft? Auf welche Semantiken greift der Konvertit zurück? Wie wird die Zeit vor der Konversion geschildert? Welche Erfahrung führt zur Konversion? Ist dieser Erfahrung schon eine noetische Eigenschaft immanent? Oder kommt diese erst dazu? Falls ja: Nach welchen Kriterien kommt sie nachträglich dazu? Inwieweit sind Deutungskriterien biografisch angelegt, welche die Annahme von "ikonischen Metaphern" (Snow/Machalek 1983: 273) begünstigen, womit es eine biografisch erworbene Prädisposition zur Konversion gäbe? Welche Rolle spielt die (plötzliche) Umschaltung auf religiöse Kommunikation, deren Eigenheit in der Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz besteht (vgl. Luhmann 2002: 77)? Wir werden mit Nassehi fragen, ob die postmortale Existenz des Einzelnen das verbliebene grosse Thema der Religion sein wird (Nassehi 1995: 115)? Ja – und letztlich auch: Inwieweit können andere Systeme das, was die Religion bei einer Konversion leistet – nämlich die biografische Rekonstruktion – auch leisten?[12] Was unterscheidet also eine religiöse Biografie von anderen Selbstbeschreibungssemantiken? Die Antwort auf die letzte Frage vorweg: Der Bezug zur Transzendenz.[13] Was im Individuum als "Gefühl des mysterium tremendum, des schauervollen Geheimnisses" (Otto 2004: 13) erlebt wird, ist das Produkt einer Chiffrierung, die Unbestimmbares in Bestimmbares verwandelt (vgl. Luhmann 1982: 33). Das Unbestimmbare verläuft nicht von aussen nach innen ins System, sondern wird innerhalb erschaffen und dort zur Fremdreferenz. Wir werden im 3. Kapitel der theoretischen Reflexion (Seite 64-81) dieses paradoxe Wechselverhältnis genauer betrachten und darin auch die funktionalistischen Spuren von Durkheim erkennen. Nun werden zuerst aber folgend einige Grundproblematiken der Konversion und bedeutende Ansätze der Konversionsforschung beleuchtet.
Der Konvertit ist eine Blackbox.[14] Die philosophische Phänomenologie geht davon aus, dass das Bewusstsein von der Welt ausgeschlossen ist (vgl. Husserl 1995: 66ff.). Bei der Existenzphilosophie spricht die Sprache, nicht der Mensch (Heidegger 1997: 143). In der Systemtheorie kommuniziert die Kommunikation, während Bewusstseinssysteme davon ausgeschlossen bleiben (vgl. Luhmann 1987a: 28). Diese Theorien sind mehr oder weniger linguistisch geprägt und gehen vom Arbiträren der Sprache aus, von der Beliebigkeit der Zeichen (vgl. Saussure 1967: 79ff.).[15] Die Religion und ganz besonders die Mystik[16] sind in höchstem Masse von der Problematik der Ineffabilität[17], dem sprachlich nicht mitteilbaren Wesen Gottes, betroffen. In Zusammenhang mit der religiösen Kommunikation führt dies in mehrstufige Paradoxien. Das Kommunizierte (etwa die Konversionserzählung) verweist auf etwas, was nicht kommunizierbar ist, und das, falls es kommuniziert wird, immanenisiert wird.[18] Bestimmbar und immanent geworden, ringt die religiöse Kommunikation um Unbestimmbarkeit, die ihren transzendenten Sonderstatus legitimiert.[19] Diese Ineffabilität ist charakteristisch für religiöse Erfahrung (vgl. James 1997: 384). Theoretisch müssten Menschen mit religiöser und erst recht mit mystischer Erfahrung also nur schweigen, weil diese sich sprachlich nicht mitteilen lässt. "Aber gerade die Mystik ist meistens sehr beredt gewesen" (Otto 2004: 2).[20] Die Versuche der Kommunikation des Nichtkommunizierbaren wird zum Beispiel im Zen-Buddhismus ad absurdum geführt, bis die Kommunikation nur noch paradox kommuniziert. Die Welt wird nach dem Satori mit neuen Augen gesehen (vgl. Suzuki 2005: 122-136), die dann – paradox genug – doch die alte ist.[21] Weil eine Konversion aus kommunikationssoziologischer Perspektive in erster Linie eine Umschaltung auf religiöse Kommunikation bedeutet, welche die Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz thematisiert (vgl. Luhmann 2002: 77) werden wir auch auf kommunikationsspezifischen Problematiken eingehen, die dies hervorbringt. Bei dieser Verwandlung von Transzendenz in Immanenz ist immer eine Zeitlichkeit im Spiel. Wir werden im Laufe der Arbeit sehen, dass die Frage um die letzten Monopole der Religion mit der begrenzten Lebenszeit des Individuums zusammenhängen – mit der Einordnung einer beschränkten Lebenszeit in die Ewigkeit.
Folgend soll eine kurze Abhandlung über historisch relevante Modelle der (soziologischen) Konversionsforschung abgehandelt werden: Bei James ist die Konversion ein Prozess, der ein gespaltenes Selbst in seine Ganzheit überführt:
"Bekehrung, Wiedergeburt, Gnadenempfang, religiöse Erfahrung, Erlangung von Gewissheit: dies sind verschiedene Ausdrücke zur Bezeichnung des schrittweisen oder plötzlichen Prozesses, durch den ein bisher gespaltenes und sich schlecht, unterlegen oder unglücklich fühlendes Selbst seine Ganzheit erlangt und sich jetzt, stärker gestützt auf religiöse Wirklichkeit, gut, überlegen und glücklich fühlt" (James 1997: 209).
Als Meilenstein in der Konversionsforschung gilt der Aufsatz "Becoming a World Saver" (Lofland/Stark 1965: 862-875).[22] Am Anfang der Konversion, die als Verlauf dargestellt wird, stehen tensions (Lofland/Stark 1965: 864). Diese tensions müssen bei einer Konversion religiös definiert werden, wobei auch politische oder psychologische Deutungen möglich wären (vgl. Lofland/Stark 1965: 867). Zahlreiche Rational Choice Theorien[23] haben im Anschluss an diesen Aufsatz den rationalen Nutzen des einzelnen Konvertiten fokussiert (vgl. Coleman 1990: 1-44; Iannaccone 1997: 25-45; Schmidtchen 2000: 11-43; Sherkat 1997: 66-85).[24] Die Autoren betonen allesamt den funktionalen Problemlösungseffekt[25] der Konversion und wenden ökonomische Terminologie auf das religiöse Geschehen an.[26] Zu betonen ist dabei der Wahlaspekt, der bei evangelikalen Konversionen eine zentrale Bedeutung hat (vgl. Read 1992: 137ff.).[27] Damit das Individuum wählen und sich entscheiden kann, muss ein Angebot – also: religiöser Pluralismus – gegeben sein, in dem im Idealfall Wettbewerb stattfindet,[28] was in den USA mit der enorm hohen Anzahl an evangelikalen Congregations und Denominations sehr ausgeprägt ist (vgl. Sherkat 1997: 66-85; Iannaccone 1997: 25-45).[29] Die Rational Choice Theorys sind alle explizit handlungstheoretisch gedacht.[30] Wir werden im Laufe der Arbeit auf eine kommunikationstheoretische Sichtweise umschalten.
Berger, der einen substanziellen Religionsbegriff vertritt[31], grenzt die Konversion von der Alternation ab. Mit der Alternation umschreibt er religiöse biografische Diskontinuität (Berger 1983: 64), während er den Konversionsbegriff auch für nicht religiöse verwendet[32] – etwa für sich ändernde Lebenseinstellungen.[33] Der radikale Wendepunkt ist durch eine neue Zeitrechnung geprägt: "vor und nach Christus, präkatholisch und katholisch" (Berger 1983: 72). Es handelt sich um "eine dramatische Form der Transformation von Vergangenheit" (Berger 1983: 72). Vergangenheit setzt Erinnerung voraus. Erinnerung beruht auf Selektion. Selektion blendet immer etwas aus, nämlich alles, was nicht gewählt wird. Sie produziert so blinde Flecken. "Jede erzählte Geschichte ist von einer nur angedeuteten oder nicht erzählten Geschichte begleitet" (Engelhardt 1990: 223).
Snow/Machalek schlagen den Konvertit als sozialen Typus vor. Sie betonen die Bedeutung der Sprache, zumal diese, der Theorie von Mead folgend, Bewusstsein konstituiert[34] – und ebnen so den Weg zu einem linguistic turn. "In keeping with Simmels formal sociology, we listen not only whit an ear for the content of conversion claims but with an ear for the characteristic form of conversion rhetoric" (Snow/Machalek 1983: 260). Snow/Machalek entwickeln vier Kriterien, die eine Konversion ausmachen: 1. Adoption of a master attribution scheme, 2. biographical reconstruction, 3. the suspension of analogical reasoning, and 4. the embracement of a master role (vgl. Snow/Machalek 1983: 266-278). Anstelle eines biografischen Wendepunkts führen die zwei Autoren ein changing universe of discurse[35] ein (vgl. Snow/Machalek 1983: 265).[36] Staples/Mauss übernehmen dieses Modell eines changing universe of discurse, verschärfen aber den Bezug zum Individuum. "Biographical reconstruction refers to the idea that individuals who untergo the radical change of conversion reconstruct or reinterpret their past lives from the perspective of the present (Staples/Mauss 1987: 135).[37] Die Konversion führt zu self-transformation (Staples/Mauss 1987: 137). Dabei betonen die Autoren die aktive Rolle des Konvertiten.[38] Stromberg wendet sich gegen das Modell einer Transformation der Person, zumal diese lediglich geschildert wird. Er betont, er habe viele Konversionserzählungen angehört, "doch keine berichtete von der dauerhaften Lösung der emotionalen Spannung und des Kampfes" (Stromberg 1998: 61). Er definiert die Konversion als einen Prozess, "in dessen Verlauf die Gläubigen in einer kanonischen Sprache einen Sinn entdecken, der sie dazu veranlasst, ihre Verpflichtung gegenüber einer Reihe von Glaubensvorstellungen und vielleicht auch gegenüber sozialen Institutionen (wie der Kirche) aufrechtzuerhalten" (Stromberg 1998: 61).
Auf kommunikationssoziologischer Ebene verfolgt der Aufsatz "Konversions-erzählungen als rekonstruktive Gattung" (Ulmer 1988: 19-33) eine wegweisende Richtung.[39] Aufbauend auf den kommunikativen Gattungen (Luckmann 1986: 191-211) werden die formalen Strukturen der Erzählungen untersucht. Dabei erkennt der Autor eine narrative Dreiteilung: "Diese Dreiteilung der biographischen Zeit in einen 'Wendepunkt', eine 'Zeit davor', eine 'Zeit danach', die hier im Kern vollzogen wird, bildet das Grundgerüst für die gesamte Konversionserzählung" (Ulmer 1988: 22). Ulmer geht davon aus, dass eine Konversionserfahrung nicht mitteilbar ist (vgl. Ulmer 1988: 26f.), wobei er diese Problematik nicht phänomenologisch, existenzphilosophisch oder systemtheoretisch begründet, sondern auf empirische Gegebenheiten zurückführt. Zum Beispiel ringen Konvertiten beim Beschreiben ihrer Erfahrungen um Worte oder sie beginnen zu stottern (vgl. Ulmer 1988: 26). Dieses Problem der Ineffabiltät wird bei Ulmer durch die narrative Dreiteilung gelöst. Der Konvertit internalisiert eine narrative Struktur, die semantisch in der religiösen Gemeinde angelegt ist. Er verlagert so das Geschehen narrativ in seine Innenwelt, die "ein geeigneter 'Ort' für die Konversion" ist (Ulmer 1988: 27). Die Erzählung sorgt für Selbstvergewisserung des Erlebten. Damit wäre die vorher gestellte Frage, wieso eine Konversionserzählung überhaupt mitgeteilt wird, provisorisch beantwortet.
Das Individuum in der Moderne ist laufend mit Komplexität und Kontingenz konfrontiert. Wir können mit Mead sagen, dass, wenn mehrere Me im sozialen Raum vorhanden sind, dies Variation und Reflexion (Mead 1973: 216-221) begünstigt. Es kommt zu multiplen und partizipativen Identitäten: "Identifikation über eine Reihe von Identitäten impliziert also stets eine Pluralität von in Anspruch genommenen Selbsten" (Bohn/Hahn 1999: 35). Die Vielzahl an Identitätskonzepten, Weltbildern, die Komplexität und Kontingenz zwingen das Individuum fortwährend zur Wahl.[40] Die Religion wird zur Option: "Man kann geboren werden, leben und sterben, ohne an Religion teilzunehmen" (Luhmann 1993b: 349). Sie wird gewählt. Luhmann definiert Säkularisierung gar als die "gesellschaftsstrukturelle Relevanz der Privatisierung religiösen Entscheidens" (Luhmann 1982: 232). Die Konversion stiftet religiöse Identität, die nur noch eine Identitätsvorlage von mehreren wird. Das führt zu dem, was Luhmann Karriere nennt. Nicht mehr segmentäre Einheit (Luhmann 1998a: 634-662) oder Stratifikation (Luhmann 1998a: 678-706) definieren, wer jemand ist, sondern die Karriere (vgl. Luhmann 1993a: 232ff.). Luhmann betont den Wahlaspekt in seinem Verständnis der Konversion (vgl. Luhmann 2002: 297). Dieses Wählen ist nicht als völlig freier Akt zu denken, zumal das Individuum nur wählen kann, was vorhanden ist.[41]
Die Karriere ist im Zusammenhang mit der Individualisierung zu sehen. Dieser Prozess hat zu verschiedenen Spielformen der Selbstbeschreibung von Individuen geführt. Diese Selbstbeschreibungen sind nicht etwa als anthropologische Konstanten zu denken, sondern sie sind aus "institutionalisierten Bekenntnissen" (vgl. Hahn 1982: 407ff.) heraus entstanden, bei denen das Individuum über sich selbst als Gesamtheit spricht. Hahn[42] hat dies auf die Beichte zurückgeführt, bei der das Individuum Formen der Introspektion ausüben musste, was in der Psychoanalyse säkularisiert wird (vgl. Hahn/Willems 1993: 316ff.).[43] Kernmerkmal der institutionalisierten Bekenntnisse ist, dass sie kommuniziert werden – als schriftlicher Bericht mit anonymer Zielgruppe, als Erzählung innerhalb einer (religiösen oder therapeutischen) Gemeinschaft oder mit externen Instanzen (sozialwissenschaftliches Gespräch). Hahn begründet so die Emergenz moderner Individualität. Das Individuum ist nun in der Lage, sich selbst biografisch zu beschreiben[44] – was einst nur Eliten vorenthalten war.[45] Dieser Weg, der zur modernen Selbstbeschreibung führt, lässt sich in der Selbstentblössung in Bekenntnisschriften zurückverfolgen – von Augustinus bis Rousseau (vgl. Gräb 1999: 82).[46] Die Bedeutung dieser Prozesse für die religiöse Konversion kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Denn "Lebensgeschichten enthalten, sofern sie erzählt werden, immer ein Identitätsangebot" (Gräb 1990: 87). Um dieses Identitätsangebot geht es bei der Konversion, die in ihrer erzählten Version eine Lebensgeschichte ist.
Die Konversion wird in dieser Arbeit anhand von zwei empirischen Fällen, die in narrativen Interviews ihre Konversionserfahrung schildern, untersucht (Seite 23-50). Erzähler E. schildert seine erfolgreiche Konversion zu einer evangelikal-charismatischen Freikirche in Zürich (transkribiertes Interview Seite 102-122). Erzähler A. schildert eine gescheiterte Konversion aus biografischer Distanz, die er heute als Psychose deutet (transkribiertes Interview Seite 123-149). Das zeigt, dass Zuschreibungssemantiken innerhalb der Biografie umgeschrieben werden können und als kontingent zu denken sind. Das empirische Sekundärmaterial wird nach der Methode von Schütze ausgewertet, die im folgenden Kapitel reflektiert wird. Zur Auswertung wäre auch die auf der objektiven Hermeneutik von Ulrich Oevermann basierende biografische Fallrekonstruktion (vgl. Rosenthal/Fischer-Rosenthal 2008: 460f.) in Frage gekommen. Die dortige Unterscheidung in erzähltes und erlebtes Leben scheinen jedoch problematisch, zumal das erlebte Leben nur aus der Erzählung bekannt ist.[47] In dieser Hinsicht ist die formale Textanalyse von Schütze, die auf der Unterscheidung zwischen narrativen Textpassagen und Interpretationen basiert (vgl. Küsters 2006: 18f.), plausibel. Die Grounded Theory (Glaser/Strauss 2008: 29ff.) wird insofern präsent sein, als dass das theoretische Modell aus dem empirischen Material heraus gebildet und auf Bildung von Hypothesen verzichtet wird. Innerhalb der Auswertung wird ein theoretisches Modell entwickelt, bei dem mit der Theorie von Mead operiert wird (vgl. Seite 51-63). Im darauf folgenden Kapitel wird das entwickelte Modell aus einer systemtheoretischen Perspektive untersucht (vgl. Seite 64-81). Dabei wird die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz in Hinblick auf die Autobiografisierung und Selbstthematisierung des Individuums fokussiert. Es wird die Frage behandelt, welches der letztverbliebene Kompetenzbereich der Religion in einer funktional differenzierten Gesellschaft ist, was im Zusammenhang mit der Biografie des Einzelnen zu letzten Fragen – etwa dem Tod – führt.
2 Empirischer Teil: Methodologie des narrativen Interviews
Bei den Schilderungen von Konversionen haben wir es grundsätzlich mit dem Problem der in der Einleitung erwähten Ineffabilität zu tun, zumal religiöse und mystische Erfahrung sprachlich nicht mitteilbar ist (vgl. Ulmer 1988: 22), aber doch mitgeteilt wird. Diese Ineffabilität ist bei Ulmer, wie wir in der Einleitung gesehen haben, nicht phänomenologisch oder systemtheoretisch begründet, sondern sie bezieht sich auf das Ausseralltägliche: "Während in den meisten biographischen Erzählungen ein mehr oder weniger wichtiges Ereignis aus der alltäglichen Erfahrungswelt rekonstruiert wird, steht bei Darstellungen der eigenen Konversion ein ausseralltägliches Geschehen im Mittelpunkt" (Ulmer 1990: 288).[48]
Als empirisches Datenmaterial dienen die transkribierten Interviews, die aus Gesprächen mit zwei Betroffenen (von jeweils ca. 90 Minuten) entstanden sind und die sich im Anhang befinden (Seite 101-149). Die Biografien der zwei Probanden sind gänzlich unterschiedlich: Erzähler E. (*1979) war ein religiös Suchender (vgl. Lofland/Stark 1965: 864ff.), der erst vergeblich bei verschiedenen religiösen Gruppierungen Anschluss suchte, und – nach mystischen Erfahrungen und Depressionen – der 1990 in Zürich gegründeten charismatischen Gemeinde ICF (International Christian Fellowship)[49] beitrat (transkribiertes Interview Seite 102-122). Erzähler A.[50] (*1966) erlebte aufgrund einer Erfahrung mit LSD eine blitzartige Transzendenzerfahrung und Gotteserkenntnis, worauf er Auto und Geld verschenkte und mit dem Predigen begann. Es folgten ein mehrmonatiger Versuch der Selbstexklusion[51] in Form eines Rückzugs in eine Höhle und zahlreiche Aufenthalte in einer psychiatrischen Klinik (transkribiertes Interview Seite 123-149).
Die Gespräche sind dem narrativen Interview von Fritz Schütze angelehnt, sie wurden folglich sehr offen geführt und nach seiner Methode ausgewertet, die er wie folgt definiert:
"Das autobiografische narrative Interview erzeugt Datentexte, welche die Ereignisverstrickungen und die lebensgeschichtliche Erfahrungsaufschichtung des Biographieträgers so lückenlos reproduzieren, wie dies im Rahmen systematischer sozialwissenschaftlicher Forschung überhaupt nur möglich ist. Nicht nur der 'äusserliche' Ereignisablauf, sondern auch die 'inneren Reaktionen', die Erfahrungen des Biographieträgers mit den Ereignissen und ihre interpretative Verarbeitung in Deutungsmustern, gelangen zur eingehenden Darstellung" (Schütze 1983: 5f.).
Das narrative Interview ist in den Sechzigerjahren aus verschiedenen soziologischen amerikanischen Theorien und Methodologien heraus entstanden; aus der phänomenologisch orientierten Wissenssoziologie von Alfred Schütz, der Chicago School und dem symbolischen Interaktionismus, der Ethnomethodologie, der Konversionsanalyse und der Grounded Theorie (vgl. Küsters 2006: 18). Es handelt sich um mikrosoziologisch und qualitativ orientierte Theorien, die Positionen gegen den in den Fünfziger- und Sechzigerjahren dominierenden Strukturfunktionalismus einnahmen (vgl. Schütze/Bohnensack/Meinefeld/Weymann 1976: 35ff.). Blumer etwa plädierte für eine "Rückkehr zur empirischen sozialen Welt" (Blumer 1973: 116) und das narrative Interview darf als Resultat dieser Forderung betrachtet werden. Das narrative Interview fokussiert zeitliche Strukturen.[52] "Dabei kann es sich um einzelne Ereignisse bzw. Geschichten handeln oder um längere Zusammenhänge, ja ganze Lebensgeschichten" (Knoblauch 2003: 123).
Das narrative Interview fokussiert weniger das Was, sondern das Wie. Nämlich wie die Biografie erzählt wird; welche Rahmenschaltelemente verwendet werden und wie Zeitlichkeit strukturiert wird.[53]
"[…] die Lebensphase, die in den zeitlichen Grenzen der so gestalteten Erzählstruktur dargestellt wird, soll 'Prozessstruktur des Lebenslaufes' genannt werden. Prozessstrukturen des Lebenslaufes sind mithin die systematischen elementaren Aggregatszustände der Verknüpfungen von Ereigniserfahrungen, die in der Erzählkette berücksichtigt werden – Aggregatzustände der Erfahrungs- und Aktivitätswelt des Biographieträgers, die in der Stegreiferzählung voneinander durch geordnete Verfahren der Einleitung und Ausleitung abgetrennt sind und komplexe Binnenstrukturierungen aufweisen" (Schütze 1984: 93).
Schütze vertritt den Ansatz, dass sich autobiografische Stegreiferzählungen an kognitiven Figuren der Erfahrungsrekapitulation ausrichten: "Biographie- und Ereignisträger nebst der zwischen ihnen bestehenden bzw. sich verändernden sozialen Beziehung; Ereignis- und Erfahrungsverkettung; Situationen, Lebensmilieus und soziale Welten als Bedingungs- und Orientierungsrahmen sozialer Prozesse; sowie die Gesamtgestalt der Lebensgeschichte" (Schütze 1984: 81).
Das sozialwissenschaftliche Interview ist eine künstliche soziale Situation, die auf natürliche Weise, also in der Alltagskommunikation, so nicht stattfände. Wie die Beichte und das psychoanalytische Gespräch kann das sozialwissenschaftliche Interview als "extraterritorialer Bezirk" (vgl. Hahn/Kapp 1987: 16) bezeichnet werden. Wollten wir nun Konversionserzählungen untersuchen, die quasi aus sich selbst heraus entstehen, dann müssten wir zum Beispiel klassische literarische Konversionsberichte ansehen.[54] Auch wäre die teilnehmende Beobachtung innerhalb religiöser Gruppen eine Möglichkeit, wo Mitglieder ihre Konversionserfahrungen untereinander austauschen (vgl. Baumann 1998: 18-27; Knoblauch 2003: 72-109). Die Kritik, dass der Stimulus und die künstliche Situation im Interview die Erzählung verfälschen, ist ontologisch gedacht und impliziert, dass es so etwas wie eine authentische Biografie gibt, die in einer authentischen Erzählung kommunizierbar ist. Die Erzählung wäre also eine Spiegelung des Erlebten. "Die Thematisierung [in der Biografie] darf nicht als Spiegelung verstanden werden. Die Spiegelmetapher suggeriert ja, dass die Gesamtheit des Gegebenen missverstanden wiedergegeben würde […] Biographien stellen folglich stets selektive Vergegenwärtigungen dar" (Hahn 1995: 140).
Schütze weist darauf hin, dass auch bei schriftlichen Kommunikationsformen, die sich an nicht bekannte Adressaten des Textproduzenten richten (Tagebücher, literarische Texte etc.), der Geschichtenerzähler mit Notwendigkeit allgemeinste Reaktionstypen der möglichen Empfänger antizipieren muss (vgl. Schütze 1976: 10f.).[55] Ebenfalls ist die Darstellungsstruktur der Erfahrungsrekapitulation in der Stegreiferzählung nicht aus der Interaktionsdynamik der Kommunikationssituation ableitbar, solange der Erzählvorgang unabhängig von Interaktionsstimuli vor sich geht (vgl. Schütze 1984: 80). Das würde bedeuten, dass die künstlich evozierte Erzählung im Interview mit einer autobiografischen Erzählung ohne äussere Aufforderung genauso ihre Legitimation haben in Hinblick auf die Auswertung – wenn auch die spezifischen Umstände der Äusserungen reflektiert werden müssen.[56]
Das Interview kann als "Biographiegenerator"[57] verstanden werden, als der soziale Ort, "an dem biographische Identität zum Ereignis wird" (Bohn/Hahn 1999: 35). Dies kann selbstverständlich an anderen Orten geschehen, in der bereits erwähnten Beichte und Psychoanalyse, in Talkshows und Internetforen.[58] Es stellt sich weiter die Frage, ob ein sozialwissenschaftliches Interview wissenschaftliche oder alltägliche Kommunikation ist. Aus Sicht des Probanden ist es zumindest nicht wissenschaftliche Kommunikation, wenn er sie wohl auch – im Gegensatz zur Alltagskommunikation – als introspektiv erlebten dürfte. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht sieht dies anders aus: "Forschungskommunikation bedeutet nicht Introspektion, sondern Fremdverstehen" (Schütze/Meinefeld/Springer/Weymann 1973: 490).
Das narrative Interview besteht idealtypisch aus drei Teilen: aus einer autobiografisch orientierten Erzählaufforderung, dem spezifischen Nachfragen des Interviewers[59] und der Aufforderung zur abstrahierenden Beschreibung von Zuständen (vgl. Schütze 1983: 285ff.). Im Idealfall beginnt es mit einer einzigen Initialfrage, die den Erzähler zur freien Stegreiferzählung stimulieren soll.[60] Zugleich muss der Interviewer eine gewisse Präsenz im Gespräch markieren, um den Erzählfluss aufrecht zu halten. Wie stark diese Präsenz sein soll, auch darüber herrscht innerhalb der Sozialwissenschaften kein Konsens. Girtler plädiert bei seinem "ero-epischen" Gespräch für Natürlichkeit zwischen den zwei Gesprächspartnern, was sich etwa darin zeigt, dass der Befragte auch den Forscher über seine Tätigkeit ausfragt: "Es bringt sich also jeder in das Gespräch ein. Beide sind also Lernende" (vgl. Girtler 2001: 147).[61]
Zur Transkription: Grundsätzlich lassen sich Interviews auf vier verschiedene Arten transkribieren: Standardorthografie, literarische Umschrift, eye dialect und phonetische Umschrift (vgl. Kowal/O'Connell 2008: 441). Die Interviews dieser Arbeit werden in der Standardsprache transkribiert, die sich an der geschriebenen Sprache orientiert. Die Erkenntnisse, die durch Elisionen – also zum Beispiel: gehn anstatt gehen – zustande kämen, würden sich vermutlich im Rahmen halten. Auch der in der ethnomethodologischen Konversationsanalyse verwendete eye dialect oder die phonetische Umschrift würden wenig Nutzen bringen.[62] Sowieso wären die transkribierten Interviews im Schweizer Dialekt für die Lesenden wohl eher eine Zumutung. Es wird die Regel angewandt, dass so fein wie nötig, aber immer einen kleinen Schritt feiner als erforderlich transkribiert wird (vgl. Knoblauch 2003: 149).
Im Weiteren werden dabei die folgenden Transkriptionskonventionen angewendet (vgl. Knoblauch 2003: 146):
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Komplexität der Primär- (Originalgespräch) und Sekundärdaten (Audioaufnahmen) kann als solche[64] gar nicht dargestellt werden, zumal jede Darstellung ihre Komplexität reduziert. So liegen jeder – noch so exakter – Transkription bestimmte Kriterien der Selektionen zugrunde.
Die Auswertung ist wie folgt gegliedert, was sich in der Struktur der Unterkapitel niederschlägt (vgl. Schütze 1983: 285ff.):
1. Formale Textanalyse (Seite 23-35):
Der auszuwertende Text wird in Erzählung und Interpretation unterschieden.
2. Strukturelle Beschreibung (Seite 36-40):
Die einzelnen Erzählsegmente werden in Hinblick auf die Grundtypen des Handelns untersucht: Wo sind z. B. dramatische Wendepunkte in der Biografie?
3. Analytische Abstraktion (Seite 41-45):
Die einzelnen strukturell beschriebenen Handlungsweisen werden in einer abstrakten These zusammengefasst.
4. Wissensanalyse (–):
Die aus der Erzählung ermittelten Handlungsweisen des Erzählers werden mit seinen eigenen Vorstellungen über sein Handeln verglichen. Dieser Punkt wird in dieser Arbeit nicht behandelt.[65]
5. Kontrastierende Fallvergleiche (Seite 46-50):
Es werden mehrere Fälle miteinander in Beziehung gebracht und verglichen.
6. Konstruktion eines theoretischen Modells (Seite 51-63):
Die relevanten theoretischen Kategorien werden aufeinander bezogen, um daraus ein theoretisches Modell zu entwickeln.
2.1 Formale Textanalyse
In diesem Kapitel wird formal unterschieden in Erzählung und Beschreibung. "Der erste Analyseabschnitt – die formale Textanalyse besteht mithin darin, zunächst einmal alle nicht-narrativen Textpassagen zu eliminieren und sodann den 'bereinigten' Erzähltext auf seinen formalen Abschnitt hin zu segmentieren" (Schütze 1983: 286).
Zu den nicht-narrativen Stellen im Text gehören Interpretationen, Beschreibungen und Argumentationen. Es wird folgend nicht das gesamte transkribierte Interview ausgewertet, sondern nur einzelne, in Hinblick auf die religiöse Konversion relevante Stellen. In diesem ersten Schritt werden die narrativen Stellen unterstrichen. Diese Erzählsegmente werden untersucht und am Ende der zwei Unterkapitel zusammengefasst.
2.1.1 Erzähler E.
Erzähler E. beginnt das Gespräch mit seinen Kirchenbesuchen als Kind, die als leere Rituale ohne Sinn erlebt werden:
E. 5: Also – die Kirche war für mich immer etwas (4,0 Sek.) Veraltetes, etwas, was wahrscheinlich nicht wirklich Sinn ergeben kann, weil es für mich, äh, nicht stimmt. […] Ich war einfach in der reformierten Kirche, war dort wahrscheinlich auch in der Sonntagsschule, sicher ein paar Mal, und bin dort in den Unterricht gegangen.
Diese Stelle zeigt die Unterscheidung zwischen Interpretation und Erzählung von Erlebtem wie folgt: Dass die Kirche etwas Veraltetes ist, ist eine Interpretation, die Schilderung der Kirchenbesuche ist Erzählung. In der folgenden Sequenz verweist E. relativ am Anfang des Gesprächs auf sein bereits als Kind ausgeprägtes Interesse an Spirituellem und später an psychedelischen Drogen, wobei dieser Abschnitt auch eine zeitliche Rahmenschaltung darstellt:
E. 41: Und dann habe ich einfach aufgrund von, äh, da ich niemanden gekannt habe und da es mir langweilig war, habe ich eine Büchse Gras von meinem Bruder, das er auf dem Kompost gezogen hat, von zuhause mitgenommen, weil er sie nicht gebraucht hat, und habe dann angefangen, jeden Abend zu kiffen. […] Ich würde sagen, das [Kiffen] ist sicher wichtig, wenn man mein Leben ein bisschen verstehen möchte…
Erzähler E. schaltet nach der Episode mit dem Kiffen wieder zurück in die Vergangenheit – diesmal ins Alter von ungefähr 13 Jahren –, als er aufgrund von Face-to-Face-Kommunikation eine religiöse Erfahrung hat:
E. 57: […] Und zwar, ich habe einen Kollegen gehabt, der mir eines Abends – ich würde so sagen – die Kappe gefüllt hat. ((lacht)) Er hat mir also Turn or Burn, also diese Story… […] Turn or Burn meint – he, das ist im Fall eine ernste Sache ((lacht)). (2,0 Sek.) Also einfach die Konsequenzen von einem möglichen Leben ohne Gott aufgezeigt, und zwar nur im burn-mässigen Sinn ((lacht))… […] und das heisst: Hölle. Das ist mir recht eingefahren dann. Er hat mir dann gesagt, und das ist noch wichtig, er hat gesagt, he, du kannst du beten zu Gott und ihn zum Beispiel darum bitten, dass er ein Zeichen gibt. […] Ich habe das dann gemacht, ich habe das Gefühl gehabt, dass ich ein Zeichen von Gott erhalten habe ((schmunzelt)), und ich habe danach mein Leben Gott übergeben.
Diese Episode wird relativ dramatisch erzählt; es ist klar, dass der Erzähler ihr eine grosse Bedeutung zurechnet. Er sagt an dieser Stelle bereits, dass er sein Leben Gott übergeben habe, die eigentliche Konversionserfahrung folgt jedoch erst später – oder besser: Sie folgt phasenweise. Erzähler E. verdeutlicht die Resonanz, die er von Gott aufgrund dieser Übergabe seines Lebens erhält, an einer späteren Stelle (sie wird nun vorweggenommen, weil sie inhaltlich an die obere Stelle anschliesst):
E. 535: Aber es war schon so, dass er ((der Kollege)) gesagt hat, tue doch beten und Gott um ein Zeichen bitten und ich wirklich etwas gemerkt habe. Dass ich gespürt habe, he, 'da ist etwas'. So eine warme Berührung von oben auf der Brust.
Trotz der Übergabe seines Lebens an Gott kann man nun noch nicht von der eigentlichen Konversion sprechen. Diese entwickelt sich phasenweise, zu einem nächsten Schritt kommt es während eines Urlaubs in Irland. Man könnte durchaus von einer mystischen Erfahrung sprechen, die im Nachhinein religiös gedeutet wird:
E. 96: Damals habe ich angefangen zu rauchen. Die schlimmen Geschichten, bei denen Jugendliche vor dem Jugendrichter waren, und – ja später – habe ich einmal mein Leben Gott übergeben und das war dann der grosse Bogen gewesen, bis ich aufgehört habe zu kiffen und ich mit einem Kollegen nach Irland in die Ferien gegangen bin. Wir haben auch grad =aufgehört zu rauchen. […] Und dann gingen wir an einem Sonntag spazieren in Westirland auf einer Insel. (2,0 Sek.) Und dort habe ich ein Erlebnis gehabt und zwar hatte dies mit der Natur zu tun, mit dem Feeling, das ich gehabt habe. […] Und zwar habe ich Frieden gehabt, Mega-Frieden. Und ich habe – zwei, glaube ich, ganz wichtige Erkenntnisse gehabt, und zwar: Falls es irgendetwas gibt, und dieses Irgendetwas hat das Leben geschaffen, das Irgendetwas ist Liebe und das Leben ist ein Geschenk – =das war meine Erkenntnis gewesen. […] Und: Ich habe dann meinem Mitreisenden gesagt, dass wenn ich zurückkomme, dann werde ich mit Kirche und Bibel, oder… (3,0 Sek.), ja ich möchte Kirche und Bibel, vielleicht auch – mit Christentum und Bibel mich auseinandersetzen. […] Aber ich war schon früher immer der Meinung gewesen, dass wenn man Christ wäre, dass man a) die Bibel lesen und b) sich mit Christen connecten sollte. […] Das war mir schon als Jugendlicher klar. Deshalb habe ich immer das Gefühl, dass meine Eltern keine Christen sind, =weil sie a) nicht die Bibel lesen und b) sich nicht mit Christen connecten. Es war für mich klar gewesen, =meine Eltern können keine Christen sein. Und – das war ein Schlüsselerlebnis für mich, der Moment dort.
F. 122: Kannst du beschreiben, was du dort genau erlebt hast?
E. 123: Ja, und zwar bin ich dort auf jener Wiese gewesen und – also ganz klar: =Ich habe keine Drogen genommen, nur dass dies gesagt ist – wir gingen spazieren. Irland hat mich total geflasht, =es flasht mich noch immer. Es ist wunderschön. Und – es ist so… (10,0 Sek.) schwierig zu beschreiben nach sechs Jahren.
Aufgrund dieser mystischen Erfahrung in der Natur Irlands kommt es in der Erzählung zu einem biografischen Wendepunkt, der sein erzähltes Leben in eine zeitliche Dreiteilung strukturiert (vgl. Ulmer 1988: 22). Die folgende Stelle zeigt deutlich, dass die religiöse Deutung nicht immanent jener mystischen Naturerfahrung ist, sondern dass sie nachträglich so interpretiert und auch gewählt wird:
E. 133: Aber damals habe ich einen, sagen wir einmal, sorgenfreien Moment gehabt, an dem ich habe erkennen dürfen, dass das Leben gut ist und ein Geschenk ist der Liebe. […] Und da es ein Geschenk ist, ist für mich denn klar gewesen, dass es von irgendwo her kommt. […] Das ist sehr global und das würden wahrscheinlich viele Leute unterschreiben, das hat noch nicht direkt mit der Bibel zu tun oder mit Jesus und mit Gott. […] Ist aber mir war doch wichtig gewesen, weil ich dann den Entschluss gefasst und gesagt habe, es muss etwas mit Kirche und Bibel zu tun haben.
Der sorgenfreie Moment in Irland muss also nicht explizit religiös gedeutet werden. Nach der mystischen Erfahrung folgt nun noch nicht einfach eine dritte Phase, sondern erneut eine Sinnkrise aufgrund einer unglücklichen Liebe.
E. 156: Ja, ich habe eine leichte Depression gehabt. (3,0 Sek.) Äh, ich habe mich dort in Irland in eine Japanerin verliebt, oder kurz nach dem ich zurück kam, habe ich mich in sie verliebt. […] Liebeskummer führt, habe ich herausgefunden bei mir, immer wieder zu Depressionen. Das ist gefährlich, Winter und Liebeskummer.
Diese Fernbeziehung führt zu All-Erfahrungen[66], wie die folgende (und erst im späteren Gesprächsverlauf erwähnte) Stelle zeigt:
E. 564: Nach dem Email-Schreiben ((mit der Japanerin)) ging ich liegen, und habe dann so gespürt, so, dass sie das jetzt grad liest und dieses Gefühl ist rund um die Erde gegangen. Ich weiss jetzt nicht genau, es war eine strube Zeit gewesen, so gefühlsmässig und so.
Nachdem E. die Japanerin in Tokio besucht und am Briefkasten eine Notiz sieht, dass sie ihn nicht sehen möchte, streift er durch Tokio und wird von einem Japaner angesprochen.
E. 184: Und danach bin ich dort in der Nähe herumgelaufen, also irgendwo in Tokio, und plötzlich kommt so ein Japaner auf mich zu und fragt mich "Was suchen Sie?" oder "Was machen Sie?" – auf Deutsch hat er das gesagt, auf Deutsch. […] Er hat mich danach eingeladen. Wir sind einen Tag zusammen herumgefahren. Und äh. Zum Beispiel, der war auch ein Christ gewesen.
Erzähler E. kommt in Tokio also in Kontakt mit einem Christen. Wieder zurück in der Schweiz verschärft sich seine Krise:
E. 199: An und für sich hat das Leben keinen Sinn mehr gehabt für mich in jener Zeit.
Was die Unterscheidung zwischen Erzählung und Interpretation angeht, ist die oben zitierte Stelle heikel: Wir können sie als Erzählung definieren, weil der Erzähler dies damals so empfunden hat oder als Interpretation, weil er seine Zeit damals aus heutiger Sicht als sinnlos interpretiert (aus Gründen, auf die wir später im theoretischen Teil eingehen werden). Wieder in der Schweiz hat er endlich eine Freundin, die ihm jemanden vom ICF vorstellt. E. besucht darauf die Messe im ICF, die ihn emotional berührt:
E. 225: Aber im ICF hat mich wirklich etwas berührt, so. Aber das war nicht einfach gewesen, dass es einen berührt hat. […] Auf eine Art… (4,0 Sek.) Also dass etwas passiert, ist cool. Aber für eine andere Art ist ICF extrem schwierig gewesen 'am Anfang'. Zum einen gibt’s ganz viele Leute, die einen dann plötzlich… Wenn man dann wirklich Christ geworden ist und sagt: Ich bin Christ, ich bin happy, ich habe ein neues Leben angefangen mit Jesus, es ist alles gut – dann kommen ganz viele Leute ganz schräg auf einen zu, aber genau am Anfang ist es so.
Diese neue und euphorisch kommunizierte christliche Identität irritiert das bisherige soziale Umfeld also. Diese christliche Identität wird durch die Taufe weiter verfestigt:
E. 310 Am letzten Abend hat sich einer, hat einer noch eine Flasche Wein geholt, so, und wollte mit uns anstossen, er wolle sich heute taufen lassen, und dann hat es bei mir bling gemacht und ich habe gewusst, =ich will das auch. […] Es ist der willentliche Entschluss, genauso wie wenn man jemanden möchte heiraten, im Vergleich zu einer Zwangsehe. […] Dann ist bei dieser Taufe auch mega etwas passiert. […] Und zwar habe ich vorher Magenprobleme gehabt, ich habe Magenbrennen gehabt – ein halbes Jahr. […]…und dann habe ich gesagt; ja, und dann wurde ich untergetaucht – und nachher habe ich, als ich aufgetaucht bin, noch gehustet, ich habe kein Wasser geschluckt, sondern einfach etwas ausgehustet, etwa drei- viermal 'oder so'. Es ist einfach so ein (Moment) gewesen. […] Mit dem Magen habe ich keine Probleme mehr gehabt, etwa ein halbes Jahr, nichts. Oder ein halbes Jahr bis ein Jahr nicht. Rauchen habe ich gleich aufgehört, für etwa dreiviertel Jahr.
E. verdeutlicht mit den verschwundenen Magenschmerzen die Resonanz der Taufe. Auch das Rauchen hat er danach zumindest für ein paar Monate aufgegeben. Ähnliche positive Folgeeffekte hat sein Entschluss, seiner Kirche den zehnten Teil seines Lohnes abzugeben:
E. 353: Das ist eine ganz harte Knacknuss. Und ich habe das einmal ausprobiert. Ich habe Geld gegeben, dem ICF, seither immer dem ICF, weil dies meine Kirche ist. […] Dann habe ich das zum ersten Mal gemacht, und dann habe ich wirklich eine oder zwei Wochen später vom Kanton Bern für mein Diplomprojekt Geld gesprochen erhalten. – Ich sage einfach immer: Es hat einfach funktioniert.
Damit ist die Konversion narrativ beschrieben – und eigentlich auch besiegelt. Es folgt nun der Prozess der sekundären Sozialisation, der Einbindung in die neue religiöse Gemeinschaft, etwa durch das Mentoring beim ICF:
E. 724: Jemand kümmert sich um dich. […] Er schaut, wo steht der E. ((Vorname))? Okay, mal anschauen,… […] …dass das wirklich etwas bringt. […] Und ja, man kann so viel machen. Aber das Wichtigste ist, dass die Leute die persönliche Beziehung mit Gott aufbauen.
Erzähler E. erwähnt hier also die persönliche Betreuung und gleich darauf folgend wird auch die Beziehung zu Gott erwähnt. Die Zeit vor der Konversion betrachtet E. im Nachhinein als verloren wie die folgende Stelle zeigt:
E. 836 Also ich sehe es zum Teil (5,0 Sek.) es ist einfach verloren. Ich finde es schon eher tragisch, ich finde es schon verloren. […] Weil das alles, ja (7,0 Sek.) ohne Gott ist. Das Leben ohne Gott ist, äh, tragisch, extrem tragisch. […] Wenn ein Mensch irgendwann einmal sein Leben Gott gibt, dann ist das Leben zuvor einfach… Schlussendlich – es ist einfach anders. Du bist nicht mehr die Person. Du hast vielleicht dein Verhalten. Du hast Gewohnheiten… […] …aber das Glück kommt nicht aus den Sachen.
Erzähler E. beschreibt damit seine Selbsttransformation, auch wenn er in der Du-Form spricht (und damit dem Erzähler eigentlich mitteilt, dass diese Transformation für ihn auch möglich wäre). Er ist nicht mehr dieselbe Person, wobei das Verhalten identisch bleibt. Dass der neue Glaube aber nicht einfach alle Zweifel aufhebt, wie dies William James postuliert, zeigt die folgende Stelle:
E. 867: Sagen wir mal, dass man manchmal das Gefühl hat, man genügt trotzdem nicht. Dass man sich vielleicht. […] Ja, es läuft trotzdem nicht so gut. Das kann ja mal sein. […] Also denkt man: He, Scheisse. […] Ja, ich habe einen Scheiss gemacht. Gott hat mich nicht mehr gerne. Irgendwie habe ich es verdient, dass ich ständig meine Dinge verliere, oder dass ich Termine verpasse oder Sachen durcheinander bringe, dass ich nie eine Frau finde. Du denkst – du bist unzufrieden. Findest eh alles Scheisse. […] Die blöde Bibel ((lacht)) Aber grundsätzlich, die tiefen Wahrheiten… […]… das wäre schon ein echter Bruch.
Folgend wird die narrative Ebene der Erzählung zusammengefasst, um den bereinigten Erzähltext herauszukristallisieren: Erzähler E. beginnt seine Schilderung mit der Entfremdung gegenüber der institutionalisierten Kirche und der Sonntagsschule, die er "wahrscheinlich" ein paar Mal besucht hat, wobei er mit diesem "wahrscheinlich" seine innere Teilnahmslosigkeit rhetorisch verdeutlicht. Später dramatisiert E. seine Apathie in der Kirche auch daran, dass er als Kind dort immer gähnen musste (E. 219f.). Er erzählt vom Kiffen, das wichtig sei, um seine Biografie zu verstehen. Dann schaltet er zeitlich zurück und schildert er sein Turn-or-Burn- Erlebnis, bei dem ihm, im Alter von ungefähr 13 Jahren, ein Kollege die Konsequenzen eines möglichen Lebens ohne Gott aufgezeigt hat, das der Hölle entspricht – und das er damals vielleicht auch so ähnlich empfunden hat. Zu einer mystischen Erfahrung kommt es mehrere Jahre später während eines Urlaubs in Irland, wo die Natur ihm ein enormes Friedenserlebnis, aber auch eine Gotteserkenntnis vermittelt. Er bezeichnet dies als Schlüsselerlebnis und betont, dass er zuvor keine Drogen konsumiert hat. Er betont, dass die religiöse Deutung diesem Schlüsselerlebnis nicht zwingend immanent ist, sondern dass er sich bewusst zu ihr entschlossen hat. In Irland verliebt er sich in eine Japanerin, was ihn – wieder in der Schweiz – in Depressionen wirft, die vom Winter verstärkt werden. Er reist nach Japan, versucht Kontakt mit der Japanerin aufzunehmen, die jedoch nichts von ihm wissen möchte. Dies verschärft seine Sinnkrise. Wieder in der Schweiz hat er endlich eine Freundin, die ihm jemanden vom ICF vorstellt. E. besucht dort die Messe, die ihn sichtlich berührt. Er kommuniziert seine christliche Identität euphorisch in seinem bisherigen Umfeld, was dort für Irritationen sorgt. Die Taufe, die Abgabe des Zehnten und das Engagement führen nicht nur zur Minderung von Schmerzen und Suchtverhalten, sondern sie stabilisieren und festigen die Konversion und damit die christliche Identität, die damit – zumindest auf kommunikativer Ebene – besiegelt ist. Auch das Mentoring stützt die sekundäre Sozialisation in die religiöse Gemeinschaft. Zweifel treten weiterhin auf, aber scheinen auch legitim zu sein, zumal sie an den tiefen Wahrheiten – der Gotteserkenntnis – nichts ändern. Die Zweifel beziehen sich auf Alltägliches. Das entspricht der Aussage, dass er zwar nicht mehr dieselbe Person ist, aber immer noch dasselbe Verhalten hat.
2.1.2 Erzähler A.
Der Erzähler A. macht anfangs des Gesprächs deutlich, dass seine transzendente Erfahrung, die er im übrigen als ein abgeschlossenes Kapitel seiner Biographie versteht, in Zusammenhang mit LSD steht:
A. 3: Ja du, das Erlebnis (3,0 Sek.) ist eben irgendwie – dass, die Erkenntnis, irgendwie, und das ist eine Erkenntnis gewesen, dass Gott irgendwie nicht einfach nur ein Wort ist oder äh, (2,0 Sek.) eine Theorie, sondern – ich habe das plötzlich gespürt als Kraft. Ob es jetzt das, weisst du – es ist ja nicht aufgrund vom Nachdenken gekommen, sondern von dem – Backflash von LSD.
Mit dem Hinweis, dass "Gott irgendwie mehr als ein Wort ist" verweist Erzähler A. auf die Problematik der Ineffabilität. Bei der Einnahme des LSD handelt es sich um ein "blindes Verlassen des Alltags" (vgl. Schütz/Luckmann 2003: 622): A. weiss nicht, auf welche Reise er sich begibt. Ein paar Zeilen später schildert er seine Transzendenzerfahrung, die plötzlich über ihn herkommt, als er sich in seiner Wohnung befindet:
A. 24: Der Zufall hat es wollen, dass dies in der Weihnachtszeit passiert ist, oder. […] Das hat ja grad irgendwie noch gepasst. Und noch zufälligerweise ist denn irgendwie gewesen, dass, dass die an der Colmi ((Colmarerstrasse)) dort im Park unten, als ich dieses Erlebnis so für mich gehabt habe, also Erleuchtung, oder, oder wie du das auch immer willst nennen, dass dort so eine, so eine Gruppe, die beim Ökolampad auch Weihnachten gefeiert hat, dort anfangen hat zu singen – irgendwie "Ein König ist geboren", oder.
Das Weihnachtslied löst ein blitzartiges religiöses Erlebnis aus. Erzähler A. greift gleich zur nächsten Bibel:
A. 64: Ich habe dann irgendwie aus meiner Büchertruhe irgendwie eine Bibel hervor-, hervorgeholt und, und, und die aufgeschlagen und irgendwie (3,0 Sek.) im neuen Testament, irgendwie grad auf die Seite, wo Jesus seine Sprüche sagt… […]"Du kannst nicht zwei Herren dienen". […] Das Ganze weisst du, was er gesagt hat… […] …das Geld ist nicht so wichtig. An erster Stelle ist Gott. – Und natürlich drinnen gelesen, und dies hat dann irgendwie diese Energie für mich in einen Rahmen hinein gebracht, oder. […] Und dann bin ich ja mal in die Stadt irgendwie, und habe in der Stadt irgendwie mein Auto verschenkt und äh… […] Ja und…, wirr. Oder. Wirr, auch Geld irgendwie – verschenkt. […] Ja, weisst du. Es ist auch gestanden, du sollst keine Schuhe tragen. Und grad irgendwie raus ((lacht)), um zu predigen, oder. […] Ich habe das grad so als Auftrag dann für mich so aufgefasst, oder, also. […] Ja, also eben – ziemlich wirr. […] Aber eben doch mit dem Erlebnis: Es gibt – etwas Göttliches. Was eigentlich bis zu diesem Zeitpunkt, äh, für mich kein Thema gewesen ist, ich habe das nicht reflektiert…
Die Stelle zeigt sehr deutlich, wie A. zwischen Erzählung und Interpretation unterscheidet. Er schildert das Aufschlagen der Bibel und die damit verbundene Aufforderung, materielle Güter zu verschenken (A. 108) und zu predigen.
A. 171: Und, ja. Und dann hat das natürlich seinen Lauf genommen, oder. Ich habe dann natürlich angefangen zu lesen, noch mehr, oder, und mich mit dem Thema zu beschäftigen, und. Und ich habe mich natürlich, äh, auch immer wieder bestärkt gefühlt, oder. Eine Zeitlang habe ich mich, äh, gefühlt – ich wäre ein Auserwählter. Ich hätte, hätte eine wichtige Rolle. […] Quasi die Weiterführung von dieser, diesen biblischen Schriften. […] Also, es hat ja jenes Figuren, die auch beschrieben werden, die werden auftreten. […] Und ich habe mich dann als der gefühlt, und dann wieder: ja nein, ich bin der. Und, und – auch immer wieder, weisst du, habe ich versucht, irgendwie eine Rolle zu finden in dem Ganzen.
Im Gegensatz zu E. beginnt die religiöse Suche bei A. also erst nach dem Konversionserlebnis. Dieses Suchen kommt auch zum Ausdruck, als A. sich mit einigen Anhängern in eine Höhle zurückzieht.
A. 236: Wir sind ein halbes Jahr dort oben gewesen, und haben gelebt dort. […] …anfangs waren wir zu fünft, aber es sind dann immer mehr geworden, und es sind immer mehr geworden… […] …aber, am Anfang haben wir uns als spirituelle Gemeinschaft gesehen, so. […] Wir haben miteinander am Abend irgendwie Texte gelesen und so… […] und haben wirklich versucht, nicht jetzt, weisst du, spezifisch christlich, es hat eben auch… […] …es hat auch einen darunter gehabt, der ist mehr so äh, dem buddhistischen Glauben nachgegangen… […] …und der hat auch immer wieder dann – sich eingebracht. […] Und dann haben wir eine Zeit lange das Ziel verfolgt, so einfach miteinander ein wenig Spiritualität zu leben, oder. Aber das ist dann auch schnell eigentlich auch untergegangen im – äh – Kiffen, im Saufen.
Die Selbstexklusion als spirituelle Gemeinschaft in der Höhle dauerte ungefähr sechs Monate. Nach diesem Experiment der Exklusion in der Höhle hat A. angefangen, religiöse Gemeinschaften aufzusuchen (vgl. A. 307f.). Mit dem Leben im Kapuzinerkloster konnte er sich nicht identifizieren:
[...]
[1] Bruce Lincoln führt dies auf die Negativerfahrung mit dem religiös legitimierten dreissigjährigen (1618-1648) Krieg zurück "Having never suffered a trauma like the European Wars of Religion, the population in general see no need for minimalizing initiatives, which they experience as a Western imposition threatening to the stability, dignity, and integrity of their culture" (Lincoln 2003: 64).
[2] In den USA beträgt der Anteil der Hochreligiösen 62% der Bevölkerung. Zum Vergleich: In der Schweiz sind es 22%, in Deutschland 18% und in Frankreich 13% (Bertelsmann 2009: 770).
[3] "Wenn sie [die Säkularisierung] europäisch war, braucht man sich über die vielen religiösen revivals aussereuropäischer Provenienz nicht zu wundern" (Luhmann 2002: 280). Der Religionssoziologe Jenkins geht davon aus, dass besonders das Christentum in Afrika, Asien und Südamerika zukünftig an Terrain gewinnen wird. "Auch im Jahr 2050 werden weltweit ca. drei Christen auf zwei Muslime kommen. Etwa 34% der Weltbevölkerung werden dann Christen sein. Das ist etwa der relative Anteil wie im Jahr 1900, dem Höhepunkt der europäischen Vorherrschaft der Welt" (Jenkins 2002: 17). Dieses Christentum wird gemäss Jenkins sehr konservative Werte vertreten und den liberalen Westen vor neue Herausforderungen stellen.
[4] Die Situation in der Schweiz zeigt dies deutlich: 1970 waren noch 46,62% der Schweizer Wohnbevölkerung in der evangelisch-reformierten Kirche, 2000 noch 33,04%. Bei den römisch Katholischen ist der Terrainverlust (in Folge von Zuwanderung) ein bisschen geringer: von 49,30% im 1970 auf 41,82% im 2000 (Bovay 2004: 11).
[5] "So ist das, wo früher ein abgetrenntes religiöses Feld war, nunmehr eines, aus dem man unwissentlich heraustritt, und sei es durch die eigene Biographie, insofern zahlreiche Geistliche, Psychoanalytiker, Soziologen, Sozialarbeiter usw. geworden sind und unter einem Laienstatus und in laizisierter Ausprägung neue Formen der Behandlung des Seelenheils anwenden; zugleich vollzieht sich unter unseren Augen eine Neudefinition der Grenzen des religiösen Feldes, geht die Auflösung des Religiösen in einem umfassenden Feld einher mit dem Verlust des Monopols auf Heilung der Seelen im alten Sinn […]" (Bourdieu 1992: 234).
[6] Das trifft zur Zeit in hohem Masse für islamische Konversionen zu: Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete über den "Lockruf des Ostens – Warum Menschen zum Islam übertreten" (Lerch 2007: 14), die Neue Zürcher Zeitung über "Konvertiten im Zwielicht – Die deutsche Anti-Terror-Diskussion hat nach den jüngsten Verhaftungen einen neuen Fokus" (Güntner 2007: 49) und der Spiegel über "Der Weg ins Paradies – Der Zustrom deutscher Freiwilliger ins Lager der Selbstmordattentäter geht weiter" (Brandt/Kaiser/Rosenbach/Stark 2008: 50).
[7] "Fundamentalismus ist nicht 'Rückkehr ins Mittelalter', sondern eine zeitgenössische Form des Widerstandes gegen Aspekte der Moderne […]" (Riesebrodt 2001: 50).
[8] Zum Beispiel daran, dass das ökonomische System – etwa die Börse – ökonomisch kommuniziert und immun gegen religiöse und moralische Einwände ist, auch wenn einige Politiker das nicht verstehen möchten.
[9] So vertritt Charles Taylor die These, dass ein substanzieller und an William James angelegter Religionsbegriff aktueller ist denn je: "In einem gewissen Sinne ist die religiöse 'Erfahrung' – die ersten Andeutungen und Intuitionen, denen wir aus einem Gefühl innerer Verpflichtung heraus nachgehen müssen – so entscheidend wie nie zuvor, was immer wir in unserem spirituellen Leben, in dem wir ganz unterschiedliche Wege gehen, schliesslich daraus machen" (Taylor 2002: 102).
[10] Diese Definition ist christozentrisch gebaut. In Stammesreligionen und auch in einigen Weltreligionen (im Hinduismus oder seit einiger Zeit im Judentum) ist die Konversion nicht von Bedeutung. Ein zentrales Thema ist sie in universalistisch gebauten Religionen wie dem Islam oder Christentum.
[11] Während zum Beispiel eine Exklusion aus dem ökonomischen oder juristischen System nicht möglich ist (vgl. Luhmann 1993b: 349). Auch ein sich selbstversorgender Eremit bewegt sich innerhalb des ökonomischen Systems und ein Gesetzloser innerhalb des Rechtssystems.
[12] Zu denken wäre unter anderem an die Psychoanalyse (vgl. Hahn 1982: 407-434).
[13] Selbst in der Thematisierung von Transzendenz steht die Religion nicht alleine da. Man denke an die Thematisierung der transzendenten Erfahrung in der Literatur, zum Beispiel an die Erfahrung des Absurden bei Sartre (Sartre 2001: 146ff.).
[14] Zumindest ist er das aus einer soziologischen Perspektive. Die Neuropsychologie beleuchtet wiederum andere Schwerpunkte; etwa die Epilepsie (vgl. Brown/Caetano 1992: 147-158).
[15] Handlungstheoretisch formuliert: "Kommunikation besteht nicht nur aus der Übertragung von Ideen aus dem Kopf einer Person in den einer anderen, sie bedeutet gemeinsame Bedeutungen. 'Gemeinsam' bedeutet mehr, als dass die Termini in weit gehend gleicher Weise gebraucht werden, so dass man sich gegenseitig versteht; es besagt auch, dass die Termini aus dem Gruppenhandeln entstehen und es ihrerseits ermöglichen" (Strauss 1974: 161).
[16] "Diese Nichtmitteilbarkeit der Entrückung ist der Schlüsselbegriff aller Mystik" (James 1997: 404).
[17] Berger über diese Ineffabilitäts-Problematik: "Grundsätzlich lässt sich jede dieser 'anderen Realitäten' beschreiben, auch wenn jeder Versuch, sie zu beschreiben, sich mit der Tatsache schwer tut, dass die Sprache ihre Wurzeln in der irdischen Erfahrung hat" (Berger 1992: 54)
[18] Auch das Gebet ist nichts anders als eine Eingemeindung Gottes in die Gesellschaft (vgl. Luhmann 1987b: 229).
[19] Denn: "Sobald jemand meint sagen zu können, was Religion ist und wie man Religiöses von Nichtreligiösem unterscheiden kann, kann im nächsten Augenblick jemand kommen und dieses Kriterium (etwa den Bezug auf den existierenden Gott) negieren und genau dafür religiöse Qualität in Anspruch nehmen" (Luhmann 2002: 14).
[20] Oder wie Luhmann es in Hinblick auf die Mystik sagt: "Sie hat Texte über Nichtmitteilbares produziert, die folgenreiche Anschlüsse möglich machten, wo Folgenlosigkeit zu erwarten war" (Luhmann 1989b: 91).
[21] Fromm zitiert einen Zen-Meister wie folgt: "Bevor ich erleuchtet wurde, waren die Flüsse Flüsse und die Berge Berge. Als ich den Weg zur Erleuchtung beschritt, waren die Flüsse keine Flüsse und die Berge keine Berge mehr. Jetzt, da ich erleuchtet bin, sind die Flüsse wieder Flüsse und die Berge wieder Berge" (Fromm 1971: 151).
[22] Die Autoren entwickeln ein siebenstufiges Verlaufsmodell typischer Konversionen: Die Person muss (1) innere Spannungen erleben, die (2) nach einer religiösen Lösung verlangen, was die Person (3) dazu veranlasst, sich selbst als religiös Suchenden zu definieren, wobei das Stossen auf eine religiöse Gruppe (4) als biografischer Wendepunkt definiert wird. Dort entstehen neue soziale Verbindungen (5), wobei andere Beziehungen neutralisiert bzw. abgebaut werden (6), bis der Konvertit intensive Interaktionen (7) in der religiösen Gruppe tätigt (vgl. Lofland/Stark 1965: 874).
[23] Das Fundament geht denkhistorisch zurück auf Adam Smith, der die These vertritt, dass Kirchen nach den Kräften des Marktes funktionieren (vgl. Smith 2005: 679ff.).
[24] Das geht hin zum rationalen Nutzen für islamische Selbstmordterroristen (Frey 2004: 49-60).
[25] Dieser Funktionsbegriff ist Malinowski angelehnt, bei dem die Funktion der Religion darin besteht, Bedürfnisse zu befriedigen und Probleme wie den Tod oder Krankheit zu bewältigen (vgl. Malinowski 2005: 19-44). Bei Durkheim dagegen besteht die Funktion darin, das Individuum in eine Gemeinschaft zu integrieren (vgl. Durkheim 1994: 75).
[26] So zum Beispiel bei Schmidtchen: "Der individuelle Nutzen aus religiösen Aktivitäten steigt, wenn man sie gemeinsam mit Gleichgesinnten vornimmt. Trittbrettfahrer scheuen diese Kosten und treten gar nicht erst in eine Sekte ein. Die hohen Eintrittskosten stellen zugleich Austrittsbarrieren dar. Man entwertet die mit dem Eintritt vorgenommene kostspielige Investition, wenn man die Sekte wieder verlässt" (Schmidtchen 2000: 26).
[27] Dies liegt am Exklusivitätsanspruch des Christentums. So spricht zum Beispiel Jesus (Johannes 14/6) zum Jünger Thomas: "Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich" (Deutsche Bibelgesellschaft 2000b: 126).
[28] Auch die Nachfrage ist in den USA sehr ausgeprägt. Der Anteil der Hochreligiösen beträgt dort 62% der Bevölkerung – zum Vergleich: In der Schweiz sind es 22%, in Deutschland 18% und in Frankreich 13% Hochreligiöse (Bertelsmann 2009: 770).
[29] "Der reiche Pluralismus von Religionsgemeinschaften […] ist [in den USA] also nicht nur vorhanden, sondern politisch auch gewollt und kulturell legitimiert" (Joas 2009: 337).
[30] Auf der Rational Choice Theory baut unter anderem die Strain Theory auf, bei der die Konversion ebenfalls dazu dient, ein persönliches Problem zu lösen (vgl. Bainbridge 1992: 179-181). Die Social Influence Theory wiederum basiert auf subkultur- und netzwerktheoretischen Annahmen, die auf das religiöse Feld übertragen werden. "As control theory states, a person is socially free to join a new religion group if only he lacks strong ties to some other group. As subculture theory states, to convert a new religion, such a person must develop strong social relations with persons who are already members" (Bainbridge 1992: 182).
[31] Berger schlägt drei Modelle vor, die das religiöse Denken in der Moderne beschreiben: eine deduktive, reduktive und induktive Option. Er bevorzugt die induktive Option, die darauf abzielt "die Erfahrung zur Grundlage aller religiösen Bestätigungen zu machen" (Berger 1992: 76)
[32] In dieser Arbeit wird diesem Ansatz jedoch nicht gefolgt. Es wird weiter mit dem Begriff der Konversion operiert.
[33] Knoblauch führt diesen Ansatz auf "Bekehrung zum Nichtrauchen?" weiter (vgl. Knoblauch 1998a: 247-269).
[34] "In short, consciousness is the product of communication (i. e. symbolic interaction) within a shared universe of discurse" (Snow/Machalek 1983: 135).
[35] Universum wird hier im Sinne von Mead verstanden. Mead verweist denn auch auf den Zusammenhang zwischen der Universalität und der eigenen Biografie: "Ein Objekt, beispielsweise eine Melodie, ist etwas Einheitliches. Wir hören die ersten Töne und reagieren auf ein Ganzes. Diese Einheit gibt es auch in den biografischen Darstellungen, die das Leben der jeweiligen Person von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod verfolgen, wobei sie alles das zeigen, was zum Wachstum einer Persönlichkeit gehört, die Veränderungen in ihrer Laufbahn etc" (Mead 1973: 124).
[36] "To the extent that conversion is viewed as a radical change, we propose that it is the universe of discurse which changes" (Snow/Machalek 1983: 265).
[37] Diese Figur von Staples/Mauss lässt sich mit dem Paradigmenwechsel von Thomas Kuhn vergleichen (vgl. Kuhn 1973: 57-122).
[38] Ein ähnliches Modell mit starkem Subjektbezug vertritt die Religionspsychologie: 1) Context: Die (makro- und mikrosozialen) Umstände, die eine Konversion begünstigen oder verhindern. 2) Crisis: Kann persönlich oder auch sozial bedingt sein. 3) Quest: Suche nach dem Sinn des Lebens. Es kommt zu einem aktiven Handeln des Suchenden. 4) Encounter: Es kommt zum Kontakt durch eine Institution oder auch durch ein Individuum, das eine solche repräsentiert. Spiritualität und Religion werden als Alternativen dargelegt. 5) Interaction: Es kommt zur verstärkten Interaktion zwischen dem religiös Suchenden und der religiösen Gemeinschaft. 6) Commitment: Es kommt zum (meist öffentlichen) Bekenntnis zur religiösen Gemeinschaft. 7) Consequences: Das Bekenntnis führt zu einer Transformation, was neue Überzeugungen, Verhaltensweisen und Identitäten nach sich zieht (vgl. Rambo 1992: 159-177).
[39] "Der Begriff 'rekonstruktive Gattung' verweist, allgemein formuliert, auf alle kommunikativen Vorgänge, in denen vergangene Ereignisse und Erlebnisse nach gesellschaftlich verfestigten und intersubjektiv verbindlich vorgeprägten kommunikativen Mustern rekonstruiert werden" (Ulmer 1988: 20).
[40] "Individuals are not only permitted to make choices, frequently they are forced to do so" (Luckmann 1999: 254).
[41] Selbst in esoterischen und eklektizistischen Religionen sind die einzelnen Elemente alle schon in der Welt. Religion schliesst immer an Bestehendem an. "Auch die Begründer des Christentums haben sich bemüht, zahlreiche Berührungspunkte zwischen den Prophetien des Alten Testaments und den Einzelheiten und Worten des Lebens Christi, die deren Erfüllung darstellen, herauszukehren" (Halbwachs 1985: 254f.).
[42] Es handelt sich bei der Beichte tatsächlich um ein Müssen. Im früheren 13. Jahrhundert wird es Pflicht für alle Christen, mindestens einmal im Jahr beim Ortspfarrer zu beichten, und dies wurde systematisch kontrolliert. In der nachmittelalterlichen Zeit wird den Beichtenden auch eine Bescheinigung ausgehändigt (vgl. Hahn 1982: 409ff.).
[43] Auch Staples/Mauss machen auf die rhetorische biografische Rekonstruktion innerhalb der christlichen Theologie und der Psychoanalyse aufmerksam (vgl. Staples/Mauss 1987: 143).
[44] Individualität und die sie reflektierende Biographie sind keine angeborene Fertigkeit, "sondern etwas, was, und zwar eben lebensgeschichtlich, gelernt werden muss" (Sparn 1990: 12).
[45] "Neu daran ist, dass diese Art der Zugewandtheit zum eigenen Ich offenbar zu einem Massenphänomen geworden ist" (Taylor 2002: 72).
[46] "Besonders wichtig ist in diesem Kontext die Frage, inwiefern das Individuum durch ausdrücklich von den Gruppen inszenierte Prozeduren zur Selbstdarstellung, zum Selbstbekenntnis, zur Offenlegung seines Inneren und zur Aufdeckung seiner Vergangenheit veranlasst wird" (Hahn 1995: 131).
[47] Sinnvoll erscheint diese Unterscheidung allenfalls in Hinblick auf die Zeit: In welchem Verhältnis stehen erlebte Zeitspannen in ihrer erzählten Version? Schütz hat auf diese Problematik hingewiesen, "dass die Kategorien der biographischen Artikulation nicht eigentlich Kategorien der inneren Dauer sind, sondern vielmehr intersubjektiv ausgeformte, in der relativ-natürlichen Weltanschauung tradierte Kategorien" (Schütz 2003: 141).
[48] Ulmer orientiert sich also an der phänomenologischen Figur der Alltäglichkeit und Ausseralltäglichkeit (Schütz/Luckmann 2003: 587ff.)
[49] Mehr zum ICF: Favre/Stolz 2007: 138ff. und Humbert 2004: 288
[50] Der Erzähler A. war mir bereits bekannt, als er vor bald zwei Jahrzehnten seine religiöse Erfahrung hatte. Ich bin also ein "Wissender" (Goffman 1967: 85f.).
[51] Man könnte von einem Versuch der Askese sprechen, die in weltablehnende und innerweltliche unterscheidbar ist (Weber 1980: 329ff.).
[52] Auch Ulmer verweist auf die Bedeutung der zeitlichen Strukturierung der Erzählung" (Ulmer 1990: 289).
[53] "Die Frage nach dem Wie bezieht sich auf Vollzüge und Formen; man könnte sie als eine morphologische bezeichnen. Die Analyse der in Form von narrativen Interviews dokumentierten Biographisierungsprozesse dient der Absicht, solche Formen der Selbst- und Welthaltung auszulegen" (Marotzki 2008: 184).
[54] Etwa: Die Bekenntnisse (Augustinus 2003), Der Berg der sieben Stufen (Merton 1984) oder Gott existiert. Ich bin ihm begegnet (Frossard 2000).
[55] Engelhardt verweist auf fünf verschiedene Grundmuster des autobiografischen Erzählens: 1) das erlebte Vergangenheits-Ich wird in seiner Verankerung in einer Familie oder einem Clan vergegenwärtigt, 2) die biografische Entwicklungsgeschichte des Erzählenden wird in Zusammenhang mit der politisch-sozialen Geschichte gebracht, 3) die eigene Biografie wird als Abfolge von institutionalisierten Lebensläufen erzählt – also zum Beispiel: Geburt, Kindheit, Schule etc., 4) personale Identität kommt als psychosoziale Entwicklungsgeschichte zur Geltung, wobei im Mittelpunkt eine Erfahrungs- und Erlebnisgeschichte steht und 5) ein Muster, bei dem das Gegenwarts-Ich während des Erzählens im Dialog mit seinem Vergangenheits-Ich sucht (vgl. Engelhardt 1990: 225ff.).
[56] Wie das orale Interview folgt auch die literarische Autobiografie bestimmten Konditionen: "Die Autobiographie, in der Identität als Einheit sichtbar wird und nicht als blosses Konglomerat von Ereignissen, ist ebenfalls historisch keineswegs ein universales Phänomen" (Hahn 1995: 138)
[57] Wobei die Biografie vom Lebenslauf zu unterscheiden ist: "Der Lebenslauf ist ein Insgesamt von Ereignissen, Erfahrungen, Empfindungen usw. mit unendlicher Zahl von Elementen. […] Aber die Biografie macht für ein Individuum den Lebenslauf zum Thema" (Hahn 1988: 51).
[58] Man denke an die Outings und medial inszenierten Selbstentblössungen.
[59] "Es ist wichtig, dass diese Nachfragen wirklich narrativ sind" (Schütze 1983: 285)
[60] Hier zeigt sich die Parallele zum offenen, journalistischen Interview: "Sie [die Stimulusfragen] haben Aufforderungscharakter, sind offen und explorierend formuliert" (Haller 2001: 247).
[61] Girtler plädiert mit diesem Ansatz für Machtfreiheit im sozialwissenschaftlichen Interview. Aber kann ein Gespräch wirklich in einem machtfreien Raum stattfinden? Ist nicht grundsätzlich überall – und ganz besonders in den Wissenschaften – Macht im Spiel? Foucault zumindest sieht dies so: "Nicht weil sie alles umfasst, sondern weil sie von überall kommt, ist Macht überall" (Foucault 1983: 94).
[62] "In der Gesprächsforschung wird die phonetische Umschrift kaum verwendet, da sie zu viel Information enthält und schwer zu transkribieren und zu lesen ist" (Kowal/O'Connell 2008: 441).
[63] Die Unterstreichung hat in den Interviews im Anhang (ab Seite 101) und in den ausgewerteten Stellen in der Arbeit eine andere Funktion: Im Anhang markiert sie Betonung, in der Auswertung kennzeichnet sie Erzählung (und trennt diese so von Interpretation).
[64] Das ist natürlich auch ontologisch gedacht, denn es gibt keinen Zugriff auf ein Objekt als solches (vgl. Strauss 1974: 17).
[65] "Dieser Analyseschritt wird nicht von allen Forschungen, die mit dem Auswertungsverfahren von Fritz Schütze arbeiten, vollzogen. Er ist dann wichtig, wenn es für die Forschungsfragestellung von besonderem Belang ist, ob und inwieweit die Eigentheorie des Erzählers von der identifizierten Erfahrungsaufschichtung im Ereignisverlauf und der rekonstruierten 'Prozessstruktur' abweicht, welche Ursachen dies hat und welche Selbstdeutung der Erzähler über seine Entwicklung entwickelt hat" (Küsters 2006: 82). Im Falle dieser Arbeit wird darauf verzichtet.
[66] Mit der Unterscheidung in transzendente All- und Du-Erfahrungen wird im Religionsmonitor 2008 operiert (vgl. Huber 2009: 32f.). Damit sollen in jener Studie mono- und pantheistische Transzendenzkonzepte differenziert betrachtet werden.
- Quote paper
- Francis Müller (Author), 2009, Konversion und Systemtheorie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/154013
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