Ich werde in dieser Arbeit untersuchen, wie Huntgeburth ihre wahre Geschichte der
Effi Briest so erzählt, dass sie dem selbst gesetzten Programm gerecht wird. Im
Kontrast zur Frage, inwieweit Fontanes Roman eine gesellschaftskritische Haltung
zugesprochen wird, ergibt sich mein Interesse an der Botschaft des Films und seiner
Wahrheit. Eine Bewertung der Überlebenschancen von Roman und aktueller
Verfilmung im Rahmen der Gesamtthematik gebe ich im Schlussteil der Arbeit ab.
Inhalt
Erzählprogramme
Die Wahrheit des Poetischen Realismus und das Leitmotiv der Romanverfilmung durch Hermine Huntgeburth
Zwischen Anpassung und Widerstand
Hermine Huntgeburth über ihr filmisches Programm
Der Film ist anders
Veränderte erzählerische Akzente des Films gegenüber der Romanvorlage
Das neue Ende - doch nicht so neu
Schon Franz Savaes forderte ein anderes Romanende,
Hermine Huntgeburth liefert die „Neuinterpretation“
Eine Emanzipationsgeschichte
Die modernisierte Botschaft des Films und ihre Adressaten
Auf den Friedhof der Botschaften! - Requiem
Anmerkungen
Medienverzeichnis
Erzählprogramme
Mit einem Goethe-Zitat aus „Faust I“ bringt Fontane das „Motto des Realismus“ auf eine griffige Formel:
„Greif nur hinein ins volle Menschenleben, Wo du es packst, da ist’s interessant“.1
Allerdings, so präzisiert er seine Sicht, müsse die Hand, die diesen Griff tue, eine künstlerische sein. Das Leben liefere den Rohstoff, der durch die Hand des realistischen Romanciers - in Abgrenzung zu „Tendenzbildern“ - eine Läuterung erfahre. Daher gehe es nicht um „das nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens, am wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten“. Vielmehr ziele der Realismus in der künstlerischen Gestaltung des Wirklichen auf „das Wahre“ 2, das Wahre, das den Leser fördere, (auf-) kläre und belehre, dabei jedoch nicht zuletzt unterhalte, „schöne Stunden bereitet“, wie Fontane es ausdrückt 3. Der Roman „soll zu unserer Phantasie und zu unserem Herzen sprechen, (...) er soll uns eine Welt der Fiktion auf Augenblicke als eine Welt der Wirklichkeit erscheinen, soll uns weinen und lachen, hoffen und fürchten, am Schluss aber empfinden lassen, teils unter lieben und angenehmen, teils unter charaktervollen und interessanten Menschen gelebt zu haben (...).“ 4
Das ist Fontanes Programm.
Als 1886 die „Ardenne-Affäre“ für Gesprächsstoff sorgt, beschert sie Fontane das Rohmaterial, mit dem Roman „Effi Briest“ auf künstlerische Weise zum Wahren vorzudringen. Fontane erzählt nicht die Geschichte der Frau von Ardenne, er kreiert eine neue - angeregt durch die Affäre Ardenne. Und er kreiert die Protagonisten seines Romans, die junge, abenteuerlustige „Tochter der Lüfte“, Effi Briest, den vortrefflichen und wesentlich älteren Baron von Innstetten, dessen prinzipientreue, aufrechte Haltung Lesergenerationen anekeln wird (durchaus zu Fontanes Amusement 5 ), den „Damenmann“ von Crampas, dessen Charakter und dessen Agieren alle mit dieser Titulierung verbundenen Phantasien bedient. Fontane erfindet die wahre Geschichte der Effi Briest, die von der Schaukel weg mit dem wesentlich älteren Ex-Verehrer ihrer Mutter die Ehe eingeht, eine Ehe, die sie so quälen wird wie sie den Leser quält, der sich längst in Effi verliebt hat, wie zweifelsohne auch ihr Schöpfer 6 ). Der weitere Verlauf ist bekannt.
Nun haben uns Romane, über deren Botschaft die Weltgeschichte ihr Urteil gefällt hat, nichts mehr zu sagen. „Die Missstände, die sie (die Romane, L.G.) anprangerten, gehören nicht mehr unserer Zeit an. (...) Wir halten uns nicht mehr an ihre (der großen Schriftsteller, L.G.) Beweise, weil uns an dem, was sie beweisen wollten, nichts mehr liegt.“, so sieht es Sartre 7 ) und empfiehlt den Platz auf dem „Friedhof der Botschaften“. In der Tat betrachtet auch Friedrich Engels den Roman zum Ende des 19. Jahrhunderts als Ausdruck der Sittengeschichte der Zeit. In protestantischen Ländern sei es „die Regel, dass dem Bürgersohn erlaubt wird, sich aus seiner Klasse eine Frau mit größerer oder geringerer Freiheit auszusuchen, wonach ein gewisser Grad von Liebe der Eheschließung zugrunde liegen kann und auch anstandshalber stets vorausgesetzt wird, was der protestantischen Heuchelei entspricht.“ Allerdings bringe es diese „protestantische Monogamie“ „in Durchschnitt der besten Fälle nur zur ehelichen Gemeinschaft der bleiernen Langeweile, die man mit dem Namen ,Familienglück’ bezeichnet“. In katholischen Ländern werde der jungen Frau von ihren Eltern der angemessene Partner einfach „besorgt“. Den Spiegel dieser Heiratsmethoden bilde der Roman, der französische für die katholische, der deutsche für die protestantische Art der Heirat. Daher bekäme im deutschen Roman der Mann das Mädchen, im französischen bekäme er die Hörner. Daher auch errege dem französischen Bourgeois die Langeweile des deutschen Romans denselben ]Schauder wie dem deutschen Philister die Unsittlichkeit des französischen. Neuerdings, seit Berlin Weltstadt werde, fange der deutsche Roman an, weniger schüchtern in dem dort seit langem wohlbekannten Hetärismus und Ehebruch zu machen.8 )
All das ist Geschichte, und dem realistischen Roman des ausgehenden 19. Jahrhunderts droht der befürchtete modrige Kellergeruch, von dem Sartre spricht. Duelle werden, zumindest in dieser Form, nicht mehr ausgetragen, Zwangsehen sind ein Thema allenfalls für Bevölkerungsgruppen „mit Migrationshintergrund“, überhaupt steht die Ehe als Erfolgsmodell durchaus zur Disposition. „Worin gründet die Gegenwärtigkeit dieser Texte, die in Widerspruch zu stehen scheint mit der Historizität, dem Alten und Fernrücken, das an ihnen heute ebenfalls unübersehbar wahrzunehmen ist“, fragt Norbert Mecklenburg 9 ). In der Tat, „Effi Briest“ wird auch heute noch, wo uns dieser Roman nicht mehr zu sagen haben soll, gelesen, und das nicht nur als Schullektüre.
Vier Mal wurde der Roman verfilmt, Hermine Huntgeburths Aufgriff des Stoffes ist dessen fünfte filmische Adaption. Das überrascht, insofern Fassbinder darauf hinweist, es mache wenig Sinn, eine Geschichte, die bereits erzählt und allgemein bekannt sei, noch einmal zu erzählen 10. Er selbst zieht daraus für seinen Film eine programmatische Konsequenz. Nicht Effis Geschichte steht im Mittelpunkt seines Filmes, sondern Fontanes Haltung zur Gesellschaft 11. Der Film trägt nicht länger den Titel des Romans, sondern „Fontane - Effi Briest“. Zum Leitmotiv wird der zweite Titel: „Viele, die eine Ahnung haben von ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen, und trotzdem das herrschende System in ihrem Kopf akzeptieren durch ihre Taten und es somit festigen und durchaus bestätigen“.
35 Jahre später verleiht auch Hermine Huntgeburth ihrem Film ein Programm: „In einer Welt voller Zwänge entschied sie sich für die Freiheit“.
Ich werde in dieser Arbeit untersuchen, wie Huntgeburth ihre wahre Geschichte der Effi Briest so erzählt, dass sie dem selbst gesetzten Programm gerecht wird. Im Kontrast zur Frage, inwieweit Fontanes Roman eine gesellschaftskritische Haltung zugesprochen wird, ergibt sich mein Interesse an der Botschaft des Films und seiner Wahrheit. Eine Bewertung der Überlebenschancen von Roman und aktueller Verfilmung im Rahmen der Gesamtthematik gebe ich im Schlussteil der Arbeit ab.
Zwischen Anpassung und Widerstand
In mehreren Interviews 12 äußert sich Hermine Huntgeburth zu ihrem Filmprojekt. Dabei zeigen sich folgende Schwerpunkte.
1. Huntgeburth sieht ihren Film als eine „zeitgemäße Neuinterpretation des Romans“. Jede der vorhandenen vier Verfilmungen des Romans sei ein Produkt der jeweiligen Zeit, führt Huntgeburth in einem ARTE-Interview aus, 2009 sei es an der Zeit gewesen für eine neue Interpretation 13 ). „Effi Briest“ sieht sie als einen „der großen deutschen Romane, weil er immer wieder, in allen Generationen die jungen Menschen in Wallung, in große Gefühlswelten hineinstürzt“. Filmisch wolle sie herausfinden, was dieser Roman heute noch mit uns zu tun hat 14 ).
2. Huntgeburth will „Dinge erzählen, die im Roman nur angedeutet sind“. Unausgesprochenes solle in eine „lebendige, reale Welt“ verwandelt werden 15 ). Sie versuche darzustellen, was bei Fontane zwischen den Zeilen zu lesen sei, „den Einfluss der Gesellschaft auf Beziehungen“ 16 ). Dass Huntgeburth Ereignisse wie den Ball der Eingangsszene zeigt, der bei Fontane lediglich erwähnt wird, dient - verbunden mit den aufwändig ausgestatteten Bildern - der Verminderung der Distanz zwischen Stoff, Protagonisten und den Zuschauern. Ein weiteres Mittel stellt die „behutsam angepasste Sprache“ 17 ) dar. Identifikation ist das Ziel - Identifikation mit Effi 18 ).
3. Das Thema ist aktuell, „insofern es auch heute Menschen gibt, die verfangen sind in gesellschaftlichen Zusammenhängen, in Rollenverhalten und in der Unfähigkeit, sich selbst zu leben“ 19 ). Der Roman habe etwas Allgemeingültiges: „Es geht um Menschen in diesem Roman. (...) Für mich ist wichtig, dass es nicht irgendwelche Betonfiguren sind, dass man ultragenau in der Werktreue ist. (...) Ich finde, zu jeder Zeit hat Effi eine Berechtigung“ 20 ). Im Geschlechterverhältnis gebe es noch die gleichen Probleme, die Auseinandersetzung zwischen Mann und Frau um Selbstbestimmung, auch im Bereich von Sexualität und Gefühl“ 21 ). Eine starke Frau erkenne und lebe ihre Gefühle, zeige Konsequenz und fälle Entscheidungen. „Dazu gehört auch, mal Nein zu sagen. Nicht aus einer Gekränktheit heraus, sondern aus Klarsicht“ 22 ) . Produzent Günter Rohrbach fügt weitere Aspekte an: „Im Roman stecken überdies zwei Themen von -betrachten wir unsere Parallelgesellschaften – geradezu brennender Aktualität: Zwangsverheiratung und Ehrenmord. Es ist noch nicht so lange her, dass solche Verhältnisse ein Teil unserer eigenen Welt waren“ 23 ).
[...]
1) Fontane 2006, S. 156
2) ebenda, S. 157
3) ebenda
4) ebenda
5) vgl. Seiler 1988, S. 586
6) vgl. Seiler 1988, S. 605
7) Sartre 1958, S. 22
8) Engels 1968, S. 209f
9) Fontane 2006, S. 154
10) Hartling 2001, S. 4
11) ARTHAUS Filmheft, S. 4
12) Ich beziehe mich auf die Interviews, die Hermine Huntgeburth ARTE tv, dem Bayerischen Fernsehen )sowie der Internet-Plattform Filmreporter.de gegeben hat.
13) Huntgeburth, Arte tv
14) ebenda
15) ebenda
16) Huntgeburth, br-online
17) Constantin Untrrichtsheft, S. 3
18) ebenda, S. 11
19) Huntgeburth, Arte tv
20) Huntgeburth, Filmreporter
21) Huntgeburth, br-online
22) ebenda
23) Günter Rohrbach, moviepilot
- Arbeit zitieren
- Ludwig Grossmann (Autor:in), 2010, Über Fontanes "Effi Briest" - Ein Vergleich der Haltungen von Roman und aktueller Verfilmung von Hermine Huntgeburth, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/150155
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