Behinderte und psychisch kranke Menschen gehören zu den sozio-kulturell unterprivilegierten und benachteiligten Personengruppen in gesellschaftlich randständiger und damit marginaler Position, welche aufgrund ihrer behinderungs- oder krankheitsbedingten Merkmale, da sie Normalitätserwartungen nicht erfüllen und somit den allgemeinen Vorstellungen von „Normalität“ widersprechen, von sozialen Interaktionen mehr oder weniger ausgeschlossen werden. Ihre Missachtung beruht dabei auf einem Negativurteil hinsichtlich ihres gesellschaftlichen Wertes, so dass ihr Leben vielfach durch Diskriminierungen und Stigmatisierungen gekennzeichnet ist. In diesem Kontext weist die Magisterarbeit auf teilweise erschreckende soziale Ausgliederungsprozesse hin, denen die Betroffenen oftmals hilflos ausgesetzt sind.
Wer dauernd an Grenzen in sozialen Beziehungen und Begegnungen stößt, merkt, dass er Unwohlsein bei anderen verursacht und erlebt schließlich, wie sich von ihm distanziert wird. Die Betroffenen müssen demzufolge nicht nur biographische Arbeit bezüglich der Auseinandersetzung und Bewältigung ihrer Behinderung bzw. psychischen Erkrankung, sondern in besonderer Weise auch hinsichtlich den damit verbundenen Reaktionen von Seiten der sozialen Umwelt leisten, die unweigerlich biographische Konsequenzen – unter anderem Verlust von Freunden, Partnerschaft, Arbeitsplatz etc. – nach sich ziehen. Somit verletzen Stigmatisierungs- und soziale Ausgliederungsprozesse das normative Selbstverständnis und die psychische Integrität der Betroffenen. Es soll daher verdeutlicht werden, auf welcher Grundlage Stigmatisierungen zustande kommen, wie Behinderte, psychisch Kranke sowie ihre Familien diese bewältigen und erleben, da das Leiden unter den gesellschaftlichen Ausgrenzungsmechanismen oftmals größer ist als unter den behinderungs- oder krankheitsbedingten geistigen, physischen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigungen.
Inhalt
Einleitung
1 Die historische Betrachtung stigmatisierender Kategorien
1.1 Behinderte und psychisch kranke Menschen in Frühgeschichte und Altertum
1.2 Der Umgang mit dem „Wahnsinn“ im Mittelalter
1.3 Die Konstituierung der „Normalität“ und des „Irrsinns“ in der Epoche der Aufklärung
1.4 Behinderte Menschen zwischen Förderung und Verwahrung im Zeitalter 16 der Industrialisierung
1.5 Vom Sozialdarwinismus zum Nationalsozialismus
1.6 Rassenhygienische Träume von der Vervollkommnung der Art
1.7 Zur Situation der Psychiatrie nach dem Ende des Dritten Reiches
2 Stigmatisierungsprozesse
2.1 Religiöse und kulturelle Ursprünge
2.2 Zu den Entstehungsursachen von Stigmatisierungen
2.2.1 Norm - Normalität - Anormalität
2.2.2 Zur soziologischen Bedeutung von Devianz
2.2.3 Zur Bedeutsamkeit von Einstellungen, Vorurteilen und Stereotypen
2.2.4 Funktionen von Stigmatisierungsprozessen
2.3 Der Stigma- und Etikettierungsansatz
2.4 Soziologische Identitätskonzepte
2.4.1 Das Identitätskonzept nach Goffman
2.4.2 Das Identitätskonzept nach Krappmann
2.4.3 Das Identitätskonzept nach Thimm
2.4.4 Das Identitätskonzept nach Frey
2.5 Stigmatisierungsprozesse und deren Folgen
2.6 Stigmabewältigungsstrategien
3 Zur Stigmatisierung von Menschen mit Behinderungen
3.1 Die gesellschaftliche Konstruktion von „Behinderung“ - eine definitorische Annäherung aus soziologischer Sicht
3.2 Behinderung als gesellschaftliches Defizit
3.3 Soziale Reaktionen auf Menschen mit Behinderungen
3.3.1 Einstellungsmuster gegenüber behinderten Menschen
3.3.2 Verhaltenmuster gegenüber behinderten Menschen
3.3.3 Die Rolle von Professionellen bei der Stigmatisierung behinderter Menschen
3.4 Über den heutigen Wert behinderten Lebens
3.4.1 Die präferenz - utilitaristische Ideologie der Ausgrenzung
3.4.2 Die Ökonomisierung sozialer Werte
3.4.3 Die vorgeburtliche Selektion
3.4.4 Die Auswirkungen der vorgeburtlichen Diagnostik auf das Selbstbild 97 behinderter Menschen
4 Zur Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Krankheiten
4.1 Die gesellschaftliche Konstruktion von „psychischer Krankheit“ - eine
definitorische Annäherung aus soziologischer Sicht
4.2 Die diagnostische Etikettierung
4.3 Bedrohlich und unberechenbar? Einstellungsmuster und soziale Distanz gegenüber Menschen mit psychischen Krankheiten
4.4 Psychische Auffälligkeiten und die Bedrohung des Familienzusammenhaltes
4.5 Die psychiatrische Institution
4.5.1 Institutionelle Machtmechanismen
4.5.2 Die Rolle von Professionellen bei der Stigmatisierung psychisch kranker Menschen
5 Zur Stigmatisierung der Angehörigen von Menschen mit Behinderungen 120 und psychischen Krankheiten
5.1 Zur Situation von Familien mit einem behinderten Kind
5.1.1 Die Folgen der Geburt eines behinderten Kindes
5.1.2 Störungen des innerfamiliären Gleichgewichtes
5.1.3 Die Rolle von Professionellen bei der Stigmatisierung von Eltern und ihren behinderten Kindern
5.2 Zur Situation von Familien mit einem psychisch Kranken
5.2.1 Die Familie zwischen Resignation und Krankheitsintegration
5.2.2 Die Rolle von Professionellen bei der Stigmatisierung von Angehörigen eines psychisch Kranken
5.3 Die Bedeutsamkeit von Selbsthilfevereinigungen für Betroffene und deren Familien
6 Behinderte und psychisch kranke Menschen zwischen gesellschaftlicher Integration und Ausgrenzung
6.1 Allgemeines Begriffsverständnis von „Integration“
6.2 Die (Des-) Integration von Menschen mit Behinderungen und psychischen 140 Krankheiten in den verschiedenen gesellschaftlichen Lebensbereichen
6.2.1 Die (Vor-) Schulsituation
6.2.2 Die Wohn- und Betreuungssituation
6.2.3 Die Freizeitsituation
6.2.4 Die Arbeitsmarktsituation
6.2.5 Soziale Beziehungssysteme
7 „Entstigmatisierung" durch Integration? Ein Ausblick
8 Literaturverzeichnis
Einleitung
Behinderte und psychisch kranke Menschen gehören zu den sozio - kulturell unterprivilegierten und benachteiligten Personengruppen in gesellschaftlich randständiger und damit marginaler Position, welche aufgrund ihrer behinderungs- oder krankheitsbedingten Merkmale, da sie Normalitätserwartungen nicht erfüllen und somit den allgemeinen Vorstellungen von „Normalität“ widersprechen, von sozialen Interaktionen mehr oder weniger ausgeschlossen werden. Ihre Missachtung beruht dabei auf einem Negativurteil hinsichtlich ihres gesellschaftlichen Wertes, so dass ihr Leben vielfach durch Diskriminierungen und Stigmatisierungen gekennzeichnet ist. In diesem Kontext weist die Magisterarbeit auf teilweise erschreckende soziale Ausgliederungsprozesse hin, denen die Betroffenen oftmals hilflos ausgesetzt sind.
Wer dauernd an Grenzen in sozialen Beziehungen und Begegnungen stößt, merkt, dass er Unwohlsein bei anderen verursacht und erlebt schließlich, wie sich von ihm distanziert wird. Die Betroffenen müssen demzufolge nicht nur biographische Arbeit bezüglich der Auseinandersetzung und Bewältigung ihrer Behinderung bzw. psychischen Erkrankung, sondern in besonderer Weise auch hinsichtlich den damit verbundenen Reaktionen vonseiten der sozialen Umwelt leisten, die unweigerlich biographische Konsequenzen (u. a. Verlust von Freunden, Partnerschaft, Arbeitsplatz, etc.) nach sich ziehen. Somit verletzen Stigmatisierungs- und soziale Ausgliederungsprozesse das normative Selbstverständnis und die psychische Integrität der Betroffenen. Es soll daher verdeutlicht werden, auf welcher Grundlage Stigmatisierungen zustande kommen, wie Behinderte, psychisch Kranke sowie ihre Familien diese bewältigen und erleben, da das Leiden unter den gesellschaftlichen Ausgrenzungsmechanismen oftmals größer ist als unter den behinderungs- oder krankheitsbedingten geistigen, physischen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigungen.
Der Aufbau der Arbeit ist so gestaltet, dass im ersten Kapitel zunächst der historische Hintergrund auf der Grundlage eines geschichtlichen Überblickes zum Umgang mit behinderten und psychisch kranken Menschen, frühgeschichtlich in Europa (1.1) bis nach dem Ende des Dritten Reiches in Deutschland (1.7), verstehbar macht, auf welcher Grundlage sich Stigmatisierungsprozesse in der Vergangenheit vollzogen.
Das zweite Kapitel fokussiert im Wesentlichen die Prozesshaftigkeit von Stigmatisierungen im Allgemeinen: Es behandelt nach einer kurzen Einführung in die religiösen bzw.
kulturellen Ursprünge von Stigmata (2.1) zunächst verschiedene Erklärungsansätze zu den Entstehungsursachen von Stigmatisierungsprozessen (2.2). Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen widersprechen aufgrund ihrer jeweiligen behinderungsoder krankheitsbedingten Funktionsbeeinträchtigungen der allgemein herrschenden Auffassung von „Normalität“. Die soziale Umwelt lässt sie allgegenwärtig spüren, dass sie sich von ihnen als Abweichende, die den Normstandards ihrer Gesellschaft nicht gerecht werden, distanziert (2.2.1). Für die Zuschreibung in die Rolle eines Devianten werden daher auf soziologischer Ebene Erklärungsansätze vorgestellt (2.2.2). Des Weiteren werden Einstellungen, Vorurteile und Stereotypen, welche für das Zustandekommen von Stigmatisierungen eine wesentliche Rolle spielen, ausführlich behandelt (2.2.3). Daran schließen sich die Erläuterungen zu den verschiedenen Funktionen von Stigmatisierungsprozessen (2.2.4) sowie zum Stigma- und Etikettierungsansatz (2.3) an. Da Stigmatisierungen für die Betroffenen mit negativen Konsequenzen verbunden sind, werden zunächst einige ausgewählte soziologische Identitätskonzepte erörtert (2.4), bevor die Auswirkungen auf das Selbstkonzept bzw. die Identität eines Menschen dargestellt werden (2.5). Jeder Mensch wird in seinem Selbstbild von der (Nicht-) Anerkennung durch andere geprägt. Die permanenten Diskriminierungserfahrungen haben hingegen Selbstwertbeschädigungen zur Folge und untergraben die psychische Stabilität der betroffenen Individuen. Damit herrscht bei ihnen eine Diskrepanz zwischen dem eigenen Anspruch an sich selbst und dessen Realisierbarkeit. Behinderte und psychisch Kranke befinden sich demzufolge in einer klassischen Doublebind - Situation: Aufgrund des gesellschaftlichen Vorurteils sind sie prinzipiell darauf angewiesen, ihr Stigma zu verschweigen. Das Täuschen und Verbergen wird dabei oftmals zum Management - Problem, deren Folgen für die Selbstachtung oftmals unbedacht bleiben. Entschließen sie sich hingegen, ihre Behinderung oder Krankheit dem sozialen Umfeld zu offenbaren, sind sie der Gefahr ausgesetzt, stigmatisiert zu werden. Die Betroffenen setzen demzufolge mehr oder weniger erfolgreiche Strategien zur Stigmabewältigung ein. Bei den Techniken der Informationskontrolle bewegen sich die einzelnen Strategien dabei, in Abhängigkeit von den unterschiedlichen Beziehungssystemen, zwischen absoluter Geheimhaltung und vollständiger Information. Aus welchen genetischen, biologisch - physiologischen oder sozialen Bedingungen Behinderungen oder psychische Krankheiten resultieren, ob sie bereits von Geburt an oder erst im Verlauf des Lebens erworben werden: Jede Behinderung oder Erkrankung erfordert vom betroffenen Individuum eine enorme Identitätsleistung - einen jahrelangen und mit Konflikten belasteten Prozess, das Stigma in das Selbstkonzept zumindest teilweise erfolgreich integrieren zu können. Der letzte Abschnitt dieses Kapitels widmet sich in diesem Zusammenhang den vielfältigen Strategien zur Stigmabewältigung (2.6).
Im dritten und vierten Kapitel werden Stigmatisierungsprozesse konkret auf die beiden in der Magisterarbeit thematisierten marginalen Gruppen der Behinderten und psychisch Kranken bezogen. Obgleich sich der Aufbau beider Kapitel unterschiedlich gestaltet, soll dargestellt werden, dass das Leben von Menschen mit Behinderungen und psychischen Krankheiten durch Stigmatisierungen und Ausgrenzungsmechanismen gekennzeichnet ist, die es ihnen folglich zunehmend erschweren, einen anerkannten Platz in der Gesellschaft einnehmen zu können. Zunächst wird aus soziologischer Sicht versucht, einen definitorischen Zugang zu den Termini „Behinderung“ bzw. „psychische Krankheit“ zu finden. Medizinisch gesehen resultieren beide im Wesentlichen aus einer biologisch - physiologischen Schädigung, die zu einer Funktionsbeeinträchtigung führt, welche jedoch nicht Gegenstandsbereich dieser Arbeit sein soll. Vielmehr soll der Fokus in dem jeweils ersten Abschnitt beider Kapitel auf die gesellschaftliche Konstruktion von Behinderung bzw. psychischer Krankheit gelegt werden (3.1 und 4.1), welche die Reaktionen innerhalb eines Norm- und Wertesystems einer Gesellschaft widerspiegeln. Behindertsein bedeutet unter diesem Aspekt demzufolge auch Behindertwerden. Als sozial konstruierte Gruppen sind behinderte und psychisch kranke Menschen marginalisiert, da sie eine gesellschaftliche Minorität darstellen und sich zudem größtenteils in einer ökonomisch - defizitären Lage befinden. Die Wertvorstellungen unserer Gesellschaft u. a. wie Leistungsund Wettbewerbsorientierung tragen dabei maßgeblich zur Stigmatisierung und Ausgrenzung behinderter und psychisch kranker Menschen bei. Insbesondere die Ausrichtung auf beruflichen Erfolg macht es den Betroffenen vor allem schwer, die dafür vorgegebenen Kriterien für ein entsprechendes Sozialprestige und die damit verbundene gesellschaftliche Anerkennung zu erfüllen (3.2). Sie müssen sich demzufolge nicht nur primär mit den behinderungs- oder krankheitsbedingten Funktionsbeeinträchtigungen, sondern ebenso sekundär mit den sozialen Konsequenzen ihrer Behinderung bzw. psychischen Erkrankung auseinandersetzen. So bestimmen vor allem stereotype Vorstellungen und Wissensdefizite die unterschiedlichen sozialen Reaktionen auf behinderte Menschen, wobei Einstellungs- und Verhaltensmuster differenziert voneinander betrachtet werden (3.3.1 und 3.3.2). Da hingegen auch ein Mehr an Wissen noch keine günstigen Einstellungen bewirken muss und demzufolge auch das professionelle Hilfesystem nicht frei von Vorurteilen gegenüber behinderten Menschen ist, werden ebenso die Einstellungen und Verhaltenstendenzen professioneller Helfer analysiert, die in ihrer wissenschaftlichen Ausbildung vor allem geprägt sind von dem Wissen über die Defizite von Behinderungen (3.3.3). Der letzte Abschnitt des dritten Kapitels behandelt neuere Segregationstendenzen, welche eine bedrohlich - inhumane gesellschaftliche Entwicklung erkennen lassen (3.4). Insbesondere geistig behinderten Menschen wird ein Lebensrecht, oft unter dem Vorwand, sowohl ihnen als auch ihrer Familie Leid ersparen zu wollen, aberkannt (3.4.1). Zudem haben sich verstärkt ökonomische Werte in den Vordergrund geschoben: Hohe gesellschaftliche Bewertungen wie die Leistungsfähigkeit und der Produktivität sowie Nutzen - Kosten - Relationen tragen maßgeblich dazu bei, dass die Betroffenen zu „Ausbeutern“ der Gesellschaft stilisiert werden, die „auf Kosten anderer“ die Gesellschaft belasten (3.4.2). Des Weiteren trägt die routinemäßige Nutzung vorgeburtlicher medizinischer Verfahren dazu bei, dass sich die Bewertung von Behinderungen im Bewusstsein der Bevölkerung verändert hat. So sind die heutigen molekularbiologischen Möglichkeiten zur Verbesserung und Optimierung genetischer Eigenschaften hinsichtlich des Ideals des „perfekten“ Kindes mit einem kritisch zu beurteilenden Wertewandel verbunden, da für behinderte Menschen gegenwärtig zunehmend die Gefahr besteht, dass sich die gesellschaftliche Akzeptanz ihnen gegenüber reduzieren könnte (3.4.3). Mit welchen Konsequenzen die modernen gentechnologischen Entwicklungen für das Selbstbild der Betroffenen verbunden sind, kann dabei nur ansatzweise erahnt werden (3.4.4).
Das vierte Kapitel bezieht sich auf psychisch kranke Menschen, die wie Behinderte ebenfalls eine marginale Gruppe darstellen. Der Fokus dieses Kapitels richtet sich zunächst, nachdem auch die psychische Krankheit aus soziologischer Sicht als soziales Konstrukt betrachtet wurde (4.1), auf die Signifikanz und die sich daraus ergebenen Konsequenzen der psychiatrischen Diagnose für das betroffene Individuum (4.2). Daraus ergeben sich spezifische Einstellungs- und Verhaltensmuster vonseiten der Bevölkerung, wobei psychisch kranken Menschen oftmals mit einem stärkeren Bedürfnis nach sozialer Distanz und Ablehnung als Behinderten begegnet wird. Im darauf folgenden Abschnitt werden die Gründe hierfür analysiert (4.3). Anschließend wird versucht, den Prozess von den ersten psychischen Verhaltensauffälligkeiten und das damit einhergehende Eingreifen des sozialen Umfeldes bis zur Einweisung in eine psychiatrische Klinik darzustellen (4.4). In der Institution wirken spezifische institutionelle Machtmechanismen auf den Betroffen ein, denen er sich anzupassen und unterzuordnen hat. Die Patienten leben dabei unter der Autorität verschiedenster Personen, welche Macht über ihre Lebensbedingungen ausüben, in dem sie ihre Autonomie maßgeblich einschränken (4.5.1). Wie im dritten Kapitel wird auch die Rolle von Professionellen bei der Stigmatisierung psychisch kranker Menschen reflektiert werden, welche die Betroffenen überwiegend über das medizinische Defizitmodell definieren, und bestrebt sind, ihren „Zustand“ an die gesellschaftlichen Normen anzupassen. Dies geschieht hauptsächlich mit Hilfe von Medikamenten, deren Einnahme zwar eine Verringerung akuter Krankheitssymptome und demzufolge ein erträglicheres Leben mit der Erkrankung bewirkt, dagegen häufig als sehr unangenehm empfundene Begleiterscheinungen hervorruft, welche die Selbstwahrnehmung beeinträchtigen und schließlich das Fremdwerden des eigenen Körpergefühls zur Folge haben (4.5.2).
Im fünften Kapitel stehen nicht die Behinderten oder psychisch Kranken selbst im Mittelpunkt, sondern ihre Angehörigen, da sich die Stigmatisierung der Betroffenen auf die Familie überträgt. Sie sind ebenso in ihrem Selbstverständnis sowie ihrer Lebensauffassung geschwächt und von sozialer Isolation und Statusverlust bedroht. Zunächst wird die Situation von Familien mit einem behinderten Kind analysiert. Dessen Geburt steht im Widerspruch zu den Erwartungen und Wünschen der Eltern. Dabei soll dargestellt werden, wie Eltern mit den psychischen, sozialen und gesellschaftlichen Folgen des Stigmas der Behinderung umgehen, die (Selbst-) Vorwürfe, Beschuldigungen und Entwertungen vonseiten ihres sozialen Umfeldes verarbeiten (5.1.1) und wie sie ihre familiären Rollen aufgrund der veränderten Lebenssituation neu definieren müssen (5.1.2). Auch eine psychische Erkrankung erzwingt nicht nur den Betroffenen selbst, sondern gleichermaßen dessen Angehörigen zu einer Integrationsleistung, die Krankheit zu kontextualisieren (5.2.1). So sind die einzelnen Familienmitglieder unmittelbar von der Erschütterung durch Krankheit in entscheidender Weise mitbetroffen und müssen sich unweigerlich u. a. mit folgenden Fragen auseinandersetzen: Warum ist das passiert, was haben wir falsch gemacht, was hätten wir tun können und sollen wir nun tun? Sie befinden sich in einer widersprüchlichen Situation: Sie werden zwar häufig für die Erkrankung ihres Familienmitgliedes verantwortlich gemacht, hingegen wird ebenso von ihnen verlangt, für jenes zu sorgen. Die Arbeit geht dabei ebenso der Frage nach, ob und inwiefern professionelle Hilfesysteme als Unterstützung von Familien erlebt werden: Angehörige erfahren häufig nur eine unzureichende Unterstützung von professioneller Seite. Ihnen wird überwiegend ein Mangel an Aufmerksamkeit, Verständnis und Interesse entgegengebracht, so dass sie im Wesentlichen von der Behandlung des Betroffenen ausgeschlossen und vereinzelt auch als Ursache für die Entstehung der Behinderung oder psychischen Erkrankung betrachtet werden (5.1.3 und 5.2.2). Der letzte Abschnitt verweist auf die Bedeutung von Selbsthilfevereinigungen für die Bewältigung der sozialen Folgen des Stigmas der Behinderung bzw. psychischen Erkrankung sowohl für die Betroffenen als auch deren Familien (5.3).
Das sechste Kapitel stellt sowohl gesellschaftliche Integrationstendenzen als auch Ausgrenzungsmechanismen in den verschiedenen gesellschaftlichen Lebensbereichen dar. Den ersten Abschnitt bildet die definitorische Begriffsklärung von „Integration“ (6.1). Da Stigmatisierungsprozesse nicht nur innerhalb von Interaktionen evident werden, sondern sich vor allem in den verschiedenen gesellschaftlichen Lebensbereichen durch die erschwerten Zugänge zu gesellschaftlichen Positionen äußern, so dass Behinderte und psychisch Kranke überwiegend vom Alltagsgeschehen ausgesondert und von gesellschaftlichen Partizipationschancen ausgeschlossen sind, werden im letzten Abschnitt soziale Eingliederungs- und Desintegrationsprozesse betrachtet. Benachteiligen u. a. im Hinblick auf das Ausbildungs- und Arbeitssystem führen bei den Betroffenen zu einem Bewusstsein von sozialer Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Damit gehen Behinderungen und psychische Erkrankungen mit vielfältigen Rollenverlusten im Bereich der sozialen Teilhabe in den verschiedenen gesellschaftlichen Lebensbereichen einher, welche eine Einschränkung der Lebensqualität der Betroffenen zur Folge haben. Behinderte und psychisch kranke Menschen sind demzufolge in der Ausübung verschiedener sozialer Rollen (z. B. Berufsrolle, Partnerrolle, Elternrolle) maßgeblich eingeschränkt (6.2). Eine im Verlauf des Lebens erworbene Behinderung oder psychische Erkrankung stellt für den Betroffenen sowie für dessen Familie eine Erschütterung dar, die einen Prozess in Gang setzt, welcher die bisherigen Lebensperspektiven massiv in Frage stellt: Häufig werden die Arbeitsstelle aufgegeben und Freund- bzw. Partnerschaften getrennt.
Das letzte Kapitel soll einen gesellschaftlichen Ausblick geben, inwieweit die gegenwärtigen Integrationsbemühungen zu einer „De-“ bzw. „Entstigmatisierung“ behinderter und psychisch kranker Menschen beitragen können (7).
1 Die historische Betrachtung stigmatisierender Kategorien
1.1 Behinderte und psychisch kranke Menschen in Frühgeschichte und Altertum
In der frühen Menschheitsgeschichte waren die damaligen Gesellschaftssysteme überwiegend durch mystisch - religiöse Abwehrmechanismen geprägt. Im Zeitalter der Antike standen behinderte Menschen in der ägyptischen Gesellschaft, welche eine Diffamierung von Menschen mit Behinderungen untersagte, unter dem speziellen Schutz der Götter. In Anlehnung an die Weisheitslehre von Amenemopes im 12. bis 11. Jahrhundert vor Chr. lag die Erschaffung jedes Menschen ausschließlich in dem Willen Gottes. Nach diesem Glauben wurden behinderte Menschen nach ihrem Tod von ihrem „defizitären Zustand“ befreit. Aufgrund dieser Überzeugung wurde es einigen Behinderten (u. a. blinde Künstler, gelähmte Schreiber) demzufolge durchaus möglich, Reichtum zu erlangen sowie Wertschätzung und Anerkennung durch die damalige Gesellschaft zu erfahren (vgl. Mattner 2000, S. 17). Auch das Zweistromland Mesopotamien war ca. 3000 v. Chr. bestrebt, Menschen mit Behinderungen in die verschiedenen beruflichen Tätigkeitsfelder innerhalb der Gesellschaft zu integrieren (vgl. Mattner 2000, S. 18).[1]
Im Wandel der Zeit verlor sich jedoch die ursprünglich geforderte Akzeptanz der von Gott erschaffenen behinderten Menschen. Ein Behinderter galt als ein Beweis für die Existenz Gottes, da sein Zorn in ihm selbst sichtbar wurde, während seine Güte sich in der Existenz Nichtbehinderter offenbarte. Beispielsweise wurde im antiken Sparta Neugeborenen, die zuvor in einer Versammlung der Ältesten begutachtet wurden, nur das weitere Lebensrecht zugesprochen, wenn sie vom Inbegriff des gesunden Menschen nicht abweichten. Missgestaltete Säuglinge hingegen wurden in die Bergschluchten des Taygetos - Gebirges geworfen (siehe Speck 1999, S. 11).
Die erste Grundlage zum heutigen medizinischen Verständnis von psychischer Krankheit wurde im antiken Griechenland und dem Römischen Reich geschaffen und als Somatogenesis bezeichnet. Der griechische Arzt Hippokrates (460 - 375 v. Chr.) gilt als einer der wichtigsten Väter der medizinischen Wissenschaften, da er u. a. verschiedene Erscheinungen von psychischen Störungen klassifizierte und aus heutiger Sicht erste rational begründete Therapien entwickelte. Zugleich forderte er jedoch, behinderte (und ältere) Menschen, und damit als „unheilbare Fälle“ deklassiert, von der medizinischen Betreuung auszuschließen, da eine Behandlung nur bei solchen Personengruppen angewandt werden sollte, deren Arbeitskraft für die Gesellschaft als brauchbar erschien (vgl. Mattner 2000, S. 19). Damit beherrschten elitäre Humanitätsideale sowohl das griechische als auch das römische Staatswesen. Menschen wurden nach ihrer Nützlichkeit für den Staat gemessen, so dass denjenigen, welche aufgrund von Behinderung oder Krankheit zum Gemeinwohl des Staates nichts zu leisten vermochten, ein Recht auf ein Leben aberkannt wurde. Aufgrund ihrer „Mangelhaftigkeit“ wurde den Betroffenen damit der Zugang zu gesellschaftlichen Tätigkeiten (u. a. Ämterbekleidung) verwehrt (vgl. Mattner 2000, S. 18 f.).
Aristoteles (384 - 322 v. Chr.) sprach in seiner Nicomachischen Ethik über Menschen mit Behinderungen als „Erscheinungsformen tierischen Wesens“ (vgl. Speck 1999, S. 11). Dem Behinderten wurde nun nicht mehr Ehrfurcht geboten, sondern als das von Gott gesandte Unglück verstanden. Ihre Selektion aus der Gemeinschaft erfolgte in der Folgezeit durch Verjagung oder Tötung in der Hoffnung, vor weiteren Strafen Gottes verschont zu bleiben: ,,Ungestaltete Geburten schaffen wir aus der Welt, auch Kinder, wenn sie gebrechlich und missgestaltet zur Welt kommen, ersäufen wir. Es ist nicht Zorn, sondern Vernunft, das Unbrauchbare von dem Gesunden abzusondern“ (Mattner 2000, S. 20, zit. nach Seneca, römischer Philosoph). Behinderte, die überlebten, wurden auf so genannten ,,Narrenmärkten“ (forum morionum, moriones von lat.: Narren) angepriesen und verkauft: ,,Größte Verkaufschancen hatten dort diejenigen, mit den deformiertesten Verwachsungen und skurrilsten Absonderlichkeiten, die dann als Narren zur Belustigung bei gesellschaftlichen Anlässen dienten bzw. auf Märkten gegen Bezahlung dem Gespött der Bevölkerung ausgesetzt wurden“ (Mattner 2000, S. 20). Wie drastisch die Würde von behinderten Menschen in einer Art und Weise reduziert wurde, um der „Normalweh“ zur Erheiterung zu dienen, bringt folgendes Zitat zum Ausdruck: ,,Verschiedentlich wurden moriones als Beigabe beim Kauf eines bestimmten Konsumgegenstandes gratis hinzugegeben“ (Mattner 2000, S. 20).
Körperlich behinderte Kinder wurden auch von den Germanen ausgesetzt oder ertränkt. Ihre aussondernde Praxis, bei der das Neugeborene dem Vater als Familienoberhaupt vor die Füße gelegt wurde, der es nach genauerer Betrachtung entweder aufhob - und dem Säugling damit ein Recht auf Leben zubilligte - oder liegen ließ, wurde später von den Nationalsozialisten für die später einsetzende Liquidierung der so genannten „Ballastexistenzen“ übernommen (vgl. Mattner 2000, S. 21).
1.2 Der Umgang mit dem „Wahnsinn“ im Mittelalter
Die christliche Moral der Nächstenliebe und der Anfang der so genannten Armenfürsorge in der bäuerlichen Gesellschaft des frühen Mittelalters (6. bis 9. Jahrhundert), die die Betreuung behinderter Menschen in Form von kirchlichen Spitälern und psychisch Kranken in Form von klösterlichen Hospitälern oder Anstalten (z. B. das „Narrhäuslein“ in Nürnberg) gewährleisten sollten, stand im Widerspruch zum tatsächlichen Umgang mit „Geistesschwachen“ und „Geisteskranken“ bzw. „Irren“. Das spätere Mittelalter (13. bis 15. Jahrhundert) war gekennzeichnet durch die Verelendung der Bevölkerung und die zahlreichen Opfer der Pest ab dem 14. bis ins 17. Jahrhundert hinein. Aufgrund des Niedergangs des Oströmischen Reiches im Jahr 1453 sah sich vor allem das Christentum in seiner Macht bedroht. Durch Luthers im Jahr 1517 formulierten 95 Thesen wurde die Reformation eingeleitet, in deren Folge es zu zahlreichen Kriegen kam, welche im Dreißigjährigen Krieg (1618 - 1648) ihren Höhepunkt fanden (vgl. Baumann/Gaebel/Zäske, S. 59). In dieser von gesellschaftlichen Umbrüchen und sozialer Not gekennzeichneten Zeit suchten viele Menschen Zuflucht im Aberglauben, so dass die Ursachen von Behinderungen und psychischen Krankheiten in der metaphysischen Ebene zu begründen versucht wurden: Das ,,Abnorme“ wurde mit dem Dämonischen in Verbindung gebracht, da die Betroffenen von dem Aberglauben abwichen, der Mensch sei nach dem Ebenbild Gottes erschaffen worden. Behinderte und insbesondere psychisch Kranke galten als „besessen“ und demzufolge von Gott verlassen. Menschen mit auffallend physischen Behinderungen bestätigten und verstärkten zudem die Annahme einer Zugehörigkeit zum Satan, deren „kranke“ Seele damit äußerlich in Erscheinung trat (vgl. Mattner 2000, S. 21). Die vom Teufel in Besitz Genommenen wurden durch zahlreiche exorzistische Praktiken (z. B. Transfusionen mit Eselsblut, Brennen oder Sengen des Kopfes, Kastration, Öffnen des Schädels, usw.), die ebenso den Tod der Menschen in Kauf nahmen oder durch die berühmt - berüchtigten Hexenprozesse der damaligen Zeit, welche die Schuldhaftigkeit der Betroffenen durch spezifische Folterungsmethoden quasi „beweisen“ konnten, vom Teufel „befreit“. Das im Jahr 1487 erschienene und vom Vatikan in Auftrag gegebene Buch „Hexenhammer“ bestimmte über zwei Jahrhunderte den Umgang mit behinderten und psychisch kranken Menschen, da in Europa die Hexenverfolgungen noch bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts stattfanden (vgl. Baumann/Gaebel/Zäske, S. 59). Diejenigen, welche dem Scheiterhaufen nicht zum Opfer fielen, wurden aus den Städten vertrieben oder mittels so genannter „Narrenschiffe“ neben Armen und Kriminellen an beliebigen Orten ausgesetzt. Nürnberg und andere Städte verwahrten die „Irrsinnigen“ in Toll-, Zucht- oder Narrenhäusern („Narrentürme“), die dort Zwangsarbeiten verrichten mussten (vgl. Mattner 2000, S. 23). Zudem wurden sie in Käfige gesperrt, in Ketten gelegt und der Bevölkerung gegen Eintritt als Schauobjekte vorgeführt: ,,Die Menschen wurden wie Tiere in käfigartigen Verschlägen angekettet, durch Gitter wurden sie mit Nahrung versorgt und das verschmutzte Stroh wurde mit Harken von außen entfernt. Es war der zum Tier gewordene Mensch, der zur Schau gestellt wurde“ (Mattner 2000, S. 24).
Die mittelalterliche Zeit war zudem von der Vorstellung geprägt, dass gesunde Neugeborene durch behinderte, nach heidnischem Glauben durch Wesen der Unterwelt (Kobolde, Trolle, Zwerge, etc.) bzw. nach christlichem Glauben durch Teufel oder Hexen, ausgetauscht wurden (,, Wechselbälge“), die nur Unglück und Unheil bringen konnten, da Missgeburten als Strafen für vorausgegangene Vergehen der Mutter betrachtet wurden (vgl. Speck 1999, S. 12). Es galt die verbreitete Annahme, durch Grausamkeiten (u. a. Nahrungsentzug, geweihte Ruthen, Aussetzen oder Töten) gegenüber diesen „teuflischen Wesen“ wäre der Austausch reversibel. Auch Luther schlug vor, die „Wechselbälge“ und ,,Kielkröpfe“ zu ertränken, denn solche Missgestalten seien lediglich vom Satan in die Wege gelegte „Stücke seelenloses Fleisch“ („massa carnis“) (vgl. Speck 1999, S. 12). Menschen mit körperlichen Behinderungen galten zudem als „Ausdruck einer minderen Seinsstufe“ des Menschseins, die einer defekten und durch dämonische Kräfte gestörten Harmonie der Schöpfungsordnung gleichkam (vgl. Müller, S. 31).
1.3 Die Konstituierung der „Normalität“ und des „Irrsinns“ in der Epoche der Aufklärung
Das zunehmende naturwissenschaftliche Denken löste den ursprünglichen Aberglauben der frühen und mittelalterlichen Geschichte ab. Das Zeitalter der Aufklärung war geprägt durch die Vorstellung, dass die Vernunft das Wesen des Menschen darstelle: Somit wurden das Erziehungswesen und die allgemeine Volksbildung zu zentralen Anliegen dieser Epoche erklärt. Wenngleich sich erste Institutionen für behinderte und psychisch kranke Menschen bereits im Mittelalter herausgebildet hatten, konnten sich diese prinzipiell erst im 18. Jahrhundert etablieren. Bezeichnend war das Engagement J. H. Pestalozzis, einem schweizerischen Pädagogen, der sich sozial schwachen und verwahrlosten geistig und körperlich behinderten Kinder widmete, um sie zu einem nützlichen Leben zu erziehen: ,,Es soll aber die Menschheit interessieren, daß auch die Kinder vom äußersten Blödsinn, die durch gewohnte Härte dem Tollhaus aufgeopfert werden, durch liebreiche Leitung zu einem ihrer Schwachheit angemessenen, einfachen Verdienst vom Elend eines eingesperrten Lebens errettet und zur Gewinnung ihres Unterhalts freien und ungehemmten Lebens geführt werden“ (Pestalozzi 1946, zit. nach Mattner 2000, S. 33). Der schweizerische Arzt Guggenbühl setzte sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts für den in der damaligen Zeit überwiegend im Alpenraum vorkommenden und durch eine Stoffwechselanomalie im Sinne einer Fehlfunktion der Schilddrüse hervorgerufenen „Kretinismus“ ein, eine geistig - körperliche Behinderungsform, welche zusätzlich durch Kleinwuchs und Schwerhörigkeit gekennzeichnet war. So gründete er im Jahr 1841 in der Schweiz die „Heilanstalt für Kretinen und blödsinnige Kinder“. Sein pädagogischer Leitgedanke bestand in der Förderung der geistigen Fähigkeiten und der Sinneswahrnehmung der behinderten Kinder, die zusammen mit Nichtbehinderten betreut werden sollten, um sie zu eigenständigen Mitgliedern der Gesellschaft zu erziehen (vgl. Mattner 2000, S. 33). Rousseau hingegen gestand in seinem Werk „Emile“ seine Schwierigkeiten mit kranken und „siechen“ Kindern: ,,Mag ein anderer sich statt meiner dieses Schwachen annehmen (...). Ich kann nicht jemanden das Leben lernen, der nur darauf bedacht ist, sein Sterben zu verhindern“ (Rousseau 1762, zit. nach Speck 1999, S. 12).
Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts erschienen Behinderte, psychisch Kranke und andere soziale Randgruppen (z. B. Bettler) in der kollektiven Wahrnehmung als Personen von Unvernunft, die aufgrund ihrer Armut, Bedürftigkeit und Unfähigkeit hinsichtlich einer eigenständigen Sicherung des Lebensunterhaltes in Armen-, Zucht- oder Arbeitshäusern verwahrt und somit von der Gemeinschaft isoliert wurden. Mit der zunehmenden Entwicklung der medizinischen Wissenschaften bildeten sich schließlich die beiden Begriffe „normal“ sowie „anormal“ heraus, mit denen fortan Behinderungen und psychische Erkrankungen als pathologisch galten und die bis heute eine gesellschaftliche Anerkennung jener Menschen verhindern (vgl. Rösner 2002, S. 222 ff.). Aufgrund der medizinischen Fokussierung auf die Kausalitäten der Entstehung des „Irrsinns“ bzw. „Kretinismus“ entstand schließlich die Wissenschaft über das „Andere der Vernunft“. Es wurde davon ausgegangen, dass die dem Wahnsinn Verfallenen durch verzerrte Sinneseindrücke, die als Folge von organischen Schädigungen galten, mit „un-“ bzw. „irrsinnigem“ Verhalten reagieren würden. Psychisch Kranke als Menschen mit „Unvernunft“ wurden in dieser Epoche nun nicht mehr als vom Satan Besessene bezeichnet, sondern als kranke und in ihren Sinnen und Empfindungen irrende Menschen, die der Normalität „entrückt‘ waren und nunmehr medizinischer Behandlung bedurften (vgl. Mattner 2000, S. 26). Zu erwähnen ist in diesem Kontext der Itard - Pinel - Kontroverse, welche eine wissenschaftliche Diskussion über die Entstehung und Behandlung von psychischen Erkrankungen zur Folge hatte. Der Arzt und Pädagoge Itard publizierte Berichte über ein etwa 10 Jahre altes geistig behindertes „Wildkind“ Victor, welches außerhalb der Gesellschaft in den Wäldern von Aveyron aufwuchs und sich nur über Laute verständigen konnte. Im Unterschied zu Pinel, der dem Jungen eine „irreversible Idiotie“ unterstellte, war Itard von dem Gedanken geleitet, durch spezielle Methoden Einfluss auf das Verhalten des Jungen nehmen zu können, um ihn in seinem Spracherwerb nachzusozialisieren und zu sozialer Anpassung zu verhelfen. Dieses Konzept griff später der Pariser Arzt Seguin auf, in dem er in einer Anstalt den Versuch unternahm, Menschen mit geistigen Behinderungen zu fördern (vgl. Speck 1999, S. 14).
1.4 Behinderte Menschen zwischen Förderung und Verwahrung im Zeitalter der Industrialisierung
In der Folgezeit wurde damit begonnen, Menschen nach ihrer Bildsamkeit und ihrem Leistungsvermögen zu unterscheiden. So wurde bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in ganz Deutschland die allgemeine Schulpflicht eingeführt. In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Volksschule gegründet, welche eine jeweilige Klassenstärke von mehr als 80 Schüler(innen) aufwies (vgl. Mattner 2000, S. 28). Die weniger Leistungsstarken dürften in einem solchen Massenunterricht kaum aufgefallen sein. Durch die zunehmenden ökonomischen Interessen zum Zeitalter der Industrialisierung war man bemüht, ein differenzierteres Leistungssystem aufzubauen, wodurch in der Folgezeit spezielle Jahrgangsklassen für leistungsschwache Schüler(innen) errichtet wurden. Infolgedessen konnte sich ein Hilfsschulsystem für die als „schwachsinnig“ und „Halbidioten“ deklassierten Schüler etablieren, welche fortan vom Unterricht in der Regelschule ausgesondert wurden - beispielsweise die 1852 gegründete „Kretinenanstalt Ecksberg“ durch Probst oder 1854 die „Blödenanstalt Neuendettelsau“ durch Löhe (Speck 1999, S. 15). Durch ihre Unterrichtung in den so genannten „Blödsinnigenanstalten“ sollte das Ziel, sie für die Gesellschaft zu nützlichen Mitgliedern zu erziehen, erreicht werden (vgl. Mattner 2000, S. 28).[2] Der Pädagoge Stötzner, welcher als einer der Ersten für die Bildung von geistig behinderten Menschen eintrat, legte 1864 ein Konzept für eine Schule für „schwach befähigte“ Kinder vor, wobei er diese „in der Mitte zwischen den normal gebildeten und den blödsinnigen“ einordnete (vgl. Mattner 2000, S. 28).
Parallel zur Entwicklung der Volksschule bildeten sich karitative Einrichtungen heraus, die Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen aufnahmen - so genannte „Idioten-“ bzw. „Irrenanstalten“, die sich aus den alten Armen-, Zucht- und Arbeitshäusern entwickelten. Da der „Idiotismus“ als „ansteckendes Übel“ galt und die Angst verbreitet war, dass „der Idiot alles um sich - vielleicht sogar diejenigen, die an ihm arbeiten - idiotisch mache“, besaßen die Anstalten ein sehr schlechtes gesellschaftliche Image (Sengelmann 1885, zit. nach Rösner 2002, S. 251). Der „Verband der Hilfsschulen Deutschlands“, welcher aufgrund der stetigen Zunahme von Hilfsschulen entstand, legte schließlich fest, dass Kinder mit „hohem Schwachsinnsgrad bzw. blödsinnige Kinder“ von jeglicher Beschulung auszuschließen seien. Geistig behinderte Kinder galten damit in Westdeutschland bis in die 60er Jahre hinein und in Ostdeutschland bis zur politischen „Wende“ als nicht bildungsunfähig und damit als nicht beschulbar (vgl. Mattner 2000, S. 30).
Das Interesse an den so genannten „Idioten“, „Blödsinnigen“, bzw. „Schwachsinnigen“ nahm insbesondere durch die zunehmenden Bestrebungen der Förderung von Menschen mit Behinderungen zu. Während in der Epoche der Aufklärung sich erste wissenschaftliche Erkenntnisse über den „Irrsinn“ durchsetzten, gilt das 19. Jahrhundert als die eigentliche Epoche der psychiatrischen Wissenschaft (vgl. Mattner 2000, S. 30). Die Grundlage hierfür schaffte Johann Christian Reil, der im Jahr 1803 drei Schweregrade des „Blödsinns“ entwickelte, welche sich in den Grundstrukturen noch gegenwärtig auf die Behandlung von geistig behinderten Menschen auswirken (vgl. Mattner 2000, S. 31):
- erster Grad
eine schwer zu bestimmende „Demarkationslinie zwischen gesundem Menschenverstand und anfangendem Blödsinn“
- mittlerer Grad
Fähigkeit der Erfassung einfachster Begriffe
- äußerster Grad des „Blödsinns“
das Fehlen sämtlicher Sinneswahrnehmungen, so dass der Kranke gleich einem Tier „ohne Begriffe, Urteile, Gefühle, Leidenschaften“ dahinvegetiere Auch Emil Kraepelin entwarf ein dreigliedriges Klassifikationssystem, das sich bis in die Gegenwart durchsetzen konnte (Mattner 2000, S. 31):
- „Debilität" als leichtgradiger Schwachsinn (IQ 67 - 52)
- „Imbezillität" als mittelgradiger Schwachsinn (IQ 51 - 20)
- „Idiotie"" als hochgradiger Schwachsinn (IQ < 20)
Im Jahr 1866 veröffentlichte der englische Arzt John L. H. Down seine „Beobachtungen zu einer ethnischen Klassifizierung von Schwachsinnigen“. Dabei ordnete er die ihm bekannten Behinderungsarten bestimmten Kategorien von „Schwachsinnigen“ zu, wodurch er auch den darauf nach ihm benannten ,,mongolischen Typ der Idiotie“ (heute: Down - Syndrom oder Trisomie 21) beschrieb (vgl. Speck 1999, S. 15). Menschen mit geistigen Behinderungen entsprachen pathologischen Extremfällen, die der medizinischen Behandlung und Intervention bedurften. Sie galten dennoch weder als heilbar noch psychiatrisch beeinflussbar. Reil postulierte eine Isolierung zwischen den „Irrenheilanstalten“ und „Irrenbewahranstalten“: In der Folge wurden große und in städtischen Randbereichen liegende „Heil- und Pflegeanstalten“ gegründet (vgl. Mattner 2000, S. 31).
1.5 Vom Sozialdarwinismus zum Nationalsozialismus
Bereits zum Zeitpunkt der angehenden Industrialisierung, dem damit verbundenen Übergang von der kleinbäuerlich - landwirtschaftlichen zur industriellen Produktion und der damit einhergehenden steigenden Anzahl von Lohnabhängigen, drang der volkswirtschaftliche Wert des Menschen als Arbeitskraft zunehmend in den Blickpunkt gesellschaftlichen Interesses. Der rasante Bevölkerungsanstieg, die heterogene Verteilung des Besitzes und die wachsende Unsicherheit vor der wirtschaftlichen Existenz verschärften die soziale Lage vieler Menschen und hatten die Verelendung der unteren Bevölkerungsschichten zur Folge (Pauperismus, von lat. pauper: arm). Die Schuldhaftigkeit von Menschen, die am Erwerbsleben nicht partizipieren konnten, wurde schließlich in ihrer eigenen Person zu begründen versucht - hervorgerufen durch ihre biologisch - genetische Unvollkommenheit (vgl. Mattner 2000, S. 35). Damit wurde höherwertiges Erbgut von minderwertigem differenziert und hatte zur Folge, dass Menschen fortan in wertvolle und minderwertige Mitglieder der Gesellschaft eingeordnet wurden. Die Grundlage hierfür bildete das vom Naturforscher Charles Darwin 1859 veröffentlichte Buch ,,Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder Die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampf ums Dasein“. In seinem Werk, welches ausschließlich von Pflanzen und Tieren handelte, entwickelte Darwin Thesen zur natürlichen Auslese der „schlecht Angepassten“ zugunsten der „Tüchtigsten“ (“survival of the fittest“). In dem nach ihm benannten Sozialdarwinismus wurden schließlich diese Theorien auf die menschliche Evolution ausgedehnt, da u. a. behinderte und psychisch kranke Menschen mit ihrer Existenz dem Gesetz der natürlichen Stärke widersprachen: „Aber das Recht des Stärkeren, das sich im Sieg der besseren Anpassungsform über die Unvollkommeneren geltend macht, herrscht nicht nur in der Natur, sondern auch in der menschlichen Sozialgeschichte“ (Schallmayer 1903, zit. nach Mattner 2000, S. 37).
1868 übertrug der deutsche Zoologe Ernst Haeckel in seiner „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“ das Kampf - ums - Dasein - Prinzip auf die menschliche Gesellschaft (vgl. Klee 2004, S. 16). Auch Friedrich Nietzsche wurde vom damaligen Zeitgeist beeinflusst und bezeichnete in seinem Werk „Zur Genealogie der Moral“ (1887) Krankheiten als große Gefahr des Menschen und die Schwächsten als „Unheil für die Starken“.[3] Zudem verwarf er sämtliches Mitleid und negierte jeglichen Sinn von Leiden (vgl. Speck 1999, S. 68). In diesem Zusammenhang stand die Versorgung von behinderten und psychisch kranken Menschen im Antagonismus zum Grundsatz der Selektion, da sie ihr „minderwertiges“ Erbgut und die damit assoziierten negativen Eigenschaften an die nächste Generation weitergeben würden.
Im Folgenden seien einige Vertreter des Sozialdarwinismus’ und ihre Werke genannt, welche Empfehlungen für eine Aussonderung von behinderten sowie psychisch kranken - und damit für die Gesellschaft unbrauchbaren Menschen aussprachen (siehe Klee 2004, S. 17): Alexander Tille (beruflich ursprünglich als Landwirt tätig) postulierte in seinem 1895 erschienenen Werk „Von Darwin bis Nietzsche“, dass einem Menschen, „je untüchtiger er ist“, nur eine minimale Menge an Nahrung zugestanden werden dürfte, „so dass die Untüchtigen unfehlbar zugrundegehen“. Im gleichen Jahr erschien von dem Physiologen John Haykraft das Werk „Natürliche Auslese und Rassenverbesserung“, in welchem er Infektionskrankheiten als hilfreich für eine natürliche Auslese und insbesondere den Tuberkulosebazillus als „Freund unserer Rasse“ beschrieb. Der Jurist Adolf Jost sprach sich in seiner Publikation „Das Recht auf den Tod“ für die Sterbehilfe bei unheilbar sowie psychisch Kranken aus. Ebenfalls 1895 wurde die Fortpflanzungslehre durch den Mediziner Alfred Ploetz entwickelt, der als Begründer der deutschen Eugenik (griech. für eugenes: wohlgeboren, von „guter Abstammung“)[4] gilt und auf welchen der Begriff „Rassenhygiene“ zurückgeht. 1904/05 gründete er schließlich die „Gesellschaft für Rassenhygiene“ mit dem Ziel der Reinhaltung und Verbesserung der menschlichen Erbanlagen durch eine Erzeugung „Höherwertiger“ und einer gleichzeitigen Ausmerzung „Minderwertiger“ durch staatliche Kontrolle, um die Fortpflanzung nur „hochwertigen“ Paaren zu bewilligen. Des Weiteren erhob er den Anspruch einer sanften Tötung von schwachen und „missgestalteten“ Säuglingen (vgl. Mattner 2000, S. 39).
In der medizinischen Praxis, in welcher sich u. a. Begriffe wie „Ent - Artung", „Psychopath“ und „dementia praecox“ („vorzeitige Verblödung“, später von Eugen Bleuler im Jahr 1911 als Gruppe der Schizophrenien zusammengefasst) durchsetzten, wurden verstärkt Diskussionen über das Lebensrecht von behinderten und psychisch kranken Menschen geführt: „Verlangt die Medizin von den Ärzten, dass sie selbst das elendste Geschöpf so lange am Leben erhalten, als nur möglich (...). Als Ärzte haben wir leider die Pflicht, das Leben der Idioten, der Entarteten (...) und der Irrsinnigen so lange wie möglich zu erhalten; wir sind sogar verpflichtet, viele derselben, die sich selbst töten möchten, daran zu hindern“ (Forell 1924, zit. nach Mattner 2000, S. 43).
Die Bezeichnung „lebensunwert“ führten die zu der damaligen Zeit renommierten Wissenschaftler Karl Binding und Alfred Hoche in die Lebenswert - Debatte mit ihrer 1920 erschienenen wegweisenden und 62 Seiten umfassenden berühmt - berüchtigten Schrift: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“ ein. Zu den „unrettbar Verlorenen“, welche durch eine „Pflicht gesellschaftlichen Mitleids“ von ihren Gebrechen erlöst werden sollten, zählten u. a. nach Binding jene Menschen, die von Krankheiten (z. B. Krebs, Tuberkulose) oder Verletzungen so schwerwiegend betroffen waren, dass ihr Tod in absehbarer Zukunft bevorstünde. Eine signifikante Rolle nahmen dabei die „unheilbar Blödsinnigen“ ein: „Sie haben weder den Willen zu leben, noch zu sterben. So gibt es ihrerseits keine beachtliche Einwilligung in die Tötung, andererseits stößt diese auf keinen Lebenswillen, der gebrochen werden müsste. Ihr Leben ist absolut zwecklos, aber sie empfinden es nicht als unerträglich. Für ihre Angehörigen wie für die Gesellschaft bilden sie eine furchtbar schwere Belastung. Ihr Tod reißt nicht die geringste Lücke - außer vielleicht im Gefühl der Mutter oder der treuen Pflegerin. Da sie großer Pflege bedürfen, geben sie Anlaß, dass ein Menschenberuf entsteht, der darin aufgeht, absolut lebensunwertes Leben für Jahre und Jahrzehnte zu fristen“ (Binding/Hoche 1920, zit. nach Klee 2004, S. 22). Die Vernichtung dieser „geistig Toten“ wurde unter diesem Aspekt nicht als eine unmoralische Haltung, sondern als ein zweckmäßiger und hilfreicher Vorgang befunden, sich dieser als nutzlos deklassierten Gesellschaftsmitglieder zu entledigen.[5]
Ebenfalls im Jahr 1920 betonte Professor Karl Klee der Tötung „Wertloser“ nicht mehr misstrauisch gegenüber stehen zu können bzw. zu dürfen. Der Berliner Kammergerichtsrat gliederte schließlich die Gruppe der Volksschädlinge in passive („Geisteskranke“) und aktive (Verbrecher), deren Tötung einer „sozialhygienischen Maßnahme“ zugunsten des Gemeinwohls entsprechen würde (vgl. Mattner 2000, S. 46). Der Kostenaufwand für die Fürsorge von behinderten und psychisch kranken Menschen gelang in der Folgezeit zunehmend in die Kritik, da ihre Betreuung in den Anstalten als zu kostenintensiv und unsinnig beurteilt wurde: ,,Es ist eine peinliche Vorstellung, daß ganze Generationen von Pflegern neben diesen leeren Menschenhülsen dahinaltern, von denen nicht wenige 70 Jahre und älter werden“ (Binding/Hoche 1920, zit. nach Mattner 2000, S. 45). In der Schrift „Neues Volk“ stand unter einem Bild, das einen Pfleger neben einem Patienten darstellte: ,,Dieser Pfleger, ein gesunder, kraftvoller Mensch, ist nur dazu da, um diesen einen gemeingefährlichen Irren zu betreuen. Müssen wir uns dieses Bildes nicht schämen?“ (Klee 2004, S. 53). Die gezielten Forderungen nach einer Euthanasie wurden zudem durch Kosten - Nutzen - Relationen zu legitimieren versucht. So hatte beispielsweise Hoche errechnet, dass für die Pflege eines „Idioten“ pro Jahr etwa 1.200 M. und für alle in den Anstalten lebenden „Ballastexistenzen“ bis zu 30.000 M. „verschwendet“ werden würden (siehe Mattner 2000, S. 45). Zudem kam die Angst auf, dass durch die zahlreichen Verluste junger und wertvoller „Erbgesunder“ im ersten Weltkrieg sich die Anzahl der „Erbkranken“ steigern könnte, die von der Auslese des Krieges verschont blieben und somit ihre „degenerierten Erbanlagen“ an ihren Nachwuchs ungehindert weitergeben könnten: ,,In unserem Volk hat die Zahl der Schwachsinnigen seit dem Krieg tatsächlich erheblich zugenommen und wir haben den erschütternden Eindruck, daß das Wachstum noch nicht zum Stillstand kommt“ (Bericht einer diakonischen Anstalt, zit. nach Klee 2004, S. 31). In diesem Zusammenhang drang neben der Euthanasie damit als zweites bedeutsames Thema der zwanziger Jahre der Gedanke zur Sterilisierung in den Mittelpunkt, um zukünftiges für „minderwertiges“ befundenes Leben bereits im Voraus zu verhindern.[6]
1.6 Rassenhygienische Träume von der Vervollkommnung der Art
Im Jahre 1929 betonte Hitler auf dem Parteitag in Nürnberg, wenn in Deutschland pro Jahr ca. eine Million Kinder geboren und parallel dazu etwa bis zu 800.000 der Schwächsten beseitigt werden würden, dies einer Kräftesteigerung des deutschen Volkes gleichkäme (vgl. Klee 2004, S. 31 f.). Der völkische Staat habe daher zu sorgen, die Fortpflanzung Erbkranker zu verhindern und diese gleichermaßen bei genetisch Hochwertigen zu fördern. So erhob Hitler den Anspruch: ,,Wer körperlich und geistig nicht gesund und würdig ist, darf sein Leid nicht im Körper eines Kindes verewigen“ (Hitler 1935, zit. nach Mattner 2000, S. 48). Im Jahr 1930 war in den nationalsozialistischen Monatsheften schließlich die Forderung nachzulesen: „Tod dem lebensunwerten Leben“ (siehe Klee 2004, S. 32)!
Zwei Monate nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30.01. 1933 trat am 23.03. 1933 das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ (Ermächtigungsgesetz) in Kraft. Mit diesem Gesetz besaß er schließlich die gesetzgebende Gewalt, mit dem zugleich das Schicksal der als minderwertig Deklassierten beschlossen wurde. Am Ende des Jahres wurde eine Anzeigepflicht „Erbkranker“ durchgeführt, bevor schließlich am 01.01. 1934 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (Sterilisierungsgesetz) zur Aufwertung von Rasse und Erbgut verabschiedet wurde[7] : ,,Die Unfruchtbarmachung (ist) keine Strafe und keine Schande (...). Unsere volle Hochachtung gebührt denen, die dem Volke das Opfer ihrer Fruchtbarkeit bringen. Die Unfruchtbarmachung (ist ein) echtes Werk christlicher Nächstenliebe (und vollstreckt) auf die menschlichste Weise den göttlichen Willen der Auslese“ (Flugblatt, Amt für Volksgesundheit der NSDAP, zit. nach Mattner 2000, S. 68). Im Folgenden sei ein Ausschnitt dieses Gesetzes zitiert: „§ 1 (1) Wer erbkrank ist, kann durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden, wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, daß seine Nachkommen an schweren körperlichen und geistigen Schäden leiden werden.
(2) Erkrankt im Sinne dieses Gesetzes ist, wer an einer der folgenden Krankheiten leidet:
1. angeborener Schwachsinn,
2. Schizophrenie,
3. zirkulärem (manisch - depressivem) Irresein,
4. erblicher Fallsucht,
5. erblichem Veitstanz (Huntingtonsche Chorea),
6. erbliche Blindheit,
7. erbliche Taubheit,
8. schwerer erblicher körperlicher Missbildung.
(*) Ferner kann unfruchtbar gemacht werden, wer an schwerem Alkoholismus leidet“ (Reichsgesetzblatt, Teil 1, 1933, zit. nach Mattner 2000, S. 60).
Mit dem Etikett des „angeborenen Schwachsinns“ konnte nahezu jeder, der den nationalsozialistischen Ideologien widersprach und sich ihnen entgegenstellte, behaftet werden. Der ursprünglich von Kraepelin geprägte Schwachsinnsbegriff wirkte sich vor allem verheerend auf die Situation von Hilfsschülern aus, da sich der Wert des Menschen nach dessen Brauchbarkeit für das völkische Wohl messen ließ. Fürsprecher der Hilfsschulen beharrten auf die wirtschaftliche Nützlichkeit der Schüler: ,,Zum Straßenkehren oder Aschenkübelabfahren muss es auch Menschen geben. Der Staat habe viele Berufe, für die ehemalige Hilfsschüler geradezu geschaffen erscheinen: mechanische oder seelenlose Tätigkeiten, wo der geistig hochstehende Mensch innerlich verkümmert, während sich der Hilfsschulabsolvent dort geradezu wohlfühlt“ (Höck 1979, zit. nach Klee 2004, S. 45).
Am 18.10. 1935 trat das „Gesetz zum Schutz der Erbgesundheit des deutschen Volkes“ (Ehegesundheitsgesetz) in Kraft. Die eingeführten Ehetauglichkeitszeugnisse wurden Behinderten und psychisch Kranken verwehrt, da deren Erhalt von einer unversehrten geistigen, physischen und psychischen Konstitution der Menschen abhing (vgl. Klee 2004, S. 50). In den nachfolgenden Jahren wurde die Euthanasie propagandistisch geplant. So wurden beispielsweise in psychiatrischen Anstalten Patienten vorgeführt, um am lebenden Schauobjekt die Notwendigkeit der Tötungen zu begründen. Klee spricht in diesem Zusammenhang von einem „Defektzirkus“, in welchem das „Krankenmaterial“ zur Schau gestellt wurde (vgl. 2004, S. 76).
Die Nationalsozialisten sahen die Berechtigung der Euthanasie nicht nur in den ökonomischen Kostenrechnungen, die bereits oben angedeutet wurden, sondern ebenso in der natürlichen Auslese nach dem darwinistischen Selektionsprinzip begründet: „Wenn einer sagt, der Mensch habe kein Recht, zu töten, so sei ihm erwidert, daß der Mensch noch hundertmal weniger das Recht hat, der Natur ins Handwerk zu pfuschen und etwas am Leben zu erhalten, was nicht zum Leben geboren wurde“ („Das Schwarze Korps“ 1937, siehe Klee 2004, S. 63). Ebenso wurde die „Ausmerzung der Entarteten“ durch die kriegsbedingte Auslese legitimiert: „Wenn man im Krieg Tausenden von jungen und gesunden Menschen zumuten muß, ihr Leben für die Gemeinschaft zu opfern, so kann man dieses Opfer auch von unheilbar Kranken verlangen“ (Vernehmungsniederschrift vom 26.06. 1945, zit. nach Klee 2004, S. 90).[8]
Mit dem Kriegsbeginn am 01.09. 1939 durch den Einmarsch der deutschen Truppen in Polen wurde der Kampf gegen die „Gemeinschaftsunfähigen“ schließlich durch die Euthanasie erweitert, welche die vorher praktizierte Sterilisierung, mit dem Ziel, die Gesellschaft zu „reinigen“, ablöste.[9]
Im Jahr 1939 wurden unter dem Decknamen „Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ („Kinderfachabteilung“) folgende Krankheitsbilder der Kinder - Euthanasie (,.Kinderaktion“), die in ihrer Vorbereitung der Erwachsenen - Euthanasie voranging, freigegeben (vgl. Klee 2004, S. 80):
- Idiotie sowie Mongolismus (ebenso Kinder mit Blindheit und Taubheit)
- Mikrocephalie (eine von der Norm abweichende Verkleinerung des Kopfes)
- Hydrocephalus („Wasserkopf“)
- Missbildungen jeder Art, insbesondere das Fehlen von Gliedmaßen, Spaltbildungen des Rückens (Spina bifida), usw.
- Lähmungen einschließlich der „Littleschen Erkrankung“ (heute als spastische Lähmung bekannt)
Anfänglich wurden „idiotische“ und missgebildete Kinder bis zum dritten, in der darauf folgenden Zeit bis zum 16. Lebensjahr getötet. Den Eltern wurde glaubhaft zu versichern versucht, einen vollständigen Gesundheitszustand ihrer geistig oder körperlich behinderten Kinder durch „Therapien“ herstellen zu können. Eltern, die sich gegen die Verlegung widersetzten, wurden mit der Androhung des Verlustes ihres Sorgerechts fügsam gemacht. Die Tötung der Kinder erfolgte, nachdem sie einige Zeit in den Fachabteilungen verbrachten, um ein Misstrauen seitens der Angehörigen zu vermeiden, i. d. R. durch Tabletten in Form von Überdosen, Spritzen oder Verhungern und konnte so kontrolliert werden, dass den Eltern stets eine „natürliche Todesursache“ (u. a. durch eine absichtlich verursachte Lungenentzündung) genannt werden konnte (vgl. Mattner 2000, S. 71). In den Nürnberger Prozessen rechtfertigte und verteidigte sich ein Arzt zu den Tötungsvorwürfen, in dem er jegliche Schuld von sich schob: „Das Kind (...) stirbt nicht an einer Vergiftung, das möchte ich noch einmal sagen, ich habe das schon einmal zurückgewiesen. Es stirbt lediglich an dem Eintreten einer Stauung in den Lungen, also Kreislauf- und Lungenstörungen, daran stirbt es“ (aus einem Protokoll der Ärzte - Prozesse, zit. nach Klee 2004, S. 307).
Die Euthanasie wurde im Jahr 1940 schließlich ausgedehnt und erhielt den Decknamen „T4“ bzw. „Aktion T4“ (bezeichnet nach der Anschrift „Tiergartenstr. 4“ in Berlin - Charlottenburg). Mithilfe so genannter Meldebögen wurden die zur Tötung freigegebenen und den verantwortlichen „Gutachtern“ vollkommen unbekannten behinderten und kranken Menschen nach völlig subjektiven und willkürlichen Maßstäben erfasst. Lediglich diejenigen wurden von der Aktion zurückgestellt, welche sich noch u. a. für produktive Tätigkeiten als dienlich erweisen konnten sowie aufgrund spezieller Behinderungs- bzw.
Krankheitsmerkmale für Forschungszwecke eigneten, obgleich die inhumanen und schonungslosen medizinischen Behandlungsmethoden und -versuche wiederum zu einer nicht zu unterschätzenden Sterblichkeitsrate der Betroffenen beitrugen.
Speziell für den Transport behinderter und psychisch kranker Menschen aus den Anstalten in die seit 1933 ursprünglich für Häftlinge errichteten Vernichtungslager wurde die „Gekrat“ („Gemeinnützige Kranken - Transport - G.m.b.H.“) im Jahr 1939 gegründet. Den beginnenden Abtransporten mit unbekanntem Ziel dürften die Menschen noch völlig arglos und mit gespannter Erwartung gegenüber gestanden haben, merkwürdig dürfte in diesem Zusammenhang sicherlich nur die unwürdig vorgenommenen Kennzeichnungen durch Stempel auf den Unterarm oder in den Nacken der Betroffenen erschienen sein (vgl. Klee 2004, S. 130). Zur besseren Geheimhaltung wurden 1940/41 so genannte Zwischenanstalten errichtet, von denen aus behinderte und psychisch kranke Menschen später in die „Reichsanstalten“ zur Tötung verlegt wurden. Die Gründung von Sonderstandesämtern diente zur Täuschung der Angehörigen durch die Erstellung falscher Todesursachen, -daten und Unterschriften sowie die Zusendung von Urnen, die nicht die Asche der getöteten Familienmitglieder enthielten. (vgl. Mattner 2000, S. 73). Dennoch gelang die Tarnung aufgrund zahlreicher Zwischenfalle nicht.[10] Die in den Anstalten lebenden Menschen fürchteten zunehmend um ihr Leben: „Die meisten spürten, was kommen würde. Manche knieten sich vor dem Direktor der Anstalt, Dr. Lonauer, nieder und baten ihn mit erhobenen Händen, sie nicht wegzuschicken. Es half ihnen nichts“ (Archiv des Museums Mauthausen. Bundesministerium für Inneres, Wien, Dok. B15/41, zit. nach Klee 2004, S. 188). Für die kommende Zeit wurden u. a. folgende Situationen beschrieben: „Darüber, was für Szenen sich zwischen den Opfern und ihren Henkern abgespielt haben, zeigten oft die zerkratzten Hände von den Henkern, ihre zerrissenen Uniformen und abgerissenen Knöpfe sowie die in den Autos gebliebenen Spuren von Blut und Fetzen der Kleidung von Kranken. Die wenigen Familien erhielten eine Weile nach der „Evakuierung“ (wie das offiziell hieß) eine Benachrichtigung, daß dieser oder jener Kranke in eine andere, meistens weit entfernte Anstalt (...) verlegt wurde und nach einer weiteren Zeitspanne erfolgte dann die Mitteilung, dass der Kranke dort aus diesem oder jenem Grunde gestorben sei“ (Klee 2004, S. 107). Wie die Tötungen u. a. abliefen, beschreibt folgendes Szenario: „Der ganze Raum war so eingerichtet, daß man annehmen konnte, es handele sich um ein Badezimmer (...). War der ganze Transport abgefertigt, d. h., waren die Aufnahmen vorgenommen, die Bestempelungen durchgeführt, das Fotografieren erledigt, und die Bezeichnung jener Personen, die Goldzähne hatten, abgefertigt, kamen alle Personen in den Bade - Gas - Raum. Die Stahltüre wurde geschlossen und der jeweilige Arzt leitete Gas in die Gaskammer ein. Nach kurzer Zeit waren die Leute in der Gaskammer tot. Nach ca. eineinhalb Stunden wurde die Gaskammer entlüftet“ (Klee 2004, S. 139). Um Unruhe und Aufregung vor den Tötungen zu vermeiden, wurden den Betroffenen aus „humanitären Gründen“ oftmals als Schutzimpfungen getarnte Betäubungsmittel injiziert (vgl. Klee 2004, S. 147). Dass die Zeitspanne bis zum einsetzenden Tod der Menschen entgegen der stetigen Behauptungen der Ärzte, „sie seien friedlich hinübergedämmert“, mit kaum vorstellbaren Schmerzen und Qualen verbunden sein musste, belegen u. a. folgende Aussagen: (Klee 2004, S. 148 f.):
„Ich habe lediglich einmal, um den Argumenten, welche besagten, daß die Vergasungen auf eine humane Art vorgenommen werden, auf den Grund zu gehen, einer Vergasung mit zugesehen. Ich habe hierbei durch das seitlich angebrachte Guckfenster die Beobachtung gemacht, dass die Menschen einen qualvollen Tod starben. Die Dauer meiner Beobachtung erstreckte sich nur auf ca. drei Minuten, da ich den Anblick längere Zeit nicht ertragen konnte“ (Aussage eines Aktenverwalters).
„Einmal wurden mit einem Schlage 150 Personen vergast. Der Gasraum war derart voll, daß die Leute, die sich darinnen befanden, kaum umfallen konnten und sich darum so verkrampften, daß wir die Leichen kaum auseinander bringen konnten. Da schon vorher Vergasungen vorgenommen worden waren, wurde der Leichenraum derart voll, daß die untersten Leichen bereits in Verwesung übergegangen waren“ (Bericht eines „Brenners“ der Anstalt Hartheim am 04.09. 1945 vor dem Landgericht Linz).
Bis zum „Euthanasie - Stopp“ im August 1941 erlagen auf diese Weise ca. 18.000 Menschen der „Desinfektion“ - dem damaligen gebräuchlichen Terminus für „Vergasen“ (vgl. Klee 2004, S. 355). Unzweifelhaft lässt sich in diesem Kontext auf die Auswirkungen der Tötungen auf das beteiligte Personal („jetzt purzeln sie schon“[11] ) hinweisen. Absurd erscheint hierbei die Aussage Werner Heydes als ursprünglicher Initiator und Organisator der Euthanasie von psychisch Kranken: „Durch den Massenbetrieb war jedoch die Gefahr der Abstumpfung, wenn nicht sogar Verrohung des Personals in den Eu-Anstalten gegeben, und es mußte zunehmend befürchtet werden, daß die Ärzte dort selbst ihre Tätigkeit rein geschäftsmäßig führten und in gewisser Weise das Bewußtsein verloren, es mit Menschen zu tun zu haben“ (Klee 2004, S. 231).
Nach dem so genannten „Stopp“ wurde hingegen in den Heimen und psychiatrischen Anstalten routinemäßig weitergemordet („Wilde Euthanasie“). Die Verabreichung von überdosierten und damit tödlich wirkenden Medikamenten in Verbindung mit einer bewusst mangelhaften Ernährung („Luminal - Schema“) sowie die unzureichenden hygienischen und räumlichen Anstaltsbedingungen trugen zu einem schleichenden Tod der Betroffenen bei: „Der Anblick der ausgemergelten, weißgelblichen Gestalten auf den Stationen war kaum zu ertragen. Die Kranken waren zum Teil nicht mehr imstande, sich von ihrem Platz zu erheben, und bei Besuchern auf den Stationen konnte man sich des Bettelns um Brot kaum mehr erwehren. Ich habe bis dahin in meinem Leben, selbst im Kriege - ich war im ersten Weltkrieg Frontsoldat - noch nie so viel Tränen vergießen sehen wie in dieser Zeit“ (Aussage Pater Carls vom 19.05. 1948, zit. nach Klee 2004, S. 431).
Die Tötungen wurde trotz der voraussehbaren Kriegsniederlage nicht beendet: Selbst noch nach dem Ende des Dritten Reiches starben viele Heim- und Anstaltsbewohner in den nicht besetzten Gebieten an Unterernährung oder wurden getötet, um Betten für Kriegsverletzte bereitstellen zu können (vgl. Klee 2004, S. 453 ff).
Zum Abschluss dieses Kapitels erscheint es mir noch wichtig zu erwähnen, dass es mitunter Familien gab, die die Euthanasie bejahten, um von einem unerwünschten Familienmitglied entlastet zu werden. So entspricht es den Tatsachen, dass u. a. ein Arzt einer psychiatrischen Anstalt von Angehörigen eines Patienten zu hören bekam: „Der sollte doch eigentlich erlöst werden.“ Auch wurde von einigen Eltern der Wunsch nach dem Tod ihres eigenen Kindes geäußert, da nach der Ansicht eines Vaters es „nicht vielleicht am besten wäre, ein solches Kind aus dem Volkskörper auszuscheiden, da das - glaube ich - auch im Sinne des Staates liegt“. Mit welcher Gefühlskälte vereinzelt mit den Betroffenen vonseiten der Lebenspartner umgegangen wurde, belegt folgende Schilderung eines Arztes: „Die Frau wollte wieder heiraten, ohne sich scheiden zu lassen. Sie machte mir schon bei Besuchen Vorwürfe, daß ich nicht mit der Zeit gehen würde (...). Sie schrieb mir dann einen Brief und verlangte die Tötung durch eine Spritze.“ Bekennende Anhänger des Nationalsozialismus setzten sich dagegen für den Schutz ihrer Familienangehörigen vor der Euthanasie ein (siehe Klee 2004, S. 307 f).
Dass mitunter Familien dem nicht zu unterschätzenden öffentlichen Druck der Stigmatisierung ausgesetzt waren, welcher sich mitunter folgenschwer auf die Lebenschance der betroffenen Familienmitglieder auswirkte, lässt sich anhand folgender Erfahrung eines Anstaltsleiters verdeutlichen: „Auf meine Veranlassung nahm ihn [26jährigen Sohn] die Mutter zu sich (...). Nach einiger Zeit brachte sie ihn uns aber wieder mit der Begründung, sie könne ihn dort nicht haben, weil die Bevölkerung ihn nicht dulde; die Leute seien dort so eingestellt, daß sie die Verbrennung von Geisteskranken als zweckmäßig und berechtigt ansähen und sich darüber auflehnten, wenn einer auf diese Weise jener Maßnahme entzogen würde. Deshalb mussten wir ihn wieder nehmen und konnten nicht verhindern, daß er am 2.12. 40 abtransportiert wurde“ (siehe Klee 2004, S. 309) [Anmerkung d. Verf.].
1.7 Zur Situation der Psychiatrie nach dem Ende des Dritten Reiches
Nach dem Niedergang des Dritten Reiches veränderten sich die Verhältnisse hinsichtlich der unzureichenden und unwürdigen Betreuung bzw. Verwahrung (z. B. überbelegte Stationen) und der daraus folgenden pathologisierenden Wirkung auf Behinderte und psychisch Kranke in den Anstalten nur unwesentlich, wodurch insbesondere die traditionelle psychiatrische Praxis verstärkt seit den 60er Jahren durch die Entstehung der Anti - Psychiatrie - Bewegung zunehmend in die Kritik geriet, die (im Sinne Goffmans) richtig konstatierte, dass sich psychiatrische Patienten nicht nur über ihre Krankheit charakterisieren, sondern vor allem durch die sich von der Außenwelt isolierende Psychiatrie als „totale Institution“ definieren lassen, der sie machtlos ausgesetzt sind. So führt diese ein so genanntes „Anstaltssyndrom“ der Patienten herbei, welches wiederum in seiner Kausalität in den Betroffenen selbst gesucht wird (siehe Kapitel 4.5). Die Psychiatrie - Enquete von 1975 stellt dabei mit ihrer Forderung nach einer Deinstitutionalisierung, die Versorgung psychisch kranker Menschen in ambulante und gemeindenahe Einrichtungen zu verlagern, einen entscheidenden Wendepunkt in der institutionellen Versorgung der Betroffenen dar. Die seit den 90er Jahren entstandene neue und radikale Antipsychiatrie, welche sich ausschließlich aus Psychiatrie - Erfahrenen und damit den Betroffen selbst zusammensetzt, fordert mittlerweile eine Entpsychiatrisierung - die Abschaffung sämtlicher psychiatrischer Strukturen, da sich abgesehen von der Einführung von Psychopharmaka nur wenig in der praktischen Behandlung von psychiatrischen Patienten verändert habe (vgl. Richter 1997, S. 20 ff). Szasz (1982) vergleicht den ärztlichen Umgang mit psychiatrischen Patienten sogar mit der zur Zeit der Inquisition betriebenen Hexenverfolgung: An ihrer Stelle sei heute die Psychiatrie getreten, der von der Gesellschaft die Aufgabe und Legitimation übertragen wurde, den „Wahnsinn zu verwalten“, Abweichler einzusperren, zu hospitalisieren und sie damit lebensuntüchtig werden zu lassen (vgl. Richter 1997, S. 20 ff.).
Im ersten Kapitel wurde dargestellt, dass die soziale Ächtung von Menschen, welche als „anders-“ und „fremdartig“ erlebt werden, nicht nur in unserer Gesellschaft eine lange Tradition besitzt. Die Menschheitsgeschichte ist hinsichtlich Menschen mit Behinderungen und psychischen Krankheiten geprägt von Herabwürdigung, Ablehnung, Kasernierung, Aussonderung sowie Verfolgung und befand sich schließlich im Dritten Reich mit der konsequenten Vernichtung von gesellschaftlich unbrauchbaren „Ballastexistenzen“ auf ihrem Höhepunkt. Die nachfolgenden Kapitel behandeln gegenwärtige Formen von Stigmatisierungen, wobei der Versuch anhand der konkreten Darstellung von Stigmatisierungsprozessen unternommen werden soll, eine Erklärung für die Entstehung eines mit Vorurteilen behafteten nihilistischen Menschenbildes zu finden, welches behinderte und psychisch kranke Menschen bis in unsere heutige Gegenwart hinein diskriminiert, stigmatisiert und etikettiert.
2 Stigmatisierungsprozesse
2.1 Religiöse und kulturelle Ursprünge
Die religiöse Bedeutsamkeit des Wortes „Stigma“ entstammt ursprünglich dem Alten Testament, in welchem die Geschichte von Kain und Abel geschildert wird. Aufgrund der Ermordung Abels durch dessen Bruder Kain, wurde dieser mit einem speziellen Merkmal bzw. Zeichen versehen, welches ihn einerseits als unrein und somit aus der Gesellschaft als ausgestoßen brandmarkte, jedoch gleichsam unter den besonderen Schutz Gottes stellte. Insofern bedeutete diese Ambiguität des Stigmas einerseits die Ausgrenzung Kains aus der menschlichen Gemeinschaft, andererseits kennzeichnete es seine spezifische Bindung zu Gott (vgl. Groß 2000, S. 5).
In Abhängigkeit vom jeweiligen sozialen und kulturellen Kontext kann ein Stigma auch als ein Ausdruck besonderer Erleuchtung oder Begabung gewertet werden. So können geistige oder psychische Andersartigkeiten auch zur Zuschreibung eines Heiligenstatus führen. Beispielsweise galten die „heilige“ Krankheit Epilepsie und die psychische Erkrankung Schizophrenie als außergewöhnliche Wesensbesonderheiten von Menschen mit einer besonderen Verbindung zum Transzendenten. Die spontan aufgetretenen Wundmerkmale Christi am Körper Assisis wurden als dessen spezieller Erleuchtung und Beziehung zum Göttlichen gedeutet. Des Weiteren legt beispielsweise im Hinduismus ein Zeichen auf der Stirn die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kaste fest (vgl. Groß 2000, S. 6).
Die Bedingungen, aus denen Stigmatisierungen schließlich resultieren, werden im nachfolgenden Kapitel erläutert, wobei einige Erklärungsansätze zur Entstehung von Stigmatisierungsprozessen dargestellt werden.
2.2 Zu den Entstehungsursachen von Stigmatisierungen
2.2.1 Norm - Normalität - Anormalität
Die soziale Wirklichkeit wird über gesellschaftlich vordefinierte Sozialisationsinhalte vermittelt, in deren Folge sich spezifische Werthaltungen über bestimmte Personengruppen ergeben. Sozio - kulturelle Norm- und Wertvorstellungen, die in jeder Gesellschaft - wenn auch mit unterschiedlichem Inhalt - existieren und dem gesellschaftlichen wie historischen Wandel unterliegen, gewährleisten durch die Bestimmung sowie Einschränkung menschlichen Verhaltens das Funktionieren des gesellschaftlichen Lebens und werden bereits früh im Sozialisationsprozess erworben bzw. verinnerlicht.[12] Normen geben als allgemeingültige Verhaltensregeln konkrete Anweisungen für Handlungen aufgrund der Interpretation von Werten und schaffen damit verbindliche Verhaltensanforderungen, denen die Mitglieder einer Gesellschaft unaufgefordert nachzukommen haben - damit wird vor allem die Verbindlichkeit sowie der Verhaltensimperativ deutlich. In unserem Gesellschaftssystem werden durch Sozialisationspraktiken beispielsweise Werte wie Gesundheit, Jugendlichkeit, Schönheit, Attraktivität und Leistungsfähigkeit mit „Normalität“ gleichgesetzt und angestrebt. Insofern kann das „Normalsein“ bezeichnet werden als ein „Verhalten, das den herrschenden Normen entspricht. Solche Handlungsmuster, an denen sich menschliches Verhalten ausrichtet, werden beobachtbar mit einer unterschiedlichen Häufigkeit tatsächlich befolgt und bilden auf diese Weise statistische Normen oder, anders ausgedrückt, das gesellschaftlich „Normale““ (Dupuis/Kerkhoff 1992, zit. nach Waldschmidt, S. 86). Auf den so genannten „Normalitätsfeldern“ wird schließlich ausgehandelt, was u. a. schön, gesund und demnach als „normal“ gilt und was in unserer Gesellschaft beispielsweise unter Intelligenz zu verstehen ist: Hier liegt der durchschnittliche Normbereich bei einem Quotienten zwischen 90 - 100. Menschen in den Extrembereichen werden entweder als hochbegabt (ab IQ 130) oder geistig behindert (ab IQ 69 (leichte geistige Behinderung: „Debilität“) bis unter 20 (schwere geistige Behinderung: „Idiotie“)) bezeichnet. Die Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder, die sich in diesem Durchschnittsbereich befindet, grenzt sich von diesen beiden Extremen ab, um sich selbst als „normale“ Mitte zu begreifen, andernfalls bestünde die Gefahr, selbst zu einer Randgruppe zu werden (“marginal men“, vgl. Rommelspacher 1999, S. 30). Menschen orientieren sich demzufolge an den Normen ihrer Gesellschaft und sind danach bestrebt, sich an dem mehrheitlich praktizierten Verhalten auszurichten (Verhaltensgleichförmigkeit): „Es wird verlangt, dass ich mich so und nicht anders verhalte.“ bzw. „Das machen alle (viele), das ist doch normal“ (Waldschmidt, S. 88). Damit wird das eigene Verhalten als normkonform und als weit verbreitet angesehen; zudem wird davon ausgegangen, dass eigene Einstellungen und Überzeugungen auch von anderen geteilt werden. Normen gewährleisten damit Verlässlichkeiten und Regelmäßigkeiten des Handelns, in dem sie dem Einzelnen Verhaltenssicherheit bieten, da sie als Voraussetzung zur Berechenbarkeit und Prognostizierbarkeit des Verhaltens anderer dienen (Reinhold 2000, S. 582). In dem Maß, wie ein Individuum sein Verhalten an dem der sozialen Umwelt orientiert - auch wenn es die Normen verinnerlicht hat und sie demzufolge als die eigenen empfindet - nimmt unbewusst seine Selbstbestimmung ab - das Verhalten wird damit von „außen“ gelenkt (vgl. Reinhold 2000, S. 354). Stigmatisierungen und Ausgrenzungsmechanismen kommen dann zustande, wenn Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen den Normen ihrer Gesellschaft widersprechen. Behinderte und psychisch Kranke werden als soziale Gruppen insofern abgelehnt, da sie zentrale gesellschaftliche Wertvorstellungen (z. B. Leistungsanforderungen) aufgrund ihrer jeweiligen geistigen, physischen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung nicht erfüllen. In diesem Kontext erscheint „Anormalität“ als Normwidrigkeit deshalb so bedrohlich, da mit ihr das Nichtantizipierenkönnen von Handlungsweisen und die damit verbundene Auflösung von Orientierungswerten einhergehen (vgl. Richter 1997, S. 77). Insbesondere Personen mit devianten Verhaltensweisen sind der Gefährdung ausgesetzt, für nicht „normal“ erklärt zu werden. Im Hinblick auf Behinderungen und psychische Erkrankungen wird im nächsten Teilkapitel daher auf die signifikante Bedeutung abweichenden Verhaltens für Stigmatisierungsprozesse hingewiesen.
[...]
[1] Wichtig ist dabei anzumerken, dass das damalige gesellschaftliche Strafsystem vor allem körperliche Behinderungen geradewegs produzierte, wodurch die Betroffenen zu Versehrten wurden. So wurden Verbrechen dahingehend geahndet und optisch markiert, in dem den Schuldigen z. B. bei Diebstahl die Hände vom Körper abgeschlagen wurden. Des Weiteren war es eine gängige Methode, besiegte Feinde u. a. durch das Blenden der Augen oder Abschlagen von Füßen und Händen zu verstümmeln (vgl. Mattner 2000, S. 18).
[2] Die vom damaligen Fördergedanken geleitete Auslesementalität wird noch bis in die Gegenwart durchgeführt (siehe Kapitel 6.2.1).
[3] Paradox erscheint in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Nietzsche selbst über ein Jahrzehnt an der progressiven Paralyse (vollständige Lähmung als Spätform der Syphilis) litt, ehe er im Jahr 1900 verstarb. Im Nationalsozialismus wäre er damit der Euthanasie zum Opfer gefallen (vgl. Klee 2004, S. 17).
[4] Dieser Begriff wurde erstmals 1883 von Francis Galton (einem Verwandten Darwins) eingeführt, der von der Annahme eines angeborenen Charakters ausging und exogene Einflüsse (z. B. der Umwelt) ausschloss. Er setzte sich dabei konsequent für eine systematische Beeinflussung der menschlichen Entwicklung ein. Damit galt die Eugenik als Wissenschaft zur Steuerung und Kontrolle der menschlichen Erbgesundheit, welche als „Wissenschaft vom guten Erbe“ für sich in Anspruch nahm zu bestimmen, was als gutes bzw. schlechtes Erbgut zu gelten habe. Krankheiten wurden unter diesem Aspekt als unheilvolle Bedrohungen des Volkskörpers angesehen. Aus diesem eugenischen Denken resultierte schließlich das biologische Thema des „Kampfes ums Leben“ und um die Bewahrung der am besten angepassten Rasse (vgl. Mattner 2000, S. 38).
[5] Hoche, der als Mitinitiator der Euthanasie („Sterbehilfe“) gilt, lehnte später die Krankenmorde ab, da eine Verwandte von ihm den Tötungshandlungen zum Opfer fiel (siehe Klee 2004, S. 25).
[6] Der Sterilisierungsgedanke war jedoch nicht neu. Die erste Sterilisation einer psychisch kranken Frau wurde bereits im Jahr 1882 von dem Psychiater August Forell, der sich zu seiner Zeit bereits für eine Reinerhaltung der Rasse einsetzte, veranlasst (vgl. Rufer 1997, S. 129).
[7] Die Erweiterung dieses Gesetzes gestattete in der Folgezeit auch Abtreibungen an den „Trägerinnen minderwertigen Erbguts“ (vgl. Mattner 2000, S. 62).
[8] Paradoxerweise erstellten die damaligen Psychiater oftmals Scheindiagnosen (vornehmlich über Schizophrenie), um Männer vor dem kriegsbedingten Einzug und möglichen Tod an der Front zu bewahren, ohne sich wohl der bevorstehenden Konsequenzen, die die Diagnose einer psychischen Erkrankung in der Folgezeit nach sich ziehen würde, bewusst zu sein (vgl. Groß 2000, S. 6).
[9] Schätzungen gehen davon aus, dass auf der Basis des Sterilisierungsgesetzes im nationalsozialistischen Regime bis zu 400.000 „erbkranke Volksschädlinge“ sterilisiert wurden (siehe Mattner 2000, S. 60). Das Gesetz behielt bis 1973 seine Gültigkeit. Dessen ungeachtet wurden auf der Basis von Zustimmungen seitens der Ärzte oder Vormundschaftsgerichte aus „eugenischen Gründen“ weiterhin bei geistig behinderten Frauen jeweils unter Vortäuschungen von notwendigen Operationen Zwangssterilisationen bis zur Neufassung des Betreuungsgesetztes im Jahr 1992 durchgeführt. Mattner weist in diesem Zusammenhang jedoch darauf hin, dass ein Schutz so genannter „Einwilligungsunfähiger“ vor Sterilisationen in der Gegenwart auch mit diesem Gesetz nicht eindeutig gewährleistet werden kann (vgl. 2000, S. 78).
[10] So wurde beispielsweise die Kleidung der Abtransportierten in die Anstalten zurückgebracht; auch Gekrat - Mitglieder trugen zum öffentlichen Bekanntwerden der „geheimen Reichssache“ bei, ebenso Pannen bei der Mitteilung der Todesnachricht eines Familienmitgliedes. So erhielt beispielsweise eine Familie zwei Urnen; in einem anderen Fall wurde eine Blinddarmentzündung als Todesursache genannt, obwohl bei der/dem Betroffenen der Blinddarm bereits vor 10 Jahren operativ entfernt wurde; eine weitere Familie erhielt eine Todesmitteilung, welche jedoch vor dem Tag der Verlegung ihres Angehörigen lag (vgl. Klee 2004, S. 250 f).
[11] Aussage eines T4 - Arztes am 06.08. 1965 vor dem AG Marne (Klee 2004, S. 148)
[12] Da die Abweichung von Normen und Werten die individuelle und gesellschaftliche Stabilität bedroht, werden bereits in der frühen Kindheitssozialisation die von außen herangetragenen Wertvorstellungen internalisiert, dass ein Werte- bzw. Normenverstoß negative Sanktionen zur Folge hat. Aus der Entwicklungspsychologie ist bekannt, dass Kleinkinder bis zum vierten Lebensjahr noch relativ unvoreingenommen auf alles Andersartige reagieren, während sich erste vorurteilsbehaftete Tendenzen bereits ab dem achten Lebensjahr mit starren „gut-“ und „böse“ - Klassifizierungen nachweisen lassen, da die sichtbare Abweichung von der Norm auch von Kindern bereits sehr genau wahrgenommen wird (vgl. Cloerkes 2001, S. 85).
- Arbeit zitieren
- M. A. Annika Schmidt (Autor:in), 2005, Stigmatisierungsprozesse und Ausgrenzungsmechanismen gegenüber behinderten und psychisch kranken Menschen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/150100
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