Diese Arbeit untersucht das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall S.A.S. vs. France aus der Perspektive der offenen Laizität, wie sie von Jocelyn Maclure und Charles Taylor konzipiert wurde. Das Urteil, das das französische Verbot der Gesichtsverschleierung in der Öffentlichkeit bestätigte, hat weitreichende Diskussionen über die Balance zwischen individueller Religionsfreiheit und staatlicher Neutralität ausgelöst. Das Urteil unter dem Blickwinkel der offenen Laizität zu betrachten, bietet sich vor allem deshalb an, da Laizität als eines der Wesensmerkmale der Französischen Republik angesehen wird. Die offene Laizität stellt dabei eine alternative Konzeption des Verhältnisses zwischen Staat und Religion dar, die aufgrund der Notwendigkeit eines neutralen Staates in pluralistischen Gesellschaften, die Achtung der religiösen und moralischen Vielfalt als übergeordnetes Ziel der Laizität definiert. Um das Urteil einer kritischen Betrachtung zu unterziehen, wird in einem ersten Schritt das Konzept der offenen Laizität nach Maclure und Taylor (2011) erläutert. Im Anschluss wird der Fall S.A.S vs France detailliert beschrieben, wobei der Fokus auf den rechtlichen Aspekten des Verbots der Gesichtsverschleierung in der französischen Öffentlichkeit, dem Rechtfertigungsargument des "vivre ensemble" der französischen Regierung und den Argumentationen des EGMR liegt. Daraufhin folgt eine kritische Analyse des Urteils des EGMR aus der Perspektive der offenen Laizität. Dabei werden insbesondere die Auswirkungen auf die individuelle Gewissensfreiheit und moralische Gleichheit, die Einhaltung des Neutralitätsgebots des Staates und die Förderung eines pluralistischen Zusammenlebens untersucht. Im Hinblick auf die offene Laizität wird dargelegt, dass der französische Staat mit dem Verbot der Gesichtsverschleierung die Achtung der moralischen Gleichheit und den Schutz der Gewissensfreiheit seiner Bürger nicht gewährleistet. Zudem erfüllt der Staat nicht die Neutralitätsanforderung der Laizität, da weder säkulare noch religiöse Wertvorstellungen bevorzugt oder benachteiligt werden sollten. Die Arbeit kommt zu dem Schluss, dass die Prinzipien der Laizität – gleiche Achtung und Schutz der Gewissensfreiheit – wurden in der Urteilsfindung nicht angemessen berücksichtigt.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Laizität und Gewissensfreiheit bei Maclure und Taylor
- Laizität im Kontext von moralischem Pluralismus und Neutralität
- Zwecke und Mittel der Laizität
- Offene und rigide Laizität
- Gewissensfreiheit und die Legitimität von Ausnahmeregelungen
- Reflektion der Konzeption der offenen Laizität
- S.A.S. vs. France
- Das französische Verbotsgesetz
- Die Klage und französischen Rechtfertigung
- Das Urteil des EGMR
- Kritische Betrachtung des Urteils
- Schutz der Gewissensfreiheit und der gleichen Achtung
- Moralische Pluralität, Neutralität des Staates und das „vivre ensemble“
- Fazit
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit befasst sich mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall S.A.S vs. France, das im Jahr 2014 erging. Der Fokus liegt auf der kritischen Analyse des Urteils aus der Perspektive der offenen Laizität, wie sie von Jocelyn Maclure und Charles Taylor in ihrem Werk „Laizität und Gewissensfreiheit“ (2011) vorgestellt wird. Die Arbeit untersucht, inwiefern das EGMR-Urteil den Grundsätzen der offenen Laizität entspricht, insbesondere im Hinblick auf die Gewissensfreiheit und die Bedeutung des vivre ensemble in einer pluralistischen Gesellschaft.
- Die Konzeption der offenen Laizität von Maclure und Taylor
- Die Bedeutung der Gewissensfreiheit im Kontext von Laizität
- Das französische Verbot der Gesichtsverschleierung in der Öffentlichkeit
- Die Argumentation des EGMR im Fall S.A.S. vs. France
- Die Auswirkungen des Urteils auf die individuelle Gewissensfreiheit und das vivre ensemble
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in das Thema der Arbeit ein und erläutert die Bedeutung des EGMR-Urteils im Fall S.A.S vs. France für die Debatte über Laizität und Gewissensfreiheit. Sie stellt die Zielsetzung der Arbeit dar und skizziert die wichtigsten Themenbereiche.
Das zweite Kapitel behandelt die Konzeption der offenen Laizität von Maclure und Taylor. Es werden die zentralen Elemente dieser Konzeption vorgestellt, darunter der moralische Pluralismus, die Neutralität des Staates und die Bedeutung der Gewissensfreiheit. Darüber hinaus wird der Ansatz von Maclure und Taylor in Bezug auf die Legitimität von Ausnahmeregelungen im Bereich der Religionsfreiheit diskutiert.
Das dritte Kapitel widmet sich dem Fall S.A.S. vs. France. Es werden das französische Verbotsgesetz, die Rechtfertigung des „vivre ensemble“ durch die französische Regierung und die Argumentation des EGMR im Detail beleuchtet.
Das vierte Kapitel bietet eine kritische Betrachtung des EGMR-Urteils aus der Perspektive der offenen Laizität. Es werden die Auswirkungen des Urteils auf die Gewissensfreiheit, die Gleichheit und die Neutralität des Staates im Hinblick auf die Förderung des vivre ensemble analysiert.
Schlüsselwörter
Die Arbeit befasst sich mit den Schlüsselbegriffen Laizität, Gewissensfreiheit, moralischer Pluralismus, Neutralität des Staates, vivre ensemble, Frankreich, EGMR, S.A.S. vs. France, offene Laizität und individuelle Religionsfreiheit.
- Quote paper
- Annika Jahn (Author), 2023, Der Fall "S.A.S vs. France". Zum französischen Verbot der Gesichtsverschleierung in der Öffentlichkeit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1481709