[...] In nahezu allen europäischen Sprachen ist der Familienname
Niccolò Machiavellis zum „Epitheton für einen Schurken“1 geworden, und auch
seinem Vornamen erging es nicht besser: „Old Nick“ nennen die Engländer bis heute
scherzhaft-umgangssprachlich den Leibhaftigen selbst. Doch trifft solch zweifelhafter
Ruhm den Florentiner Staatsmann und Autor der berüchtigten Ratschläge an den „neuen
Fürsten“ zu Recht? Konnte sich tatsächlich erst durch seine politische Theorie das Verbrechen
der Politik bemächtigten? Oder etwas pointierter gefragt: Wie „machiavellistisch“
ist das Werk Machiavellis wirklich?
Zur Beantwortung dieser Frage sollen im dritten Kapitel dieser Arbeit die zwei vielleicht
am häufigsten wiederholten Thesen der Machiavelli-Kritik diskutiert werden. Das betrifft
zum einen den hier von René König erhobenen Vorwurf, Machiavellis Werk stehe für eine
„Umwertung der Werte“ und zum anderen die zuletzt von Leo Strauss vertretene Ansicht,
der Florentiner habe als „Lehrer des Bösen“ die Politik in Theorie und Praxis bis heute
korrumpiert und trage daher letztlich auch die Verantwortung für die Gewaltherrschaften
des 20. Jahrhunderts. Darüber hinaus gilt es das von Strauss als problematisch bewertete
Verhältnis Niccolò Machiavellis zur Religion im allgemeinen und zum Christentum im
besonderen etwas genauer zu untersuchen. Eine solche Erörterung setzt freilich die zuverlässige
Kenntnis der anthropologischen und geschichtstheoretischen Grundannahmen
dieses ersten Staatsphilosophen der Neuzeit voraus, deren knapper Skizzierung sich daher
das vorangehende zweite Kapitel widmen wird. Die beiden politisch-philosophischen
Hauptwerke Machiavellis, also der „Principe“ (1513) und die „Discorsi“ (1522) bildeten
bei der Fertigstellung dieser Arbeit die primäre Textgrundlage. Da die lange Zeit heftig
umstrittene Politikberatung des Florentiners wie kaum bei einem anderen Denker jener
Zeit jedoch nur vor dem Hintergrund seiner ganz unmittelbaren Krisenerfahrung zu
verstehen ist, wird sich das folgende erste Kapitel zunächst einmal deren skizzenhaften
Nachzeichnung zuwenden.
1 Macaulay, Thomas: Machiavelli, Heidelberg 1994, S. 4.
Inhalt
0. Einleitung
1. Die politische Krise Italiens als Ausgangspunkt
2. Machiavellis Weg zu einem neuen Verhältnis von Moral und Politik
2.1. Politik im Wirkungsdreieck von necessità, fortuna und virtù
2.2. Der principe nuovo als Retter des politischen Gemeinwesens
3. Die Selbsterhaltung des Staates als absolute politische Moral
3.1. Machiavellis Umwertung der Werte
3.2. Niccolò Machiavelli – Der Lehrer des Bösen?
3.3. „Ich liebe mein Vaterland mehr als meine Seele.“
4. Schlussbetrachtungen
5. Quellen- und Literaturverzeichnis
Einleitung
Vorsätzliches Lügen, kalkuliert eingesetzter Wortbruch und völlige Indifferenz gegenüber moralischen Imperativen, gepaart mit äußerster Skrupellosigkeit bei der Verfolgung sowohl rein machtpolitischer als auch privat-egoistischer Interessenslagen umfassen im nichtwissenschaftlichen Sprachgebrauch die bei weitem am häufigsten genannten Attribute „machiavellistischen“ Handelns. In nahezu allen europäischen Sprachen ist der Familien-name Niccolò Machiavellis zum „Epitheton für einen Schurken“[1] geworden, und auch seinem Vornamen erging es nicht besser: „Old Nick“ nennen die Engländer bis heute scherzhaft-umgangssprachlich den Leibhaftigen selbst. Doch trifft solch zweifelhafter Ruhm den Florentiner Staatsmann und Autor der berüchtigten Ratschläge an den „neuen Fürsten“ zu Recht? Konnte sich tatsächlich erst durch seine politische Theorie das Ver-brechen der Politik bemächtigten? Oder etwas pointierter gefragt: Wie „machiavellistisch“ ist das Werk Machiavellis wirklich?
Zur Beantwortung dieser Frage sollen im dritten Kapitel dieser Arbeit die zwei vielleicht am häufigsten wiederholten Thesen der Machiavelli-Kritik diskutiert werden. Das betrifft zum einen den hier von René König erhobenen Vorwurf, Machiavellis Werk stehe für eine „Umwertung der Werte“ und zum anderen die zuletzt von Leo Strauss vertretene Ansicht, der Florentiner habe als „Lehrer des Bösen“ die Politik in Theorie und Praxis bis heute korrumpiert und trage daher letztlich auch die Verantwortung für die Gewaltherrschaften des 20. Jahrhunderts. Darüber hinaus gilt es das von Strauss als problematisch bewertete Verhältnis Niccolò Machiavellis zur Religion im allgemeinen und zum Christentum im besonderen etwas genauer zu untersuchen. Eine solche Erörterung setzt freilich die zuver-lässige Kenntnis der anthropologischen und geschichtstheoretischen Grundannahmen dieses ersten Staatsphilosophen der Neuzeit voraus, deren knapper Skizzierung sich daher das vorangehende zweite Kapitel widmen wird. Die beiden politisch-philosophischen Hauptwerke Machiavellis, also der „Principe“ (1513) und die „Discorsi“ (1522) bildeten bei der Fertigstellung dieser Arbeit die primäre Textgrundlage. Da die lange Zeit heftig umstrittene Politikberatung des Florentiners wie kaum bei einem anderen Denker jener Zeit jedoch nur vor dem Hintergrund seiner ganz unmittelbaren Krisenerfahrung zu verstehen ist, wird sich das folgende erste Kapitel zunächst einmal deren skizzenhaften Nachzeichnung zuwenden.
1. Die politische Krise Italiens als Ausgangspunkt
Der am 3. Mai 1469 in Florenz geborene Niccolò Machiavelli wurde schon frühzeitig Zeuge gravierender gesellschaftlicher, kultureller und politischer Veränderungen. In den oberen Klassen der reichen italienischen Handelsmetropolen war die jenseitsorientierte Frömmigkeit des Mittelalters fast vollständig der humanistischen Entdeckung des dies-seitigen menschlichen Lebens gewichen. Zudem hatte sich mit dem aufstrebenden Früh-kapitalismus eine auf hemmungslose Gewinnmaximierung abzielende Rationalität ent-wickelt, welche die Verbindlichkeit der mittelalterlichen Ethik ihrerseits in Frage stellte. Der ökonomische Enderfolg schien nunmehr – nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer in Italien seit langem anhaltenden Wirtschaftskrise – nahezu jedes Mittel zu rechtfertigen; draufgängerische Skrupellosigkeit und schrankenloser Egoismus galten daher vielen Zeitgenossen inzwischen auch über den Wirtschaftsalltag hinaus als bewundernswerte Eigenschaften: „Die Bösen werden wegen ihrer Geschicklichkeit gelobt, die Guten wegen ihrer Einfalt getadelt.“[2] Auch die politische Praxis der europäischen Staaten hatte sich ganz offen von den theologischen Normen des Mittelalters gelöst. Ihre ständig wechselnde Bündnispolitik, vor allem jedoch die endlosen Machtkämpfe im Inneren hatten nicht nur die Republik Florenz am Ende des 15. Jahrhunderts in eine tiefe politische Krise geführt. Allgemeine Unsicherheit und Zukunftsangst sowie ein weitverbreiteter Pessimismus kontrastierten daher die kulturelle Blüte der italienischen Spätrenaissance. Auf seinen außenpolitischen Missionen für die Florentiner Signoria und als leitender Sekretär der unter anderem für Militärfragen zuständigen „Kanzlei der Zehn“ gewann Machiavelli ab 1498 tiefreichende Einblicke in die Krisensymptome jener Zeit. Nach dem Sturz der Republik im Jahr 1512 aller bisherigen Ämter enthoben und fortan zu politischer Untätigkeit verurteilt, widmete er sich ab 1513 als Schriftsteller der Frage, wie die krisen-geschüttelten italienischen Stadtstaaten dauerhaft zu stabilisieren seien.
Die Lösung dieses Problems konnte für Machiavelli allein aus der sorgfältigen Analyse vergangener politischer Erfolge und verhängnisvoller Fehlentscheidungen erwachsen. Weil die Welt immer so gewesen sei „wie jetzt, von Menschen bewohnt, die stets dieselben Leidenschaften hatten“, erblickte er bereits 1503 in der Geschichte „die Lehrmeisterin unserer Handlungen.“[3] Seine besondere Aufmerksamkeit galt dabei dem Studium der Antike. „Meine Römer dienen mir immer zum Muster“[4] lässt der Florentiner Republikaner Machiavelli sein Alter ego Colonna in der „Kriegskunst“ (1520) einleitend sagen, erhoffte er sich doch von der pragmatischen Nachahmung der für ihn mit ihrer Mischverfassung vorbildlich geordneten einstigen römischen Republik letztendlich die Wiedereinführung des gestürzten republikanischen Gemeinwesens in Florenz. Damit ganz der zeitgenös-sischen Strömung des Renaissancehumanismus und dessen Antike-Ideal verpflichtet, be-griff Niccolò Machiavelli Geschichte also nicht mehr als Ergebnis göttlicher Vorsehung, sondern erkannte in den herausragenden Ereignissen der Vergangenheit einzig die Resul-tate der beispielhaften Taten großer Männer.[5]
2. Machiavellis Weg zu einem neuen Verhältnis von Moral und Politik
Bedingt durch seine persönliche Krisenerfahrung und das Studium der antiken sowie jüngeren Geschichte Italiens glaubte Machiavelli nicht mehr an den Erfolg der traditionell-normativ begründeten Politik des Mittelalters, „denn zwischen dem Leben, wie es ist, und dem Leben, wie es sein sollte, ist ein so gewaltiger Unterschied, dass derjenige, der nur darauf sieht, was geschehen sollte, und nicht darauf, was in Wirklichkeit geschieht“[6] ganz zwangsläufig das Ziel stabiler politischer Verhältnisse in Italien verfehlen müsse. Als wesentlichster Bestandteil jener zu beachtenden Realien galten ihm zunächst einmal die Menschen selbst, welche er „im allgemeinen“ als „undankbar, wankelmütig, verlogen, heuchlerisch (...) und raffgierig“[7] charakterisierte. Deren rücksichtslos nach Befriedigung ihrer augenblicklichen Triebe strebende und von unstillbarem Ehrgeiz (ambizione) zerfressene „Rohnatur“ könne jedoch in einem wohlgeordneten Gemeinwesen vor allem durch gute Gesetze zum Besseren erzogen werden. Menschliches Verhalten blieb für Machiavelli damit also stets an ein bestimmtes politisches Umfeld gebunden, denn auf der Welt habe es „immer ebenso viel Gutes wie Schlechtes“ gegeben, „nur wechselten das Schlechte und das Gute von Land zu Land.“[8] Ausschließlich in Staaten ohne funktio-nierende Verfassung und mit wirkungslosen Gesetzen erhielten die Menschen genügend Gelegenheit, „ihren bösen Neigungen zu folgen“, wodurch „alles sofort in Verwirrung und Unordnung“ gerate.[9] Die konfliktträchtige menschliche „Rohnatur“ selbst erfährt in Machiavellis Augen also keinerlei Veränderungen, nur das die letztlich empirisch feststell-baren Handlungen der Menschen bestimmende, konkrete politische Umfeld unterliegt dem ständigen Wandel der Geschichte.[10]
2.1. Politik im Wirkungsdreieck von necessità, fortuna und virtù
Jene unveränderliche, von ständiger ambizione angetriebene menschliche „Rohnatur“ bildete ihrerseits das anthropologische Fundament der ewig gültigen Gesetzmäßigkeiten des Geschichtsprozesses, welchen Machiavelli in enger Anlehnung an Polybios’ Verfas-sungskreislauf als ein stets periodisch wiederkehrendes Alternieren von Aufstieg und Niedergang beschrieb: „In ihrem Kreislauf pflegen die meisten Staaten von Ordnung zu Unordnung überzugehen, um dann von der Unordnung zur Ordnung zurückzukehren (...). So in stetem Wechsel geht es abwärts zum Bösen [und wieder] aufwärts zum Guten.“[11] Der Krisenüberwindung durch Errichtung eines stabil verfassten politischen Gemein-wesens mit allseits respektierten Gesetzen, funktionierenden Institutionen und einer gefestigten bürgerlichen Gemeinschaft nach dem Vorbild der antiken römischen Republik folge mit der zwangsläufig eintretenden mangelhaften Anpassung der Politik an die sich ständig verändernden Notwendigkeiten der Zeit zuerst das allmähliche Absterben der gemeinwohlorientierten Bürgergesinnung und darauf dann der erneute institutionelle Zerfall des Staates, an dessen Endpunkt erbittert geführte Machtkämpfe zwischen ver-feindeten Bürgergruppierungen die anfängliche Anarchie wiederherstellten und der Ge-schichtskreislauf damit von neuem beginne.[12] Allerdings besitze „kaum ein Staat so viel Lebenskraft“ als dass er diesen Zyklus gleich mehrfach durchlaufen könnte. Eher gerate das Land stattdessen „in die Gewalt eines Nachbarstaates (...), in dem eine bessere Ord-nung herrscht.“[13] Genau dieses Schicksal hatte das Italien Machiavellis ereilt: Durch die schwindende Autorität des Rechts und den Niedergang ihrer republikanischen Institutionen waren die italienischen Stadtstaaten zum Spielball fremder Mächte geworden.
[...]
[1] Macaulay, Thomas: Machiavelli, Heidelberg 1994, S. 4.
[2] Machiavelli in seiner „Geschichte von Florenz“ (1525); zitiert nach Münkler, Herfried: Machiavelli.
Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz,
Frankfurt/M. 1984, S. 333.
[3] Zitiert nach Kersting, Wolfgang: Niccolò Machiavelli, München 1988, S. 54.
[4] Zitiert nach Kersting, Niccolò Machiavelli, S. 56.
[5] Vgl. ebd., S. 57-59.
[6] Machiavelli, Niccolò: Der Fürst (übersetzt und herausgegeben von Rudolf Zorn), Stuttgart 1972, S. 63.
[7] Ebd., S. 68f.
[8] Machiavelli, Niccolò: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung (übersetzt und eingeleitet von Rudolf Zorn), Stuttgart 21977, S. 161.
[9] Ebd., S. 17f.
[10] Knauer, Claudia: Das „magische Viereck“ bei Machiavelli – fortuna, virtù, occasione, necessità,
Würzburg 1990, S. 92-102.
[11] Zitiert nach Kersting, Niccolò Machiavelli, S. 62.
[12] Vgl. ebd., S. 66 und 73.
[13] Discorsi, I. Buch, 2. Kapitel – zitiert nach Oberndörfer, Dieter / Rosenzweig, Beate (Hg.): Klassische Staatsphilosophie. Texte und Einführungen von Platon bis Rousseau, München 2000, S. 148.
- Arbeit zitieren
- Arndt Schreiber (Autor:in), 2003, Wie "machiavellistisch" ist Machiavelli?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14757
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