Einen flotten Einstieg in das Thema vermittelt ein fünfminütiger Video-Clip mit dem Titel 'Hatte Karl Marx doch recht?', der seit einiger Zeit im Internet abrufbar ist. Zu Beginn des Clips wird allerdings eine weitere Überschrift präsentiert: ‚Hat Karl Marx uns heute noch was zu sagen?‘. Es geht natürlich um die Frage, ob Marx gegenwärtig noch aktuell und relevant ist. Argumente dafür und dagegen werden vorgetragen. Hervorgehoben wird die Tatsache, dass die zunehmenden sozialen Ungleichheiten, Spannungen und Konflikte in der Welt, die Kluft zwischen Arm und Reich, verstärkt durch die neoliberale Globalisierung, immer bedrohlicher werden.
Zu klären ist, inwieweit Marxsche Theorien noch dazu beitragen können, die allgemeinen und speziellen Probleme der neoliberalen Globalisierung und der heutigen Gesellschaft zu lösen. Völlig ausgeschlossen ist diese Möglichkeit, wenn die Marxsche Theorie als Ganze sich als unhaltbar erweisen sollte, wie dies u.a. die Philosophen Karl R. Popper und Klaus Hartmann behauptet haben; was in dieser Arbeit überprüft wird.
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkungen
1. Marxens Theorien
Zusammenfassung
2. Marx-Kritik
a) Poppers Kritik des Marxschen „Totalitarismus“
Zusammenfassung von Poppers Marx- und Hegel-Kritik
Kritische Würdigung
b) Die Marxsche Theorie in der Sicht von Klaus Hartmann (1970)
K. Hartmann zu Marxens Hegel-Kritik
zu K. Hartmanns Kritik der Marxschen Konzepte
Hartmanns Fazit
Zusammenfassung in Kernsätzen
Kritische Würdigung
Zur Frage nach der Dialektik
Zu den Kernsätzen von K. Hartmanns Marx-Kritik
c) Marxens Revolutionstheorie in der Sicht von H. A. Winkler
Kritische Würdigung
Vorläufiges Fazit
3. Neoliberale Globalisierung = Fortsetzung der „Dauerkrise des Kapitalismus“?
zur Umwelt-Krise
Fazit
Grundsätze und Forderungen
Literaturhinweise
Vorbemerkungen
Einen flotten Einstieg in das Thema vermittelt ein fünfminütiger Video-Clip mit dem Titel Hatte Karl Marx doch recht?, der seit einiger Zeit im Internet abrufbar ist unter: https://www.youtube.com/watch?v=6at-Pplv3fU. Zu Beginn des Clips wird allerdings eine weitere Überschrift präsentiert: ‚Hat Karl Marx uns heute noch was zu sagen?‘. Es geht natürlich um die Frage, ob Marx gegenwärtig noch aktuell und relevant ist. Argumente dafür und dagegen werden vorgetragen. Hervorgehoben wird die Tatsache, dass die zunehmenden sozialen Ungleichheiten, Spannungen und Konflikte in der Welt, die Kluft zwischen Arm und Reich, verstärkt durch die neoliberale Globalisierung, immer bedrohlicher werden.
Eine ähnliche, im Ganzen aber andersartige Fragestellung habe ich vor einiger Zeit behandelt in der Studie: Sind die Diktatur des Proletariats und die Bürokratie das Ende des Sozialis-mus? (München o.J., nachzulesen unter: https://www.grin.com/document/1032082). Darin komme ich u.a. zu folgenden Ergebnissen: „1. Der Sozialismus ist nicht endgültig gescheitert. 2. Gesellschaftliche Arbeit bleibt ein Motor der Geschichte. 3. Als Ganze kann die Arbeiter-Klasse sich nicht selbst repräsentieren. 4. Die Bürokratie neigt dazu, sich zu verselbständigen. 5. Inkompetenz und Autoritätshörigkeit bedrohen ständig die Funktionsfähigkeit und die Existenzberechtigung der Bürokratie. 6. Die Bürokratie-Kritik von Marx und Engels ist nach wie vor weitgehend gültig. 7. Lenins „gesetzlose DdP“ schlägt leicht in Terror, Machtmiss-brauch und Willkür um. 8. Der Stalinismus hat die Grundideen des Sozialismus in hohem Maße diskreditiert. 9. Der gegenwärtige „Überwachungskapitalismus“ bewirkt für den Sozialismus weltweit neue Herausforderungen. 10. Durch die Verbindung von Überwa-chungskapitalismus und neoliberaler Globalisierung droht eine Abwärtsspirale von sozialer Ungleichheit, Umweltzerstörung und Entdemokratisierung. 11. Die Öko-Krise ist zugleich eine Kulturkrise der besonderen Art. 12. Die Öko-Krise ist u.a. eine planetare Krise der Person. 13. Der Klimawandel ist vorwiegend „hausgemacht“. 14. Der Klimawandel verstärkt die Schere zwischen Armen und Reichen, besonders in den Entwicklungs- und Schwellenländern. 15. Marktradikale behindern den nachhaltigen Kampf gegen die Öko-Krise.“ (a.a.O. S. 137 f.).
Nicht geklärt ist damit, inwieweit Marxsche Theorien noch dazu beitragen können, die allge-meinen und speziellen Probleme der neoliberalen Globalisierung und der heutigen Gesell-schaft zu lösen. Völlig ausgeschlossen ist diese Möglichkeit ohnehin, wenn die Marxsche Theorie als Ganze sich als unhaltbar erweisen sollte (wie dies u.a. die Philosophen Karl R. Popper und Klaus Hartmann behauptet haben, s.u.). Ein entsprechende Überprüfung soll im Folgenden stattfinden.
1. Marxens Theorien
„Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.
Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarktes die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden. … An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. …“
Was beschreibt dieser Text? Den globalisierten Kapitalismus? Ja, zweifellos! Steckt denn der globalisierte Kapitalismus aktuell in einer Krise? Ja, zweifellos, wie schon ein Vergleich des Textes mit einschlägigen Darstellungen der gegenwärtigen Globalisierung (z.B. mit Die Globalisierungsfalle von Hans-Peter Martin und Harald Schumann, erschienen 1997) und der 2007 ausgebrochenen Finanzkrise erkennen lässt.
Und woher stammt der zitierte Text? Aus Marx‘ und Engels‘ Kommunistischem Manifest von 1847! Was ist daraus zu schließen? Wahrscheinlich, dass wir Heutigen vermuten dürfen, dass die aktuelle Globalisierungskrise als heutige Form der „Dauerkrise des Kapitalismus“ aufzufassen ist, die schon Karl Marx (1818-83) diagnostiziert hat.
Marx entwickelt seine neuen, revolutionären Auffassungen u.a. durch massive Auseinander-setzungen mit a) dem französischen Materialismus und Sozialismus (der Aufklärung), b) der deutschen Philosophie, insbesondere des Hegelschen Idealismus und c) der englischen Nationalökonomie (jener Zeit bzw. der Aufklärung).
„Wertform“ (Tauschwert) und Mehrwert sind grundlegende Begriffe in Das Kapital (von 1867). Der Kern der neuen Lehre wird aber nicht erst in diesem relativ späten Werk erkennbar, sondern schon in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844. Marx kritisiert darin Hegels Dialektik in doppelter Hinsicht, a) positiv: als „Selbsterzeugung des Menschen“, b) negativ: als Einseitigkeit einer idealistischen Gegenstandstheorie. Zu a) positiv: Das größte Verdienst der hegelschen Phänomenologie des Geistes sieht Marx zunächst darin, dass in ihr das Wesen der Arbeit als „Selbsterzeugung des Menschen“ erfasst werde, die Marx an anderer Stelle auch als „Selbsterzeugungs akt “ definiert1. Hegel sieht diesen scheinbar rein subjektiven Prozess als Teil des „Prozesses“ der Weltgeschichte an, der Subjekt und Objekt dialektisch miteinander verbindet – ein Prozess, der sich als „Vergegen-ständlichung“ vollzieht, und zwar mit den wesentlichen Momenten Entäußerung und Aufhebung der Entäußerung. Der Mensch „entäußert“ sich in der Arbeit an seinen Gegen-ständen, kehrt aber aus dieser Entäußerung wieder zurück, hebt sie in seinem Wissen auf. Als Synonyme für „Vergegenständlichung“ nennt Marx die Begriffe „Selbstgewinnung“, „Wesensäußerung“ und „Verwirklichung“ (ebd.).
Das gegenständlich gewordene Wissen ist allerdings „zunächst wieder nur in der Form der Entfremdung möglich“; d.h.: nur in diesem scheinbaren Verlust seiner selbst, nur in diesem Anderswerden, kann der Mensch „für sich“ werden und seine Identität in der hegelschen Einheit von Identität und Nicht-Identität finden.
Zu b) negativ: Im Hinblick auf die positive Erfassung des Wesens der Arbeit behauptet Marx, Hegel stehe „auf dem Standpunkt der modernen Nationalökonomie“ (a.a.O. S. 646). Fast an gleicher Stelle definiert Marx die Arbeit als „das Fürsichwerden des Menschen innerhalb der Entäußerung oder als entäußerter Mensch“ – und erkennt damit den Zusammenhang von Philosophie und Ökonomie darin, dass sie sich auf die gleiche Grundlage, das gleiche historische Substrat beziehen. Daher sieht Marx sich veranlasst, die Kritik der National-ökonomie zur Grundlage und Voraussetzung seiner Hegel-Kritik zu machen.
Im Hauptteil der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte findet sich daher eine ausführliche Analyse der entfremdeten Arbeit, wobei Marx scharf zwischen Vergegen-ständlichung und Entfremdung unterscheidet. Statt sich zu verwirklichen, entwirklicht sich der lohnabhängige Arbeiter im kapitalistischen Arbeitsprozess, und zwar dadurch, dass „die Vergegenständlichung als Verlust und Knechtschaft des Gegenstandes, die Aneignung als Entfremdung, als Entäußerung “ auftritt, und zwar in solchem Maße, „daß, je mehr Gegen-stände der Arbeiter produziert, er umso weniger besitzen kann und um so mehr unter die Herrschaft seines Produkts, des Kapitals, gerät“ (a.a.O. S. 561).
Genuss und Freude aus dieser Arbeit gewinne nur derjenige, der sich die Produkte aneignet, weil ihm die Produktionsmittel gehören: „Das Prvateigentum ist also das Produkt, das Resultat, die notwendige Konsequenz der entäußerten Arbeit, des äußerlichen Verhältnisses des Arbeiters zu der Natur und zu sich selbst“ (S. 571). Am tatsächlichen Arbeitsprozess innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft verdeutlicht Marx damit den wahren Grund für die Entfremdung des Menschen.
Mystifikationen des absoluten Wissens
Hegel habe die negative Seite der Arbeit nicht erkannt: „Die Arbeit, welche Hegel allein kennt und anerkennt, ist die abstrakt geistige “ (S. 646). Das Bewusstsein „überwindet“ dabei den Gegenstand, indem es ihn in sich aufnimmt, d.h. in Form der Reflexion (S. 647). Dadurch verliert der Gegenstand jedoch seine konkret-sinnliche Form des Dinges und wird als abstrakte Dingheit gesetzt (S. 649, so dass der Gegenstand als Entäußerung des (Selbst-) Bewusstseins erscheint. Damit nicht genug: Das Bewusstsein hebt diese Entäußerung auf und verwandelt so die abstrakte Dingheit in Nichtigkeit, was aber für das Selbstbewusstsein nicht nur negative, sondern auch positive Bedeutung hat: Es fühlt sich selbst bestätigt, da es weiß, dass das Gegenständliche als „Nichtigkeit“ seine Selbstentäußerung ist, die jedoch aufgehoben wird, so dass das Bewusstsein „in seinem Anderssein als solchem bei sich “ ist (S. 652).
Als Wissen gibt das Bewusstsein vor, unmittelbar das Andere seiner selbst zu sein, nämlich: Sinnlichkeit, Wirklichkeit und Leben (S. 654). Was einer der Gründe dafür ist, dass Hegel behauptet, das wahre Wesen von Natur, Religion, Staat und Kunst könne erst als Natur-, Religions-, Staats- und Kunst- Philosophie zum wahren Ausdruck und zur Geltung kommen (S. 656).
In höchster Aufhebung gelten diese abstrakt-dialektischen Entäußerungen des menschlichen Lebens als göttlicher Prozess, wobei Hegels Gott als „ absoluter Geist, die sich wissende und betätigende Idee “ erscheint, was tatsächlich aber nichts anderes ist als „ mystisches Subjekt-Objekt oder über das Objekt übergreifende Subjektivität“, d.h. Verabsolutierung des Subjekts, dem letztlich nichts übrigbleibt als „das reine, rastlose Kreisen in sich“ (S. 659), also Narzissmus, geistige Nabelschau: Der „absolute“ Geist beansprucht, Träger der Welt-geschichte zu sein, obwohl die Weltgeschichte selbst ihn erst als Resultat ihres Prozesses aus sich erzeugt, d.h. Bedingung der Möglichkeit seiner Existenz ist – eine Bedingung, die sich auch evolutionsgeschichtlich leicht belegen lässt.
Ein weiteres Anzeichen für die Schwäche der Absolutheits-Konstruktionen des Geistes sieht Marx in Hegels Übergang von der Logik zur Naturphilosophie. In der „Großen Logik“ versucht Hegel, die Eigenständigkeit der absoluten Idee aufzuweisen als „Darstellung Gottes vor der Erschaffung der Natur“ und als „das Reich des reinen Gedankens“. Um in der Naturphilosophie auf einen Inhalt zu kommen, muss sich die absolute Idee „aufheben“. Dies geschieht dadurch, dass sie die Natur, die sie – als pure Abstraktion – in sich verbarg, „frei aus sich entläßt“, woraus Marx schließt: „Die ganze Logik ist also der Beweis, daß das abstrakte Denken für sich nichts ist, daß erst die Natur etwas ist.“ (S. 660)
Der stets abstrahierende Denker schaut aber auch die Natur weiterhin abstrakt an; sie erscheint ihm als das Anderssein des Gedankens, als abstrakte Natur. Weil das Wahre wiederum nur in der Idee liegt, hat die Natur ihren Zweck nicht in sich, sondern nur als Bestätigung der Idee, deren „Äußerlichkeit“ sie bildet.
Dialektik
„Dialektik versucht, Sachverhalte im zeitlichen Ablauf, also in ihrer Veränderung zu begreifen.
Marx wies auf die Gemeinsamkeit von menschlichem Arbeitsprozess und geschichtlicher Vernunft (= Gott) bei Hegel hin:
„Das Arbeitsmittel ist ein Ding oder ein Komplex von Dingen, die der Arbeiter zwischen sich und den Arbeitsgegenstand schiebt und die ihm als Leiter seiner Tätigkeit auf diesen Gegenstand dienen. Er benutzt die mechanischen, physikalischen, chemischen Eigenschaften der Dinge, um sie als Machtmittel auf andere Dinge, seinem Zweck gemäß, wirken zu lassen.“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, 194.
….
„Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, dass er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewusster Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muss sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken.
In ihrer mystifizierten Form wurde die Dialektik deutsche Met-hode, weil sie das Bestehende zu verklären schien. In ihrer rationellen Gestalt ist sie dem Bürgertum und seinen doktrinären Wortführern ein Ärgernis und ein Gräuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordene Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffasst, sich durch nichts imponieren lässt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist.“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, 27f.
….
Der Kern der Marx’schen Denk- und Forschungsmethode ist, dass sie von den sich verändernden Tatsachen, von dem historischen Gegenstand ausgeht, nicht von einem feststehenden – wenn auch flexiblem – Begriffsapparat.
Hegel „entwickelt sein Denken nicht aus dem Gegenstand, son-dern den Gegenstand nach einem mit sich fertigen und in der abstrakten Sphäre der Logik mit sich fertig gewordenen Denken“. K. Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, MEW 1, 213.
„Dies Begreifen besteht aber nicht, wie Hegel meint, darin, die Bestimmungen des logischen Begriffs überall wiederzuerkennen, sondern die eigentümliche Logik des eigentümlichen Gegenstan-des zu fassen.“ K. Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, MEW 1, 296.
„Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegel’schen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozess, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Schöpfer des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts anderes als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, 27.
„,Für Marx ist nur eins wichtig: das Gesetz der Phänomene zu finden, mit deren Untersuchung er sich beschäftigt. Und ihm ist nicht nur das Gesetz wichtig, das sie beherrscht, soweit sie eine fertige Form haben und in einem Zusammenhang stehen, wie er in einer gegebenen Zeitperiode beobachtet wird. Für ihn ist noch vor allem wichtig das Gesetz ihrer Veränderung, ihrer Entwicklung, d. h. der Übergang aus einer Form in die andere, aus einer Ordnung des Zusammenhangs in eine andere. ...
Die Kritik (kann), ... weniger als irgendetwas anderes, irgendeine Form oder irgendein Resultat des Bewusstseins zur Grundlage haben ... Das heißt, nicht die Idee, sondern nur die äußere Erscheinung kann ihr als Ausgangspunkt dienen. Die Kritik wird sich beschränken auf die Vergleichung und Konfrontierung einer Tatsache, nicht mit der Idee, sondern mit der anderen Tatsache. Für sie ist es nur wichtig, dass beide Tatsachen möglichst genau untersucht werden ...‘ (Der russ. Rezensent I. I. Kaufmann über das ‚Kapital‘.)
Indem I. I. Kaufmann das, was er meine wirkliche Methode nennt, so treffend und, soweit meine persönliche Anwendung derselben in Betracht kommt, so wohlwollend schildert, was anderes hat er geschildert als die dialektische Methode?“ K. Marx, Nachwort zur 2. Auflage von Kapital I, MEW 23, 25ff.
„Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiedenen Entwicklungsformen zu analysieren und deren inneres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden.“ K. Marx, Nachwort zur 2. Auflage des Kapital I, MEW 23, 27.
„Übrigens löst sich in dieser Auffassung der Dinge, wie sie wirklich sind und geschehen sind ... jedes tiefsinnige philosophische Problem ganz einfach in ein empirisches Faktum auf.“ K. Marx, Deutsche Ideologie, MEW 3, 43.
„Nur dadurch, dass man an die Stelle der sich widersprechenden Dogmen die sich widersprechenden Tatsachen und die realen Gegensätze stellt, die ihren verborgenen Hintergrund bilden, kann man die politische Ökonomie in eine positive Wissenschaft verwandeln.“ K. Marx, Brief an Engels (1868), MEW 32, 181.“
(in: https://marx-forum.de/marx-lexikon/lexikon_d/dialektik.html)
Resultat: Naturalismus = Humanismus
Mensch und Natur erscheinen in Hegels System nur als Gegenstände der absoluten Idee und damit letztlich als „Nichtigkeiten“ (s.o.). Dies hat als erster Ludwig Feuerbach (1804-72) erkannt, der die Negation der Negation für einen Widerspruch der Philosophie mit sich selbst hält, so dass lediglich Religion und Theologie wiederhergestellt werden. Marx bezeichnet es daher als „große Tat“ Feuerbachs, der Negation der Negation „das auf sich selbst ruhende und positiv auf sich selbst begründete Positive“ entgegengestellt zu haben. (S. 639; was allerdings nicht bedeutet, dass Marx nunmehr zum Positivisten wird und auf die Dialektik verzichtet!)
Marx stützt sich offenbar auf Feuerbachs Anthropologie, wenn er das Wesen des Menschen u.a. wie folgt bestimmt: „Der Mensch als ein gegenständliches sinnliches Wesen ist ein leidendes und, weil sein Leiden empfindendes Wesen, ein leidenschaftliches Wesen. Die Leidenschaft, die Passion ist die nach seinem Gegenstand energisch strebende Wesenskraft des Menschen“ (S. 651 f.). Bei der Entwicklung seiner neuen Gegenständlichkeitstheorie geht Marx jedoch über den Standpunkt Feuerbachs hinaus, indem er feststellt: „Wenn der wirkliche, leibliche, auf der festen wohlgerundeten Erde stehende, alle Naturkräfte aus- und einatmende Mensch seine wirklichen, gegenständlichen Wesenskräfte durch seine Entäußerung als fremde Gegenstände setzt, so ist nicht das Setzen Subjekt; es ist die Subjektivität gegenständlicher Wesenskräfte, deren Aktion daher auch eine gegenständliche sein muß“ (S. 649).
Marx kennzeichnet solche Vergegenständlichung zunächst als praktische, gesellschaftliche Tätigkeit. Der andere Mensch begegnet dem Menschen gerade im und am Gegenstand der Arbeit, wobei Natur und Mensch eine Einheit bilden, in der sich erst Freiheit bilden und verwirklichen kann.
In der kapitalistischen Gesellschaft wird die freie Vergegenständlichung des Menschen jedoch verhindert, weil die auf dem Privateigentum beruhende Ausbeutung stets zur Entfremdung führt. Erforderlich erscheint daher die Aufhebung des zur Ausbeutung geeigneten („funktio-nierenden“) Privateigentums an den Produktionsmitteln, und zwar nicht durch „Zurücknahme des Gegenstands ins Bewußtsein“, sondern durch revolutionäre Aneignung des Gegenstands. In dieser Negation der Negation erkennt Marx eine Voraussetzung dessen, was Feuerbach als „das positiv auf sich selbst begründete Positive“ bezeichnet.
In diesem Sinne nennt Marx seine Lehre einen „ durchgeführten Naturalismus oder Humanismus “, der „sich sowohl von dem Idealismus als dem Materialismus unterscheidet, und zugleich ihre beide vereinigende Wahrheit ist“ (S. 649). Als geselliges, gesellschaftliches Wesen (das ‚zoon politikon‘ des Aristoteles) ist der Mensch vollkommen auf die Gesellschaft angewiesen, um nicht nur ein natürliches, sondern auch ein wahrhaft menschliches Wesen sein zu können: „Also die Gesellschaft ist die vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur“ (S. 596).
Vom Gebrauchswert zum Reich der Freiheit
In seinen späteren Werken, d.h. nach 1844, stützt und erweitert Marx seine Theorie durch gründliche Analysen der tatsächlichen Verhältnisse. Im Wesentlichen erwachsen daraus drei miteinander verbundene und ineinander übergehende Theorien: 1. eine kritische Theorie der Gesellschaft, 2. eine kritische Theorie der politischen Ökonomie (vor allem in: Das Kapital), 3. Eine Theorie der proletarischen Revolution. Diese Theorien im Einzelnen zu referieren, kann nicht meine Aufgabe sein.
Stattdessen komme ich auf die Marxschen Grund-Werte Gebrauchswert, Tauschwert und Mehrwert zurück, zumal diese für das Wert-Problem überhaupt von entscheidender Bedeutung sein könnten.
Gebrauchswert, Tauschwert, Mehrwert
Was uns „frommt“ und von Nutzen ist, lernen wir von Anfang an, d.h. teils schon vorgeburtlich, später nicht ohne Beeinflussung durch Sozialisation und Umwelt. Nützlich ist uns vielerlei: die Luft, die wir atmen, das Wasser, das wir trinken oder anderweitig verwenden, die Nahrung, die wir zu uns nehmen. Allerdings: die Atemluft müssen wir nicht bezahlen, natürlich auch dann nicht, wenn sie belastet ist; aber Wasser und andere Nahrungs- mittel müssen wir immer dann bezahlen, wenn wir sie als Waren in Anspruch nehmen.
Woraus folgt: Dinge können einen Nutzwert bzw. Gebrauchswert haben, auch wenn sie nicht käuflich zu erwerben sind. Denn Nutzwert und Gebrauchswert sind nicht immer identisch. Um zur Ware werden zu können, muss ein Ding – wie Marx im Kapital feststellt – auf jeden Fall einen Gebrauchswert haben, aber nicht für den Verkäufer, sondern für den Käufer, so dass jeglicher Gebrauchswert notwendigerweise gesellschaftlich bedingt ist, zumal gesellschaftliche Arbeit notwendig ist, um einer Ware nicht nur einen Gebrauchswert, sondern auch einen Tauschwert zu verleihen. (Wobei zu beachten ist, dass Marx – im Gegenzug zu Hegels „Weltgeist“ – die Arbeit sogar für den „Motor der Geschichte“ hält!)
Ein Gebrauchswert erweist sich als Qualität, ein Tauschwert als Quantität, ausgedrückt im Preis einer Ware (oder im Wert einer gegen die Ware getauschten anderen Ware). Der Tauschwert dient als Mittel des tatsächlichen Austauschs, genauer: Waren bekommen ihre Preise zugemessen, und zwar durch Kombinationen von Gebrauchswert und Tauschwert. Ein Pfund frische Bananen hat stets Gebrauchswert, aber nicht immer den gleichen Tauschwert, den gleichen Preis.
Und der Preis einer Ware birgt in sich ein weiteres „Geheimnis“: den Mehrwert. Wie dieser zu Stande kommt, erklärt Marx im Kapital folgendermaßen: „Wir wissen … bereits, daß der Arbeitsprozeß über den Punkt hinaus fortdauert, wo ein bloßes Äquivalent für den Wert der Arbeitskraft reproduziert und dem Arbeitsgegenstand zugesetzt wäre. Statt der 6 Stunden, die hierzu genügen, währt der Prozeß z.B. 12 Stunden. Durch die Betätigung der Arbeitskraft wird also nicht nur ihr eigner Wert reproduziert, sondern ein überschüssiger Wert produziert. Dieser Mehrwert bildet den Überschuß des Produktenwerts über den Wert der verzehrten Produktbildner, d.h. der Produktionsmittel und der Arbeitskraft.“ (Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, 1872, Köln 2005, S. 208.)
Der vom Kapitalisten abhängige Lohnarbeiter arbeitet also länger als zur Sicherung seines Überlebens bzw. seines Lebensunterhalts notwendig ist. Um wie viel er länger arbeiten muss, bestimmt der kapitalistische Besitzer der Produktionsmittel (Fabriken, Werkzeuge, Rohmaterialien usw.), so dass dieser Privateigentümer auch über den Umfang der zusätzlich produzierten Wertmenge entscheidet. Diese Wertmenge nennt Marx Mehrwert. Der Kapitalbesitzer eignet sich diesen Mehrwert an und bestimmt damit seinen Profit. Es ist Geld, über das er „frei“ verfügen kann; er kann es entweder für sich persönlich verwenden oder in den Produktionsprozess investieren. Jedenfalls wird aus Geld wieder Ware – und aus der Ware wieder Geld – die Grundlage der Kapital-Anhäufung (Akkumulation), desjenigen Kapitals, das heute nicht selten als Finanzkapital sein Unwesen treibt.
Aber genau diese Aneignung des Mehrwerts durch den Kapitalbesitzer hat es in sich, bleibt nicht ohne schwerwiegende gesellschaftliche Folgen. Ihr gegenüber steht nämlich die Ausbeutung der Arbeitskraft der Lohnabhängigen. Im Frühkapitalismus vergrößert sich deren entfremdete, elende Lage umso mehr, je mehr Kapital angehäuft und schließlich in einigen wenigen Monopolen zentralisiert wird. Es ist ein „wachsender Widerspruch“, ein ständig sich verschärfender Klassen-Gegensatz, in dem sich zuletzt nur noch zwei Klassen gegen-überstehen: die der ausbeutenden Kapitalisten und die der breiten Masse der Proletarier. Massenelend und zyklische Krisen (z.B. durch Überproduktion) bringen schließlich das Fass zum Überlaufen. Es kommt zur proletarischen Revolution, evtl. zu einer zeitweiligen Diktatur des Proletariats und zum Aufbau einer neuen Gesellschaft, in der die Arbeitenden selbst über die Produktionsmittel verfügen und bestimmen. Ziel der Revolution ist die „freie Assoziation freier Individuen“, das Reich der Freiheit in einer klassenlosen Gesellschaft.
Zur Theorie der Enfremdung
Nach Marx geht es beim Arbeitsprozess nicht um Religion und auch nicht nur um den „Geist“ (als Subjekt-Objekt-Beziehung schlechthin), sondern um die zweckvolle, zweckmäßige Tätigkeit des Menschen. Das fünfte Kapitel seines Hauptwerks „Das Kapital“ (1867) über-schreibt Marx mit dem Titel „Arbeitsprozeß und Verwertungsprozeß“. Den Menschen begreift er darin zunächst als Teil der Natur, als „Naturmacht“. Als solche trete der Mensch dem Ganzen der Natur mit bestimmten Absichten, Ziel- und Zwecksetzungen und Interessen gegenüber. Seine Kräfte benutze er, „um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen“.[2 ] Dieses „um … zu“, diese Zweckorientiertheit spielt in der gesamten Marxschen Analyse der Arbeit eine entscheidende Rolle.
Der wesentliche Unterschied zwischen der menschlichen Arbeit und den lebenserhaltenden Aktivitäten der Tiere liege in einer quasi teleologischen Planmäßigkeit. Der „zweckgemäße Wille“ des Arbeiters sei ein hervorragendes Mittel der dauernden Konzentration auf den Arbeitsprozess (a.a.O. S. 180). Weitere Zweck-Mittel-Relationen analysiert Marx hinsichtlich der Produktionsmittel, später auch hinsichtlich der Produktivkräfte Arbeit, Boden und Kapital. Seine Beschreibung des Arbeitsprozesses selbst fasst er wie folgt zusammen: „Der Arbeits-prozeß, wie wir ihn in seinen einfachen und abstrakten Momenten dargestellt haben, ist zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse, allgemeine Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens und daher unabhängig von jeder Form dieses Lebens, vielmehr allen seinen Gesellschaftsformen gleich gemeinsam.“ (a.a.O. S. 186, Hervorhebung durch mich). Damit dehnt Marx die Gültigkeit der Kategorie Zweckmäßigkeit auf die gesamte Gesellschaft aus.
Von den „einfachen und abstrakten Momenten“ der teleologisch geprägten Analyse des Arbeitsprozesses kann aber zweifellos nicht auf die Gesamtheit der Theorien von Marx und Engels geschlossen werden. – Davon abgesehen ist es möglich, die Grundstruktur einer Theorie ganzheitlich-teleologisch zu verstehen, d.h. zu analysieren und zu interpretieren, wenn darin bestimmte Phasen (bzw. Stufen) erkennbar sind. Diese Phasen sind:
Phase I: Der Ausgangszustand, bestimmte Ziel- oder Zweckursache(n). Phase II: Einsatz variabler Mittel zur Erreichung der angestrebten Ziele oder Zwecke. Phase III: Resultat, Ziel- oder Zweck-Erfüllung, End-Wirkung der Ursache(n).
Dieses Schema lässt sich anscheinend problemlos auf das Ganze, d.h. die wesentlichen Inhalte der Theorien von Marx und Engels übertragen, sobald eine weitere zentrale Kategorie ihrer Analyse der kapitalistischen Gesellschaft berücksichtigt wird: die der Entfremdung, die ja nicht nur die Arbeit , sondern die Gesellschaft als Ganze betrifft. Dann ergibt sich folgende Abstufung:
Phase I: die durch den Kapitalismus entfremdete Gesellschaft,
Phase II: emanzipatorisches Handeln mit dem Ziel der Beseitigung der Entfremdung,
Phase III: Aufhebung der Entfremdung, klassenlose Gesellschaft, freie Assoziation freier Individuen.
Zu Phase I: Entfremdung: Obwohl sich diese Phase anscheinend problemlos marxistisch konkretisieren lässt, bedarf es einiger Erinnerungen, um die entfremdete Gesellschaft als „Anfangszustand“, d.h. als Ziel- oder Zweckursache, verstehbar zu machen: Entfremdung entsteht – angeblich zwangsläufig – innerhalb des kapitalistischen Arbeitsprozesses, so dass Entfremdung vor allem in Form der entfremdeten Arbeit auftritt. Unterschieden werden hier folgende vier Grundformen:
1. Die Entfremdung des Arbeiters vom Produkt seiner Arbeit Da nicht der Arbeiter, sondern der Kapitalist über die Verwendung (den Mehrwert bzw. den Profit!) des Arbeitsprodukts bestimmt, wird dieses für den Arbeiter zu einem fremdartigen Wesen .
2. Die Entfremdung des Arbeiters von der Arbeit. Arbeitsteilung und Ausbeutung führen dazu, dass der Arbeiter sich in seiner Arbeit nicht heimisch, nicht bestätigt fühlt, zumal er die Gesamtzusammenhänge des Produktionsprozesses nicht zu überblicken vermag.
3. Die Entfremdung des Menschen von sich selbst. Wird dem Menschen die freie Selbstverwirklichung in schöpferischer Tätigkeit verwehrt, wird er seines Gattungswesens beraubt und tritt sich selbst als einem fremden Wesen gegenüber.
4. Die Entfremdung des Menschen vom Menschen. Hierzu schreibt Marx: „Überhaupt, der Satz, daß der Mensch seinem Gattungswesen entfremdet ist, heißt, daß ein Mensch dem andern, wie jeder von ihnen dem menschlichen Wesen entfremdet ist.“2 Ein allgemeiner Konkurrenzkampf droht an die Stelle von Gemeinsinn und Solidarität zu treten.
Phase II: Mittel und Wege der Emanzipation
Als Ziel der kommunistischen Bewegung nennt Marx u.a. „die Emanzipation der Arbeiterklasse und die darin enthaltene Umwälzung (Umwandlung) der Gesellschaft“.3 Der lateinischen Grundbedeutung des Verbs ‚emancipare‘ (‚aus den Händen nehmen‘) gemäß bedeutet Emanzipation zunächst ‚Befreiung von etwas‘. Gemeint ist die Befreiung von allen Formen der Entfremdung, insbesondere von Fremdbestimmung und Unterdrückung, um schließlich das Ziel der Selbstbestimmung zu erreichen. Als Voraussetzung hierfür müsse man, wie Marx es an einer vielzitierten Stelle seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie fordert, „alle Verhältnisse umwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ – zweifellos ein hoher Anspruch, dessen Tragweite auch heutzutage kaum überschaubar sein dürfte.
Die Mittel zur Erreichung der Ziele seien sowohl theoretischer als auch praktischer Natur: „Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. “4 Zwischen „Kopf“ und „Herz“ soll sich eine Wechselwirkung ergeben dergestalt, dass die Philosophie sich durch die Aufhebung des Proletariats verwirklicht; die Philosophie soll praktisch werden, um die Menschheit als Ganze von der Entfremdung zu befreien.
Phase III: Endzweck: Ende der Entfremdung, Freiheit des Einzelnen in einer freien Gesellschaft
In einer klassenlosen Gesellschaft wird die Entfremdung aufgehoben. Die dann erreichte Selbstbestimmung ermöglicht jedem einzelnen Menschen wahres Person- Sein5, d.h. freie Zweck- und Zielsetzungen (und Zweckerfüllungen!). In einer wirklich freien Gesellschaft wäre dafür gesorgt, dass die Menschen nicht immer wieder wegen unterschiedlicher Zweck- und Zielvorstellungen untereinander in Konflikt geraten. Es wäre dies die Aufhebung der „Heterogenität der Zwecke“. Was im Kapitalismus bloß heterogen, d.h. stets vor allem konfliktträchtig war, soll im (idealen) Sozialismus nicht etwa durch Gleichmacherei, sondern durch Gemeinsinn und harmonisches Miteinander ersetzt werden. „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen“ (jeder, und nicht: jedem !), müsste dann die Devise lauten. Nicht mehr der neidvolle, oft zerstörerische Konkurrenzkampf ums Dasein, sondern friedfertige, harmonische, menschenfreundliche Kooperation müsste das Leben des Individuums und der Gesellschaft bestimmen. Eine bloße Utopie? Marx und Engels glaubten jedenfalls an die Möglichkeit, sie zu verwirklichen. All ihre Hoffnung setzten sie auf eine Internationale Arbeiterbewegung mit dem Ziel der Aufhebung des Proletariats in einer klassenlosen Gesellschaft. Marx schreibt dazu: „Einmal die Arbeit emanzipiert, so wird jeder Mensch ein Arbeiter, und produktive Arbeit hört auf, eine Klasseneigenschaft zu sein.“[7 ]
Und er antizipiert die wahre Freiheit des Einzelnen und der Gesellschaft – die nicht bloß ein Hegelsches „Fortschreiten im Bewusstsein der Freiheit“ wäre –, indem er sagt: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entfaltung aller ist.“[8 ] Eine freie Assoziation freier Individuen erscheint somit als wesentliches Ziel der Emanzipation und unabdingbares Kennzeichen einer Klassenlosen Gesellschaft. Dabei geht es um wirkliche Freiheit im weitesten Sinne – und, wie gesagt, nicht etwa nur um Hegels „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“.
Diktatur des Proletariats‘ (DdP) bei Marx und Engels
Den Begriff ‚Diktatur des Proletariats‘ hat angeblich als erster der sozialistische Revolutionär Auguste Blanqui (1805-1881) im Jahre 1837 verwendet, allerdings ohne den Zusammenhang einer ausgearbeiteten sozialistischen Theorie. Letzterer fehlt auch bei Marx und Engels, die den Begriff nachweislich in ihren Werken wortwörtlich insgesamt nur 9 (!) mal benutzt haben. Dennoch gelten Marx und Engels als diejenigen Theoretiker, die dem Begriff erstmals zu politischer Bedeutung verholfen haben; was allerdings ohne Bezug a) zu deren Revolutionstheorie und b) zu deren Gesamtwerk nicht zu verstehen ist. Marx benutzt die ‚DdP‘ ab 1850 im Gegenzug zu dem, was er als „Diktatur des Kapitals“ (bzw. der Bourgeoisie) bezeichnet; eine „Klassendiktatur des Proletariats“ sei notwendig als „Durchgangspunkt zur Abschaffung der Klassenunterschiede überhaupt “.[9 ] Im bürgerlichen Staat sei es nicht möglich, das System der Lohnarbeit abzuschaffen. Denn jeder bis dato existierende Staat sei die „Diktatur einer Klasse“, d.h. „nichts als eine Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andere“.[10 ]
Es sind Theorie-Bestandteile, denen Marx und Engels nach und nach ständig wachsende Bedeutung für die Programmatik des Sozialismus/Kommunismus zumessen, und zwar als Antwort auf die Kernfrage, wie das Proletariat, die „lohnarbeitende Mehrheit“ des Volkes, die Macht im Staat erobern kann. Wobei stets zu beachten sei, dass „das Proletariat während der Periode des Kampfs zum Umsturz der alten Gesellschaft noch auf der Basis der alten Gesellschaft agiert und daher auch noch in politischen Formen sich bewegt, die ihr mehr oder minder zugehören.“ Daher entspreche der DdP eine „politische Übergangsphase“, die „nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zur klassenlosen Gesellschaft“ [11 ] bilde, wie Marx es ausdrückt. Mit anderen Worten: Der Klassenkampf führe zwar „notwendig zur Diktatur des Proletariats“, aber nicht als Dauerzustand, sondern nur als Übergangsphänomen, als vorübergehend notwendiges Mittel zum Zweck der Revolution.
Ähnlich äußert Marx sich im Hinblick auf die Pariser Commune von 1871 in seinem Werk Bürgerkrieg in Frankreich (1871). Die seinerzeitigen Maßnahmen der Commune fasst Engels (1891) wie folgt zusammen: „Beseitigung der alten Staatsmaschinerie, Abschaffung des stehenden Heeres, Bewaffnung des Volkes, Zusammenfassung von Legislative und Exe-kutive, Wahl und jederzeitige Abwählbarkeit aller Verwalter, Richter, Lehrer, Bezahlung aller öffentlich Bediensteten nach dem Arbeitslohn, gebundenes (imperatives) Mandat aller in Vertretungskörper gewählten Delegierten.“[12 ] – Wobei allerdings zu beachten ist, dass Marx seine Meinung hierzu in späteren Jahren (ab 1881) anscheinend in überraschender Weise geändert hat, da er nunmehr behauptet hat, die Pariser Commune habe seinerzeit die tatsächlichen Machtverhältnisse falsch eingeschätzt, sei also zumindest teilweise selbst schuld an ihrem Unglück.[13 ] – Weiteren Aufschluss hierüber vermittelt Astrid von Borche (1977), indem sie erklärt, Marx sei im Jahre 1881 sogar „zu einer Art reformistischer, gemäßigter Position“ gelangt, denn nun habe er der Pariser Commune vorgeworfen, seinerzeit die tatsächlichen Machtverhältnisse falsch eingeschätzt zu haben, denn „mit geringem Quantum common sense hätte sie … einen der ganzen Volksmasse nützlichen Kompromiß mit Versailles – das allein damals Erreichbare – erreichen können“ (a.a.O. S. 487); was natürlich auch Marxens Einschätzung einer DdP durch die Pariser Commune in anderem Licht erscheinen lässt.
Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass Engels weitere 10 Jahre später, 1891, in seinem Vorwort zu einer von ihm besorgten Neuausgabe von Marx‘ Bürgerkrieg in Frankreich, behauptet, die Pariser Kommune habe das verwirklicht, was Marx unter der „Diktatur des Proletariats“ verstanden habe – und dies, obwohl Marx den Begriff DdP an keiner Stelle des genannten Werks verwendet hat! Fraglich ist auch, ob Marx die von K. Hartmann behauptete Revision tatsächlich auf sämtliche Inhalte dieser Arbeit bezogen hat, in der es z.B. heißt: „Die Kommune beseitigt nicht den Klassenkampf …, aber sie schafft das rationelle Zwischen-stadium, in welchem dieser Klassenkampf seine verschiednen Phasen auf rationellste und humanste Weise durchlaufen kann.“[14 ] Marx verstand also die Machtübernahme durch die Kommune als Zwischenstadium und Fortführung des Klassenkampfes „auf rationellste und humanste Weise“! Wobei nicht zu bezweifeln ist, dass es sich bei der Pariser Kommune nicht um eine DdP im Sinne einer „Diktatur von oben“ handelte, sondern um eine Rätedemokratie mit Allgemeinem Stimmrecht. Und dies entspricht exakt dem, was Marx und Engels andernorts mehrfach über die Möglichkeit eines friedlichen Übergangs zum Kommunismus erklärt haben, so z.B. Marx: „In England zum Beispiel steht der Arbeiterklasse der Weg offen, wie sie ihre politische Macht entwickeln will. Ein Aufstand wäre dort eine Dummheit, wo man durch friedliche Agitation rascher und sicherer den Zweck erreicht.“[15 ] Und bei Engels, wenn auch in seiner Spätzeit, heißt es: „Man kann sich vorstellen, die alte Gesellschaft könne friedlich in die neue hineinwachsen in Ländern, wo die Volksvertretung alle Macht in sich konzentriert, wo man verfassungsmäßig tun kann, was man will, sobald man die Majorität des Volkes hinter sich hat: in demokratischen Republiken wie Frankreich und Amerika, in Monarchien wie in England, … wo diese Dynastie gegen den Volkswillen ohnmächtig ist.“[16 ] Dies ist unbedingt zu berücksichtigen, wenn man den Ansichten von Marx und Engels über die DdP gerecht werden will.
Nicht verschweigen sollte man allerdings die Tatsache, dass Marx versucht hat, den Begriff DdP auch tagespolitisch zu instrumentalisieren, und zwar in den Jahren 1871/72, als es in der 1. Internationalen Arbeiter-Assoziation (IAA) darum ging, einen Gegenspieler, den Anarchisten Bakunin, auszubooten. Marx bestand bei dieser Gelegenheit darauf, die DdP als „einzig richtiges“ Prinzip festzulegen[17 ], was dazu führte, dass die IAA sich spaltete und schließlich (1876) aufgelöst wurde. – Eine für Marx bittere Erfahrung, die wahrscheinlich dazu beitrug, dass er auch im letzten Jahrzehnt seines Lebens nicht mehr versucht hat, die DdP theoretisch zu fundieren. Ohnehin war es Marx und Engels nach der Pariser Kommune von 1871 nicht vergönnt, die DdP in einer revolutionären Situation zu erproben.
Ziel: „Absterben des Staates“, zunächst des Bürokratismus, nicht: andauernde Diktatur!
Über das Wesen des Staates geben Marx und Engels ausgiebig Auskunft. Marx schreibt: „Die herrschende Klasse (konstituiert) ihre gemeinschaftliche Herrschaft zur öffentlichen Gewalt, zum Staat.“ Und: „ Staats zwang, Bajonette, Polizei, Kanonen … (sind) weit entfernt, die Grundlage der Gesellschaft zu sein, nur eine Konsequenz ihrer eigenen Gliederung …“. Wirtschaft und Gesellschaft bilden die Grundlage des Staates, nicht umgekehrt, wozu Marx ausführt:
„Das materielle Leben der Individuen, welches keineswegs von ihrem bloßen Willen abhängt, ihre Produktionsweise und die Verkehrsform, die sich wechselseitig bedingen, ist die reelle Basis des Staats und bleibt es auf allen Stufen, auf denen die Teilung der Arbeit und das Privateigentum noch nötig sind, ganz unabhängig vom Willen der Individuen. Diese wirklichen Verhältnisse sind keineswegs von der Staatsmacht geschaffen, sie sind vielmehr die sie schaffende Macht.“[18 ]
Um eine sozialistische Umwälzung zu ermöglichen, gilt es folglich, zunächst die Machtverhältnisse zwischen Gesellschaft und Staat demokratisch zu gestalten. Marx und Engels halten dies auch auf parlamentarischem Wege (s.o.) für möglich, aber nur dann, wenn die parlamentarische Vertretung der Arbeiterklasse befugt ist, entsprechende Beschlüsse, z.B. auch über den Staatshaushalt, zu fassen.
Ein Haupthindernis für eine solche Umgestaltung sehen Marx und Engels in der sozusagen krakenhaften Ausbreitung der Bürokratie im kapitalistischen Staat, für deren Entstehung sie teils historische, teils praktische Gründe der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit ausfindig machen. Marx erklärt dazu:
„Die Bürokratie gilt sich selbst als der letzte Endzweck des Staats. Da die Bürokratie ihre „formellen“ Zwecke zu ihrem Inhalt macht, so gerät sie überall in Konflikt mit den „reellen“ Zwecken. Sie ist daher genötigt, das Formelle für den Inhalt und den Inhalt für das Formelle auszugeben. Die Staatszwecke verwandeln sich in Bürozwecke oder die Bürozwecke in Staatszwecke. Die Bürokratie ist ein Kreis, aus dem niemand herausspringen kann. Ihre Hierarchie ist eine Hierarchie des Wissens. Die Spitze vertraut den unteren Kreisen die Einsicht ins Einzelne zu, wogegen die unteren Kreise der Spitze die Einsicht in das Allgemeine zutrauen, und so täuschen sie sich wechselseitig. … Die Bürokratie hat das Staatswesen, das spirituelle Wesen der Gesellschaft in ihrem Besitze, es ist ihr Privateigentum. Der allgemeine Geist der Bürokratie ist das Geheimnis, das Mysterium, innerhalb ihrer selbst durch die Hierarchie, nach außen als geschlossene Korporation bewahrt. Der offenbare Staatsgeist, auch die Staatsgesinnung, erscheinen daher der Bürokratie als ein Verrat an ihrem Mysterium. Die Autorität ist daher das Prinzip ihres Wissens, und die Vergötterung der Autorität ist ihre Gesinnung. Innerhalb ihrer selbst aber wird der Spiritualismus zu einem krassen Materialismus, dem Materialismus des passiven Gehorsams, des Autoritätsglaubens, des Mechanismus eines fixen formellen Handelns, fixer Grundsätze, Anschauungen, Überlieferungen. Was den einzelnen Bürokraten betrifft, so wird der Staatszweck zu seinem Privatzweck, zu einem Jagen nach höheren Posten, zu einem Machen von Karriere. … Während die Bürokratie einerseits dieser krasse Materialismus ist, zeigt sich ihrer krasser Spiritualismus darin, daß sie Alles machen will, d.h. daß sie den Willen zur causa prima macht, weil sie bloß tätiges Dasein ist und ihren Inhalt von außen empfängt, ihre Existenz also nur durch Formieren, Beschränken dieses Inhalts beweisen kann. Der Bürokrat hat in der Welt ein bloßes Objekt seiner Behandlung.“[19 ]
Marx begnügt sich allerdings nicht mit solcher Kritik, sondern nennt auch ein Gegenmittel gegen die Bürokratie, das nahtlos in seine Revolutionstheorie überzugehen scheint, wenn er wenig später fordert: „Die Aufhebung der Bürokratie kann nur sein, daß das allgemeine Interesse wirklich und nicht, wie bei Hegel, bloß im Gedanken, in der Abstraktion zum besonderen Interesse wird, was nur dadurch möglich ist, daß das besondere Interesse wirklich zum allgemeinen wird.“ (a.a.O. S. 62).
Engels schreibt:
„Die Bürokratie ist eingesetzt worden, um Kleinbürger und Bauern zu regieren. Diese Klassen, in kleinen Städten oder Dörfern zersplittert, mit Interessen, die nicht über den engsten Lokalkreis hinausreichen, haben notwendig einen ihren beschränkten Lebens-verhältnissen entsprechenden beschränkten Gesichtskreis. Sie können keinen großen Staat regieren, sie können weder Überblick noch Kenntnisse genug besitzen, um die verschiedenen miteinander kollidierenden Interessen gegenseitig auszugleichen. Und gerade auf der Zivilisationsstufe, in die die Blüte der Kleinbürgerschaft fällt, laufen die verschiednen Interessen am allerverwickeltsten durcheinander […]. Die Kleinbürger und Bauern können also eine mächtige und zahlreiche Bürokratie nicht entbehren. Sie müssen sich bevormunden lassen, um der größten Verwirrung zu entgehen, um sich nicht durch Hunderte und Tausende Prozesse zu ruinieren.“[20 ]
Für Bauern und Kleinbürger war die Bürokratie also ein unabdingbares Mittel der Existenzsicherung, obwohl damit immer wieder auch Unterdrückung, Einschränkung und Freiheitsverlust verbunden waren. Negative Aspekte, die sich aber für die herrschende Bourgeoisie als durchaus „positiv“ erwiesen, weil die Bürokratie u.a. dazu diente, die eigenen Interessen gegen diejenigen der breiten Masse des Volkes durchzusetzen. – In dieser Funktion sahen Marx und Engels ein Erbe aus der Feudalzeit, einem System, das in seiner „modernen“ Version „am Ausgang der französischen Revolution, in den Jahren des napoleonischen Regimes“ entstand, und zwar als „ein Ergebnis der rückläufigen Bewegung der bürgerlichen Revolution“[21 ], wenn auch nicht immer im Einklang mit der Entwicklung der neu aufkommenden modernen Industrie. Hemmend wirkten vor allem einige eigentümliche Tendenzen der – großenteils verbeamteten – Bürokratie, darunter nicht zuletzt die der Verselbstständigung – bis hin zur Bildung eines „Staates im Staate“. So schreibt Marx über den Verwaltungs-Beamten, dass dieser glaube, „die Frage, ob sich seine Gegend wohl befinde, sei die Frage, ob er sie wohl verwalte. Ob die Verwaltungsmaximen und -Institutio-nen überhaupt gut sind, ist eine Frage, die außerhalb seiner Sphäre liegt, denn darüber kann nur von höhern Stellen geurtheilt werden.“[22 ] Der Beamte ist zufrieden, wenn „er selbst gut verwaltet“ (ebd.). Gelingt ihm dies jedoch nicht, suche er die Gründe für die Fehler nicht bei sich selbst, sondern „ außerhalb der Verwaltung …, theils in der Natur, die vom Menschen unabhängig, theils im Privatleben, das von der Verwaltung unabhängig, theils von Zufällen, die von Niemand abhängig“ (a.a.O. S. 24 f.). – Aus solchen Gründen sei die Bürokratie auch nicht in der Lage, die eigenen Systeme in eigener Regie zu kontrollieren und nötigenfalls zu reformieren. Stattdessen versuche sie, häufig in aggressiver Art und Weise, in allen Bereichen der Gesellschaft Fuß zu fassen und das Kommando zu übernehmen, und zwar unter ständiger Berufung auf „obrigkeitliche Erlaubnis“ (S. 25). Was sich vor allem in den Finanzen verheerend auswirke, weil „in einem bürokratischen Lande […] die Ausgaben zur Einziehung der Einnahmen auf einen Betrag anwachsen, der im Mißverhältnis zu den Einkünften selber steht“ (ebd.). Mit anderen Worten: Mit zunehmender Ausbreitung wird die Bürokratie zunehmend unrentabel, wie Marx und Engels auch an Beispielen aus Armee und Kirche veranschaulichen.
Wie solche Missstände beseitigt werden können, verdeutlichen Marx und Engels im Rückgriff auf das Vorbild Pariser Commune; die Kirche und Staat trennte, sämtliche Amtspersonen durch demokratische Wahl bestimmen ließ, Beamte nicht besser als Arbeiter bezahlte, Exekutive und Legislative zusammenlegte u.a.m. Nichtsdestoweniger erkannten Marx und Engels frühzeitig die Gefahren, die auch nach erfolgreicher sozialistischer Revolution von der Bürokratie ausgehen würden, und zwar schon auf Grund der Bedürfnisse der Industrie, speziell ihrer Großproduktion. Gerade hier würden spezielle, getrennte Leitungsgremien unbedingt erforderlich sein. Idealerweise sollte zwar jede/r Werktätige in der Lage sein, solche Leitungsfunktionen auszuüben; was sich aber schon in der Pariser Commune häufig als nicht praktikabel erwies. Hinzu trat das Dilemma der Sicherung der Arbeiterklasse „gegen ihre eignen Abgeordneten und Beamten“ (a.a.O. S. 29). Wie könnte verhindert werden, dass aus „proletarischen Beamten“ erneut Bürokraten würden? Sicherlich nicht durch Personenkult à la Lassalle, nicht durch noch so proletarisches Elitedenken und auch nicht durch „den Autoritätsglauben in Wissenschaft und Politik“ (ebd.).
Was dies aber für die Praxis einer sozialistisch neu zu gestaltenden Gesellschaft bedeuten würde, haben Marx und Engels ebenso wenig erproben können wie die Rätedemokratie oder die DdP.
Zur Ethik von Marx und Engels
Marxens Konzept eines humanistischen Naturalismus bzw. naturalistischen Humanismus liegt auch dem zu Grunde, was Matthias Möhring-Hesse als Marxens „erkennbare Ethik des angemessenen Lebens, Arbeitens und Zusammenlebens“ bezeichnet. Diese Ethik setzen Marx und Engels an die Stelle der Klassenmoral der Kapitalisten, mit der diese stets die Durch-setzung ihrer Interessen gegenüber den Lohnabhängigen gerechtfertigt haben; wozu Engels (in seinem Anti-Dühring) erklärt: „Wir weisen ... eine jede Zumutung zurück, uns irgend-welche Moraldogmatik als ewiges, endgültiges, fernerhin unwandelbares Sittengesetz aufzudrängen, unter dem Vorwand, auch die moralische Welt habe ihre bleibenden Prinzipien, die über der Geschichte und den Völkerverschiedenheiten stehn. Wir behaupten dagegen, alle bisherige Moraltheorie sei das Ergebnis, in letzter Instanz, der jedesmaligen ökonomischen Gesellschaftslage. Und wie die Gesellschaft sich bisher in Klassengegensätzen bewegte, so war die Moral stets eine Klassenmoral; entweder rechtfertigte sie die Herrschaft und die Interessen der herrschenden Klasse, oder aber sie vertrat, sobald die unterdrückte Klasse mächtig genug wurde, die Empörung gegen diese Herrschaft und die Zukunfts-interessen der Unterdrückten. Daß dabei im ganzen und großen für die Moral sowohl, wie für alle andern Zweige der menschlichen Erkenntnis ein Fortschritt zustande gekommen ist, daran wird nicht gezweifelt. Aber über die Klassenmoral sind wir noch nicht hinaus.“
Demgemäß fordert Marx in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie den „kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“, eine Forderung, die Marx allerdings nicht nur „aus Gründen verletzter Moralität“ erhebt, wie ein Kritiker behauptet, sondern vor allem in gesellschaftskritischer, revolutionärer Absicht. Durch den Bezug auf den quasi allumfassenden Objektbereich der „Verhältnisse“ verliert der Kantische Person-Begriff seine latent anthropozentrische Begrenztheit, während die gravierenden Mängel des Hegelschen Sittlichkeits-Konzeptes deutlich zu Tage treten. Die erhabenste Synthese von Sittlichkeit, Moral, Staat und Gesellschaft nützt nichts, wenn der Mensch kein selbstbestimmter Citoyen, sondern „ ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen “ ist.
Ähnliches gilt für Hegels Freiheitsbegriff, wonach Freiheit a) „Einsicht in die Notwendigkeit“ und b) „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ ist. Dagegen hält Marx die vollkommene Verwirklichung der Freiheit aller Menschen und damit seiner Ethik des angemessenen Lebens für möglich, wenn auch erst in einer Klassenlosen Gesellschaft, d.h. in einem Reich der Freiheit einer „freien Assoziation freier Individuen“, in dem dann selbstverständlich auch die Allgemeinen Menschenrechte in vollem Umfang verwirklicht wären.
Aus alledem geht klar und deutlich hervor, dass – im Gegensatz zu den von A. Ulfig vorgebrachten Thesen – die Lehren von Marx und Engels in der Tat eine Ethik des angemessenen Lebens enthalten, deren Komponenten sich wie folgt zusammenfassen lassen:
1. Entfremdung, Ausbeutung, Ungleichheit und Unterdrückung sind Kennzeichen kapitalistischer Herrschaft.
2. Alle bisherige Moral ist Klassenmoral, in der entweder die Herrschaft der herrschenden Klasse oder die Auflehnung der Unterdrückten gegen diese Herrschaft gerechtfertigt wurde.
3. Zu fordern ist der kategorische Imperativ , „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“.
4. Um wahre Freiheit für alle Menschen zu erringen, muss die kapitalistische Produktionsweise und mit ihr die Klassengesellschaft abgeschafft werden.
5. Das normative Nahziel des Sozialismus lautet: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“
6. Erst in einer Klassenlosen Gesellschaft kann die Ethik des angemessenen Lebens voll zum Tragen kommen und ein Reich der Freiheit in einer „freien Assoziation freier Individuen“ errichtet werden.[23 ]
In diesem Sinne gilt Marx und Engels auch die Religion als Hindernis der Emanzipation des Menschen und insbesondere als Herrschaftsinstrument der unheiligen Allianz von Thron und Altar. Dagegen vertreten Marx und Engels einen deutlich antiklerikalen Standpunkt. Religion bezeichnet Marx u.a. als „Opium des Volkes“.
Darüber hinaus: Dass Marx zumindest ansatzweise bereits eine Öko-Ethik erarbeitet hat, geht aus dem folgenden Text der ‚NaturFreunde‘ von 2018 hervor:
„Die neuere Marx-Forschung zeigt, dass sich Karl Marx genau wie Friedrich Engels intensiv mit der Ökologie und den Folgen der Ausbeutung der Natur auseinandergesetzt hat. So sprach Marx von einem „ökologischen Bruch“ und wies darauf hin, dass die Produktivkräfte an natürliche Grenzen stoßen werden. Dabei hat er eine erste Grundlage für eine systematische Theorie der Natur im Kapitalismus entworfen, die weit über den Fortschrittsoptimismus der damaligen Zeit hinausgegangen ist. Anders als viele Ökonomen der damaligen Zeit, die den ökologischen Problemen eine geringe bis gar keine Bedeutung zugemessen haben, hatte Marx in seinen Ausarbeitungen bereits intensiv über die Verknappung von Ressourcen, die Verschmutzung der Umwelt, über Bodendegradation und weitere Umweltprobleme durch den ausbeuterischen Charakter das Kapitalismus geschrieben. In seinen Exzerpten findet man ein ausgeprägtes Gespür für Umweltschäden durch die kapitalistische Produktionsweise.“ (In: https://www.naturfreunde.de/fachtagung-arbeit-gegen-natur-marx-und-die-oekologische-frage) Marx verbindet hier also die Kritik an der kapitalistischen Ausbeutung mit einer ökolo-gischen Kritik an dem durch diese Ausbeutung verursachte Schädigung von Natur und Um-welt.
Zur Ästhetik
Die Forderung nach einem „Sozialistischen Realismus“, wie er zu Sowjet- und DDR-Zeiten existierte, sucht man bei Marx und Engels vergeblich. Denn beide fundierten ihre Kunstauf-fassungen völlig anders. Kunstfähigkeit ist für sie ein Wesensmerkmal des Menschen, das in Vorformen bereits in grauer Vorzeit entstanden ist. Schon in den Ökonomisch-philo-sophischen Manuskripten von 1844 definiert Marx den Menschen als mit einem „ universel-len, darum freien Wesen“ begabt.[24 ] (Eine grundsätzliche Freiheit, die jedoch in Feudalismus und Kapitalismus durch Entfremdung großenteils verloren geht.) Das Gattungswesen des Menschen bestehe darin, dass er ein Bewusstsein von seiner eigenen Lebenstätigkeit entwickelt, wohingegen das Tier völlig mit seinem eigenen Leben und seiner eigenen Situiertheit identisch sei: „Das Tier ist unmittelbar eins mit seiner Lebenstätigkeit.“[25 ] Dagegen erbaut sich der Mensch in seiner eigenen Tätigkeit – bewusst – seine eigene „gegenständliche Welt“, und zwar in tendenziell universeller Art und Weise, nicht speziesgebunden wie das Tier.
Und hier schon erweist sich Ästhetik als weiteres Wesensmerkmal des Menschen:
„Das Tier formiert nur nach dem Maß und dem Bedürfnis der species, der es angehört, während er Mensch nach dem Maß jeder species zu produzieren weiß und überall das inhärente Maß dem Gegenstand anzulegen weiß; der Mensch produziert daher auch nach den Gesetzen der Schönheit.“[26 ]
Und doch gibt es gravierende Unterschiede und sogar ungleiche Entwicklungen zwischen der Herstellung von Kunst und der rein materiellen Produktion, obwohl beide gesellschaftlich be-dingt sind. Aber:
„ … die Schwierigkeit liegt nicht darin, zu verstehen, daß griechische Kunst und Epos an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist, daß sie für uns noch Kunstgenuß gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten.“ (Marx a.a.O. S. 125)
Das Verhältnis der Menschen zur Kunst verkompliziert sich also durch den historischen Zeitenabstand. Wieso können die „unerreichbaren Muster“ der altgriechischen Kunst uns Heutigen noch Kunstgenuss ermöglichen? Natürlich haben in der Kunstgeschichte nicht nur die alten Griechen Maßstäbe gesetzt. Marx und Engels können auf Sozialistischen Realismus, Proletkult usw. verzichten, weil sie vor allem die klassischen Maßstäbe anerkennen. Was jeglichen Lokalpatriotismus ausschließt, zumal Marx und Engels erkennen, dass sich z.B. die Literatur ihrer Zeit im Rahmen der um sich greifenden Globalisierung bereits zur Welt-literatur entwickelt hat, so dass sie im Kommunistischen Manifest erklären:
„Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur.“ (a.a.O. S. 218)
Was aber bedeutet Klassik für sie? Zu Lukrez (Lucretius Carus, ca. 96 – 55 v.Chr.) bemerkt Marx:
„Lukrez ist der echt römische Heldendichter, denn er besingt die Substanz des römischen Geistes; statt der heitern, kräftigen, totalen Gestalten des Homer haben wir hier feste, undurchdringliche gewappnete Helden, denen alle anderen Qualitäten abge-hen; den Krieg omnium contra omnes, die starre Form des Fürsichseins, eine entgöt-terte Natur und einen entwelteten Gott.“ (a.a.O. S. 288 f.)
Außerdem zitiert Marx Lukrez aus einem „kühnen donnernden Lied“, in dem der Dichter bekundet, er habe „mit strebendem Geiste unwegsame, von niemand betretene Musengefilde“ durchwandert, wobei es ihm vor allem darum gegangen sei, „den Geist aus den Banden der Religion zu befreien“; während Marx ihm bescheinigt, als „ein kühner freier Geist“ philoso-phiert zu haben (S. 289 f.). Künstlerische und gedankliche Freiheit sind aus Marxens Ästhetik nicht wegzudenken!
Demgemäß feiert er die Freizügigkeit der provenzalischen Troubadour-Lyrik, die sogar einen Wolfram von Eschenbach (ca. 1170-1220) nachhaltig inspiriert habe (S. 335 f.). Dante (1265-1321) war für Marx „der letzte Dichter des Mittelalters und der erste Dichter der Neuzeit“ (S. 354). Petrarca s Nachruhm lässt ihn an dessen Krönung auf dem Kapitol in Rom im Jahr 1341 als „König der Gebildeten und Dichter“ erinnern (S. 358). Von Pietro Aretino (1492-1556) zitiert er aus dessen Dubbi amorosi:
„Die ist zur Hure, der zum Bock geboren;
Und Regeln gibt’s für beiderlei Gemächte.
Manch eine Seel‘ ging hintenrum verloren.“ (S. 361)
Marx lobt William Shakespeare (1564-1616) u.a. deswegen, weil dieser das Wesen des Geldes hervorragend geschildert und dabei zwei besondere Eigenschaften hervorgehoben habe: 1. „die allgemeine Verwechslung und Verkehrung der Dinge“, weil das Geld – wie eine „sichtbare Gottheit“ – alles Menschliche ins Gegenteil verwandle, und 2. weil es „die allge-meine Hure, der allgemeine Kuppler der Menschen und Völker“ sei (S. 388).
Lange Passagen widmet Marx den französischen Freigeistern und Aufklärern von La Roche-foucauld bis Diderot (S. 413-438).Von La Rochefoucauld zitiert er aus den Maximen und Re-flexionen u.a.:
„Wir sind alle stark genug, um zu ertragen, was andern zustößt.“ Und:
„Wenn die Laster uns verlassen, schmeicheln wir uns mit dem Wahn, wir hätten sie verlassen.“ Und:
„Wir verzeihen oft denen, die uns langweilen, aber niemals denen, die wir lang-weilen.“ (S. 413)
Hinzufügen könnte man, ebenfalls von La Rochefoucauld: „On aime bien à deviner les autres, mais l’on n’aime pas être deviné.“ (‚Man liebt es sehr, die anderen zu erraten, aber man mag es nicht, selbst erraten zu werden.‘)
Engels lobt Goethes Werther, weil dieser keineswegs nur „ein sentimentaler Liebesroman“ sei, zumal Goethe in ihm „die sozialen Mißstände bei ihrer tiefsten Wurzel, bei ihrem religiös-philosophischen Fundament“, dargestellt habe (S. 470). Und in Friedrich Schillers Kabale und Liebe erkennt Engels „das erste deutsche politische Tendenzdrama.“ (S. 484)
Dabei bleiben Marx und Engels stets ihren universellen, kosmopolitischen Überzeugungen treu, zumal sie ihre kunst- und literarhistorischen Forschungen u.a. auch auf England, Russ-land, Österreich und die USA ausdehnen. Was nicht ausschließt, dass sie mit Heinrich Heine (1797-1856) eng befreundet waren und in Georg Weerth (1822-1856) den „ersten und bedeu-tendsten Dichter des deutschen Proletariats“ sahen (S. 229 ff., 290 ff.). Von Heine zitiert Engels aus Die schlesischen Weber, das er für „eines der eindringlichsten Gedichte“ über-haupt hielt. Es sind ergreifende Verse, in denen die Weber Deutschland mit einem Leichen-tuch vergleichen, in das sie hineinschreiben:
„Ein Fluch dem falschen Vaterlande,
Wo nur gedeihen Schmach und Schande,
Wo jede Blume früh geknickt,
Wo Fäulnis und Moder den Wurm erquickt –
Wir weben, wir weben!“ (S. 232)
Und zu Georg Weerth bemerkt Engels, jener wende „oft Heinesche Formen an, aber nur, um sie mit einem ganz originellen, selbständigen Inhalt zu erfüllen“ (S. 298). Im Übrigen habe Weerth Heine teilweise sogar übertroffen, und zwar im „Ausdruck natürlicher, robuster Sinnlichkeit und Fleischeslust“ (S. 299). Diese Leistung werde dazu beitragen, dass auch die deutschen Sozialisten eines Tages endlich „dies letzte deutsche Philistervorurteil, die verloge-ne spieß-bürgerliche Moralprüderie offen abwerfen, die ohnehin nur als Deckmantel für verstohlene Zotenreißerei gilt“ (ebd.). Und:
„Es wird nachgerade Zeit, daß wenigstens die deutschen Arbeiter sich gewöhnen, von Dingen, die sie täglich oder nächtlich selbst treiben, von natürlichen, unentbehrlichen und äußerst vergnüglichen Dingen ebenso unbefangen zu sprechen wie die romani-schen Völker, wie Homer und Plato, wie Horaz und Juvenal, wie das Alte Testament und die ‚Neue Rheinische Zeitung‘ “ (ebd.).
Dies sind natürlich Plädoyers für uneingeschränkten Realismus, der aber gerade deshalb kein speziell „sozialistischer“ zu sein hat, zumal Marx und Engels ihn mit größtmöglicher künst-lerischer Freiheit verbinden; und zwar ganz im Sinne der Tatsache, dass Kunst immer wieder freischöpferisch Synthesen aus Realität und Fiktion, Fakten und Phantasmen, Dichtung und Wahrheit erstellt.
Zusammenfassung
Die Marxschen Theorien lassen sich in folgenden Kernsätzen zusammenfassen:
1. „Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel.“
2. „Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarktes die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet.“
3. „An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlos-senheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander.“
4. Dies gilt für die materielle wie auch für die geistige Produktion.
5. Der zitierte Auszug aus Marx‘ und Engels‘ Kommunistischem Manifest von 1847 ist auf die aktuelle Globalisierungskrise als heutige Form der „Dauerkrise des Kapitalismus“ anzuwenden, die Marx diagnostiziert hat.
6. Marx entwickelt seine neuen, revolutionären Auffassungen u.a. durch massive Aus-einandersetzungen mit a) dem französischen Materialismus und Sozialismus (der Aufklärung), b) der deutschen Philosophie, insbesondere des Hegelschen Idealismus und c) der englischen Nationalökonomie jener Zeit.
7. Marx kritisiert Hegels Dialektik in doppelter Hinsicht, a) positiv: als „Selbsterzeugung des Menschen“, b) negativ: als Einseitigkeit einer idealistischen Gegenstandstheorie.
8. Hegel habe die negative Seite der Arbeit nicht erkannt: „Die Arbeit, welche Hegel allein kennt und anerkennt, ist die abstrakt geistige.“
9. Hegels „absoluter“ Geist beansprucht, Träger der Weltgeschichte zu sein, obwohl die Weltgeschichte selbst ihn erst als Resultat ihres Prozesses aus sich erzeugt, d.h. Bedingung der Möglichkeit seiner Existenz ist – eine Bedingung, die sich auch evolutionsgeschichtlich leicht belegen lässt.
10. Zu Hegel: „Die ganze Logik ist … der Beweis, daß das abstrakte Denken für sich nichts ist, daß erst die Natur etwas ist.“
11. „Das Prvateigentum ist … das Produkt, das Resultat, die notwendige Konsequenz der entäußerten Arbeit, des äußerlichen Verhältnisses des Arbeiters zu der Natur und zu sich selbst.“
12. In der kapitalistischen Gesellschaft wird die freie Vergegenständlichung des Menschen verhindert, weil die auf dem Privateigentum beruhende Ausbeutung stets zur Entfremdung führt.
13. Marx nennt (1844) seine Lehre einen „ durchgeführten Naturalismus oder Humanismus “, der „sich sowohl von dem Idealismus als dem Materialismus unterscheidet, und zugleich ihre beide vereinigende Wahrheit ist“.
14. Nach 1844 stützt und erweitert Marx seine Theorie durch gründliche Analysen der tatsächlichen Verhältnisse, woraus im Wesentlichen drei miteinander verbundene und ineinander übergehende Theorien erwachsen: 1. eine kritische Theorie der Gesell-schaft, 2. eine kritische Theorie der politischen Ökonomie (vor allem in: Das Kapital), 3. eine Theorie der proletarischen Revolution.
15. Dinge können einen Nutzwert bzw. Gebrauchswert haben, auch wenn sie nicht käuflich zu erwerben sind denn Nutzwert und Gebrauchswert sind nicht immer identisch.
16. Ein Gebrauchswert erweist sich als Qualität, ein Tauschwert als Quantität, ausgedrückt im Preis einer Ware (oder im Wert einer gegen die Ware getauschten anderen Ware).
17. Der vom Kapitalisten abhängige Lohnarbeiter arbeitet länger als zur Sicherung seines Überlebens bzw. seines Lebensunterhalts notwendig ist.
18. Um wie viel er länger arbeiten muss, bestimmt der kapitalistische Besitzer der Produktionsmittel (Fabriken, Werkzeuge, Rohmaterialien usw.), so dass dieser Privateigentümer auch über den Umfang der zusätzlich produzierten Wertmenge entscheidet. Diese Wertmenge nennt Marx Mehrwert.
Zur Theorie der Enfremdung
19. Nach Marx geht es beim Arbeitsprozess nicht um Religion und auch nicht nur um den „Geist“ (als Subjekt-Objekt-Beziehung schlechthin), sondern um die zweckvolle, zweckmäßige Tätigkeit des Menschen.
20. Seine Beschreibung des Arbeitsprozesses fasst Marx wie folgt zusammen: „Der Arbeitsprozeß, wie wir ihn in seinen einfachen und abstrakten Momenten dargestellt haben, ist zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse, allgemeine Bedingung des Stoff-wechsels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens und daher unabhängig von jeder Form dieses Lebens, vielmehr allen seinen Gesellschaftsformen gleich gemeinsam.“
21. Da die Entfremdung nicht nur die Arbeit , sondern die Gesellschaft als Ganze betrifft, ergibt sich folgende Abstufung:
Phase I: die durch den Kapitalismus entfremdete Gesellschaft,
Phase II: emanzipatorisches Handeln mit dem Ziel der Beseitigung der Entfremdung,
Phase III: Aufhebung der Entfremdung, klassenlose Gesellschaft, freie Assoziation freier Individuen.
22. In einer klassenlosen Gesellschaft wird die Entfremdung aufgehoben. Die dann erreichte Selbstbestimmung ermöglicht jedem einzelnen Menschen wahres Person- Sein, d.h. freie Zweck- und Zielsetzungen (und Zweckerfüllungen!).
Diktatur des Proletariats‘ (DdP) bei Marx und Engels
23. Der DdP entspreche eine „politische Übergangsphase“, die „nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zur klassenlosen Gesellschaft“ bilde, wie Marx es ausdrückt.
24. Der Klassenkampf führe zwar „notwendig zur Diktatur des Proletariats“ , aber nicht als Dauerzustand, sondern nur als Übergangsphänomen, als vorübergehend notwendiges Mittel zum Zweck der Revolution.
25. Ziel: „Absterben des Staates“, zunächst des Bürokratismus, nicht: andauernde Diktatur!
26. Um eine sozialistische Umwälzung zu ermöglichen, gilt es, zunächst die Macht-verhältnisse zwischen Gesellschaft und Staat demokratisch zu gestalten.
27. Marx und Engels halten dies auch auf parlamentarischem Wege für möglich, aber nur dann, wenn die parlamentarische Vertretung der Arbeiterklasse befugt ist, entsprechende Beschlüsse, z.B. auch über den Staatshaushalt, zu fassen.
28. Ein Haupthindernis für eine solche Umgestaltung sehen Marx und Engels in der sozusagen krakenhaften Ausbreitung der Bürokratie im kapitalistischen Staat, für deren Entstehung sie teils historische, teils praktische Gründe der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit ausfindig machen.
29. Wie solche Missstände beseitigt werden können, verdeutlichen Marx und Engels im Rückgriff auf das Vorbild Pariser Commune; die Kirche und Staat trennte, sämtliche Amtspersonen durch demokratische Wahl bestimmen ließ, Beamte nicht besser als Arbeiter bezahlte, Exekutive und Legislative zusammenlegte u.a.m.
30. Nichtsdestoweniger erkannten Marx und Engels frühzeitig die Gefahren, die auch nach erfolgreicher sozialistischer Revolution von der Bürokratie ausgehen würden, und zwar schon auf Grund der Bedürfnisse der Industrie, speziell ihrer Groß-produktion.
Zur Ethik von Marx und Engels
31. Alle bisherige Moral ist Klassenmoral, in der entweder die Herrschaft der herrschenden Klasse oder die Auflehnung der Unterdrückten gegen diese Herrschaft gerechtfertigt wurde.
32. Zu fordern ist der kategorische Imperativ , „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“.
33. Um wahre Freiheit für alle Menschen zu erringen, muss die kapitalistische Produk-tionsweise und mit ihr die Klassengesellschaft abgeschafft werden.
34. Das normative Nahziel des Sozialismus lautet: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“
35. Erst in einer Klassenlosen Gesellschaft kann die Ethik des angemessenen Lebens voll zum Tragen kommen und ein Reich der Freiheit in einer „freien Assoziation freier Individuen“ errichtet werden.
36. Zumindest ansatzweise hat Marx bereits eine Öko-Ethik erarbeitet.
Zur Ästhetik
37. Die Forderung nach einem „Sozialistischen Realismus“, wie er zu Sowjet- und DDR-Zeiten existierte, sucht man bei Marx und Engels vergeblich.
38. Schon in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 definiert Marx den Menschen als mit einem „ universellen, darum freien Wesen“ begabt.
39. In seiner eigenen Tätigkeit erbaut sich der Mensch – bewusst – seine eigene „gegen-ständliche Welt“, und zwar in tendenziell universeller Art und Weise, nicht spezies-gebunden wie das Tier.
40. „Das Tier formiert nur nach dem Maß und dem Bedürfnis der species, der es angehört, während er Mensch nach dem Maß jeder species zu produzieren weiß und überall das inhärente Maß dem Gegenstand anzulegen weiß; der Mensch produziert daher auch nach den Gesetzen der Schönheit.“
41. Marx und Engels können auf Sozialistischen Realismus, Proletkult usw. verzichten, weil sie vor allem die klassischen Maßstäbe anerkennen.
42. „Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur.“
43. Künstlerische und gedankliche Freiheit sind aus Marxens Ästhetik nicht wegzu-denken.
44. Engels lobt Goethes Werther, weil dieser keineswegs nur „ein sentimentaler Liebes-roman“ sei, zumal Goethe in ihm „die sozialen Mißstände bei ihrer tiefsten Wurzel, bei ihrem religiös-philosophischen Fundament“, dargestellt habe.
45. In Friedrich Schillers Kabale und Liebe erkennt Engels „das erste deutsche politische Tendenzdrama“.
46. Georg Weerth habe Heine teilweise übertroffen, und zwar im „Ausdruck natürlicher, robuster Sinnlichkeit und Fleischeslust“.
47. Marx und Engels verbinden uneingeschränkten – nicht speziell „sozialistischen“ – Realismus mit größtmöglicher künstlerischer Freiheit, und zwar ganz im Sinne der Tatsache, dass Kunst immer wieder freischöpferisch Synthesen aus Realität und Fiktion, Fakten und Phantasmen, Dichtung und Wahrheit erstellt.
2. Marx-Kritik
Unüberschaubar ist die Vielzahl von Analysen, Kommentaren, kritischen Würdigungen und Interpretationen der Marxschen Theorien. Praktisch und weltgeschichtlich sind diese überdies bedeutsam und relevant bis in die Gegenwart hinein. Das belegen eindrucksvoll schon die eingangs zitierten Sätze aus dem Kommunistischen Manifest, in denen die im 19. Jahrhundert voll einsetzende Globalisierung beschrieben wird. Zudem sind Marxens Theorien vielfältig weiter entwickelt worden; dabei zeitweise auch verzerrt, so im staatsoffiziellen Marxismus-Leninismus und im Maoismus. Jedenfalls wird die Marxsche Lehre sowohl an der Theorie als auch an der historischen Praxis gemessen. Letzteres ist auf engem Raum keineswegs darstell-bar.
Inwieweit die Marxsche Theorie gegenwärtig noch relevant und „aktuell“ ist, hängt u.a. davon ab, ob bzw. in welchem Maße sie sachlich-kompetenter Kritik Stand zu halten vermag. Wel-che Kritik damit gemeint sein kann, hängt von bestimmten Kriterien ab. Im Folgenden beschränke ich mich fast ausschließlich auf drei Autoren, die a) einen Überblick über die Marxschen Theorien im Ganzen bzw. b) davon wesentliche Aspekte, wie z.B. die Revolu-tions-Theorie, kritisch vermitteln. Dabei handelt es sich vor allem um Arbeiten der Philo-sophen Karl R. Popper (1902-1994) und Klaus Hartmann (1925-1991) sowie des Historikers Heinrich August Winkler (geb. 1938).
a) Poppers Kritik des Marxschen „Totalitarismus“
Marx wollte u.a. Hegels Philosophie kritisch beerben – in Sonderheit die Dialektische Methode. In seinen Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten von 1844 stellt er – zunächst positiv – fest:
„Das Große an der Hegelschen Phänomenologie und ihrem Endresultate – der Dialek-tik, der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip – ist also, einmal daß Hegel die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozeß faßt, die Vergegen-ständlichung als Entgegenständlichung, als Entäußerung, und als Aufhebung dieser Entäußerung; daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eigenen Arbeit begreift. Das wirkliche, tätige Verhalten des Menschen zu sich als Gattungswesen, als der Bestätigung seiner als eines wirklichen Gattungswesens – d.h. als menschlichen Wesens –, ist nur möglich dadurch, daß er wirklich alle seine Gattungskräfte, – was wieder nur durch das Gesamtwirken der Menschen möglich ist, nur als Resultat der Geschichte – herausschafft, sich zu ihnen als Gegenständen verhält, was zunächst wieder nur in der Form der Entfremdung möglich ist.“ Und Marx fügt hinzu: „Hegel steht auf dem Standpunkt der modernen Nationalökonomie. Er faßt die Arbeit als das Wesen, als das sich bewährende Wesen des Menschen; …“[27 ]
So weit Marxens positive Hegel-Kritik, der er unmittelbar die negative folgen lässt, denn im gleichen Satz erklärt er nach dem Semikolon:
„er sieht nur die positive Seite der Arbeit, nicht ihre negative. Die Arbeit ist das Fürsichwerden des Menschen innerhalb der Entäußerung oder als entäußerter Mensch. Die Arbeit, welche Hegel allein kennt und anerkennt, ist die abstrakt geistige. Was also überhaupt das Wesen der Philosophie bildet, die Entäußerung des sich wissenden Menschen oder die sich denkende entäußerte Wissenschaft, dies erfaßt Hegel als ihr Wesen; er kann daher der vorhergehenden Philosophie gegenüber ihre einzelnen Momente zusammenfassen und seine Philosophie als die Philosophie dar-stellen.“ (a.a.O. S. 269 f.)
Sowohl die Einzelheiten dieser Hegel-Kritik als auch Marxens Hegel gegenüber neues Konzept, nämlich die Analyse der entfremdeten Arbeit, habe ich bereits ausgeführt (s.o. S. 2-12), zusammengefasst in den Kernsätzen 9. bis 14.:
9. Hegels „absoluter“ Geist beansprucht, Träger der Weltgeschichte zu sein, obwohl die Weltgeschichte selbst ihn erst als Resultat ihres Prozesses aus sich erzeugt, d.h. Bedingung der Möglichkeit seiner Existenz ist – eine Bedingung, die sich auch evolutionsgeschichtlich leicht belegen lässt.
10. Zu Hegel: „Die ganze Logik ist … der Beweis, daß das abstrakte Denken für sich nichts ist, daß erst die Natur etwas ist.“
11. „Das Prvateigentum ist … das Produkt, das Resultat, die notwendige Konsequenz der entäußerten Arbeit, des äußerlichen Verhältnisses des Arbeiters zu der Natur und zu sich selbst.“
12. In der kapitalistischen Gesellschaft wird die freie Vergegenständlichung des Menschen verhindert, weil die auf dem Privateigentum beruhende Ausbeutung stets zur Entfremdung führt.
13. Marx nennt (1844) seine Lehre einen „ durchgeführten Naturalismus oder Humanismus “, der „sich sowohl von dem Idealismus als dem Materialismus unterscheidet, und zugleich ihre beide vereinigende Wahrheit ist“.
14. Nach 1844 stützt und erweitert Marx seine Theorie durch gründliche Analysen der tatsächlichen Verhältnisse, woraus im Wesentlichen drei miteinander verbundene und ineinander übergehende Theorien erwachsen: 1. eine kritische Theorie der Gesell-schaft, 2. eine kritische Theorie der politischen Ökonomie (vor allem in: Das Kapital), 3. eine Theorie der proletarischen Revolution.
Popper geht jedoch bei seiner Marx-Kritik nur beiläufig auf die Entfremdungstheorie ein; stattdessen hauptsächlich auf das, was Marx angeblich mit Hegel verbindet: den „Totalitaris-mus“. Besser verstehbar wird dies, wenn man sich die Entstehungsgeschichte von Poppers Hauptwerk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (erschienen 1945) vergegenwärtigt. In seinem Vorwort zur 7. deutschen Auflage 1992 schreibt Popper:
„Ich beschloß am 13. März 1938, dieses Buch zu schreiben – am Tag, als ich von Hitlers Einmarsch in Österreich hörte, meinem Heimatland; und ich beendete die erste Niederschrift vor genau 50 Jahren. Nachdem verschiedene Verlage es abgelehnt hatten, wurde es schließlich in London gedruckt unter dem Angriff von Hitlers ‚Ver-geltungswaffen‘: V 1 (unbemannte Bomber) und V 2 (große Raketen). Es erschien 1945, als der Krieg in Europa zu Ende ging, aber ich hatte es geschrieben als meinen Beitrag zu den Kriegsanstrengungen. Seine Tendenz war: gegen Nazismus und Kommunismus; gegen Hitler und Stalin, die einstigen Verbündeten des Hitler-Stalin-Pakts von 1939.
Ich verabscheute die Namen beider so sehr, daß ich sie in meinem Buch nicht erwähnen wollte. So ging ich auf Spurensuche in der Geschichte; von Hitler zurück zu Platon: dem ersten großen politischen Ideologen, der in Klassen und Rassen dachte und Konzentrationslager vorschlug. Und ich ging von Stalin zurück zu Karl Marx. Mit meiner Kritik an Marx wollte ich auch mich selbst kritisieren, da ich in meiner frühen Jugend selbst Marxist gewesen war und für einige Wochen sogar Kommunist. (Ich wendete mich noch vor meinem 17. Geburtstag von diesem Irrglauben ab.)“[28 ]
Tatsächlich behandelt Popper in den beiden Bänden weder den Stalinismus noch dessen Vor-läufer Lenin und auch nicht die faschistischen Totalitarismen von Mussolini, Hitler und Franco. Stattdessen versucht er, eine stringente Entwicklungslinie des Totalitarismus von Platon über Hegel und Marx zu den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts nachzuzeichnen. Wobei ihm zupass kommt, dass Marx tatsächlich erklärt hat, er wolle „Hegel vom Kopf auf die Füße stellen“ und dabei Hegels Idealismus durch empirisch gestützten dialektischen Materialismus ersetzen.
Popper bezeichnet Hegel zunächst als „die Quelle des Historizismus unserer Zeit“ und zugleich als “logischen Hexenmeister“, dem es dank seiner „zauberkräftigen Dialektik“ ge-lungen sei, „physische Kaninchen aus rein metaphysischen Zylinderhüten herauszuholen“.[29 ] Was Popper damit meint, fasst Franz Gmainer-Pranzl wie folgt zusammen:
„Als Ahnherr eines „Historizismus unserer Zeit“ (II, 35) sei Hegel zu benennen, dessen Philosophie – so Popper in durchaus drastischer Diktion – „die Renaissance der Ideologie der Horde“ (II, 39) darstelle; er verbinde „den Platonismus mit dem modernen Totalitarismus“ (II, 40). Die beiden Hauptsäulen der Hegelschen Philo-sophie seien die „Dialektik“ (II, 47) – die nach Popper „Kritik und Argumentieren unmöglich macht“ und sich als „doppelt verschanzter Dogmatismus“ (II, 49) etabliert – und die „Philosophie der Identität“ (II. 50), die „der Rechtfertigung der bestehenden Ordnung“ (ebd.) diene. Eine Folge des Hegelianismus sei der Aufstieg eines „totalitä-ren Nationalismus“ (II, 60), der gleichsam den Inbegriff einer geschlossenen Gesell-schaft bilde.“[30 ]
Popper führt auch ein starkes persönliches Motiv Hegels an, das diesen zur Begründung eines solchen fatalen Nationalismus angestachelt habe: die Unterstützung durch den preußischen König, seinen Arbeitgeber an der Berliner Universität. Hegel sei „der erste offizielle Philo-soph des Preußentums“ gewesen, „ernannt in einer Periode feudaler ‚Restauration‘ nach den napoleonischen Kriegen“.[31 ] Nicht zu unterschätzen sei „der ungeheure Einfluß“ seiner Philo-sophie schon zu seinen Lebzeiten und erst recht in der Nachwelt. In Wirklichkeit aber sei diese Philosophie wie “der moderne Totalitarismus … nur eine Episode des ewigen Aufstan-des gegen die Freiheit und gegen die Vernunft“ gewesen.[32 ] Den von Hegel inspirierten tota-litären „Führern“ sei es sogar gelungen, „einen der kühnsten Träume ihrer Vorgänger zu ver-wirklichen; sie machten den Aufstand gegen die Freiheit zu einer populären Bewegung“.[33 ] Und Gmainer-Pranzl fügt hinzu:
„Der durch den Hegelianismus formierte Totalitarismus weist Popper zufolge sechs Kennzeichen auf: (a) Nationalismus, der „Blut“, „Volk“ und „Rasse“ als sein „höch-stes Gut“ ansieht …; (b) ein „natürlicher“ Gegensatz eines Staates zu allen anderen Staaten, der notwendigerweise im Krieg ausgetragen werden müsse; (c) der Erfolg als zentrale Kategorie der Politik, die keine sittliche Verpflichtung kennt; (d) Krieg als erstrebenswertes Ziel; (e) das Führerprinzip als „Idee der weltgeschichtlichen Persön-lichkeit“ (II, 86); sowie (f) das Ideal des Heroismus.“ (a.a.O. S. 6)
Nichtsdestoweniger spricht Popper dem Hegelschen Denken jegliche Originalität ab, indem er polemisiert:
„Es gibt nichts in Hegels Schriften, das nicht vor ihm besser gesagt worden wäre. Es ist nichts in seiner apologetischen Methode, das er nicht von seinen apologetischen Vorgängern erborgt hätte. Aber diese erborgten Gedanken und Methoden widmete er einseitig, wenn auch ohne eine Spur von Talent, einem einzigen Ziel, dem Ziel, die offene Gesellschaft zu bekämpfen und auf diese Weise seinem Arbeitgeber, Friedrich Wilhelm von Preußen, zu dienen.“[34 ]
Radikaler und vernichtender kann Kritik kaum sein! Gmainer-Pranzl nennt sie eine Kritik der „faschistischen Version des Hegelschen Historizismus“ (a.a.O. ebd.). Zu welchen Irrtümern dieser geführt habe, zeigt sich laut Popper insbesondere an den „typischen dialektischen Verdrehungen“. Wobei zu beachten ist, dass Popper Hegels Dialektik nur in der Form der Triade These – Antithese – Synthese analysiert, nicht als die bei Hegel ebenso gängige Form Position – Negation – Negation der Negation. Auch behauptet Popper, Hegel verwende den Begriff Widerspruch stets im Sinne von ‚Widersinn‘, nicht – wie bei Hegel klar nachweisbar – als Gegensatz bzw. Entgegensetzung (wie bei der Negation der Negation !). Popper:
„Und der Grund, warum er Widersprüche zulassen will, ist sein Wunsch, die rationale Argumentation und damit den wissenschaftlichen und intellektuellen Fortschritt aufzu-halten. Indem er Kritik und Argumentation unmöglich macht, schützt er seine eigene Philosophie vor aller Kritik; so vor jedem Angriff sicher, kann sie sich als ein doppelt verschanzter Dogmatismus und als der unübertreffliche Gipfel der philosophischen Entwicklung etablieren.“ (Popper a.a.O. S. 49)
Popper wirft Hegel also vor, aus pur egoistischen Gründen eine Unsinns-Philosophie propa-giert zu haben, um der Wissenschaft bewusst und wissentlich zu schaden und damit im Grunde ausschließlich Preußens „Gloria“ zu huldigen. Ein maßloser, kaum erträglicher Vorwurf, auf den zurückzukommen sein wird (s.u.)!
Gravierend kommt hinzu, dass Popper mit Marxens Konzepten ähnlich umgeht. Die „marxistische Variante des Hegelschen Historizismus“ sei nämlich „die bis jetzt reinste, am weitesten entwickelte und gefährlichste Form des Historizismus“ (II, S. 96). Und Gmainer-Pranzl fügt hinzu:
„Das maßgebliche Problem bei Marx – dessen aufrichtigen Willen zu einer Verbesse-rung der menschlichen Lebensverhältnisse Popper ausdrücklich würdigt (II, 97) – bestehe in der falschen Überzeugung, „dass eine streng wissenschaftliche Methode auf einem strengen Determinismus beruhen müsse (II, 100); …“ Und: „Der Prozess der Befreiung und Emanzipation aber sei nach Marx als „Determination“ (II, 132) zu be-greifen: „Dieses soziale Netz, in dem die Klassen gefangen sind und das sie zwingt, einander zu bekämpfen, nennt der Marxismus die ökonomische Struktur der Gesell-schaft oder das Sozialsystem“ (ebd.). Dieses Sozialsystem arbeite „blind“ (II, 133); die darin gefangenen Menschen könnten weder etwas erkennen noch etwas verändern.“ (a.a.O. S. 6)
Popper nennt dies auch „das Elend des Historizismus“ (so der gleich lautende Titel eines Werks von Popper, das zuerst 1944 in Englisch, deutsch zuerst 1965 erschienen ist). Dazu schreibt er in seiner Beurteilung der Marxschen „Prophezeiung“:
„Die Argumente, die der historischen Prophezeiung Marxens zugrunde liegen, sind ungültig. Sein geistreicher Versuch, aus der Beobachtung zeitgenössischer ökonomi-scher Tendenzen prophetische Schlußfolgerungen zu ziehen, ist fehlgeschlagen. Der Grund für dieses Fehlschlagen ist nicht eine mangelnde empirische Basis der Beweis-führung. Marx soziologische und ökonomische Analysen der zeitgenössischen Gesell-schaft mögen etwas einseitig gewesen sein, aber trotz ihres Vorurteils waren sie aus-gezeichnet, soweit sie deskriptiv waren. Der Grund für sein Versagen als Prophet liegt gänzlich im ‚Elend des Historizismus‘, in der einfachen Tatsache, daß wir nicht wissen, ob eine historische Tendenz oder ein historischer Zug, den wir heute zu beobachten glauben, morgen genauso aussehen wird.“ (Popper a.a.O. II, S. 223)
In Folge dieses „Elends“ sei von Marx‘ Philosophie nur die „orakelnde Philosophie Hegels“ übrig geblieben (II, 229), eine Philosophie, die Popper ja zuvor bereits vernichtend kritisiert hatte (s.o.). – Was, wie ich meine, allenfalls dann zutreffen kann, wenn Popper dem Marxis-mus ein überzeugendes Gegen-Modell einer Offenen Gesellschaft entgegengestellt hätte, wozu Gmainer-Pranzl (a.a.O. S. 7) abschließend bemerkt:
„Mit dem Stichwort der „orakelnden Philosophie“ und dem Verweis auf die Demo-kratie wurden noch zwei Motive benannt, die im letzten Abschnitt der Offenen Gesell- schaft eine entscheidende Rolle spielen und nicht zuletzt das grundsätzliche Anliegen des Buches artikulieren: kritisches Denken und demokratische Haltung. Popper ging es schlussendlich nicht einfach um eine Widerlegung des Marxismus, sondern um eine Rekonstruktion der Voraussetzungen einer offenen Gesellschaft, die von der Über-zeugung ausgeht, „dass die Verbindung zwischen dem Rationalismus und einer huma-nitären Einstellung sehr eng ist“ (II, 281).
Wobei ohnehin klar ist, dass Popper meint, auf der Seite des Rationalismus und damit der „Ideen der Gleichheit und der Humanität“ (II, ebd.) zu stehen; wohingegen zwar auch der Irrationalismus „oft mit Humanität verbunden“ sei, ohne dass jedoch eine solche Verbindung „wohlbegründet“ sei, zumal „der Irrationalismus in den meisten Fällen zumindest einige autoritäre Züge“ aufweise (ebd.). Klar ist auch, dass Popper damit die von ihm vernichtend verurteilten Theorien von Hegel und Marx definitiv in den Bereich des Irrationalen, der „Ablehnung der Gleichberechtigung und einer antihumanitären Einstellung“ verweist (ebd.). –
Was von dieser Einschätzung Poppers zu halten ist, wird im Folgenden zu überprüfen sein, und zwar an Hand von Kernsätzen, mit denen sich Poppers Marx- und Hegel-Kritik zusammenfassen lässt.
Zusammenfassung von Poppers Marx- und Hegel-Kritik
1. Popper geht bei seiner Marx-Kritik nur beiläufig auf die Entfremdungstheorie ein; stattdessen hauptsächlich auf das, was Marx angeblich mit Hegel verbindet: den „Totalitarismus“.
2. Die Tendenz von Die offene Gesellschaft und ihre Feinde war: „gegen Nazismus und Kommunismus; gegen Hitler und Stalin, die einstigen Verbündeten des Hitler-Stalin-Pakts von 1939“.
3. Tatsächlich behandelt Popper in den beiden Bänden weder den Stalinismus noch dessen Vorläufer Lenin und auch nicht die faschistischen Totalitarismen von Mussolini, Hitler und Franco.
4. Stattdessen versucht er, eine stringente Entwicklungslinie des Totalitarismus von Platon über Hegel und Marx zu den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts nachzuzeichnen.
5. Popper bezeichnet Hegel zunächst als „die Quelle des Historizismus unserer Zeit“ und zugleich als “logischen Hexenmeister“, insbesondere a) wegen dessen „zauber-kräftiger Dialektik“ und b) wegen der „Philosophie der Identität“, die „der Rechtferti-gung der bestehenden Ordnung“ diene.
6. Eine Folge des Hegelianismus sei der Aufstieg eines „totalitären Nationalismus“, der gleichsam den „Inbegriff einer geschlossenen Gesellschaft“ bilde.
7. Popper führt ein starkes persönliches Motiv Hegels an, das diesen zur Begründung eines solchen fatalen Nationalismus angestachelt habe: die Unterstützung durch den preußischen König, seinen Arbeitgeber an der Berliner Universität.
8. Der moderne Totalitarismus sei „nur eine Episode des ewigen Aufstandes gegen die Freiheit und gegen die Vernunft“ gewesen.
9. Den von Hegel inspirierten totalitären „Führern“ sei es sogar gelungen, „einen der kühnsten Träume ihrer Vorgänger zu verwirklichen; sie machten den Aufstand gegen die Freiheit zu einer populären Bewegung“.
10. Popper spricht dem Hegelschen Denken jegliche Originalität ab.
11. Popper analysiert Hegels Dialektik nur in der Form der Triade These – Antithese – Synthese, nicht als die bei Hegel ebenso gängige Form Position – Negation – Negation der Negation.
12. Auch behauptet Popper, Hegel verwende den Begriff Widerspruch stets im Sinne von ‚Widersinn‘, nicht – wie bei Hegel klar nachweisbar – als Gegensatz bzw. Entgegen-setzung (wie bei der Negation der Negation !).
13. „Der Grund, warum er Widersprüche zulassen will, ist sein Wunsch, die rationale Argumentation und damit den wissenschaftlichen und intellektuellen Fortschritt aufzu-halten.“
14. Popper wirft Hegel vor, aus pur egoistischen Gründen eine Unsinns-Philosophie propagiert zu haben, um der Wissenschaft bewusst und wissentlich zu schaden und damit im Grunde ausschließlich Preußens „Gloria“ zu huldigen.
15. Die „marxistische Variante des Hegelschen Historizismus“ sei „die bis jetzt reinste, am weitesten entwickelte und gefährlichste Form des Historizismus“.
16. Das maßgebliche Problem bei Marx – dessen aufrichtigen Willen zu einer Verbesse-rung der menschlichen Lebensverhältnisse Popper ausdrücklich würdigt – bestehe in der falschen Überzeugung, „dass eine streng wissenschaftliche Methode auf einem strengen Determinismus beruhen“ müsse.
17. Laut Marx arbeite das Sozialsystem der kapitalistischen Klassen-Gesellschaft deterministisch, d.h. „blind“; „die darin gefangenen Menschen könnten weder etwas erkennen noch etwas verändern.“
18. Popper nennt dies auch „das Elend des Historizismus“.
19. „Die Argumente, die der historischen Prophezeiung Marxens zugrunde liegen, sind ungültig.“
20. „Der Grund für sein Versagen als Prophet liegt gänzlich im ‚Elend des Historizismus‘, in der einfachen Tatsache, daß wir nicht wissen, ob eine historische Tendenz oder ein historischer Zug, den wir heute zu beobachten glauben, morgen genauso aussehen wird.“
21. In Folge dieses „Elends“ sei von Marx‘ Philosophie nur die „orakelnde Philosophie Hegels“ übrig geblieben, eine Philosophie, die Popper zuvor bereits vernichtend kritisiert hatte.
22. Gmainer-Pranzl: „Popper ging es schlussendlich nicht einfach um eine Widerlegung des Marxismus, sondern um eine Rekonstruktion der Voraussetzungen einer offenen Gesellschaft, die von der Überzeugung ausgeht, >dass die Verbindung zwischen dem Rationalismus und einer humanitären Einstellung sehr eng ist<.“
Kritische Würdigung
Überraschenderweise gibt es – teilweise – Parallelen zwischen meiner Hegel-Kritik und derjenigen Poppers (vgl. u.a. „Hegels Setzungen“ in: Robra 2015, S. 406 ff.), mit dem Unter-schied, dass meine Kritik sich bisher nicht als unhaltbar erwiesen hat. Ein weiterer wesent-licher Unterschied besteht darin, dass Popper die Tatsache ignoriert, dass Hegel sein religiös bedingtes Totalitätsdenken des „Absoluten“ selbst ad absurdum geführt hat, und zwar dadurch, dass Gott in Hegels Totalitäts-Konstrukt zunächst als der allmächtige Schöpfer, Alleinherrscher und alleinige Lenker der Weltgeschichte auftritt, dann aber auf die Konkurrenz von „Weltgeist“ und „Volksgeistern“ trifft, bis er schließlich am Kreuz stirbt, um sodann im „Absoluten Wissen“ des Philosophen unterzugehen. Mit diesem „Wissen“ glaubt Hegel, sogar das Ganze der Welt erfassen zu können, behauptet er doch: „Das Ganze ist das Wahre.“ Und: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“ Demgemäß tritt das „Absolute Wissen“ an die Stelle der Herrschaft Gottes, so dass Hegels Denken insofern als „autokratisch“ bezeichnet werden kann. –
Mein Haupteinwand gegen Popper ist dieser: Popper macht Hegel und Marx für die politi-schen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts verantwortlich, ohne auf Leninismus, Stalinismus und Hitlerismus überhaupt einzugehen; und dies, obwohl das ganzheitliche Denken von Hegel und Marx völlig anders konzipiert und ausgestaltet ist und beide Denker nie politische Machthaber waren. Was dies im Einzelnen bedeutet, soll im Folgenden angegeben werden, und zwar an Hand der Kernsätze, mit denen ich Poppers Marx- und Hegel-Kritik zusammen-gefasst habe.
1. Popper lässt wesentliche Bestandteile der Marxschen Theorie – wie z.B. die Ethik, die Ästhetik und die DdP (s.o.) – außer Acht und wird ihr daher nicht gerecht. In seinem ganzheitlichen Denken unterscheidet Marx sich stark von Hegel (s.o. seine Hegel-Kritik). Auch dies übersieht Popper.
2. Obwohl Popper Hitlerismus und Stalinismus gar nicht behandelt, macht er Marx – in absurder und unzulässiger Weise – zu deren Vorläufer.
3. Wie zu 2.! Popper ignoriert außerdem die gravierenden Unterschiede zwischen Bolschewismus und Faschismus.
4. Wie zu 2.! Eine solche „Entwicklungslinie“ gibt es nicht. Hegel und Marx stehen beide nicht nur auf dem Standpunkt der modernen Nationalökonomie, sondern auch auf dem des Recht s und des Rechts-Bewusstseins. Dies im Unterschied zu Bolschewi-sten und Faschisten. – Popper ignoriert den enormen Einfluss, den Nietzsche sowohl auf Lenin als auch auf die Faschisten ausgeübt hat. Diese Entwicklungslinien zu ig- norieren, trägt zu Poppers Fehleinschätzungen bei.
5. Für Hegel ist Dialektik nicht „Zauberei“, sondern eine Eigenschaft der Sache selbst in Natur und Geschichte.
6. Hegel war Denker, nicht nationalistischer Machthaber, für deren Untaten er nicht verantwortlich ist.
7. Wie zu Nr. 6!
8. Hegel und Marx waren keine Feinde der Freiheit und der Vernunft.
9. Wie zu Nr. 6!
10. Eine Philosophie wie diejenige Hegels gab es vor ihm nicht.
11. Poppers Kritik ist völlig unzulänglich und unhaltbar.
12. Popper missversteht Hegels Begriff ‚Widerspruch‘.
13. Hegel behauptet das Absolute Wissen. Freiheit ist für ihn u.a. Freiheit im Bewusstsein.
14. Hegels Philosophie ist nachweislich kein Unsinn!
15. Eine solche „Variante“ existiert nicht. Vgl. zu Nr. 1! Marx versteht seine eigene Philo-sophie als Humanismus und Naturalismus.
16. U.a in seiner Ästhetik stellt Marx Anderes unter Beweis. Seine konkrete Utopie ist das Reich der Freiheit, nicht des Determinismus.
17. Laut Marx können die Menschen u.a. ein Klassen-Bewusstsein bzw. ein revolutionäres Bewusstsein entwickeln.
18. Der Begriff „Historizismus“ beruht auf Poppers verfehlter Kritik an Hegel und Marx. Wenn Popper schon von „Historizismus“ spricht, hätte er zumindest Hegels Geschichtsphilosophie (‚ Die Vernunft in der Geschichte‘) und Marxens Geschichts-auffassung ausführlich behandeln müssen.
19. Popper verschweigt den wahren Grund für das Scheitern der Marxschen Revolutions-theorie: die exorbitante, von Marx nicht vorhergesehene Ausbreitung des kapitalisti-schen Kolonialismus und Imperialismus.
20. Wie zu Nr. 19!
21. Poppers Kritik an Marx und Hegel ist obsolet.
22. Auf dieser verfehlten Kritik beruht Poppers Konzept der „offenen Gesellschaft“. Hegel und Marx „Irrationalismus“ vorzuwerfen, ist abwegig. Die „offene“ Gesell-schaft ist so lange nicht offen, wie die Soziale Frage ungelöst ist und sich die sozialen Ungleichheiten trotz aller kleinschrittigen Maßnahmen immer mehr ausweiten. Offen-bar lassen diese Probleme sich mit Poppers „Sozialtechnik der kleinen Schritte“ nicht nachhaltig lösen.
Für aufschlussreich halte ich außerdem die Tatsache, dass Klaus Hartmann (1970, S. 8) Poppers Methode nicht als kritisch-rational, sondern als „positivistisch“ bezeichnet hat; was insofern berechtigt zu sein scheint, als Popper ja die Dialektik heftig kritisiert und eine „ob-jektive“ Erkenntnis postuliert, und zwar im Widerspruch zu seiner eigenen Theorie der Falsi-fikation.
b) Die Marxsche Theorie in der Sicht von Klaus Hartmann (1970)
Der Autor, ein Philosophie-Professor, der an den Universitäten Bonn und Tübingen gelehrt hat, grenzt sich zunächst von einigen Tendenzen des seinerzeitigen Historismus ab, darunter auch von Habermas, dem Hartmann einen „weichen Standpunkt“ des Materialismus beschei-nigt.[35 ]
Als bedeutendste „Marx-Kritik von positivistischer Seite“ bezeichnet er Poppers Kritik am „historicism“ (den er allerdings mit ‚Historismus‘ übersetzt). Anders als Popper hält er Hegels Philosophie allerdings nicht für „oracular“, sondern für eine Form von dialektischer Onto-logie. Demgegenüber habe Popper nicht verstanden, was der Begriff ‚Kategorie‘, zumal in Hegelscher Fassung, bedeute, nämlich einen „Begriff, der gewisse Wirklichkeiten als begreif-bar setzt“ (a.a.O. S. 9), so dass es Popper nicht gelinge, überhaupt eine begründende Theorie zu entwickeln. Dagegen bejaht Hartmann Hegels dialektisches Denken (das Popper ja ebenfalls heftig kritisiert) nahezu uneingeschränkt, räumt aber ein, dass sein Endergebnis in Bezug auf Marx mit demjenigen Poppers übereinstimmen könne (ebd.).
Hartmann stimmt Hegel sogar hinsichtlich dessen Lehren vom „objektiven“ und „absoluten“ Geist zu. In Hegels Kategoriensystem habe die Vernunft sich selbst verstanden und dabei eine „außerordentlich weitgehende Konkretheit der Inhalte erreicht“ (S. 21). Genauer:
„Hegel spricht nicht nur über Sein und Seiendes, oder über Sein und Subjekt, sondern auch über subjektiven, objektiven und absoluten Geist. Diese Philosophie ist also eine Totalität sowohl systemtheoretisch wie inhaltlich, und zwar eine Totalität philosophi-scher Erfassung des Seins.“ (ebd.)
Den „objektiven Geist“ habe Hegel in seiner Realphilosophie als „das konkret Allgemeine“ insbesondere von Familie, Gesellschaft und Staat dargestellt, wobei der Staat „die krönende Totalität solcher Pluralität“ und „höchste reale Wirklichkeit“ sei, und zwar im Dienste von Vernunft und Freiheit (S. 51). Die dazu passenden Kategorien würden auch in Hegels Rechts-philosophie exemplifiziert. Geschichte sei nichts anderes als die „Entwicklung des Staates“ (!, S. 52), was Hegel auch in seiner Geschichtsphilosophie näher artikuliert habe. Außerdem habe dieser seine Definition des Geistes als „das sittliche Leben eines Volks, insofern er die unmittelbare Wahrheit ist“[36 ] ist ist gesteigert zu der Auffassung, der Staat sei eine „Entelechie des Geistbegriffs“.[37 ] Erst im Staat werde der Geist „gegenständlich“, der Staat somit zu einer „Amplifikation des Geistes“ (ebd.).
Wobei es Hartmann anscheinend wenig stört, dass Hegel dabei zu einer „Distanzierung gegenüber der Demokratie gelangt“ (S. 101). Hegel könne nunmal keine Theorie „von unten“ geben, zumal er „für natürliche Unterschiede“ optiere, wie sie – nicht zuletzt im preußischen Staat – z.B. in Form von Ständen und Fürsten-Dynastien anzutreffen seien (ebd.).
K. Hartmann zu Marxens Hegel-Kritik
Dagegen sei Marx sehr wohl bemüht, eine „Theorie der Demokratie“ zu entwickeln (102). In der Tatsache, dass Hegel die allgemeine und gleiche Wahl rundweg ablehnt, sieht Marx u.a. einen Versuch, die Legislative (bzw. die Gewaltenteilung!) zu diskreditieren. Demgemäß fragt Hartmann, ob Marx denn in der Lage ist, „die Konstitution des Volkes als Staat ‚von unten‘“ darzustellen. Dazu passe jedenfalls nicht, dass Marx „die gesetzgebende Gewalt“ als „die Totalität des politischen Staates“ ausgebe. Dies sei, so Hartmann, „paradox“, weil Marx verlange, alle Einzelpersonen als solche sollten die gesetzgebende Gewalt konstituieren, aber einräumen müsse, dass „erst eine Sozietät, die Einzelnen in politischer Funktion“ diese Gewalt überhaupt bilden könnten (112).
Im Übrigen missverstehe Marx Hegel gründlich, weil er dessen wahre Absicht, „eine trans-zendentale oder spekulative Kategorienlehre zu geben“, nicht erkenne. Was aus dieser Absicht in Hegels System entstanden ist, sei keineswegs per se „entfremdet“ (wie Marx behaupte). Hegel verwende neue, konkrete kategoriale Inhaltsbestimmungen, wohingegen Marx bei der „Selbsterzeugung des Menschen“ verharre, ohne Hegels höheren Sphären des Geistes in dessen Kategorien-System gerecht zu werden. Hartmanns Fazit:
„Marxens Kritik der Hegelschen Philosophie, insbesondere der Phänomenologie, ist brillant und dennoch unbefriedigend, da sie der Rationalität und Anlage der Hegel-schen Philosophie nicht gerecht wird, vielmehr diese gegen einen anthropologischen Standpunkt ausspielt.“ (123)
Marx habe sich in den Bereich der Anthropologie verirrt, weil er versuchen wollte, „die Ver-wirklichung der Philosophie von der Wirklichkeit her zu denken“ (128), wobei er schließlich bei einem „undialektischen Idealismus“ gelandet sei (129), in welchem der Ansatz bei der Anthropologie völlig unangemessen sei (132).
zu K. Hartmanns Kritik der Marxschen Konzepte
Wie Ernst Bloch einmal (?) in Tübingen erklärte, muss man, um von Hegel zu Marx zu kommen, „durch den Feuerbach gehen“, will sagen: den anthropologischen Weg durchschrei-ten. K. Hartmann lehnt dies rundweg als „unangemessen“ ab und überträgt dieses Verdikt auf das gesamte Marxsche Theoriegebäude, das er (von S. 126 bis zum Schluss auf S. 585) gründ-lich analysiert und kritisiert, allerdings ohne die beiden Verfahren – Analyse und Kritik –strikt voneinander zu trennen. Hauptpunkte seiner Kritik sind:
1. Marxens anthropologischer Ansatz beim entfremdeten Gattungsleben des Menschen führt zu einem „Zirkel der Erklärung der Entfremdung“ (151), genauer:
„Es besteht in der Ökonomie ein Zirkel, wonach die entäußerte Arbeit das entfremdete Produkt setzt, und die Arbeit entfremdet ist, weil das Produkt sie entfremdet.“ (ebd.)
Nach Marx sei das Produkt entfremdend „nicht weil es einem anderen gehört, … sondern weil es durch entfremdete Arbeit gesetzt ist“ (150). Was aber ist hier das Frühere: „das entfremdete Produkt oder die entfremdete Produktion“? Mit dieser – angeblich nicht entscheidbaren – Frage drehe man sich, sagt Hartmann, im Kreise.
2. Ähnliches gelte für Marxens Bestimmung des Verhältnisses von Arbeit und Privateigentum an den Produktionsmitteln. Marx führe das Privateigentum auf „entäußerte Arbeit“ zurück. Einerseits existiert daher das Privateigentum durch die entfremdete Arbeit, andererseits aber auch die Entfremdung durch das Privateigentum. Dabei stelle sich die Person als die Arbeit heraus, wie Marx erklärt: „Das subjektive Wesen des Privateigentums, das Privateigentum als für sich seiende Tätigkeit, als Subjekt, als Person ist die Arbeit.“ (155) Und mit dem dialekti-schen Begriff ‚Wesen‘ könne man auch „die Beziehung von Kapital und Arbeit denken“ (ebd.). Wobei Marx laut Hartmann nicht von einer „gutartigen Arbeit“ ausgeht, sondern stets nur von der entfremdeten Arbeit (158). Folglich stünden sich Kapital und Arbeit stets feind-lich gegenüber, ein Konflikt, der durch keinerlei „sozialen Ausgleich“ zu überwinden sei, so dass nur eine post-revolutionäre „Sozialkonzeption des Kommunismus“ Abhilfe schaffen könne. Dabei halte Marx den Kommunismus fälschlicherweise für „reelle, nicht > philosophi-sche, abstrakte Philanthropie<“ (173). Denn die „Inhalte des objektiven Geistes“ könnten im Kommunismus kaum zum Tragen kommen, zumal dieser von Marx allenfalls als „Epiphäno-men“ von Geistigem bestimmt sei (ebd.)
3. Hartmann: „Die entfremdete Arbeit, zirkelhaft verknüpft mit dem Privateigentum, ist das negative Prinzip der Theorie“ (178). Der bekannte Grund hierfür liege in der negativen anthropologischen Basis der Marxschen Kritik. Folglich behandelt K. Hartmann Letztere nunmehr als „negative transzendentale Theorie“, die „paradox und trivial“ zugleich sei.
4. Mit seiner Ideologiekritik wolle Marx die Philosophie ad absurdum treiben, um für seine eigene anthropologisch-ökonomische Theorie Platz zu schaffen (195). Unter das Verdikt der „Ideologie“ – einer Theorie „mit Betrugsabsicht“ – stelle Marx die gesamte nachhegelsche Philosophie, wovon er Feuerbach weitgehend ausnehme. Dabei erweise sich sein Ideologie-begriff als „ zwiespältig “, weil er praktisch und theoretisch zugleich sein wolle.
5. „Die materialistische Wendung“ (204 ff.). Marx fasse die Wirklichkeit als „Extrem zur Philosophie“ und den dialektischen Materialismus als „Gegenhalt zur Ideologiekritik“ auf (204). Wobei Marx von den tatsächlichen Lebensbedingungen und dem konkreten Verhalten wirklicher Individuen ausgehen wolle, während letztere jedoch von „falschem Bewusstsein“ infiziert und behindert sein könnten (207 f.). Zugleich wolle er das Denken als „arbeitsteilige Produktion“ von der Basis her analysieren, verfehle dabei jedoch den eigentlichen Wahrheits-anspruch des Denkens (210).
6. Im Marxschen „Klassentheorem“ werde das Kapital zu einem „Automaten der Entfrem-dung“, wobei die gesellschaftlichen Beziehungen „völlig durch ökonomische Verhältnisse ge-prägt und unpersönlich geworden“ seien (211). Erst das Proletariat das Proletariat vermöge es, den Klassen-Antagonismus zu überwinden, und zwar durch einen „Ruck“: die Revolution. Dieses Vermögen entspringe aus revolutionärem Klassen-Bewusstsein.
7. Die Marxsche Theorie – als Materialismus gedacht – sei „täuschend“. Genauer:
„ … sie ist es, indem sie das für eine Kritik bloß Vorausgesetzte – das nationalökono-mische Faktum, für das eine systematische Substruktion gegeben wird – in einer posi-tiven Theorie dialektisch hergeleitet haben will, also Voraussetzung in Assertion ver-wandelt“ (228).
(„Substruktion“? Wohl deshalb, weil Marx „von unten her“ konstruiert. Hartmanns Vorwurf: Marx verwandele die Voraussetzung Nationalökonomie in ein eigenes Konstrukt, ein Resultat der eigenen Analyse.) Dadurch sei aus der Marxschen Kritik eine seltsame Art von „Meta-physik“ geworden; aber – trotz Dialektik – nicht als Rückbesinnung auf oder Annäherung an Hegel, denn dessen „ rekonstruierendes und kategoriales Verfahren habe Marx ja gründlich missverstanden (243).
8. Folglich sei es nicht verwunderlich, dass die Sozialgeschichte in den auf Marx folgenden Epochen völlig anders verlaufen sei als von Marx vorhergesehen. Zwar gebe es auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer noch „soziale Diskrepanz“, aber, so Hartmann:
„ … eine Polarisierung von Klassen, so wenig sie jemals wie in der Theorie vorlag, ist durch Fluktuation und Mobilität innerhalb des Systems, durch die Herrschaft des Lei-stungssystems usw., weiter aufgelockert worden zugunsten einer pluralistischen Ge-sellschaft. Die Klassenentwicklung zeigt genauso wie die ökonomisch Entwicklung seit Marx die Tendenz zum Ausgleich, zur Reflexion der Sozialpartner aufeinander. … Genauso wie bei der ökonomischen Entwicklung hat die soziale Entwicklung in den westlichen Ländern eine Struktur verwirklicht, die nicht der Marxschen Theorie entspricht.“ (465)
9. Dagegen könne man Marxens Revolutionstheorie nur als „transzendentale Täuschung“ bezeichnen (487). Die „Mißlichkeit“ dieser Position werde schon klar, wenn man sich Marxens Umgang mit der Hegelschen Theorie vor Augen halte. Marx habe Hegels „geistige und logische Theorie“ einfach und fehlerhaft auf Natur und Materie übertragen, und zwar mit der Begründung, dass „Geistiges bloßer Reflex des Seins“ sei (552). „Lapidarer“ Materialis-mus mutiere dabei zur „ Zweckideologie “; genauer erklärt Hartmann:
„Die Lehre ist Zweckideologie in dem Sinn, daß sie uns auf eine besondere Klasse oder Gruppe verpflichten will, ein Eingelassensein in diese oder in die Gegenklasse behauptet und danach Praxis vorschreibt und Prognose gibt; allgemeiner theoretisch, daß sie sich, in der näheren Theorie des Kapitals, durch ihre Wesenslogik, die trans-zendentale Täuschung und die geschichtliche Hypostasierung als nicht-falsifizierbar gibt. Soweit zu unterstellen ist, daß sie die Möglichkeit von Alternativen einsehen könnte, aber nicht anerkennt, wäre sie reflektierte Ideologie, Ideologie des prakti-schen Insistierens, oder anders gewendet, Suggestion, Einschüchterung usw. Sie wird Glaube gegen Wissen, ist engagierter Gesamtentwurf der Geschichte und der Wirk-lichkeit, insistiert auf der Geschichte als Klassenkampf, d.h. sie negiert die Möglich-keit von Alternativen in der Praxis und in der systematischen Theorie, wie sie die ideologie-unbeschwerte Vernunft aufstellen würde.“ (562 f.)
Darüber könne auch Marxens „Wendung zum Politischen“, d.h. zur vorrevolutionären Theorie und Praxis, nicht hinwegtäuschen (vgl. S. 484 ff.).
Ähnliches gelte für Marxens Humanismus, denn bei diesem handele es sich „teils um naive Ideologie, teils um Abwehrtheorie, teils um reflektierte (bewußte, unehrliche) Ideologie, die gerad e das humanistische Moment bei Marx polemisch wendet“ (573).
Hartmanns Fazit
Einige Konzepte und Gedanken Marxens könne man durchaus anerkennen, vielleicht sogar in eine neue Wirtschafts- und Gesellschafts-Theorie integrieren. Im Übrigen sei aber „ Marxens Einstellung zur Philosophie rückgängig zu machen“ (584). Denn:
„Marx opponiert aus den falschen Gründen gegen die Philosophie, will eine Alternati-vität von Theorie und Praxis, wiederum dargestellt in einer Theorie, der Kritiktheorie, will Algorithmus statt Denken, dargestellt im Denken, will ‚Überphilosophie‘, will Kritik statt Affirmation, und liefert darin gerade wieder Philosophie, verstrickt sich in Probleme der transzendentalen Linearität und der Wesenslogik statt daß er rationale Lösungen gäbe.“ (ebd.)
Und K. Hartmann schließt das Ganze mit den Sätzen:
„Allgemein lässt sich sagen: Marxens Lehre leidet an einer Theorie-Utopie; sie ist nicht nur Theorie von etwas Utopischem, sondern Utopie eines Theorietyps. Nur wenn der Argwohn gegen Philosophie, gegen die Fähigkeit des Denkens, Wahrheit zu liefern, aufgegeben wird, wenn eine Konsonanz von Theorie und Praxis wieder zuge-lassen wird – an der im übrigen Ethik, Ökonomietheorie und Staatslehre hängen –, ist auch Wahrheit im sozialen und praktischen Bereich wieder möglich.“ (585)
Wobei zu beachten ist, dass Hartmann Marxens Ethik allenfalls beiläufig erwähnt. Im Übrigen wirft er Marx vor, eine Nicht-Theorie geliefert und dabei das Denken incl. Wahrheitsanspruch verraten zu haben. So, als ob Marx seine Theorie nicht durchdacht hätte und mit seinem eigenen Denken keinerlei Wahrheitsanspruch verbunden hätte. Dies ist die Quintessenz von Hartmanns umfassender, insgesamt vernichtender Marx-Kritik, die zu überprüfen sein wird, und zwar an Hand der folgenden
Zusammenfassung in Kernsätzen.
1. Hartmann stimmt Hegel sogar hinsichtlich dessen Lehren vom „objektiven“ und „absoluten“ Geist zu.
2. In Hegels Kategoriensystem habe die Vernunft sich selbst verstanden und dabei eine „außerordentlich weitgehende Konkretheit der Inhalte erreicht“.
3. Den „objektiven Geist“ habe Hegel in seiner Realphilosophie als „das konkret Allgemeine“ insbesondere von Familie, Gesellschaft und Staat dargestellt, wobei der Staat „die krönende Totalität solcher Pluralität“ und „höchste reale Wirklichkeit“ sei, und zwar im Dienste von Vernunft und Freiheit.
4. Die dazu passenden Kategorien würden auch in Hegels Rechtsphilosophie exemplifiziert. Geschichte sei nichts anderes als die „Entwicklung des Staates“ (!), was Hegel auch in seiner Geschichtsphilosophie näher artikuliert habe.
5. Außerdem habe dieser seine Definition des Geistes als „das sittliche Leben eines Volks, insofern er die unmittelbare Wahrheit ist“ ist ist gesteigert zu der Auffassung, der Staat sei eine „Entelechie des Geistbegriffs“. Erst im Staat werde der Geist „gegenständlich“, der Staat somit zu einer „Amplifikation des Geistes“.
6. Zu Hegels „Distanzierung gegenüber der Demokratie“: Hegel könne nunmal keine Theorie „von unten“ geben, zumal er „für natürliche Unterschiede“ optiere, wie sie – nicht zuletzt im preußischen Staat – z.B. in Form von Ständen und Fürsten-Dynastien anzutreffen seien.
7. Marx verlange, alle Einzelpersonen als solche sollten die gesetzgebende Gewalt konstitu-ieren, müsse aber einräumen, dass „erst eine Sozietät, die Einzelnen in politischer Funktion“ diese Gewalt überhaupt bilden könnten; dies sei „paradox“.
8. Marx missverstehe Hegel gründlich, weil er dessen wahre Absicht, „eine transzendentale oder spekulative Kategorienlehre zu geben“, nicht erkenne. Was aus dieser Absicht in Hegels System entstanden ist, sei keineswegs per se „entfremdet“ (wie Marx behaupte).
9. Marx habe sich in den Bereich der Anthropologie verirrt, weil er versuchen wollte, „die Verwirklichung der Philosophie von der Wirklichkeit her zu denken“, wobei er schließlich bei einem „undialektischen Idealismus“ gelandet sei, in welchem der Ansatz bei der Anthropo-logie völlig unangemessen sei.
10. Marxens anthropologischer Ansatz beim entfremdeten Gattungsleben des Menschen führe zu einem „Zirkel der Erklärung der Entfremdung … in der Ökonomie …, wonach die entäußerte Arbeit das entfremdete Produkt setzt, und die Arbeit entfremdet ist, weil das Produkt sie entfremdet.“
11. Ähnliches gelte für Marxens Bestimmung des Verhältnisses von Arbeit und Privat-eigentum an den Produktionsmitteln.
12. Laut Marx stünden sich Kapital und Arbeit stets feindlich gegenüber, ein Konflikt, der durch keinerlei „sozialen Ausgleich“ zu überwinden sei, so dass nur eine post-revolutionäre „Sozialkonzeption des Kommunismus“ Abhilfe schaffen könne.
13. Hartmann: „Die entfremdete Arbeit, zirkelhaft verknüpft mit dem Privateigentum, ist das negative Prinzip der Theorie“. Der bekannte Grund hierfür liege in der negativen anthropo-logischen Basis der Marxschen Kritik, einer „negativen transzendentalen Theorie“, die „paradox und trivial“ zugleich sei.
14. Unter das Verdikt der „Ideologie“ – einer Theorie „mit Betrugsabsicht“ – stelle Marx die gesamte nachhegelsche Philosophie, wovon er Feuerbach weitgehend ausnehme.
15. Marx fasse die Wirklichkeit als „Extrem zur Philosophie“ und den dialektischen Materialismus als „Gegenhalt zur Ideologiekritik“ auf, verfehle dabei jedoch den eigentlichen Wahrheitsanspruch des Denkens.
16. Im Marxschen „Klassentheorem“ werde das Kapital zu einem „Automaten der Entfrem-dung“, wobei die gesellschaftlichen Beziehungen „völlig durch ökonomische Verhältnisse ge-prägt und unpersönlich geworden“ seien.
17. Erst das Proletariat das Proletariat vermöge es, den Klassen-Antagonismus zu über-winden, und zwar durch einen „Ruck“: die Revolution. Dieses Vermögen entspringe aus revolutionärem Klassen-Bewusstsein.
18. Hartmanns Vorwurf: Marx verwandele die Voraussetzung Nationalökonomie in ein eigenes Konstrukt, ein Resultat der eigenen Analyse. Dadurch sei aus der Marxschen Kritik eine seltsame Art von „Metaphysik“ geworden.
19. Marxens Revolutionstheorie könne man nur als „transzendentale Täuschung“ bezeichnen.
20. „Lapidarer“ Materialismus mutiere dabei zur „ Zweckideologie “ … „in dem Sinn, daß sie uns auf eine besondere Klasse oder Gruppe verpflichten will, ein Eingelassensein in diese oder in die Gegenklasse behauptet und danach Praxis vorschreibt und Prognose gibt“.
21. Darüber könne auch Marxens „Wendung zum Politischen“ in vorrevolutionärer Theorie und Praxis nicht hinwegtäuschen.
22. Ähnliches gelte für Marxens Humanismus, denn bei diesem handele es sich „teils um naive Ideologie, teils um Abwehrtheorie, teils um reflektierte (bewußte, unehrliche) Ideologie, die gerade das humanistische Moment bei Marx polemisch wendet“.
23. K. Hartmann: „Allgemein lässt sich sagen: Marxens Lehre leidet an einer Theorie-Utopie; sie ist nicht nur Theorie von etwas Utopischem, sondern Utopie eines Theorietyps.“
24. Und: „Nur wenn der Argwohn gegen Philosophie, gegen die Fähigkeit des Denkens, Wahrheit zu liefern, aufgegeben wird, wenn eine Konsonanz von Theorie und Praxis wieder zugelassen wird – an der im übrigen Ethik, Ökonomietheorie und Staatslehre hängen –, ist auch Wahrheit im sozialen und praktischen Bereich wieder möglich.“
25. Dennoch könne man einige Konzepte und Gedanken Marxens durchaus anerkennen, vielleicht sogar in eine neue Wirtschafts- und Gesellschafts-Theorie integrieren.
Kritische Würdigung
Die Lehre vom „subjektiven, objektiven und absoluten“ Geist hatte Hegel im Anschluss an Schelling s Definition des Geist-Begriffs[38 ] entwickelt. Demnach gibt es Geist in der Natur (!) und im Menschen, in der Natur als „ objektive Subjekt-Objekt-Dialektik“, im Menschen als „ subjektive“. Es sind konstruierte Vorstellungen, deren theologischer Ursprung relativ leicht erkennbar ist: Gott als Schöpfer manifestiere sich – gemäß religiöser Überzeugung – in seinen Schöpfungen, sei in ihnen erkennbar; was dem Panentheismus entspricht, wonach „Gott in allem“ aufzufinden sei. Hegel überträgt diese Vorstellungen von der Natur und vom Menschen auf die Geschichte und die Gesellschaft im Ganzen (s.o.).
Als wissenschaftlich haltbar hat sich inzwischen jedoch nur die Auffassung erwiesen, dass im menschlichen Geist dialektische Subjekt-Objekt-Beziehungen walten, und zwar vor allem auf Grund der neuronalen Aktivitäten der Großhirnrinde, die natürlich mit dem ganzen Körper und folglich mit dem Menschen als Subjekt in Verbindung stehen. Bewusstseins-Inhalte werden als mentale Objekte verarbeitet (hierzu: Jean-Pierre Changeux 1983), wobei die Un-terschiede zwischen Innen- und Außenwelt ebenso wenig tangiert werden wie die zwischen Personen und Sachen. Personen sind als Subjekte Rechtspersonen, Sachen nicht, obwohl beide, sowohl die Personen als auch die Sachen, im Bewusstsein als mentale Objekte erschei-nen und verarbeitet werden.
Zur Frage nach der Dialektik,
einer nach wie vor umstrittenen Frage. Gibt es sie überhaupt, die Dialektik? Und wenn ja, nur im Einzelmenschen oder auch in Natur, Geschichte und Gesellschaft? Antworten auf Fragen dieser Art finden sich in der Studie von Alfred Dandyk: Der Begriff der Dialektik in der Philosophie Sartres.[39 ] Darin heißt es:
„Sartre: Sein und Erkenntnis sind nicht identisch. Sein und Erkenntnis sind nicht voneinander separiert. Vielmehr ist das Sein Negation des Erkennens, und das Erkennen empfängt sein Sein aus der Negation des Seins.
Sartres Position entwickelt sich durch Kritik an den Positionen seiner Vorgänger:
Kants Dichotomie von Sein und Erscheinen ist falsch. Das Sein erscheint so, wie es ist. Das Für-sich-sein ist ein Bezug zum An-sich-sein. Insofern stimmt Sartre der Kritik Hegels an Kant zu.
Hegels Identifizierung von Sein und Erkenntnis ist falsch. Der Weltgeist Hegels existiert nicht. Das Subjekt der Geschichte ist der Mensch in seinem Lebenskampf. Insofern stimmt Sartre der Kritik Marx‘ an Hegel zu.
Engels‘ Identifizierung von Natur und Sein ist falsch. Erkenntnis ist nicht nur Erkenntnis der Naturgesetze. Kultur lässt sich nicht auf Natur reduzieren. Die Dialektische Vernunft ist nicht mit der Analytischen Vernunft identisch. Die Erkenntnis entspricht nicht einer bloßen Widerspiegelung der äußeren Welt. Wäre die Erkenntnis eine bloße Widerspiegelung der äußeren Welt, würde die Erkenntnis im Sinne der Erhellung des Seins verschwinden. Die Erkenntnis wäre nichts anderes als eine Kopie des Seins.
Subjekt-Objekt-Dualität: Die Subjekt-Objekt-Dualität ist falsch. Genauer gesagt: Sie ist als eine Abstraktion zu betrachten. Die Subjekt-Objekt-Dualität gleicht einem versteckten Spiritualismus. Das vom Objekt separierte Subjekt ist ein Phantom.
…
Das Verhältnis zwischen dem Objekt und dem Subjekt ist … nicht die Isoliertheit, sondern die ekstatische Verknüpfung. Das Für-sich ist Bezug zum An-sich. Ohne das An-sich wäre das Für-sich das reine Nichts. Es ist nur deswegen mehr als das Nichts, weil es Bezug zum An-sich ist. Vom An-sich isoliert würde das Für-sich in sich zusammenfallen, ohne Grundlage im Sein würde es in den Abgrund des Nichts stürzen. Hier ist der Bezug der Teile zum Ganzen und des Ganzen zu den Teilen entscheidend. In diesem Sinne ist es angebracht, von einer Subjekt-Objekt-Dialektik zu sprechen.“
Festzuhalten bleibt wohl, dass Sartre Hegels Geistbegriff ablehnt, während er Marxens Hegel-Kritik zustimmt. Wissenschaftlich haltbar ist die Subjekt-Objekt-Dialektik im Menschen (s.o.) und damit im Geschichtsverlauf, nicht jedoch Engels‘ ‚Dialektik der Natur‘. Ausnahmen: Zweifellos gibt es Gegensätze in der Natur, z.B. zwischen Tag und Nacht, hell und dunkel, kalt und heiß, feucht und trocken, Sommer und Winter, oben und unten, Arktis und Antarktis usw. Bei genauem Hinsehen erkennt man aber, dass es zwischen den Polen Übergänge gibt, z.B. Dämmerung, Halbdunkel, lauwarm, klamm usw. Auch führen die Gegensätze nicht grundsätzlich zu neuen Synthesen aus These und Antithese (bzw. Negation der Negation); denn schon der Begriff ‚These‘ (= gedankliche Setzung) gehört sicherlich zur gedanklichen („transzendentalen“) Dialektik, ist keine Eigenschaft der Materie. – Anders steht es anschei-nend mit einigen ursprünglichen Vorgängen der Molekularverbindung. Im H2O stoßen zwei Wasserstoff-Atome auf ein Sauerstoff-Atom und verbinden sich zu etwas Neuem, einem Wasser-Molekül. Ist das schon Seins- oder Real-Dialektik? Höchstwahrscheinlich! Aber: Zu einer ‚Dialektik der Natur‘ lassen solche Vorgänge sich wohl nicht generalisieren (s. auch: Thomas Schmitz-Bender: Texte zur Atomenergie (1), in: http://www.arbeiterbund-fuer-den-wiederaufbau-der-kpd.de/AtomphysikTexte.pdf, S. 1).
Zu den Kernsätzen von K. Hartmanns Marx-Kritik (s.o. S. 47-49)
1. Hegels Lehren vom „objektiven und absoluten Geist“ sind wissenschaftlich nicht haltbar. K. Hartmann verkennt die Tatsache, dass Hegel selbst sein System ad absurdum führt, indem er a) Gott – theologisch – als absoluten Schöpfer und Lenker der Weltgeschichte ausgibt (Glaube statt Wissen!), b) dann aber Gott in Konkurrenz zu „Weltgeist“ und „Volksgeistern“ treten lässt, c) Gott in Jesus am Kreuz sterben lässt, d) daraufhin das Absolute im „Absoluten Geist“ und „Absoluten Wissen“ des Menschen bzw. der Person des Philosophen Hegel (!) auf- und untergehen lässt. Absurd, denn das Absolute ist unendlich, der Mensch nicht, Hegel nicht. Außerdem ist der menschliche Geist – außer bei Hegel – stets auch auf die Zukunft gerichtet – und auch deshalb nicht absolut, während das im Gedächtnis gespeicherte Wissen zwar auch auf die Zukunft bezogen sein kann, faktisch aber stets der Vergangenheit angehört und – da falsifizierbar – ebenfalls nicht absolut sein kann.
2. Der ranghöchste Begriff Hegels ist nicht die Vernunft, sondern der Geist. Dieser verliert sich jedoch im “Absoluten“ (s.o. zu 1.).
3. Die Lehre vom „objektiven Geist“ ist hinfällig. Den Staat als „höchste Wirklichkeit“ anzunehmen, besteht daher keine Veranlassung, zumal Staaten nachweislich gelegent-lich Vernunft und Freiheit missachten.
4. Für den Fortgang der Geschichte sind nicht die Staaten allein, sondern alle Menschen verantwortlich.
5. s. zu 3. und 4.!
6. Das „Absolute“ verhindert jegliche „Theorie von unten“. Die von Hegel gerechtfer-tigten Unterschiede sind keineswegs „natürlich“, sondern historisch bedingt. Mit seiner Ablehnung der Demokratie verneigt Hegel sich vor dem autokratischen, mon-archischen Staat Preußen.
7. Als Person existiert der Mensch in der Tat als Gemeinschaftswesen (‚ zoon politikon‘), ohne dabei seine Individualität einzubüßen. In der Sozietät ist die Person natürlich auch zur „politischen Funktion“ fähig, wie Marx erkannt hat.
8. Hegels „transzendentale und spekulative Kategorienlehre“ enthält per se Elemente der Entfremdung, weil in ihr – wie auch auf Grund des verfehlten Geistbegriffs – Wirt-schaft und Gesellschaft nicht adäquat analysiert werden können.
9. Philosophie kann nur von der Wirklichkeit her gedacht werden (die, anders als Hegel meinte, nicht per se „vernünftig“ ist!). Philosophie ist typisch menschliche Tätigkeit und muss daher von der Wirklichkeit des Menschen ausgehen.
10. K. Hartmann verkennt dies bei Marx als „unangemessen“, obwohl er nicht einmal dessen Ethik des angemessenen Lebens thematisiert.
11. Dass durch das Privateigentum an den Produktionsmitteln entfremdete Arbeit entsteht bzw. entstehen kann, ist nicht zu bezweifeln.
12. Damit kritisiert K. Hartmann Marxens Revolutionstheorie, nennt aber nicht den wahren Grund für deren Scheitern: die von Marx nicht vorhergesehene exorbitante Ausbreitung des kapitalistischen Kolonialismus und Imperialismus, fortgesetzt im Neo-Kolonialismus und in der neoliberalen Globalisierung.
13. Hartmann behauptet einen „Zirkel“ von Kapital und Arbeit, obwohl sich beide zwar wechselseitig bedingen, Entfremdung jedoch immer wieder durch die im Kapitalismus entfremdete Arbeit entsteht (s.o. zu Nr. 11.). Marxens Kritik ist daher weder „para-dox“ noch „trivial“, sondern notwendig und vollauf berechtigt.
14. Ob dieses Marxsche Verdikt voll zutrifft, kann auf engem Raum nicht überprüft werden. Schon auf Hegel trifft es zweifellos zu.
15. Die Wahrheiten, die Marx durch sein Denken ermittelt, können nicht geleugnet werden (auch wenn sich nicht alles, was Marx gedacht hat, bewahrheitet hat).
16. s. zu Nr. 11 und 13!
17. Welche andere Klasse sollte dazu in der Lage sein? Sicherlich nicht diejenige der Kapitalisten.
18. Marxens Theorie ist dialektisch und materialistisch, kann sich daher nicht in „Idealis-mus“ und bloßer „Metaphysik“ erschöpfen.
19. Täuschung liegt wahrscheinlich nur dann vor, wenn sie auf absichtlicher, manipula-tiver Fehlinformation beruht, die man Marx jedoch nicht nachweisen kann.
20. Marxens Theorie ist keine Ideologie, erst recht nicht in dem von ihm zu Recht auf das Kapital angewandten Sinne.
21. Ohne „Wendung zum Politischen“ kann es (vor)revolutionäre Theorie und Praxis nicht geben.
22. Seinen Humanismus hat Marx bereits in den Pariser Manuskripten von 1844 ent-wickelt, und zwar gleichbedeutend mit einer bestimmten Form von Naturalismus. Ergänzt hat er ihn später u.a. durch seine Ethik des angemessenen Lebens und seine Ästhetik (s.o. S. 19-25, 28-30). Diese Synthesen sind weder „naiv“ noch „unehrlich“ noch „ideologisch“.
23. K. Hartmann verwendet hier den Begriff Utopie offensichtlich im landläufig-pejora-tiven Sinne. Demnach wäre Marxens Lehre „utopisch“, d.h. nicht zu verwirklichen (s.o. zu Nr. 11 und 13).
24. K. Hartmann berücksichtigt weder Marxens Ethik noch dessen Ästhetik (s.o. zu Nr. 22). Marx mangelnde Wahrheitsliebe zu unterstellen, ist abwegig (s.o. zu Nr. 15).
25. Eine solche Integration dürfte unter den von K. Hartmann aufgestellten Bedingungen kaum möglich sein, zumal er wesentliche Bestandteile der Marxschen Theorie radikal ablehnt.
c) Marxens Revolutionstheorie in der Sicht von H. A. Winkler
Der Aufsatz des renommierten Historikers Heinrich August Winkler zum Thema ‚Marx und die Folgen – Gedanken zum Wandel der Revolution 1789–1989‘ aus dem Jahr 2017[40 ] beginnt mit einem mächtigen Paukenschlag. Behauptet Winkler doch, Marx‘ Idee einer endgültigen proletarischen Revolution stamme nicht von Marx selbst, sondern aus dem „Manifest der Gleichen“, einer Kampfschrift der „Verschwörung der Gleichen“ um die radikalen Jakobiner und Sozialisten Gracchus Babeuf und P. M. Buonarrotti, erschienen im Jahre 1796. Laut Winkler war der Grundgedanke dieser Schrift „die Idee der vollständigen Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und der Errichtung einer kommunistischen Gesellschaft, herbeizuführen durch eine zur revolutionären Tat entschlos-sene Minderheit“ (a.a.O. S. 1). Trifft dies zu, enthält diese Idee bereits das nahezu voll-ständige Revolutionsprogramm, das Lenin ab 1917 praktiziert hat, wenn auch unter wieder-holter Berufung nicht auf Babeuf, sondern auf Marx, der allerdings schon in seinen Frühschriften anscheinend häufig aus der genannten Kampfschrift der „Gleichen“ zitiert hat. Für Marx und Engels war demnach die Französische Revolution nur „das Vorspiel der eigentlichen, der kommunistischen Revolution“ (ebd.).
Gravierend kommt hinzu, dass beide, Marx und Engels, eine problematische Analogie zwischen bürgerlicher und proletarischer Revolution hergestellt haben: „Die Bourgeoisie wird und muss vor dem Proletariat ebenso zu Boden sinken, wie die Aristokratie und das unbeschränkte Königtum von der Mittelklasse den Todesstoß erhalten hat“, erklärte Engels im Jahre 1847. Und Winkler fügt hinzu: „So wie früher die feudalen Produktionsverhältnisse zu Fesseln der kapitalistischen Produktionskräfte geworden seien, so würden jetzt die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu Fesseln der modernen Produktivkräfte.“ (a.a.O. S. 2). – Was ich allerdings für hochbedeutsam halte. Beruht etwa der Ausgangspunkt der Marxschen Revolutionstheorie auf einem simplen, aber äußerst folgenschweren Denkfehler? War doch die nach 1789 vom französischen Bürgertum gestürzte Klasse von Adel und Klerus längst zu einer Ansammlung von Müßiggängern und „Scheintoten“ geworden, die keinerlei Anspruch auf politische Machtausübung mehr erheben konnten. Genau dies trifft aber auf die an die Macht gekommene kapitalistische Bourgeoisie weder zu Marxens noch zu Lenins Zeiten zu!
Wohl zu Recht folgert Winkler: „Der Rückschluss von der bürgerlichen auf die proletarische Revolution, an dem Marx und Engels zeitlebens festhielten, war von Anfang an eine höchst gewagte Konstruktion. 1789 war in Frankreich eine funktionslos gewordene herrschende Klasse, der Feudaladel, von einer aufsteigenden Klasse, dem „Dritten Stand“, entmachtet worden, der mit einem zumindest relativen Recht von sich behaupten konnte, er vertrete in dieser Auseinandersetzung die Gesamtheit der nichtprivilegierten Gesellschaft und sei in jeder Hinsicht herrschaftsfähig. In eine vergleichbar komfortable Situation ist das Proletariat weder zu Lebzeiten von Marx und Engels noch später gekommen: Ihre historische Analogie hat sich als Trugschluss erwiesen.“ (a.a.O. S. 4).– Dennoch zieht Winkler anschließend eine mehr oder weniger gerade Linie der „DdP“-Tradition von Marx und Engels zu Lenin und Stalin, über den „Tauwetter“- Chruschtschow und den teils neo-stalinistischen Breschnew bis hin zum „Reformer“ Gorbatschow, dessen Sturz den endgültigen Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ einleitete. Auf die alternativen sozialistischen Experimente (Jugoslawien, Frankreich etc.) sowie auf Mao Zedong, Pol Pot, Castro und andere kommunistische Diktatoren geht Winkler (aus Platzgründen?) hier nicht ein.
Hauptstationen der von Winkler gezeichneten DdP-Linie: 1848 hielten Marx und Engels den Anfang der „endgültigen Revolution“ für gekommen, wurden aber bitter enttäuscht und bekräftigten trotzdem das Konzept einer „Klassendiktatur des Proletariats als notwendiger Durchgangspunkt zur Abschaffung der Klassenunterschiede überhaupt“. Und Winkler fügt – bemerkenswerterweise – hinzu, im Jahre 1852 habe Marx das Konzept, „dass der Klassenkampf zur ‚Diktatur des Proletariats‘ führt“, „sogar zum Kernbereich seiner Theorie“ erklärt – wozu Winkler als Beleg allerdings nur einen „Brief an Joseph von Weydemeyer“ vom März 1852 anführt, ohne zu erwähnen, dass Marx weder dort noch anderswo je eine ausgearbeitete Theorie der DdP vorgelegt hat.
Stattdessen behauptet Winkler, Marx habe das Zusammenlegen von Exekutive und Legis-lative durch die Pariser Commune von 1871 als Beweis für die „Beseitigung des >bürger-lichen< Rechtsstaates“ gewertet, obwohl Marx den Begriff DdP in diesem Zusammenhang, d.h. der Schrift über den Bürgerkrieg in Frankreich, gar nicht benutzt hat, während Engels 20 Jahre später – wie Winkler zitiert – die Pariser Commune als Musterbeispiel einer DdP ausgegeben habe (a.a.O. S. 4). Jedenfalls sei Engels dadurch zum „Stichwortgeber der radikalsten unter den russischen Sozialisten“ geworden, zumal er bereits erkannt habe, dass „Russland den Mangel des entwickelten Westens, das Fehlen einer revolutionären Situation, ausglich und eben dadurch die Revolution im internationalen Maßstab auslöste“. Somit habe Engels „die Revolution gedanklich von West nach Ost wandern“ lassen. – Nichtsdesto-weniger räumt Winkler danach ein, dass Engels, mehr noch als Marx, in seiner Spätzeit „geradezu reformistisch“ argumentiert und sich von früherer Radikalität incl. DdP abgesetzt habe (a.a.O. S. 4-5).
Was Lenin aus der DdP gemacht hat, nämlich das entscheidende Erkennungs-Zeichen und unabdingbare conditio sine qua non der Bolschewiki, skizziert Winkler kurz und bündig, erwähnt dann aber von den weiteren Verfälschungen der Marxschen Theorie durch Lenin lediglich die Tatsache, dass dieser 1917 die Bedingungen für eine sozialistische Revolution erfüllt sah, obwohl Marx dies nur in hochindustrialisierten bürgerlich-kapitalistischen Staaten – und nicht im vergleichsweise rückständigen Russland – für möglich gehalten hatte.
So dass Winkler keine Mühe hat, Stalins Theorie vom „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ als Reaktion auf das Ausbleiben der Revolution im Westen zu verorten, ohne auch nur andeutungsweise auf Stalins weitere Verzerrungen des Marxismus einzugehen. Stattdessen begnügt er sich mit einem Exkurs zum Revisionismus (Bernstein u.a.) und Hinweisen auf unheilvolle Auswirkungen der Oktoberrevolution auf die europäische Arbeiterbewegung und den Aufstieg des Faschismus u.a. als Reaktion auf den Bolschewismus.
Ebenso kursorisch äußert Winkler sich zur Entwicklung der UdSSR unter Chruschtschow und Breschnew, um abschließend das Wirken Gorbatschows zu würdigen. Dieser habe nicht gewagt, mit dem Leninismus zu brechen, und nicht durchschaut, „dass Demokratie und Machtmonopol einer Partei völlig unvereinbar waren“. Vielmehr habe Gorbatschow „Papst und Luther in einem“ (A. Brown) sein wollen, in der Praxis aber durch Glasnost und Perestroika die friedlichen („samtenen“) Revolutionen im ganzen Ostblock befördert, die schließlich zu seinem eigenen Scheitern beitrugen (a.a.O. S. 10).
Nur kurz – und erst ganz am Schluss – kehrt Winkler zum angeblichen Ursprung der gesamten Fehlentwicklung bei Marx und Engels zurück, indem er feststellt: „Wenn es je einen falschen historischen Analogieschluss mit weltgeschichtlichen Folgen gegeben hat, waren es die verallgemeinernden Folgerungen, die Marx und Engels aus der Französischen oder, allgemeiner gesprochen, aus der bürgerlichen Revolution gezogen haben.“ Und die Bolschewiki seien letztlich daran gescheitert, „dass die Produktivkraft der Freiheit in ihrem Denken keinen Raum hatte“. Übrig geblieben sei nicht der Marxismus/Sozialismus, sondern „die Ideen von 1776 und 1789“. Und nur an diesen – zutiefst bürgerlichen Ideen – habe sich die westliche Demokratie zu orientieren (a.a.O. S. 12).
Kritische Würdigung
Was Winkler hier präsentiert, ist m.E. ein Abgesang auf die Geschichte des Marxismus, dessen Untergang er mit dem Ende der UdSSR und des Ostblocks für besiegelt hält. Wenn Gorbatschow an seinem eigenen Leninismus gescheitert ist, steht er lediglich am Ende der fatalen, katastrophalen Verkettungen, die Marx angeblich durch seinen „falschen historischen Analogieschluss“ verursacht hat. Mehr als fraglich ist jedoch, ob darin tatsächlich die Quint-essenz des Marxismus oder gar des Scheiterns der DdP liegt. Jedenfalls ist die Marxsche Revolutionstheorie nicht an dem „falschen Analogieschluss“ gescheitert, sondern an bestimmten Entwicklungen des Kapitalismus im späten 19. Jahrhundert, die Marx nicht vorhergesehen bzw. nicht durchschaut hat (s.o. S. 52). – Offensichtlich unzutreffend ist Winklers Behauptung, die DdP habe „im Zentrum“ der Marxschen Theorie gestanden; denn dazu wäre zumindest eine von Marx und Engels erarbeitete Theorie der DdP erforderlich gewesen. Nicht belegbar ist auch Winklers Annahme, Engels habe die Pariser Commune von 1871 für ein Musterbeispiel einer DdP gehalten. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Engels Marxens Auffassung von der Pariser Commune als „humanster und rationellster“ Regierungsform im Sinne einer Rätedemokratie auf Grund freier und allgemeiner Wahlen geteilt hat. Außerdem: Dass Marx die Zusammenlegung von Exekutive und Legislative durch die Pariser Commune gebilligt hat, bedeutet nicht, dass er damit die Judikative außer Kraft gesetzt hätte. Er kritisiert zwar den „bürgerlichen Rechtsstaat“, hatte jedoch keineswegs ein gebrochenes Verhältnis zum Recht als normativer Kraft. Hier geht Winkler deutlich fehl.
Ebenso bei dem Versuch, Marx letztlich auch noch für das Scheitern des „real existierenden Sozialismus“ verantwortlich zu machen. Zu groß sind die Differenzen zwischen der Marxschen Lehre und dem Wüten von Diktatoren wie Lenin und diktatorischen Terroristen wie Stalin, Mao und Pol Pot (s.u.). Auch lässt sich der Marxismus nicht auf die zweifellos leicht auffindbaren Fehlentwicklungen reduzieren. Das Gesamtwerk von Marx und Engels ist vielmehr, wie ich meine, nach wie vor – auch für Ethik, Sozialpolitik und Wirtschafts-wissenschaft – eine wahre Fundgrube; was Kritik an bestimmten Teilen Marxscher und marxistischer Theorie keineswegs ausschließt.
Zu einem dem Fazit Winklers diametral entgegengesetzten Ergebnis kommt Bernhard Mankwald in seinem Buch über ‚ Die Diktatur der Sekretäre‘ mit dem Untertitel: ‚Marxismus und bürokratische Herrschaft‘, erschienen 2006 in Norderstedt. Demzufolge „haben die ursprünglichen Ideen von Marx und Engels in wesentlichen Teilen der Prüfung standgehalten“ (a.a.O. S. 208). Auch den bürokratischen Sozialismus des Ostblocks könne man mittels dieser Ideen erklären, ebenso mögliche Zukunftsperspektiven der heutigen Weltgesellschaft; wobei Mankwald jedoch die fatalen Ideen der „Verschwörung der Gleichen“ (s.o.) außer Acht lässt, die Marxens Diktatur-Begriff nachhaltig geprägt haben. Immerhin räumt der Autor ein, man suche bei Marx und Engels vergeblich nach eindeutigen Antworten auf „die Kernfrage nach den weiteren Entwicklungsperspektiven des kapitalistischen Wirtschaftssystems“, so dass man die entsprechenden Theoreme von Marx und Engels wieder aufnehmen und weiterentwickeln müsse, um erst dadurch „verständliche Antworten auf die Frage nach unserer ökonomischen und sozialen Zukunft zu finden“ (ebd.).
Auf den ersten Blick schien es mir, als ob Mankwald auch bereits klare Antworten auf die Kernfragen nach der DdP in Verbindung mit der Bürokratie. Vorläufig eines Besseren belehrt wurde ich aber durch die Rezension, welche die Diplom-Politologin Natalie Wohlleben (2007) geschrieben hat, wo es heißt: „Der Autor trennt in dieser populärwissenschaftlichen Darstellung den Marxismus vom Leninismus zwecks Ehrenrettung des Ersteren. Dabei schlägt er einen Bogen von der Entstehung der marxistischen Theorie und den mit ihr verbundenen Absichten weiter über die russische Revolution und die Politik Lenins, dem er mangelnde analytische Fähigkeiten und fehlende Ehrlichkeit attestiert, bis zum Untergang der DDR und der Sowjetunion. Die thematische Zusammenstellung entbehrt nicht einer gewissen Logik, wird aber nicht weiter begründet. Das Buch kommt mit wenigen Fußnoten aus und stellt insgesamt eher eine Interpretation der Geschichte dar, wobei der Autor, der Psychologie und Philosophie studierte und über „Prozeßanalysen bei Intelligenztestaufgaben“ promovierte, eher seine persönliche politische Meinung untermauert. Politikwissenschaftlich ist das Buch unergiebig.“[41 ] Wobei man allerdings eine Begründung für das im letzten Satz erteilte vernichtende Urteil vermisst und sich fragt, warum die Rezensentin vermerkt, Mankwald komme „mit wenigen Fußnoten“ aus – immerhin sind es 218 ans Buchende gesetzte, mit denen der Autor überdies ein Literaturverzeichnis ersetzt. Vermissen lässt die Rezensentin zudem eine Antwort auf die Frage, was der Autor denn tatsächlich zu den von ihm selbst im Titel angekündigten Themen Bürokratie und DdP zum Besten gibt.
Erstaunlich wenig! Nämlich a) zur Bürokratie: ein Kapitel mit der Überschrift ‚Doktrinäre und bürokratische Tendenzen bei Marx und Engels‘ (a.a.O. S. 90 ff.), worin Mankwald aber lediglich anmerkt, auf Marx‘ „Bund der Kommunisten“ lasse sich die Bezeichnung „bürokratisch“ kaum anwenden, und Marx habe dazu geneigt, in bürokratischer Manier Machtbefugnisse an sich zu ziehen, dies aber stets sofort wieder korrigiert. („Marx war also anfällig für dogmatische und bürokratische Tendenzen, aber auch fähig zur Selbstkorrektur.“ A.a.O. S. 96.) Dagegen erwähnt der Autor fast gar nicht die Tatsache, dass sowohl Marx und Engels als auch Lenin und Stalin immer wieder heftige grundsätzliche Kritik an der Bürokratie geübt haben. Marx übergeht er diesbezüglich völlig, während er Engels bescheinigt, in der Bürokratie eine „eigene Klasse“ erkannt zu haben, die sich in Deutschland aus Adligen und (Klein-)Bürgern gebildet habe (a.a.O. S. 24).
Etwas mehr Aufmerksamkeit widmet Mankwald der im Ostblock entstandenen „Geistes-bürokratie“, die schon Leo Kofler (s.u.) beschrieben hatte (a.a.O. S. 147 f.)., ferner auch der Tatsache, dass sich die Bürokratie der UdSSR im Laufe der Zeit immer mehr Macht-befugnisse angeeignet hat, so dass Russland schließlich zu einem staatsbürokratisch verwalteten, kapitalistischen Land geworden sei (S. 206). – Klar ist wohl, dass Mankwald – entgegen seinem Untertitel „Marxismus und bürokratische Herrschaft“ – dem Phänomen der kommunistischen Staats- und Parteibürokratie im Ganzen nicht gerecht wird. Symptomatisch hierfür: Er zitiert Ernest Mandel aus dessen eher unbedeutender Arbeit über Gorbatschow (S. 168 f.), nicht jedoch Mandels einschlägige Abhandlung über Die Bürokratie (1976) und insbesondere nicht deren erheblich ausgeweitete und intensivierte Fassung in Macht und Geld (2000).[42 ]
Vorläufiges Fazit
Dass die Marxsche Revolutionstheorie gescheitert ist, kann nicht bezweifelt werden. Der Grund für dieses Scheitern liegt in der von Marx nicht vorhergesehenen Expansion des kapi-talistischen Kolonialismus und Imperialismus im späten 19. Jahrhundert (s.o.). Dieser Grund bedeutet jedoch nicht das Scheitern der Marxschen Theorie als Ganzer. Zumal kurioserweise durch diesen Grund andere wesentliche Bestandteile der Theorie bestätigt werden. Kolonia-lismus, Imperialismus und Neokolonialismus haben zwar, z.B. auch durch das Entstehen neuer Mittelschichten, dazu beigetragen, das Ausbrechen der proletarischen Revolution in den hochentwickelten westlichen Industrieländern zu verhindern; keineswegs entkräftet werden dadurch jedoch wesentliche andere Inhalte der Marxschen Analysen von Kapital und Arbeit. Außerdem ist anzunehmen, dass die seit dem 19. Jahrhundert in den kapitalistischen Ländern erreichten Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen vieler Lohnabhängiger direkt oder indirekt auf den Einfluss des Marxschen Engagements in Theorie und Praxis zurück-zuführen sind.
All dies wird zu überprüfen bzw. zu präzisieren sein, und zwar u.a. im Zusammenhang mit der These, dass die von Marx diagnostizierte „Dauerkrise des Kapitalismus“ im globalisierten Neoliberalismus fortbesteht.
3. Neoliberale Globalisierung = Fortsetzung der „Dauerkrise des Kapitalismus“?
Meine Analyse der Schattenseiten der neoliberalen Globalisierung lautete im Jahre 2015:
„– Verschärfung des internationalen Konkurrenzkampfes, der sogar Klein- und Mittelbetriebe zum „Run ins Ausland“ zwingt,
– Verlust der politischen Kontrolle der Wirtschaft durch die nationalen Regierungen,
– Verschärfung der sozialen Gegensätze, vor allem in ärmeren Regionen (u.a. Südeuropas und der „Dritten Welt“),
– nahezu unkontrollierbar erhöhte Belastungen für Welt-Klima und Umwelt,
– Verschärfung kultureller und politischer Gegensätze (z.B. zwischen islamischem und westlichem Fundamentalismus) u.a.m.
Alles dies veranlasst die Autoren Hans-Peter Martin und Harald Schumann schon im Jahre 1997, Die Globalisierungsfalle zu konstatieren, die sie als höchst gefährlichen Angriff auf Freiheit, Demokratie und Wohlstand empfinden. Freiheit geht verloren, wenn Wirtschaft und Gesellschaft global liberalisiert, aber nicht global politisch kontrolliert werden. Deregulierung und Privatisierung führen zu einer „drastischen Ausweitung der internationalen Finanzmärkte“ – mit verheerenden Folgen, wie sich in zahlreichen Bankenkrisen und insbesondere in der Welt-Finanzkrise ab 2008 gezeigt hat.
Es besteht ein Trend zur „20:80-Gesellschaft“, in der nur noch ein Fünftel der Arbeitsfähigen einen Arbeitsplatz findet, insbesondere in der „Dritten Welt“. Der Kostensenkungswettlauf („Verschlankung“, z.B. durch Produktionsverlagerung in Billiglohnländer) trägt ständig zur Massen- und Dauerarbeitslosigkeit auch in den „reichen“ Ländern bei. Das Kultur-Niveau sinkt, z.B. durch „Tittytainment“, die seichte Mischung aus Sex, Kitsch und Pop, mit der man die breiten Massen von den Problemen ablenken und bei Laune halten will.
Schumanns und Martins Hoffnungen auf regionale Gegenbewegungen, z.B. durch verstärkte europäische Integration, haben sich durchweg als trügerisch erwiesen. Kein Wunder z.B. angesichts der engen Verflechtungen zwischen krisenanfälligen Regionen wie den USA, Japan und Europa, die unter sich lange Zeit den größten Teil des Welthandels (bis zu 80 %!) abwickelten, inzwischen aber immer stärker unter Konkurrenzdruck, vor allem aus China, geraten sind. Da aber alle, insbesondere auch China, auf „offene“, d.h. liberalisierte Märkte angewiesen sind, werden sich die mit der neoliberalen Globalisierung verbundenen Schäden, Gefahren und Verunsiche-rungen in absehbarer Zeit kaum beseitigen lassen – was natürlich auch die geistigen, kulturellen und weltpolitischen Krisen betrifft.
Was einst u.a. durch Aufklärung, Positivismus, Utilitarismus und Pragmatismus befreiend und allgemein richtungsweisend erschien, droht im (Neo-)Liberalismus zu einem dauernden Albtraum zu verkommen.“ (Robra 2015 a.a.O. S. 285 f.)
An diesen Formulierungen brauche ich wahrscheinlich nichts zu ändern, zumal die Gesamt-situation sich seither nicht grundlegend geändert hat. Nichtsdestoweniger kann und muss die Analyse präzisiert und erweitert werden, z.B. durch die folgenden Feststellungen von Leo Mayer und anderen aus dem Jahr 2004 (!):
„Die Krisen vergrößern rasant die soziale Ungleichheit in der Welt: Sie vertiefen die Kluft zwischen den kapitalistischen Metropolen und der Peripherie; sie verschärfen die Polarisierung innerhalb der Industrieländer. Die sozialen und volkswirtschaftlichen Kosten werden von Krisenzyklus zu Krisenzyklus höher. Diese Art des Wirtschaftens kommt der Natur und der Menschheit zu teuer.
Mit dem Platzen von Spekulations- und Börsenblasen wird kein Kapital vernichtet, sondern es "verbrennen" Papierwerte. Es erfolgt eine Wiederanpassung inflationierter Vermögenswerte an die realen Unternehmenswerte. Das Nachsehen haben in der Regel die Späteinsteiger-Kleinanleger, die, angelockt vom vermeintlich ewig währenden Börsenboom, ebenfalls den schnellen Euro machen wollten. Sie kauften zu Hoch- und Höchstkursen und erfahren nun, dass Aktienkurse auch rückläufig sein können. Sie sind die eigentlichen Verlierer der Aktienspekulation. Bei einer Verdoppelung der Aktionäre und Fondsbesitzer binnen drei Jahren allein in Deutschland sind das nicht wenige. Ihr Geld ist nicht weg oder vernichtet - es ist nur in den Taschen anderer. In der Regel ist es auf dem Konto einer Bank, eines Fonds oder anderer Spekulanten. Aktiencrashs führen im Ergebnis immer zu einer Umverteilung von Geldvermögen. Durch Shortselling/Leerverkäufe verdienen Hedge-Fonds-Spekulanten und ihre Klientel, die Geldvermögens-Multi-Millionäre, auch oder gerade an Baissen. Der parasitäre Charakter des Systems ist auf die Spitze getrieben.
Aber nicht nur die Kleinanleger tragen bei Crashs und Krisen die Kosten. Die Rechnung begleichen auch
- die Steuerzahler, die für die zig-Milliarden aufkommen müssen, mit denen der IWF bei seinen "Rettungsaktionen" die internationalen Banken und Fonds aus den Schwellenländern herauspaukt;
- die Steuerzahler in Form von Steuerausfällen, wenn die Banken ihre Problemkredite und "Hilfsaktionen" zur Rettung von Hedge-Fonds (LTCM) und anderen institutionellen Anlegern abschreiben;
- die Bevölkerung der Dritten Welt, die über Kürzung der Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsausgaben und verschärfter Ausbeutung für den Schuldendienst ihres Staates an das internationale Finanzkapital bluten muss;
- Belegschaften, die wie z.B. im Falle Enron, Worldcom, Siemens- und Daimler-Pensionsfonds um ihre Betriebsrenten bangen müssen.
- Die Zeichner von Pensionsfonds und Lebensversicherungs-Policen, deren Alterssicherung gefährdet ist.
Die Krisen in Südostasien, Lateinamerika und in anderen Schwellenländern machen zudem klar: Eine nachholende Entwicklung ist unter Bedingungen kapitalistischer Globalisierung nicht mehr möglich. Diese Staaten wurden jeweils an der Schwelle zum Club der Industrieländer wieder zurückgestoßen.“[43 ]
Der Text soll zeigen, „wie die Globalisierung zur globalen Wirtschaftskrise führt“ (wie es im Titel der Studie heißt). Tatsächlich sind die von den Autoren analysierten Krisensymptome in den letzten 20 Jahren immer wieder aufgetreten, besonders deutlich in der Finanzkrise ab 2008. Wenn Notenbanken günstige Kredite anbieten, profitieren davon vor allem diejenigen Unternehmer, die diese Kredite nicht in Investitionsgütern, sondern in eigenen Aktien anlegen, wodurch generell die Aktien-Preise steigen, so dass nach und nach immer weniger Share-Holder immer mehr Aktien besitzen – mit schwerwiegenden Folgen auch für die lohn-abhängigen Verbraucher/innen; ein Vorgang, den Marx bereits im Kapital ähnlich beschrie-ben hat, und zwar im Kapitel über die ursprüngliche, der Profitmaximierung dienende Kapital-Akkumulation (mit der Folge u.a. der „fallenden Profitrate“). –
Von den Auswirkungen der Finanzkrisen – bei gleichzeitiger Verschärfung der sozialen Ungleichheiten – sind die Entwicklungsländer besonders schwerwiegend betroffen. Näheren Aufschluss hierüber vermittelt ein Gespräch, das mit dem afrikanischen Wirtschafts-wissenschaftler Yash Tandon im Rahmen einer ‚Bilanz der Globalisierung‘ unter dem Ober-titel Global Total (2004) geführt wurde.[44 ] Titel des Gesprächs: >Der geplünderte Süden< – Entwicklungsrezepte des Westens (a.a.O. S. 121-133). Tandon wurde gefragt, worin er – aus der Sicht des Südens, der 2004 angeblich „gut dreimal ärmer als noch vor 50 Jahren“ war – „die Gründe für das endgültige Scheitern dieser vom Westen inspirierten Entwicklungs-politik“ sah (S. 121). Tandons Erklärung: Dem westlichen Kapitalismus ging es nie darum, den Süden entwicklungsmäßig wirklich voranzubringen. Und:
„Es ist deshalb nicht erstaunlich, wenn auch nach der Phase der Entkolonialisierung die Grundmuster der Nord-Süd-Beziehung gleich geblieben sind, die wirtschaftliche Ungleichheit weiter wächst. Die Anhäufung von Macht und Reichtum auf der einen Seite und von Armut auf der anderen liegt schließlich in der Natur des kapitalistischen Systems.“ (ebd.)
Auch die westlichen Direktinvestitionen haben daran nichts geändert, denn diese bedeuten vor allem, „dass nationale Ressourcen von ausländischen Investoren übernommen werden“ (S. 122). Genauer:
„Die transnationalen Unternehmen bringen ja nicht nur ihr Geld mit, sie bringen ihre Technologien, ihre Beraterfirmen, ihre Patente, ein ganzes Konglomerat von Instru-menten und Produkten mit, die alle darauf abzielen, die Wertschöpfung eines Joint Venture so weit wie irgend möglich außerhalb des Gastlandes stattfinden zu lassen. Das hat dazu geführt, dass sich die Probleme heute im Vergleich zur Schuldenkrise noch verschärft haben. Nein, die als Allheilmittel gelobten Direktinvestitionen sind nur ein moderneres Instrument zur Enteignung unserer Ressourcen.“ (ebd.)
Eine durchgreifende Veränderung wäre nur dann möglich, wenn nicht mehr der „Zufluss ausländischen Kapitals“, sondern die Förderung einer eigenständigen Kapital-Akkumulation in den afrikanischen Ländern Ziel der Politik wäre. Hauptgrund für die andauernde Unterent-wicklung in Afrika ist das „Fehlen eines nennenswerten einheimischen Kapitalmarkts“ (124).
Wie weit der Süden von einer durchgreifenden Veränderung entfernt ist, zeigt das Beispiel Argentinien:
„Argentinien beispielsweise war eines der reichsten Länder des Südens. Es hat inzwischen sowohl seinen Handel als auch den Kapitalmarkt rückhaltlos liberalisiert. Die gesamte industrielle Produktion und der Dienstleistungssektor wurden von US-Unternehmen übernommen. Als sich dann die Bankenkrise zuspitzte, wurde plötzlich sichtbar, dass der gesamte produktive Sektor schon lange ins Ausland transferiert worden war. Und bei den wenigen Unternehmen, die dem Land noch verblieben waren, flossen die Erträge in Wirklichkeit in die Kassen US-amerikanischer Firmen. Seit 40, 50 Jahren wollen die Wirtschaftsexperten im Norden diesen Zusammenhang nicht zur Kenntnis nehmen. Sie haben niemals wirklich verstanden, was im Süden vor sich geht. Und auch die öffentliche Meinung in Europa wurde von diesen Volkswirt-schaftlern grob getäuscht.“ (S. 127)
Was erst recht für das erneute katastrophale Aufflammen der argentinischen Krise im Jahr 2024 gilt!
In Afrika schlägt sich die überzogene Gewinnschöpfung westlich-kapitalistischer Unter-nehmen in „horrenden Erlösen“ nieder:
„In Afrika … liegen die durchschnittlichen Erträge US-amerikanischer Unternehmen zwischen 30 und 40 %, verglichen mit nur 10 % im eigenen Land. Die erste Ursache für den Kapitalfluss von Süd nach Nord sind also die Bedingungen, unter denen die ausländischen Firmen in unseren Ländern operieren können, und die Rückführung überzogener Gewinne in den Norden. Die zweite Quelle sind Schuldenzahlungen. Afrika allein muss 400 Milliarden Dollars Schulden bedienen. Dritte Ursache sind die Austauschrelationen im Außenhandel. Die Bedingungen, zu denen wir unsere Güter auf dem Weltmarkt anbieten, haben sich in der Vergangenheit ständig verschlechtert. Wir haben dadurch mehr als den gesamten Gegenwert der vom Norden geleisteten Entwicklungshilfe wieder verloren.“ (129)
Wobei Tandon nicht vergisst, auf die in Afrika grassierende Korruption in den einheimischen Verwaltungen hinzuweisen. Es handelt sich jedenfalls um eine katastrophale Bilanz, die jeglichen Stolz auf die sogenannte „Entwicklungshilfe“ Lügen straft! Die Tatsache, dass der Internationale Währungsfonds und die Weltbank Afrika seit ca. 1980 auf Exportorientierung getrimmt haben, hat zu einem „absoluten Desaster“ geführt. Denn nunmehr machen sich die Entwicklungsländer gegenseitig Konkurrenz, was zu einem Überangebot mit nachfolgendem Preisverfall geführt hat.
Zudem hat das neoklassische Wirtschaftsdogma des Westens in den afrikanischen Hoch-schulen völlig versagt. „Das neoliberale Dogma gehört der Vergangenheit an. Die neoklassi-sche Wirtschaftstheorie ist gescheitert.“ (132) – Alternativen sind denkbar, so z.B. die Auf-gabe der Exportorientierung und die Stärkung der Binnennachfrage, der Verzicht auf auslän-dische Direktinvestitionen, die Entwicklung eigenständiger regionaler Institutionen, z.B. zur Einhaltung der Menschenrechte auch im Arbeitsleben. Afrika muss „gegen die Geisel der Diktaturen … unsere eigenen Demokratie- und Menschenrechtsstandards entwickeln“ und ebenfalls gegen den kapitalistischen Westen durchsetzen: „Wenn uns das vom Westen aufgezwungen wird, kann das nicht funktionieren. Das müssen die afrikanischen Länder selbst leisten.“ (133)
zur Umwelt-Krise
In dem gleichen Band Global Total äußert sich der Umwelt-Experte Wolfgang Sachs gesprächsweise zum Thema Der Neoliberalismus als ökologische Katastrophe (S. 158-165). Auf die Frage nach den ökologischen Folgen der weltweiten neoliberalen Expansion antwortet er mit dem Hinweis, dass „die Ausbreitung der Räuberökonomie auf die gesamte Welt … extreme ökologische Folgen nach sich“ zieht (158 f.). Es sei ein „obsoletes Modell“, das immer gefährlichere „biosphärische Turbulenzen“ bewirkt. Politiker/innen sind dagegen weitgehend machtlos, während die – nie gewählten – globalen Investoren das Wirtschaftsge-schehen nach eigenem Gutdünken bestimmen. Leidtragende sind Natur, Umwelt und die lohnabhängigen Verbraucher. „Gerade für den ärmeren Teil der Menschheit ist es lebens-wichtig, Zugang zu intakten Naturräumen zu haben. Jede Verschmutzung und Übernutzung von Gewässern, jede Abholzung und Degradierung des Bodens trifft unmittelbar und zuerst die Ärmsten. Aus diesem Grund finden sich in Indien, Brasilien, den Andenländern und vielen Ländern Afrikas zahlreiche bäuerliche Protestorganisationen und Widerstandsbewe-gungen, die sich mit Umweltfragen beschäftigen. Ihnen geht es in ihrem Kampf darum, die natürlichen Lebensgrundlagen zu erhalten.“ (160) – Wobei fraglich bleibt, ob die damit ver-bundenen, eher kleineren Projekte nachhaltig auf die Weltökonomie einwirken können; zumal es im globalen Süden nicht nur „passive Opfer“, sondern auch aktive Kollaborateure des ka-pitalistischen Welthandels gibt (161).
Nichtsdestoweniger stellt sich immer wieder die Frage, ob zwischen Nord und Süd „eine gemeinsame Strategie der Bewegungen von unten“ entwickelt werden kann. Einerseits gibt es populären Protest, andererseits dissidente Intellektuelle. Von der Interaktion zwischen diesen beiden Protest-Faktoren können durchaus Veränderungen ausgehen:
„In der globalisierungskritischen Bewegung findet man einerseits die indischen Bauernproteste, die Proteste der US-amerikanischen Stahlarbeiter und die Proteste der brasilianischen Landlosenbewegung. Dazu gesellen sich Intellektuelle und Politiker, die die Auseinandersetzung öffentlich führen. Erst durch dieses Zusammenspiel wurden die massiven und katastrophalen Globalisierungsfolgen weltweit zu einem öffentlichen Thema.“ (163)
Jedenfalls brauchen die Südstaaten endlich mehr Rechte über ihre eigene Ökonomie und über die transnationalen Investitionen. Denkbar wäre auch der forcierte Aufbau einer globalen Fair Trade Organisation. „In einem transnationalen Markt dürften dann nur Produkte gehandelt werden, die ökologisch produziert sind sowie fair ausgetauscht würden.“ (165) Beim Aufbau einer solchen Organisation könnte das Weltsozialforum behilflich sein. Es kommt darauf an, Ökologie mit Austauschgerechtigkeit und sozialer Gerechtigkeit zu verbinden (ebd
Fazit
Experten wie Yash Tandon und Wolfgang Sachs bestätigen die fortbestehende Gültigkeit der Marxschen Kernanalysen von Kapital und Arbeit und damit auch seine These von der Dauer-krise des Kapitalismus. Diese bezieht sich zweifellos auch auf die durch den Neoliberalismus verstärkte Öko-Katastrophe, die Marx bereits in ihren Anfängen erkannt und analysiert hat. Bestätigt wird die These von der Dauerkrise auch a) durch die katastrophalen Flüchtlingsbe-wegungen, vor allem von Afrika und Asien nach Europa, mit gefährlichen Folgen auch für die nördlichen Metropolen, und b) durch folgende Neuerscheinung: ISW-Wirtschaftsinfo Nr. 64 (2024), herausgegeben vom ‚Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V.‘, München.
Marx hat also recht gesehen, wenn auch nicht in allem, nicht in jeder Hinsicht. Unhaltbar ist seine Revolutionstheorie (s.o.). Die Weltrevolution ist ausgeblieben, muss aber wohl noch stattfinden, wenn die Befreiung vom Kapitalismus anders nicht möglich ist, d.h. wenn sie auf den u.a. von Marx und Engels für möglich gehaltenen friedlichen Wegen nicht gelingt.
Bestätigt und bestärkt werden meine Grundsätze und Forderungen, von denen ich die ersten 15 eingangs in meinen Vorbemerkungen (s.o.) angeführt habe.
Grundsätze und Forderungen
a) Grundsätze
1. Das aktuelle chinesische Hybrid-Modell aus Überwachungskapitalismus und Marktwirt-schaft ist kein Zukunftsmodell des Sozialismus.
2. Beachtens- und nachahmenswert sind die neuen Formen gesellschaftlicher Emanzipation auf Kuba.
3. Der französische ‚Projet Socialiste‘ (1980-83) zeigt, als humaner Sozialismus, gangbare Wege der Vergesellschaftung der Schlüssel-Produktionsmittel und der Mitbestimmung auf.
4. Marxens Revolutionstheorie ist nicht an ihrem „Analogieschluss“ (H. A. Winkler), sondern an bestimmten, von Marx nicht vorhergesehenen Entwicklungen des Kapitalismus gescheitert.
5. Die „Analogieschluss“-Theorie trifft eher auf die frühe UdSSR zu. Die Bolschewiki waren nicht in der Lage, die vorhandene bürgerliche bzw. zaristische Bürokratie zu ersetzen, sondern mussten sie übernehmen – mit zahlreichen negativen Folgen.
6. Die Delegation an eine revolutionäre „Avant-Garde“ hat sich allenthalben als Irrweg erwiesen.
7. Die Verbindung von Partei- und Staatsbürokratie mit der ‚Diktatur des Proletariats‘ (DdP) hat zum Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ nach 1989 beigetragen.
8. Mao Zedongs „Großtat“ bestand in der (weitgehenden) Anpassung der Marxschen Theorie an die chinesischen Besonderheiten.
9. Maos „Großer Sprung nach vorn“ und die „Kulturrevolution“ waren nicht-sozialistische, verbrecherische Irrwege.
10. Pol Pots terroristischer Gleichheits-Fanatismus brachte den Sozialismus zeitweilig in totalen Misskredit.
11. Die Auswüchse der „neo-digitalen Revolution“ – insbesondere in Form des Über-wachungskapitalismus – bedrohen die gesamte Menschheit.
12. Durch New Deal und fortschrittliche Gesetzgebung allein ist der Überwachungs-kapitalismus wahrscheinlich nicht zu überwinden.
b) Forderungen
1. Demokratie, Recht und ethische Grundsätze sind für jede Form von Sozialismus und auch für Revolutionäre verpflichtend.
2. Die Fernziele des Sozialismus müssen in seinen Nahzielen und in seiner politischen Praxis erkennbar sein.
3. Der Überwachungskapitalismus kann und muss u.a. durch neue Widerstands- und Organi-sationsformen der Arbeiterklasse überwunden werden.
4. Arbeiterselbstverwaltung (wie im ehemaligen Jugoslawien) ist für einen Demokratischen Öko-Sozialismus erneut einzufordern.
5. Die Gefahr der Verirrung durch DdP + Bürokratie muss stets bedacht werden, wenn Zukunftsperspektiven des Sozialismus entwickelt werden sollen.
6. DdP und alle anderen Formen von Diktatur müssen beseitigt bzw. dauerhaft ausgeschlossen werden.
7. Bürokratie muss stets gesamtgesellschaftlicher, insbesondere rechtlicher und fachlicher Kontrolle unterstellt und zugänglich sein.
8. Durchgreifende Maßnahmen zum Umwelt- und Klimaschutz sind dringend erforderlich.
9. Der „fossile Pfad“ muss schnellstmöglich verlassen werden.
10. Atomkraft ist wieder einsetzbar, wenn es gelingt, den Atommüll restlos zu recyclen.
11. KI-Auswüchse, Trans- und Posthumanismus erfordern energische Gegen-Maßnahmen wie z.B. die gesamtgesellschaftliche Kontrolle über die Schlüssel-Industrien.
12. Um die akuten Bedrohungen der Menschheit abzuwenden und den Überwachungs-kapitalismus und den mit ihm verbundenen globalisierten, neoliberalen Turbo-Kapitalismus zu überwinden, muss ein Demokratischer Öko-Sozialismus (weiter)entwickelt werden.
13. Dieser Öko-Sozialismus sollte ethisch fundiert sein.
14. Vorab ist zu klären, was überhaupt unter ‚Sozialismus‘ zu verstehen ist bzw. welche Art von Sozialismus gemeint sein kann.
15. Mit der Verwirklichung des Demokratischen Öko-Sozialismus kann und muss jederzeit begonnen werden.[45 ]
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Literaturhinweise
Borche, Astrid von 1977: Die Ursprünge des Bolschewismus. Die jakobinische Tradition in Russland und die Theorie der revolutionären Diktatur, München
Brunner, Frank 2003: Die Diktatur des Proletariats, München, GRIN-Verlag
Burgmer, Christoph / Fuchs, Stefan (Hg.) 2004: Global Total. Eine Bilanz der Globali-sierung, Köln
Dandyk, Alfred: Der Begriff der Dialektik in der Philosophie Sartres, in: https://www.sartreonline.com/Dialektik3.pdf
Gmainer-Pranzl, Franz 2020: Motive der Marxismuskritik in Karl Poppers ‚Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, in: https://www.momentum-kongress.org/system/files/2020/1_p _ gmainer-pranzl-pdf
Hartmann, Klaus 1970: Die Marxsche Theorie, Berlin
Hegel, G. W. F. 1970 (1807): Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a.M.
Klenner, Hermann 1998: Demokratie, Rechtsstaat und Gesellschaft, in: www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/91_z_klenner.pdf
Kolpinski, Nikita o.J.: Marx und Engels über Bürokratie, in: www.marxforschung.de>MEJb-13-N-Kolpinski-S.-12-34.pdf
Mankwald, Bernhard 2006: Die Diktatur der Sekretäre. Marxismus und bürokratische Herrschaft, Norderstedt
Marx, Karl 1962: Frühe Schriften, I. Band, Hrsg. Hans-Joachim Lieber und Peter Furth, Darmstadt
Marx, Karl 1964: Die Frühschriften, Stuttgart
Marx, Karl / Engels, Friedrich 1967/1968: Über Kunst und Literatur. In zwei Bänden. Erster Band 1967, Zweiter Band 1968, Berlin
Marx, Karl 2005: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, 1872, Köln
Marx, Karl / Engels, Friedrich o.J.: Diktatur des Proletariats, in: www.marx-forum.de/marx-lexikon/lexikon_d/diktatur.html
Marx-Forum: Dialektik, in: https://marx-forum.de/marx-lexikon/lexikon_d/dialektik.html
Mayer, Leo u.a. 2004: Wie die Globalisierung zur globalen Wirtschaftskrise führt, in: https://www.linksnet.de/artikel/18746
Popper, Karl R. 1992 ( 1945): Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band I: Der Zauber Platons; Band II: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen (7. Aufl.), Tübingen
Robra, Klaus 2003: Und weil der Mensch Person ist …, Essen
Robra, Klaus 2015: Wege zum Sinn, Hamburg
Robra, Klaus o.J. (2020): Ethik der Verhaltenssteuerung. Eine Neubegründung, München, https://www.grin.com/document/923015
Robra, Klaus o.J. (2021): Sind die Diktatur des Proletariats und die Bürokratie das Ende des Sozialismus. Die Frage nach Auswegen aus den Sackgassen, München, https://www.grin.com/document/1032082
Schelling, F. W. J. 1975: Schriften von 1799-1801, Darmstadt
Winkler, Heinrich August 2017: Marx und die Folgen – Gedanken zum Wandel der Revolution 1789–1989‘, in: www.zeitgeschichte–digital.de>doks>files
[...]
1 Karl Marx: Frühe Schriften, I. Band, Hrsg. Hans-Joachim Lieber und Peter Furth, Darmstadt 1962, S. 658
2 Karl Marx: Das Kapital (1867), Köln 2005, S. 179
2 In: Karl Marx zur entfremdeten Arbeit, http://www.luk-kormacher.de/Schule/VWLÖ/zitate69htm, S. 3, a.a.O. auch Weiteres zum Problem Entfremdung, vgl. Robra 2015 , S. 410 ff.
3 Marx, zitiert in:http://www.marx-forum.de/marx-lexikon/lexikon_p/parlament.html
4 Marx 1964, S. 224
5 Vgl. Robra 2003
6 Karl Marx: Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 17, S. 342
8 Karl Marx / Friedrich Engels: Kommunistisches Manifest, MEW 4, S. 482
9 In: Bergmann 1959, S. 720
10 Karl Marx, in: Diktatur des Proletariats, S. 1 (s. Literaturhinweise!)
11 Marx in: s. Fußnote Nr. 10, a.a.O. S. 2
12 Bergmann a.a.O. ebd.
13 Vgl. K. Hartmann 1970, S. 515
14 K. Marx: Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 17, S. 545 f. Hierzu auch: Michael Jäger: Der Parlamentarismus ist kein Notbehelf. In: https://www.freitag.de/autoren/michael-jaeger/5-der-parlamentarismus-ist-kein-notbehelf, S. 2 ff.
15 K. Marx: Interview vom 3. Juli 1871, in: MEW 17, S. 641
16 F. Engels: Kritik des SPD-Programms von 1891, MEW 22, S. 234, auch in: www.marx-forum.de/marx-lexikon/lexikon_f/friedlich.html,
17 Vgl. Brunner 2003, S. 2
18 K. Marx, in: www.marx-forum.de/marx-lexikon/lexikon_s/staat.html , S. 1-2
19 K. Marx: Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie (1841/42), in: Marx 1964, S. 60-62
20 F. Engels, in: Kolpinski o. J., S. 21 f.
21 Kolpinski a.a.O. S. 15
22 Marx in: Kolpinski a.a.O. S. 24
23 Vgl. Robra o.J. (2020), S. 123 ff.; darin ferner auch zum Ethischen Sozialismus, zu dialektisch-materialistischer Ethik (incl. Blochs Veränderungsethik, S. 171 ff.)) und zur Öko-Ethik S. 181 ff., 294 ff.
24 In: Marx / Engels 1967, S. 114
25 Marx a.a.O. S. 115
26 Marx a.a.O. S. 116, Hervorhebungen KR.
27 Marx 1964, S. 269
28 Popper 1992, Bd. I, S. IX
29 Popper a.a.O. Band II, S. 35
30 Gmainer-Pranzl 2020, S. 5
31 Popper a.a.O. Bd. II, S. 37
32 Popper, in: Gmainer-Pranzl 2020, S. 5
33 Popper, in Gmainer-Pranzl a.a.O. S. 6
34 Popper a.a.O. Bd. II, S. 40 f.
35 Vgl. K. Hartmann 1970, S. 8
36 Hegel 1970 (1807), S. 326
37 In: Hartmann a.a.O. S. 99
38 Vgl. Schelling 1975, S. 643
39 In: https://www.sartreonline.com/Dialektik3.pdf
40 In: www.zeitgeschichte–digital.de>doks>files
41 N. Wohlleben, in: http://pw-portal.de/rezension/27605-die-diktatur-der-sekretaere_32399
42 Vgl. Robra o.J. (2021), S. 4 ff.
43 Mayer, Leo u.a. 2004, S. 11 f.
44 Burgmer / Fuchs (Hg.) 2004 (s. Literaturhinweise!)
Häufig gestellte Fragen
Was behandelt das Inhaltsverzeichnis des Textes?
Das Inhaltsverzeichnis umfasst Vorbemerkungen, Marxens Theorien (mit Zusammenfassung), Marx-Kritik (Poppers Kritik, Klaus Hartmanns Sicht, H. A. Winklers Sicht auf Marxens Revolutionstheorie), neoliberale Globalisierung als Fortsetzung der Dauerkrise des Kapitalismus, die Umweltkrise, Fazit, Grundsätze und Forderungen, sowie Literaturhinweise.
Was sind die Hauptpunkte der Vorbemerkungen?
Die Vorbemerkungen thematisieren die Aktualität von Marx' Ideen angesichts zunehmender sozialer Ungleichheiten, eine Abhandlung über das Scheitern des Sozialismus (Diktatur des Proletariats und Bürokratie), und die Frage, inwieweit Marxsche Theorien zur Lösung aktueller gesellschaftlicher Probleme beitragen können.
Was sind die zentralen Thesen in "Marxens Theorien"?
Dieser Abschnitt behandelt die Analyse des globalisierten Kapitalismus durch Marx, seine Auseinandersetzung mit französischem Materialismus und Sozialismus, deutscher Philosophie (Hegel), englischer Nationalökonomie, die Konzepte Wertform und Mehrwert, Kritik der Hegelschen Dialektik, und die Analyse der entfremdeten Arbeit.
Was sind die Kritikpunkte an Marx in dem Abschnitt "Marx-Kritik"?
Der Abschnitt umfasst Kritik von Karl Popper (Vorwurf des Totalitarismus), Klaus Hartmann (anthropologischer Ansatz, Zirkel der Entfremdung), und Heinrich August Winkler (fragwürdige Analogie zwischen bürgerlicher und proletarischer Revolution).
Was sind die Hauptaussagen von Poppers Kritik an Marx?
Popper wirft Marx "Historizismus" vor, verbindet ihn indirekt mit Totalitarismus und kritisiert seine Methode als deterministisch und prophezeiungsbasiert.
Was sind die wichtigsten Argumente von Klaus Hartmanns Marx-Kritik?
Hartmann kritisiert Marx' anthropologischen Ansatz als Zirkelschluss und argumentiert, dass Marx Hegel missverstehe und eine "Theorie-Utopie" liefere.
Welche Aspekte der Marxschen Theorie werden in Bezug auf die neoliberale Globalisierung diskutiert?
Es wird diskutiert, ob die neoliberale Globalisierung eine Fortsetzung der von Marx diagnostizierten "Dauerkrise des Kapitalismus" darstellt, und es werden Analysen der Schattenseiten der Globalisierung aufgeführt: Verschärfung des internationalen Konkurrenzkampfes, Verlust der politischen Kontrolle, soziale Gegensätze, Belastungen für Welt-Klima und Umwelt, kulturelle und politische Gegensätze, Verteilung von Reichtum zwischen Nord und Süd.
Welche Grundsätze und Forderungen werden in dem Text aufgestellt?
Die Grundsätze umfassen die Ablehnung des chinesischen Hybrid-Modells, Anerkennung neuer Emanzipationsformen auf Kuba, Würdigung des französischen ‚Projet Socialiste‘, Kritik an Marxens Revolutionstheorie, die Ablehnung der Avantgarde-Theorie, und die Bedeutung von Demokratie und ethischen Grundsätzen für jede Form von Sozialismus. Die Forderungen umfassen Arbeiter-Selbstverwaltung, Kontrolle von Bürokratie, durchgreifende Maßnahmen zum Umwelt- und Klimaschutz, kritische Auseinandersetzung mit KI und Transhumanismus, sowie die Entwicklung eines Demokratischen Öko-Sozialismus.
Was wird in den "Literaturhinweisen" angegeben?
Es werden die zitierten Dokumente und Schriftstücke angegeben.
Welche Kernargumente werden bezüglich der Umweltkrise angeführt?
Es wird argumentiert, dass die Ausbreitung der "Räuberökonomie" extreme ökologische Folgen nach sich zieht, Politiker/innen weitgehend machtlos sind, und dass die globale Investoren das Wirtschaftsgeschehen bestimmen. Leidtragende sind Natur, Umwelt und die lohnabhängigen Verbraucher.
Was ist die Hauptschlussfolgerung des Textes?
Marx hat recht gesehen, wenn auch nicht in allem und in jeder Hinsicht. Unhaltbar ist seine Revolutionstheorie, die Weltrevolution ist ausgeblieben, muss aber wohl noch stattfinden, wenn die Befreiung vom Kapitalismus anders nicht möglich ist.
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- Klaus Robra (Autor:in), Hat Marx doch recht gesehen? Seine Theorien in historisch-kritischen Perspektiven, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1474386