Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust ist nicht nur eine Art fiktive Biografie und ein Entwicklungsroman, sondern auch ein Zeitroman, in dem sich der Erzähler, an einer Stelle des Buches ‚Marcel’ genannt, auf die Suche nach der verlorenen Zeit begibt. Die verlorene Zeit meint dabei verloren geglaubte Erinnerungen und Momente, die zu Beginn des Romans nicht mehr für ihn existent sind. Im Verlauf des Romans entwickelt der Protagonist Erkenntnisse, die ihm die scheinbar verlorene Zeit wiederzubringen vermögen und weitere Einsichten, die ihn diese Momente sogar bannen lassen. Dabei lassen sich die Erinnerungen Marcels in zwei unterschiedliche Konzepte unterteilen. Zum einen in die unwillkürliche Erinnerung, die mémoire involontaire, und in die willentliche Erinnerung, die mémoire volontaire. Diese Erinnerungskonzepte und deren Bedeutungen sollen im Verlauf der Arbeit näher erläutert werden. Außerdem soll in Kürze auf weitere, schwächere Formen der Erinnerung bei Proust eingegangen werden, wie zum Beispiel die mémoire du rêve oder die mémoire des yeux und deren Funktionen. Des weiteren steht die These zur Diskussion, ob es sich bei der mémoire involontaire um eine zeitlose Erinnerung handelt, wie von Gilles Deleuze in seinem Werk Proust und die Zeichen geschildert.
In Bezugnahme auf die Zeitlosigkeit wird in einem kurzen Exkurs auf die écriture nach Deleuze eingegangen, die von Vottoria Borsò in ihrem Aufsatz Proust und die Medien: Écriture und Filmschrift zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit näher erläutert wurde.
Im Folgenden wird nur auf den ersten und den letzten Teil des Werkes eingegangen, also auf In Swanns Welt und Die wiedergefundene Zeit. Dies erfolgt aufgrund der Komplexität des Romans und der Tatsache, dass sich die Schlüsselszenen der mémoire involontaire in diesen Teilen befinden und sich hier am besten die Erinnerungsbilder erläutern lassen.
Inhalt
1.Einleitung
2.Die willentliche Erinnerung: mémoire volontaire
3. Die Formen des unwillentlichen Erinnerns
3.1 Die mémoire involontaire
3.1.1 Exkurs: Écriture
3.1.2 Die Madeleine-Episode
3.1.3 Der Weg zu den Guermantes
3.2 Die mémoire du rêve und mémoire du corps
3.3 Die mémoire des yeux
4. Fazit
5. Bibliographie
5.1 Primärliteratur
5.2 Sekundärliteratur
1. Einleitung
„Sie glauben an das ewige Leben im Jenseits?!“
„Nein, sondern an das ewige Leben in dieser Welt. Es gibt Augenblicke, in denen die Zeit plötzlich stehen bleibt, um der Ewigkeit Platz zu machen.“[1]
Marcel Prousts siebenteiliger Romanzyklus gilt heute als einer der unumstrittenen Höhepunkte der Prosaliteratur des 20. Jahrhunderts und wird gar als „kopernikanische Wende in der Geschichte des Romans“[2] bezeichnet. Proust bemüht sich in der „Recherche“[3], ähnlich wie Kant in der Philosophie, in der Erzählliteratur die Welt aus einer Subjektivität heraus neu zu konstruieren.[4] Mit der subjektiven Erzählung geht keine chronologisch ablaufende Geschichte einher , wie sie der gemeine Leser gewohnt ist. Der Erzähler lässt den Leser vielmehr im Unklaren darüber, wer grade spricht, an welchem Ort und in welcher Zeit er sich befindet. Schließlich handelt es sich beim Erzähler um einen Mann, der erinnernd an seine Kindheit und sein Leben zurückblickt und sich dabei zwischen Traum und Wirklichkeit bewegt.
André Maurois schreibt über den Roman bereits im Jahr1956:
Der Hauptzweck seines Romans wird nicht die Darstellung einer bestimmten französischen Gesellschaftsschicht am Ende des neunzehnten Jahrhunderts sein, auch nicht eine neuartige Analyse der Liebe (deshalb ist es sehr töricht, zu behaupten, Prousts Werk werde nicht bleiben, weil jene Gesellschaftsschicht verschwunden oder der Liebescodex ein anderer geworden sei), sondern der Kampf des Geistes gegen die Zeit, das Unvermögen, im realen Leben einen festen Punkt zu finden, an den das Ich sich halten kann, die Pflicht, diesen festen Punkt in sich selbst zu finden, die Möglichkeit ihn im Kunstwerk zu finden. Das ist das wesentliche, das absolut neue Thema des Romanwerks Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.[5]
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust ist folglich nicht nur eine Art fiktive Biografie und ein Entwicklungsroman, sondern auch ein Zeitroman, in dem sich der Erzähler, an einer Stelle des Buches ‚Marcel’ genannt, auf die Suche nach der verlorenen Zeit begibt. Die verlorene Zeit meint dabei verloren geglaubte Erinnerungen und Momente, die zu Beginn des Romans nicht mehr für ihn existent sind. Im Verlauf des Romans entwickelt der Protagonist Erkenntnisse, die ihm die scheinbar verlorene Zeit wiederzubringen vermögen und weitere Einsichten, die ihn diese Momente sogar bannen lassen. Dabei lassen sich die Erinnerungen Marcels in zwei unterschiedliche Konzepte unterteilen. Zum einen in die unwillkürliche Erinnerung, die mémoire involontaire, und in die willentliche Erinnerung, die mémoire volontaire. Diese Erinnerungskonzepte und deren Bedeutungen sollen im Verlauf der Arbeit näher erläutert werden. Außerdem soll in Kürze auf weitere, schwächere Formen der Erinnerung bei Proust eingegangen werden, wie zum Beispiel die mémoire du rêve oder die mémoire des yeux und deren Funktionen. Des weiteren steht die These zur Diskussion, ob es sich bei der mémoire involontaire um eine zeitlose Erinnerung handelt, wie von Gilles Deleuze in seinem Werk Proust und die Zeichen[6] geschildert.
In Bezugnahme auf die Zeitlosigkeit wird in einem kurzen Exkurs auf die écriture nach Deleuze eingegangen, die von Vottoria Borsò in ihrem Aufsatz Proust und die Medien: Écriture und Filmschrift zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit[7] näher erläutert wurde.
Im Folgenden wird nur auf den ersten und den letzten Teil des Werkes eingegangen, also auf In Swanns Welt und Die wiedergefundene Zeit. Dies erfolgt aufgrund der Komplexität des Romans und der Tatsache, dass sich die Schlüsselszenen der mémoire involontaire in diesen Teilen befinden und sich hier am besten die Erinnerungsbilder erläutern lassen.
2. Die willentliche Erinnerung: mémoire volontaire
Als mémoire volontaire wird die willentliche Erinnerung bezeichnet. Sie bildet den Gegensatz zur mémoire involontaire, der unwillentlichen Erinnerung. Die mémoire volontaire ist demnach die Art der Erinnerung, die man bewusst versucht herbeizurufen. Wenn Marcel selbst versucht sich zu erinnern entsteht nur ein für ihn verzerrtes Bild des Vergangenen, das von der wirklichen Vergangenheit nichts bewahrt.[8] In der hier zitierten Stelle des Romans, der so genannten Madeleine-Episode, erinnert sich Marcel an seine Zeit in Combray. Zwar vermag er sich an verschiedene Zeiten und Orte in Combray zu erinnern, wiederbeleben kann er die Szenen jedoch nicht.
Da aber alles, was ich mir davon hätte ins Gedächtnis rufen können, mir nur durch die willentliche Erinnerung des Verstandes gegeben worden wäre und da die auf diese Weise vermittelte Kunde von der Vergangenheit nichts von ihr bewahrt, hätte ich niemals lust gehabt, an das übrige Combray zu denken. All das war in Wirklichkeit tot für mich.[9]
Dabei spricht Marcel auch von einer Form der visuellen Erinnerung, in der sich die Bilder im Zuge der willentlichen Erinnerung so sehr verzerren, dass sie ihm schlussendlich entgleiten.
Ich will versuchen, ihn von neuem herbeizuführen. Ich durchlaufe rückwärts im Geiste den Weg bis zu dem Moment, wo ich den ersten Löffel voll Tee an den Mund geführt habe. Ich finde den gleichen Zustand wieder, doch von keinem neuen Licht erhellt.
[…]
Sicherlich muss das, was auf dem Grund meines Ich in Bewegung geraten ist, das Bild, die visuelle Erinnerung sein, die zu diesem Geschmack gehört und die nun versucht, mit jenem bis zu mir zu gelangen. Doch sie müht sich zu großer Ferne und nur allzu schwach erkennbar ab; kaum nehme ich eine gestaltlosen Lichtschein war, in dem sich der ungreifbare Wirbel der Farben vermischt und verliert; ich kann aber die Form nicht unterscheiden, […].
Wird sie bis an die Oberfläche meines klaren Bewußtseins gelangen, diese Erinnerung, jener Augenblick von einst, der nun plötzlich durch die Anziehungskraft eines identischen Augenblicks von so weit her in meinem Innersten erregt, bewegt und emporgehoben wird?[10][11]
Folglich versagt die mémoire volontaire bei dem Versuch ein vergangenes Ich wiederherzustellen[12] und schafft es lediglich Bruchstücke der Vergangenheit zu Tage zu befördern.[13] Die mémoire volontaire kann nach Inge Backhaus lediglich als ein bewusstes Nachsinnen über die Vergangenheit bezeichnet werden.[14]
Marcel geht in seinen Ausführungen sogar soweit seine Erinnerungen als “tot“ zu bezeichnen: „All das war in Wirklichkeit tot für mich“.[15] Folglich kann nach seiner Vorstellung nach der Mensch einen Großteil der Vergangenheit nicht mehr erreichen.
Die mémoire volontaire vermag es lediglich einen bewusst herbeirufbaren, identischen Ausschnitt der Vergangenheit wiederzugeben.[16] So zum Beispiel das traumatisch besetze Combray zur Zeit des Zubettgehens:
So kam es, daß ich lange Zeit hindurch, wenn ich nachts aufwachte und an Combray dachte, nur diesen hellen, gleichsam aus undurchdringlicher Dunkelheit herausgeschnittenen Streifen sah, […] mit einem Wort, es handelte sich nur um die immer zum gleichen Zeitpunkt betrachtete, von allen Dingen der Umgebung losgelöste, für sich allein auf dem dunklen Hintergrund sichtbare, allernotwendigste Dekoration (so wie sie bei alten Theaterstücken für den Gebrauch von Provinzbühnen in der ersten Zeile angegeben wird) für das Drama meines abendlichen Entkleidens; es war, als habe ganz Combray nur aus zwei durch eine schmale Treppe verbundenen Stockwerke bestanden […].[17]
In der mémoire volontaire kann es sich somit nur um isolierte Erinnerungen handeln, die nur einen Ausschnitt und kein tatsächliches vollständiges Abbild der Wirklichkeit liefern. Dadurch, dass es sich nur um selektierte Erinnerungen handelt, können sie auch keinen vollen Wahrheitsgehalt besitzen und sind somit ein „negatives Gegenstück“[18] zur mémoire involontaire.
3. Die Formen des unwillentlichen Erinnerns
Die Ich-Suche innerhalb der Recherche vollzieht sich in verschiedenen Weisen des unwillentlichen Erinnerns und ermöglicht wohl einzig und alleine die Bekehrung Marcels zum Künstler.[19] Dies ist ein Grund, weshalb kaum ein Werk der kritischen Proust-Literatur das Motiv des unwillentlichen Erinnerns unberücksichtigt gelassen hat, weswegen eine Beschreibung des proustschen Motivs unerlässlich ist für das Verständnis seiner Texte.[20] Marcel Proust entwickelte mit der mémoire involontaire sein Grundkonzept von einer unwillkürlichen Erinnerung nach dem Vorbild des französischen Philosophen Henri Bergson. Dieser unterschied den linearen, chronologischen und in Maßeinheiten einteilbaren Zeitablauf von einer subjektiv erlebten, nicht linearen Zeit.[21] Ganz ähnlich handhabt es Proust, wenn er in seinem Roman den Erzähler in nicht chronologischer Reihenfolge seine Geschichte erzählen lässt. Die Geschichte wird in diesem Fall in einer für den Erzähler schlüssigen subjektiven Ablauffolge erzählt.
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, ursprünglich noch dreiteilig von Proust geplant, teilte sich in In Swanns Welt, Die Welt der Guermantes und Die wiedergefundene Zeit. Das Motiv der unwillkürlichen Erinnerung sollte dabei im ersten Teil dem Erzähler noch so begegnen, dass er sie nicht wirklich versteht, bzw. dass sie das Ziel seiner Suche ist. Im zweiten Teil soll er vorübergehend abgelenkt werden und einen Zeit-Verlust erfahren bis er schließlich im dritten Teil die wahre Botschaft der mémoire involontaire versteht, nämlich dass er all die erfahrenen Erinnerungen schriftlich in einem Kunstwerk festhalten soll.[22] Zwar überarbeitete Proust seinen ursprünglichen Plan von drei Teilen im Laufe der Jahre, die Grundstruktur blieb allerdings erhalten, so dass In Swanns Welt und Die wiedergefundene Zeit eine Art Rahmen der Geschichte bilden. Beide Teile beinhalten sie Schlüsselszenen der mémoire involontaire, die Madeleine-Episode und den Weg zu den Guermantes[23].
[...]
[1] Dostojewski in: André Maurois: Auf den Spuren von Marcel Proust. Hamburg: Claassen 1956, S. 176.
[2] Karlheinrich Biermann: Marcel Proust. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2005, S. 107.
[3] In der Forschungsliteratur wird der Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit häufig nur kurz als Recherche betitelt und geht dabei auf den französischen Originaltitel À la recherche du temps perdu zurück. Im Verlauf der Arbeit wird dieser Titel zur Erleichterung des Leseflusses häufiger benutzt werden.
[4] Vgl. Biermann (2005): Marcel Proust, S. 107.
[5] Maurois (1956): Auf den Spuren von Marcel Proust, S. 183.
[6] Gille Deleuze: Proust und die Zeichen. Aus dem Französischen von Henriette Beese. Berlin: Merve 1993.
[7] Vittoria Borsò: Proust und die Medien: Écriture und Filmschrift zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. In: Proust und die Medien, hrsg. von Uta Felten und Volker Roloff. München: Fink 2005, S. 32-60.
[8] Vgl. Karl Hölz: Das Thema der Erinnerung bei Marcel Proust. Strukturelle Analyse der «mémoire involontaire» in «A la recherche du temps perdu». München: Wilhelm Fink Verlag 1972, S. 21.
[9] Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 1. Unterwegs zu Swann. Aus dem Französischen von Eva Rechel-Mertens, revidiert von Luzius Keller. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994, S. 65-66.
[10] Proust (1994): Unterwegs zu Swann, S. 68 f.
[11] Die Erinnerung die Marcel hier versucht willentlich hervorzurufen, ist die unwillentliche Erinnerung an Combray und seine Tante, die durch den Biss in eine in Lindenblütentee getränkte Madeleine zuvor hervorgerufen wurde. Die Madeleine-Episode ist eine Schlüsselszene für die mémoire involontaire und wird im Folgenden noch näher erläutert werden.
[12] Vgl. Hölz (1972): Das Thema der Erinnerung bei Marcel Proust, S. 22.
[13] Vgl. Rainer Warning: Das Imaginäre der Proustschen Recherche. Mit einem Beitrag von Karlheinz Stierle zur Erinnerung an Robert Jauß. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 1999, 15.
[14] Vgl. Inge Backhaus: Studien zur Leit- und Wiederholungsmotivik in Prousts ‚A la recherche du temps perdu’. Berlin: Erich Schmidt Verlag 1976, S. 31.
[15] Proust (1994): Unterwegs zu Swann, S. 66.
[16] Vgl. Ulrike Sprenger: Proust-ABC. Leipzig: Reclam 1997, S. 74.
[17] Proust (1994): Unterwegs zu Swann, S. 65.
[18] Sprenger (1997): Proust-ABC, S. 74.
[19] Vgl. Hölz (1972): Das Thema der Erinnerung bei Marcel Proust, S. 24.
[20] Vgl. Hölz (1972): Das Thema der Erinnerung bei Marcel Proust, S. 11.
[21] Vgl. Sprenger (1997): Proust-ABC, S. 69.
[22] Vgl. Sprenger (1997): Proust-ABC, S. 69.
[23] Die Bedeutung dieser zwei Szenen wird in den Kapiteln 3.1.2 und 3.1.3 erläutert.
- Quote paper
- Anonymous,, 2009, Die mémoire involontaire und andere Formen des Erinnerns in Marcel Prousts 'Auf der Suche nach der verlorenen Zeit', Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/147042
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