Eine Abhandlung über die Freiheit scheint historisch betrachtet zeitlos zu sein, weil sich die Freiheit im Verlauf der Geschichte bis in die Gegenwart in vielen Fällen als politisches Leitmotiv herauskristallisierte. Vor diesem Hintergrund ist es interessant zu sehen, ob auch in der Moderne sein Werk noch zeitlos ist, d.h. von genereller Relevanz über den unmittelbaren historischen Kontext hinaus.
Ein Konservativer wird sich nur schwerlich mit dem Gedanken an Kopftuch tragende Musliminnen an Schulen anfreunden können, während hingegen ein Liberaler darin wahrscheinlich kein Problem sieht. Ebenso differente Auffassungen gibt es zu vielen weiteren politisch relevanten Fragen; einige in letzter Zeit besonders diskutierte sind die Mohammed-Karikaturen, ein Rauchverbot sowie das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung.
Aus diesem Grund sollen diese im letzten Abschnitt der Arbeit dahingehend analysiert werden, ob sich in ihrem Fall eine Verteidigung individueller Freiheit mit den Argumenten Mills legitimieren lässt. Wenn seine Freiheitskonzeption in ihrer Begründungsstruktur auf heutige als Gefährdung wahrgenommene Einschränkungen der Freiheit anwendbar ist, kann man von ihrer Aktualität sprechen. Vor diesem Hintergrund ergibt sich die in Zeitlosigkeit und Aktualität zweigeteilte Leitfrage der Arbeit, ob Mills Freiheitskonzeption eine zeitlos aktuelle Verteidigung individueller Freiheit darstellt.
Bevor der Evaluation dieser Leitfrage nachgegangen wird, muss zunächst Mills Freiheitskonzeption zusammenfassend dargestellt werden. Darauf folgt ein Zwischenfazit bezüglich der Zeitlosigkeit von Mills Freiheitskonzeption, die in einem anschließenden Punkt um die Paternalismus-Debatte ergänzt wird, um in einem ersten allgemeinen Anwendungsfeld bestimmte notwendige Modifikationen seiner sehr liberalen Position aufzuzeigen. Es scheint darüber hinaus lohnenswert, zu analysieren, ob seine Verteidigung individueller Freiheit auch auf die genannten modernen Fallbeispiele zu beziehen ist. Um dies evaluieren zu können, müssen zunächst noch die wichtigsten Argumente in der Kontroverse um das Schadensprinzip erörtert werden. Jenes Prinzip Mills wurde vielerseits kritisiert; diesem wird im ersten Unterpunkt des vierten Kapitels nachgegangen. Im Anschluss daran soll anhand importanter Gegenargumente eine „Linie im Sand“ konstruiert werden, welche ein ausreichend präzises Anwendungskriterium ermittelt, um die modernen Fallbeispiele analysieren zu können.
Inhaltsverzeichnis
1. Die Freiheit und ihre Gefährdungen
2. Mills Freiheitskonzeption in „On Liberty“
2.1 Die Intention des Werkes
2.2 Über die Freiheit des Gedankens und der Diskussion
2.3 Über Individualität als eins der Elemente der Wohlfahrt
2.4 Der Utilitarismus als Basis staatsphilosophischen Denkens
2.5 Über die Grenzen der Autorität der Gesellschaft über das Individuum ...
3. Ein Zwischenfazit zur Zeitlosigkeit von Mills Freiheitskonzeption
3.1 „On Liberty“ - ein Werk über seine Zeit hinaus
3.2 Die Paternalismus-Debatte und ihre Implikationen
4. Die Kontroverse um das Schadensprinzip
4.1 Kritik am Schadensprinzip
4.2 (K)eine „Linie im Sand“?
5. Aktuelle Anwendungen von Mills Freiheitskonzeption
5.1 Die Mohammed-Karikaturen
5.2 Die Diskussion um ein Kopftuch-Verbot für Musliminnen
5.3 Die Debatte um ein Rauchverbot
5.4 Terrorismusbekämpfung - was und wie viel darf der Staat tun?
6. Mill, ein Verteidiger individueller Freiheit
Anhang
Literatur- und Quellenverzeichnis
1. Die Freiheit und ihre Gefährdungen
„Ein Mann kann nicht einen Rock oder ein paar Schuhe erhalten, die ihm passen, ohne dass man ihm dazu Maß nimmt oder dass er sie aus einem ganzen Lager heraussucht - und ist es etwa leichter, ein passendes Leben für ihn zu finden als einen Rock? Oder sind menschliche Wesen in ihrer ganzen körperlichen und geistigen Beschaffenheit einander ähnlicher als in ihrer Schuhnummer?“1
Wenn schon die Schuhnummern verschieden sind, wie können dann ideelle Aspekte wie differente Lebensweisen gleich behandelt werden? Anhand dieses Beispiels zeigt der liberale Staatsdenker John Stuart Mill die Komplexität der Individualität auf, einer Individualität, aus der ein eigener, freier Lebensstil entspringen kann, den jeder selbst finden und konzipieren muss. Wo aber findet Individualität ihre Grenzen? Wann darf die Gesellschaft ihre Interessen höher stellen als die des Individuums?
Mit diesen Fragen beschäftigt sich „On Liberty“, das 1859 erschienene Hauptwerk Mills, welches im analytischen Mittelpunkt dieser Arbeit steht. Eine Abhandlung über die Freiheit scheint historisch betrachtet zeitlos zu sein, weil sich die Freiheit im Verlauf der Geschichte bis in die Gegenwart in vielen Fällen als politisches Leitmotiv herauskristallisierte. Vor diesem Hintergrund ist es interessant zu sehen, ob auch in der Moderne sein Werk noch zeitlos ist, d.h. von genereller Relevanz über den unmittelbaren historischen Kontext hinaus. In der heutigen Zeit ist die Freiheit in pluraler Weise verfassungsrechtlich festgeschrieben, sodass man nicht mehr grundlegend um sie kämpfen muss, aber in Dependenz von politischen Ansichten kann man die Freiheit in einigen Fällen bedroht sehen oder ihre Einschränkung als gesellschaftlich oder politisch erforderlich betrachten.
Ein Konservativer wird sich nur schwerlich mit dem Gedanken an Kopftuch tragende Musliminnen an Schulen anfreunden können, während hingegen ein Liberaler darin wahrscheinlich kein Problem sieht. Ebenso differente Auffassungen gibt es zu vielen weiteren politisch relevanten Fragen; einige in letzter Zeit besonders diskutierte sind die MohammedKarikaturen, ein Rauchverbot sowie das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung.
Aus diesem Grund sollen diese im letzten Abschnitt der Arbeit dahingehend analysiert werden, ob sich in ihrem Fall eine Verteidigung individueller Freiheit mit den Argumenten Mills legitimieren lässt. Wenn seine Freiheitskonzeption in ihrer Begründungsstruktur auf heutige als Gefährdung wahrgenommene Einschränkungen der Freiheit anwendbar ist, kann man von ihrer Aktualität sprechen. Vor diesem Hintergrund ergibt sich die in Zeitlosigkeit und Aktualität zweigeteilte Leitfrage der Arbeit, ob Mills Freiheitskonzeption eine zeitlos aktuelle Verteidigung individueller Freiheit darstellt.
Bevor der Evaluation dieser Leitfrage nachgegangen wird, muss zunächst Mills Freiheitskonzeption zusammenfassend dargestellt werden. Als Vorbetrachtung soll zu Beginn des zweiten Kapitels anhand eines konzisen Vergleichs mit Tocqueville die Intention Mills herausgestellt werden, bevor dann im Anschluss die einzelnen Kapitel aus „On Liberty“ nachgezeichnet werden. Darauf folgt ein Zwischenfazit bezüglich der Zeitlosigkeit von Mills Freiheitskonzeption, die in einem anschließenden Punkt um die Paternalismus-Debatte ergänzt wird, um in einem ersten allgemeinen Anwendungsfeld bestimmte notwendige Modifikationen seiner sehr liberalen Position aufzuzeigen. Es wäre sicherlich übertrieben, zu sagen „On Liberty“ lässt sich „als das Evangelium einer Gesellschaft verstehen, die die Freiheit des Individuums gleichsam zu ihrer Religion erhoben hat“2, aber grundlegend wird die Zeitlosigkeit seiner Gedanken bestätigt werden. Davon ausgehend scheint es lohnenswert, zu analysieren, ob seine Verteidigung individueller Freiheit auch aktuell ist, d.h. sich auf die genannten modernen Fallbeispiele beziehen lässt. Um diese Possibilität evaluieren zu können, müssen zunächst noch die wichtigsten Argumente in der Kontroverse um das Schadensprinzip erörtert werden. Jenes Prinzip Mills wurde vielerseits als inkohärent kritisiert; dies ist einer von mehreren Vorwürfen, denen im ersten Unterpunkt des vierten Kapitels nachgegangen wird. Im Anschluss daran soll anhand importanter Gegenargumente eine „Linie im Sand“3 konstruiert werden, welche ein ausreichend präzises Anwendungskriterium ermittelt, um die modernen Fallbeispiele analysieren zu können.
Eine gravierende methodische Diffizilität ergibt sich im Zusammenhang mit dem von Max Weber geforderten und seither diskutierten Postulat der Werturteilsfreiheit. Gerade bei der Erörterung aktueller politischer Fragen läuft man Gefahr, sich in der Wertung eines Ereignisses zu verlieren.
Es soll in dieser Arbeit aber keinesfalls um Wertungen gehen - die Frage soll nicht sein, ob die starre Haltung der Dänen im Streit um die Mohammed-Karikaturen gut war, oder ob das Kopftuchverbot begrüßenswert ist - man würde hierbei unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit eine politische Wertung vornehmen, um eigene Interessen als „wissenschaftlich“ objektive darzustellen. Stattdessen liegt die Intention dieser Arbeit in der Eruierung der strukturell-analytischen Frage, ob sich mit den Argumenten Mills für alle, die es wünschen, individuelle Freiheit auch in modernen Streitfällen verteidigen lässt.
In diesem Kontext muss noch betont werden, dass es in der Politikwissenschaft konträr z.B. zur Mathematik keine völlige Objektivität geben kann, denn allein schon die Auswahl des Themas sowie die Formulierung des Titels lassen einen impliziten Rückschluss auf die Werthaltung des Autors zu. Dennoch sei im Sinne Webers gesagt, dass die Arbeit so weit wie möglich werturteilsfrei sein soll. Wissenschaft kann und sollte, um einen normativen Anspruch nicht aufzugeben, mit ihren Erkenntnissen zur Klärung von Wertfragen beitragen, aber sie kann die Entscheidung über politische Werte für andere nicht verbindlich festlegen, ohne sich Unfehlbarkeit anzumaßen.4
Der für sämtliche Darstellungen und Argumente unentbehrliche Originaltext für diese Arbeit war Mills ins Deutsche übersetzte „Über die Freiheit“ sowie sekundär seine in englisch und deutsch herausgebrachte Ausgabe von „Utilitarianism“5. Die bedeutsamsten Sekundärtitel waren der sich intentional selbst erklärende Titel „Mill on Liberty: A Defence“ von John Gray6 sowie Nigel Warburtons in vielen Aspekten konstruktiv kritisierende Text „On Liberty and The Subjection of Women”7. Für die Erörterung der Argumente zum Schadensprinzip erwies sich vor allem „Political Theorists in Context“ von Chris Sparks und Stuart Isaacs als aufschlussreich; eine nicht minder bedeutende Rolle spielte „A Re-reading of Mill On Liberty“ von J.C. Rees8, das den entscheidenden Anstoß zur Lösung der Kontroverse brachte. Auch der Essay „Paternalism” von Gerald Dworkin9 war durch diverse Anregungen und kontroverse Thesen zur Paternalismus-Debatte bedeutsam.
2. Mills Freiheitskonzeption in „On Liberty“
2.1 Die Intention des Werkes
Die Intention Mills lässt sich in komparativer Analyse mit einem etwas früher tätigen Klassiker des politischen Denkens veranschaulichen.
Alexis de Tocqueville verfasste im Jahre 1835 sein berühmtes Werk „Über die Demokratie in Amerika“, in welchem sich der Kerngedanke um die spannungsgeladene Relation von Freiheit und Gleichheit dreht. Zunehmende Gleichheit führt gemäß Tocqueville zu einer sozialen Nivellierung10, in dessen Konsequenz der Einzelne isoliert und nahezu machtlos wird. Korreliert mit der Machtlosigkeit des Einzelnen bekommt die Meinung der Mehrheit wesentlich mehr Einfluss. Er spricht in diesem Zusammenhang von einer „Tyrannei“11 der Mehrheit, welche sich durch alle politisch relevanten Institutionen wie z.B. Parlamente und Gerichte zieht sowie im Falle ihrer Nichtbeschränkung gefährlich für die Demokratie wird.12
Eine Gefahr für die Demokratie sieht auch John Stuart Mill in seinem berühmten Werk „On Liberty“ aus dem Jahre 1859. Offensichtlich beeinflusst von Tocqueville, dessen Gefahrenwarnung er als empirische Tatsache übernimmt13, sieht er die Freiheit ebenfalls durch die Allmacht der öffentlichen Meinung bedroht. Mill spricht in seiner Einleitung von einer „Tyrannei der Mehrheit, [...] gegen welche die Gesellschaft auf der Hut sein muss.“14 Im Gegensatz zu Tocqueville sieht er jedoch die Hauptgefahr nicht in der Allmacht der öffentlichen Meinung, welche sich durch die Institutionen zieht, sondern vielmehr in der Gesellschaft an sich, die selbst der Tyrann sein kann.15 Wenn sich, so Mill, die Gesellschaft „in Dinge mischt, die sie nichts angehen, dann übt sie eine soziale Tyrannei aus, fürchterlicher als viele Arten politischer Bedrückung.“16
Vor diesem Hintergrund ist es Mills Intention, die Grenzen der Einflussnahme der Gesellschaft über das Individuum zu analysieren, denn es gibt gemäß seiner liberalen Staatsphilosophie „eine Grenze für die rechtmäßige Einmischung öffentlicher Meinung in die persönliche Unabhängigkeit [.. ,]“.17
Insgesamt betrachtet vertritt Mill im Gegensatz zu den Griechen, Römern sowie auch dem republikanisch denkenden Rousseau das Konzept negativer Freiheit, weil seine Hauptintention im Schutz individueller Freiheit vor der nivellierenden sozialen Tyrannei der Mehrheit liegt.
Im Folgenden soll anhand der Darstellung des zweiten und dritten Kapitels aus „On Liberty“ aufgezeigt werden, wie er die Freiheit näher bestimmt.
2.2 Über die Freiheit des Gedankens und der Diskussion
Eine besondere Aufmerksamkeit widmet Mill dem freien Austausch von Gedanken und Meinungen. Das besondere Übel der Unterdrückung einer Meinungsäußerung sei Raub am menschlichen Geschlecht.18 Dies wird zum einen damit begründet, dass im Falle einer richtigen Meinung die Wahrheit zugunsten des Irrtums unterdrückt werde.19 Zum anderen begründet Mill diese Malaise mit der Chance auch einer falschen Meinung, Gewinn zu bringen, weil gerade durch den Streit zwischen Wahrheit und Irrtum die Wahrheit umso deutlicher hervortreten kann.20
Eine bedeutende Grundannahme Mills geht davon aus, dass man sich über die Korrektheit einer Meinung niemals absolut sicher sein kann21, aus diesem Grund sei die Unterdrückung einer Meinungsäußerung „eine Anmaßung von Unfehlbarkeit“.22 In diesem Zusammenhang erwähnt der Staatsdenker die Skurrilität einer Ansicht, der zufolge freie Diskussion zugestanden wird, mit der Einschränkung, diese nicht auf die Spitze zu treiben.23 Der immanente Denkfehler einer solchen Sichtweise liegt darin, implizit anzunehmen, es gebe Gewissheiten, die nicht weiter hinterfragt werden müssen. Gemäß Mill ist aber keine Meinung absolut sicher, sodass es wiederum eine Anmaßung wäre, etwas scheinbar absolut Feststehendes unbezweifelt zu lassen.24 Zur Fundierung dieses Argumentes bringt er das historische Fallbeispiel des Marc Aurel: wenn selbst ein so großer, bedeutender Denker wie jener sich fehlbar machte, als er Christen verfolgen ließ, dann, so die Konklusion, sind die Ansichten durchschnittlicher Persönlichkeiten erst recht fehlbar.25
Durch die Dokumentation anderer historischer Beispiele, wie dem Tod des Sokrates26 als auch der Verfolgung von angeblichen Ketzern im Mittelalter27, verdeutlicht Mill die inhumanen Konsequenzen, welche aus der Unterdrückung von Meinungen resultieren, und gelangt somit zu einer Beweisführung, welche den Wert ebenso wie die Notwendigkeit freier Diskussion und Erörterung herausstellt.
Dabei ist es irrelevant, ob eine scheinbar wahre oder falsche Meinung erörtert wird. Mill zufolge müssen auch vermeintlich wahre Meinungen diskutiert werden, denn ohne Erörterung ebenso wie Anzweifelung einer wahren Meinung wird diese nur als Vorurteil betrachtet, ohne sie wirklich zu verstehen. Alle als wahr geltenden Meinungen werden so zum Dogma28, das widerspruchslos akzeptiert und auf diese Weise zu einem unhinterfragten formalen Bekenntnis wird.29
2.3 Über Individualität als eins der Elemente der Wohlfahrt
Das folgende Kapitel dreht sich um die Frage, ob die Menschen nicht nur die Freiheit zu differenten Meinungen, sondern auch zu entsprechend freien Handlungen haben sollten. Grundlegend ist es für Mill wünschenswert, „dass man in Dingen, die nicht von vornherein andere mitbetreffen, der Individualität eine Chance gibt.“30 Individualität könne sich unter anderem daran zeigen, dass man Sitten nicht „blindlings und ganz mechanisch“31, sondern auch unter partieller Abweichung befolgt.32 Dies scheint für seine Zeit jedoch ein nur schwer zu erreichendes Idealbild zu sein, denn gemäß seiner Zeitdiagnose „lebt jeder [...] unter den Augen einer feindlichen, gefürchteten Zensur.“33 Als Resultat dessen lebe der Einzelne nicht gemäß eigenen Vorstellungen und Konzeptionen eines eigenen, guten Lebens, sondern nur gemäß der von der Mehrheit determinierten Konzeption des Üblichen.34 Auf diese Weise verliere er sich zunehmend in der Menge, welche stets zur Mittelmäßigkeit tendiert.35 Eine derartige Haltung sei langfristig schädlich für die Menschen, weil sie ihrer inneren Natur zuwiderläuft sowie individuelle Fähigkeiten regredieren lässt.36
Als Gegenmittel zur nivellierenden sozialen Tyrannei der Mehrheit sieht der liberale Staatsphilosoph exzentrisches Verhalten, um die öffentliche Meinung zu durchbrechen, indem man ausreichend Charakterstärke aufbringt, um abweichend von ihr zu handeln.37
2.4 Der Utilitarismus als Basis staatsphilosophischen Denkens
John Stuart Mill begründet die Verteidigung klassischer liberaler Werte wie Meinungsfreiheit und individuelle Freiheit im Sinne von Freiheit der Lebensführung nicht gemäß der unter anderem von John Locke geprägten Tradition in naturrechtlicher Vertragstheorie, sondern mit der philosophischen Konzeption utilitaristischer Ethik.38
Der besonders von Bentham konzipierte klassische Utilitarismus, der seinen etymologischen Ursprung im lateinischen Wort „utilitas“ (Nützlichkeit) hat, zielt nicht primär auf Moral, sondern stattdessen auf den Nutzen einer Handlung, der daran gemessen wird, in welcher Quantität Glück gefördert und Leid vermieden wird. Mill modifizierte diese Vorstellung, indem er geistigen Genüssen, wie z.B. Redefreiheit wie auch freier Lebensgestaltung, eine generell höhere Qualität zuschrieb als physischen.39
Eben jene geistigen Genüsse bringen den Nutzen für Staat und Gesellschaft. So schreibt Mill im Kapitel zur Individualität: „Wo nicht der eigene Charakter, sondern Tradition oder Sitten anderer Leute die Lebensregeln aufstellen, da fehlt es an einem der hauptsächlichen Bestandteile menschlichen Glücks, ja dem wichtigsten Bestandteil individuellen und sozialen Fortschritts.“40 Dieser soziale Fortschritt wird der Meinung Mills zufolge besonders durch das Wirken von Genies ermöglicht, ein Genie wiederum kann sich nur in einer „Atmosphäre von
Freiheit“41 entfalten. Es sind jedoch nicht nur die Genies, welche den Fortschritt der Gesellschaft bewirken sollen, ebenso trägt jeder durch seine Individualität zum gesamtsozialen Fortschrittsprozess bei, denn „Wann steht [ein Volk] still? Wenn es aufhört, Individualität zu besitzen.“42 Eine weitere importante Rolle kommt der Rede- und Diskussionsfreiheit zu, denn diese ist die unabdingbare Kondition für die Suche nach gesichertem Wissen sowie zur Erweiterung des eigenen geistigen Horizontes.43 Vor dem Hintergrund dieser Argumentation wird deutlich, dass der Wert von Freiheit und Individualität nicht primär intrinsisch, sondern mit deren Nutzen begründet wird, denn indem sie sich gegen die Mehrheitstyrannei der dominierenden öffentlichen Meinung stellen, vermögen sie als Garant menschlichen Fortschrittes zu agieren.
2.5 Über die Grenzen der Autorität der Gesellschaft über das Individuum
Um für den Fortschritt agieren zu können, benötigt man also Freiheit und Individualität. Wo jedoch liegt die notwendige Grenze, die den geforderten unantastbaren Raum der Freiheit konstruieren soll? Dieser Frage widmet sich das vierte Kapitel in Mills „On Liberty“.
Zu Beginn stellt der liberale Staatstheoretiker das Grundprinzip auf, dem zufolge das Individuum über den Teil des Lebens frei verfügen soll, an dem hauptsächlich es selbst interessiert ist; die Gesellschaft hingegen über den Teil, welcher im gemeinschaftlichen Interesse liegt.44 In Differenz zu Locke stellt Mill heraus, dass die Gesellschaft nicht auf einen Vertrag gegründet ist, man aber allein aufgrund der Tatsache gesellschaftlichen Zusammenlebens bestimmte Verhaltensregeln beachten muss45. Diese bestehen unter anderem in Beitragsleistung eines jeden zum Schutz der Gesellschaftsmitglieder, wenn diese Verpflichtungen nicht eingehalten werden, dürfe die Gemeinschaft eingreifen46 Als Zwischenfazit formuliert Mill, dass im Verhalten der Menschen untereinander die Achtung allgemeiner Regeln notwendig ist, man im Privaten aber nach individuellem Antrieb frei handeln darf47 ; ein Aspekt, der im vierten Abschnitt dieser Arbeit bei der Reflexion des Schadensprinzips profunder diskutiert wird.
Freies Handeln bedeutet für ihn jedoch keinesfalls schrankenlosen Egoismus, vielmehr zeigt sich seine Freiheitskonzeption sozial integriert. Mill erwähnt eine Pflicht gegenüber anderen im direkten Umfeld, z.B. die Sorge um das Wohl der Familie: wenn jemand sein ganzes Vermögen verschwendet und sich infolge dessen nicht mehr um die Kinder kümmern kann, darf von der Gesellschaft eingegriffen werden.48
[...]
1 Mill, John Stuart: Über die Freiheit. Reclam Verlag, Stuttgart 2008, S. 93
2 Meier, Hans und Denzer, Horst (Hrsg.): Klassiker des politischen Denkens. Band 2 Von Locke bis Max Weber. 2. Auflage, Verlag C.H. Beck, München 2004, S. 158
3 Sparks, Chris und Isaacs, Stuart: Political Theorists in Context. Routledge, London 2004, S. 206
4 Vgl. Lenk, Kurt: Methodenfragen der politischen Theorie. In: Lieber, Hans-Joachim (Hrsg.): Politische Theorie von der Antike bis zur Gegenwart. Bundeszentrale für politische Bildung, Band 299, Bonn 1993, S. 992
5 Mill, John Stuart: Utilitarianism / Der Utilitarismus. Reclam Verlag, Stuttgart 2008
6 Gray, John: Mill on Liberty: A Defence. 2. Auflage, Routledge, New York 1996
7 Warburton, Nigel: On Liberty and The Subjection of Women. In: Warburton, Nigel u.a. (Hrsg): Reading Political Philosophy. Machiavelli to Mill. Routledge, New York 2000
8 Rees, J.C.: A Re-reading of Mill On Liberty. In: Gray, John und Smith, G.W. (Hrsg.): J.S. Mill On Liberty in focus. Routledge, New York 1996
9 Dworkin, Gerald: Paternalism. In: Warburton, Nigel u.a. (Hrsg): Reading Political Philosophy. Machiavelli to Mill. Routledge, New York 2000
10 Vgl. Oberndorfer, Dieter und Jäger, Wolfgang (Hrsg.): Klassiker der Staatsphilosophie II. F.K. Koehler Verlag, Stuttgart 1971, S. 121
11 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, zitiert in: ebd., S. 127
12 Vgl. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, zitiert in: ebd.
13 Vgl. Schmidt, Manfred G.: Demokratietheorien. Eine Einführung. 4. Auflage, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2008, S. 135
14 Mill, Über die Freiheit, S. 9
15 Vgl. ebd.
16 ebd., S. 9-10
17 ebd., S. 10
18 Vgl. ebd., S. 26
19 Vgl. ebd.
20 Vgl. ebd.
21 Vgl. Mill, Über die Freiheit, S. 26
22 ebd.
23 Vgl. ebd., S. 32
24 Vgl. ebd.
25 Vgl. ebd., S. 38
26 Vgl. ebd., S. 36
27 Vgl. ebd., S. 41
28 Vgl. ebd., S. 73
29 Vgl. ebd.
30 ebd., S. 78
31 Mill, Über die Freiheit, S. 82
32 Vgl. ebd.
33 ebd., S. 84
34 Vgl. ebd., S. 85
35 Vgl. ebd., S. 91
36 Vgl. ebd., S. 85
37 Vgl. ebd., S. 93
38 siehe Abbildung 1 im Anhang
39 Vgl. Oberndörfer / Jäger, Klassiker der Staatsphilosophie II, S. 149
40 Mill, Über die Freiheit, S. 78
41 Mill, über die Freiheit, S. 89
42 ebd., S. 98
43 Vgl. Oberndorfer / Jäger, Klassiker der Staatsphilosophie II, S. 150
44 Vgl. Mill, über die Freiheit, S. 103
45 Vgl. ebd.
46 Vgl. ebd., S. 103-104
47 Vgl. ebd., S. 105
48 Vgl. Mill, über die Freiheit , S. 112
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