„Das Ziel der Kunst ist, uns ein Empfinden für das Ding zu geben, ein Empfinden, das Sehen und nicht nur Wiedererkennen ist. Dabei benutzt die Kunst zwei Kunstgriffe: die Verfremdung der Dinge und die Komplizierung der Form, um die Wahrnehmung zu erschweren und ihre Dauer zu verlängern“. Sklovskij geht hier von einem Wahrnehmungsautomatismus aus, d. h. dass ein wiederholt wahrgenommener Gegenstand nicht mehr wahrnehmbar sei, wenn er selbstverständlich geworden ist. Ihm geht es um Wiederentdeckung: soll ein Gegenstand wahrnehmbar werden, so muss man ihm seine Selbstverständlichkeit, seine Vertrautheit nehmen. Das kann sich einmal beziehen auf die dargestellte Welt (die Verfremdung der Dinge) und auch auf die Art und Weise der Darstellung (die erschwerte Form). Wenn Verfremdung bedeutet, einen bekannten Gegenstand (eine bekannte Erscheinung) als unbekannt (fremd, wie zum ersten Mal gesehen, seltsam) darzustellen, dann darf das Eigentliche nicht beim Namen genannt werden. Die Dinge müssen aus ihrem Kontext herausgelöst werden. Das künstlerische Ziel, die Wirkung der Verfremdung von Dingen und Erscheinungen kann Ausdruck der Hilflosigkeit sein, der Unfähigkeit oder der Weigerung, das Wesen der Dinge zu erkennen. Das Verfremden kann aber auch das Ziel haben, zu neuen Erkenntnissen oder Wertungen zu gelangen. Zugleich zeigt sich der Unterschied zwischen Werken, in denen durch Verfremdungen neue Erkenntnisse vermittelt werden sollen und solchen, in denen die Dinge aus der Verfremdung nicht mehr zurückkehren. Verfremdung beruht also darauf, dass bereits akzeptierte Kenntnisse, Werte, Normen usw. überprüft und gegebenenfalls verändert werden müssen. Mit der Bestimmung der Funktionen der Verfemdung ist jedoch noch nichts über die künstlerischen Mittel und Verfahren gesagt, mit denen sie erreicht werden können. Verfremdungen als Methode der indirekten kritischen Wertung der Realität sind auf allen Ebenen des literarischen Werkes realisierbar. Grundvoraussetzung für eine Abgrenzung der Verfremdung besteht in ihrer Funktionsbestimmung als Kritik sowie des „Neu-Sehens“ allzu gewohnter Gegenstände und Erscheinungen. Erst bei deren Betrachtung können Verfremdungen auf den verschiedenen Ebenen des literarischen Werkes nachgewiesen werden. Eine Unterteilung in verschiedene Anwendungsbereiche nach diesen Instrumentarien erscheint für diese Arbeit sinnvoll.
Gliederung
1. Abkürzungen
2. Einleitung
3. Metamorphose im Konzept
4. Verfremdungen
4.1 Sprache
4.2 Perspektiven
4.3 Figuren
4.4 Phantastisches
5. entfremdete Gesellschaft
6. Funktion der Verfremdung
7. Effekt grotesker Metamorphosen
8. Zusammenfassung
Bibliografie
1. Abkürzungen
Der Primärtext wird in dieser Arbeit zitiert aus: Nikolaj Gogol, Sämtlichen Erzählungen, Düsseldorf/Zürich 1996, nach folgendem Verfahren: (Titel, Seitenangabe).
Bei Zitaten sind Hinzufügungen oder Kürzungen mit eckigen Klammern [ ] gekennzeichnet.
2. Einleitung
„Das Ziel der Kunst ist, uns ein Empfinden für das Ding zu geben, ein Empfinden, das Sehen und nicht nur Wiedererkennen ist. Dabei benutzt die Kunst zwei Kunstgriffe: die Verfremdung der Dinge und die Komplizierung der Form, um die Wahrnehmung zu erschweren und ihre Dauer zu verlängern“[1]. Sklovskij geht hier von einem Wahrnehmungsautomatismus aus, d. h. dass ein wiederholt wahrgenommener Gegenstand nicht mehr wahrnehmbar sei, wenn er selbstverständlich geworden ist. Ihm geht es um Wiederentdeckung: soll ein Gegenstand wahrnehmbar werden, so muss man ihm seine Selbstverständlichkeit, seine Vertrautheit nehmen. Das kann sich einmal beziehen auf die dargestellte Welt (die Verfremdung der Dinge) und auch auf die Art und Weise der Darstellung (die erschwerte Form).
Wenn Verfremdung bedeutet, einen bekannten Gegenstand (eine bekannte Erscheinung) als unbekannt (fremd, wie zum ersten Mal gesehen, seltsam) darzustellen, dann darf das Eigentliche nicht beim Namen genannt werden. Die Dinge müssen aus ihrem Kontext herausgelöst werden.
Das künstlerische Ziel, die Wirkung der Verfremdung von Dingen und Erscheinungen kann Ausdruck der Hilflosigkeit sein, der Unfähigkeit oder der Weigerung, das Wesen der Dinge zu erkennen. Das Verfremden kann aber auch das Ziel haben, zu neuen Erkenntnissen oder Wertungen zu gelangen. Zugleich zeigt sich der Unterschied zwischen Werken, in denen durch Verfremdungen neue Erkenntnisse vermittelt werden sollen und solchen, in denen die Dinge aus der Verfremdung nicht mehr zurückkehren. Verfremdung beruht also darauf, dass bereits akzeptierte Kenntnisse, Werte,
Normen usw. überprüft und gegebenenfalls verändert werden müssen.[2]
Mit der Bestimmung der Funktionen der Verfemdung ist jedoch noch nichts über die künstlerischen Mittel und Verfahren gesagt, mit denen sie erreicht werden können. Verfremdungen als Methode der indirekten kritischen Wertung der Realität sind auf allen Ebenen des literarischen Werkes realisierbar. Grundvoraussetzung für eine Abgrenzung der Verfremdung besteht in ihrer Funktionsbestimmung als Kritik sowie des „Neu-Sehens“[3] allzu gewohnter Gegenstände und Erscheinungen. Erst bei deren Betrachtung können Verfremdungen auf den verschiedenen Ebenen des literarischen Werkes nachgewiesen werden. Eine Unterteilung in verschiedene Anwendungsbereiche nach diesen Instrumentarien erscheint für diese Arbeit sinnvoll.[4]
Erstens: Zunächst sind rein sprachliche Verfremdungen auf der Ebene des Wortes oder einer Wortgruppe möglich. Es kann sich um Abweichungen von der ‚normalen’ Schreibweise oder/und Bedeutung handeln. Aber auch Metaphern, Periphrasen oder Wortspiele könnten diese Aufgabe haben.
Zweitens: Eine Bestimmung ist auch für die Anwendung einer verfremdenden Erzählperspektive möglich. So kann durch Nicht-Erkennen von Gegenständen und Erscheinungen eine kritische Wirkung erzielt werden. Außerdem provoziert eine beständig wechselnde Perspektive ein ruheloses Betrachten.
Drittens: Während in den eben genannten Fällen die Figuren als Mittler auftreten, ist es auch möglich, diese selbst zu verfremden.
Viertens: Zu untersuchen sind außerdem phantastische Elemente, die ebenfalls Verfremdung inszenieren können. Gerade durch Figuren und Ereignisse, die nicht einfach fiktiv sind, sondern in der Realität gar nicht existieren können, ist es möglich, Verhältnisse und Verhaltensweisen kritisch zu betrachten.
Aus den vier skizzierten Anwendungen ergibt sich, dass Verfremdungen auf vielen Ebenen eines literarischen Werks anzutreffen sind und sich auf die dargestellte Welt, wie auf die Darstellung selbst beziehen können.
Dieser Arbeit liegt nun die These zugrunde, nach der die grotesken Metamorphosen in den Erzählungen von Gogol – Die Nase, Der Mantel, Der Newskijprospekt – ein Verfahren der Verfremdung organisieren. Es soll exemplarische untersucht werden, inwieweit die vier oben dargestellten Anwendungsbeispiele auf die Erzählungen zutreffen und welche Intentionen Gogols sich hinter dem Verfahren der Verfremdung verbergen.
3. Metamorphose im Konzept
Wie das Phantastische, beansprucht auch das Groteske für eine verfremdende Wirkung in ihrer Gestaltung ein Erleben außerhalb der gewohnten Wirklichkeitserfahrung. Während das Groteske etwas Bedrohliches[5] und vor allem Komisches[6] darstellt, um dem Betrachter herausfordernd eine Gegenwelt zu zeigen, in der Macht und Ordnung aufgehoben sind, zeigt das Phantastische das Abwesende und Niedagewesene. Eine Welt des Traums, des Wahns und der Freiheit des Irrationalen.
„Bezeichnet man ein Kunstwerk als phantastisch, wird meistens erwartet, dass das rationale Verständnis des Dargestellten aufgehoben ist und das Ganze den Charakter einer traumähnlichen Irrealität aufweist. Statt einer vertrauten Umgebung trifft man eine verwirrende Fremdheit. Wird das Werk aber als grotesk bezeichnet, wird hauptsächlich auf possenhafte Zusammenstellung hingewiesen, wobei die alltäglichen Figuren zu Ungeheuern verzerrt sind.“[7]
Das Groteske erfordert also eine Vermischung mit, das Phantastische eine Abweichung von der gewohnten Realitätserfahrung. Diese Transformationen, zum einen in eine alternative (phantastische) Welt und eine desorientierte (groteske) Welt, bergen das Verfahren der Metamorphose. Lachmann nennt diese Wandlungen „vom phantastischen Text spektakulär in Gang gesetzte Grenzüberschreitungen“[8] und nach Bachtins Begriff der Groteske „herrscht [auch in ihr] immer die Freude des Wechsels“[9].
Darüber hinaus betont Bachtin die verfremdende Funktion der Groteske. Sie sei nicht nur einfache Verletzung einer Norm, sondern „die Leugnung jeglicher abstrakter, starrer Normen, die Absolutheit und ewige Gültigkeit beanspruchen. Sie negiert die Offenkundigkeit und die Welt des ‚Selbstverständlichen’“[10]. Auch Eichenbaum erkennt im Grotesken Gogols die verfremdende Wirkung, wenn er bemerkt, dass das Groteske „Raum für das Spiel mit der Realität, für die Zersetzung und freie Verlagerung ihrer Elemente [schafft], so dass die gewohnten Bezüge und Bande [...] in dieser neu errichteten Welt unwirklich werden“[11].
Hier also, in der Transformation des Selbstverständlichen und Gewohnten zum Fremden und Unwirklichen finden Gogols (groteske) Metamorphosen statt. Wie sie funktionieren und was sie verwandeln, soll jetzt untersucht werden.
4. Verfremdungen
4.1 Sprache
„Wenn wir die Klanggestalt und den Wortbestand, die Wortstellung und die semantischen Konstruktionen der dichterischen Sprache untersuchen, stoßen wir überall auf das Merkmal des Künstlerischen: es wurde bewusst geschaffen, um Wahrnehmung vom Automatismus zu befreien“[12]. Sklovskij bezieht sich dabei auch auf Aristoteles, nachdem die Sprache eines Erzählers fremdartig sein und überraschen soll[13]. Und so ungewöhnlich ist auch die Sprache der Gogolschen Erzähler. Eichenbaum zeigt die spielerische Funktion der grotesken Gestaltung auf sprachlicher Ebene. Mehrfach verwendet er den Begriff des Spiels in seiner Arbeit „Wie Gogols Mantel gemacht ist“[14]. So taucht das Wort Spiel, wie Günther am russischen Urtext Eichenbaums zeigt, als Wortspiel auf[15], worunter die auf klanglichen und etymologischen Ähnlichkeiten beruhenden Kalauer fallen. Gogol befreit die Worte aus ihren alltäglichen, sinnvollen Bezügen und konstruiert sie zu einem unsinnigen, zusammenhangslosen Text nach rein semantisch-syntaktischen Gesichtspunkten. Weil das Sujet bei Gogol bloß eine äußerliche Bedeutung hat, bestehe die „wahre Dynamik und dadurch auch die Komposition seiner Werke [...] im Aufbau des skas[16], im Spiel der Sprache“[17]. Skas gerät nach Eichenbaum nicht nur zum subjektiven Tonfall des Autors, „vielmehr gibt er die Worte mimisch und artikulatorisch wieder – die Sätze werden nicht nach dem Prinzip der logischen Rede ausgewählt und verkettet, sondern eher nach dem der expressiven Rede, in welcher der Artikulation, der Mimik und der Klanggestik ein besonderes Gewicht zukommt“[18]. So ist in Gogols Stil die Lauthülle eines Wortes bedeutsam, unabhängig von der logischen oder sachlichen Bedeutung.
[...]
[1] Sklovskij, Viktor: Theorie der Prosa, Hrsg. Gisela Drohla, Frankfurt am Main, 1966, S. 14.
[2] Vgl. Jonscher, Beate: Viktor Sklovskij. Leben und Werk unter besonderer Berücksichtigung des Verfremdungsbegriffs und seiner Entwicklung, Jena, 1994, S. 119-122.
[3] Vgl. Lachmann, Renate: Die „Verfremdung“ und das „Neue Sehen“ bei Viktor Sklovskij, in: Poetica, 1970, Nr. 1-2, S. 226-249.
[4] Vgl. Jonscher, S. 120 (siehe Anm. 2).
[5] Vgl. dazu Kayser, Wolfgang: Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung, Oldenburg, 1957.
[6] Vgl. Bachtin, Michail: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, München, 1969.
[7] Burwick, Frederick: Phantastisch-groteske Literatur, in: Literatur, Hrsg. Ricklefs, Ulfert, Franfurt am Main, 2002, S. 1479.
[8] Lachmann, Renate: Erzählte Phantastik, Frankfurt am Main, 2002, S. 7.
[9] Bachtin, Literatur und Karneval, S. 27 (siehe Anm. 7).
[10] Bachtin, Michail: Die Ästhetik des Wortes, Hrsg. Rainer Grübel, Frankfurt am Main, 1979, S. 347.
[11] Eichenbaum, Boris: Aufsätze zur Theorie und Geschichte der Literatur, Frankfurt am Main, 1965, S. 137/138.
[12] Sklovskij, Theorie der Prosa, S. 24 (siehe Anm. 1).
[13] Vgl. ebd. S. 25.
[14] Eichenbaum, Ausätze zur Theorie und Geschichte der Literatur, S. 119-142 (siehe. Anm. 11).
[15] Vgl. Günther, Hans: Das Groteske bei N. V. Gogol. Formen und Funktionen, München, 1968, S. 228.
[16] Skas von russisch skasatj: erzählen. Beschreibt die Oralität des Erzählstils und grenzt diesen ab gegen den höheren literarischen Schreibstil.
[17] Eichenbaum, S. 124.
[18] Ebd. S. 122.
- Arbeit zitieren
- Maximilian Engelmann (Autor:in), 2003, Wenn Vertrautes fremdgeht - Über die literaische Funktion der grotesken Metamorphosen bei Nikolaj Gogol in den Erzählungen Die Nase, Der Mantel, Der Newskijprospekt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14633
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