Die Arbeit versucht zu zeigen, dass sich hinter dem Du in Paul Celans Gedichten die Sprache verbirgt. Ihre Personifikation ermöglicht es Celan, der Sprache in Form des zur Rede Stellens hoffnungsvoll und fordernd zu begegnen: Denn der Dichter ist auf der Suche nach wahrem Ausdruck jenseits der gegebenen Wirklichkeit. Diesen glaubt er zu finden, indem er sich in eine zwischen Zuneigung und Abneigung schwankende Beziehung zur Sprache begibt. Im Nachvollziehen dieser Beziehung durch den Leser öffnet sich ihm das Gedicht zu einem Dialog mit der Sprache. Der Leser kann in dieser Herausforderung Sprache für sich neu wahrnehmen. Für Celan selbst geht es um mehr: Die Beziehung zur Sprache stiftet seine Identität.
Inhaltsverzeichnis
Siglen
Einleitung
I. Vorüberlegungen anhand Celans Poetik: Die Person als Voraussetzung für die Beziehung zur Sprache
1. Celans Verhältnis zur Sprache als Beziehung zur Sprache
2. Der „Neigungswinkel“ der Person als Prämisse für die Beziehung von Dichter und Sprache und als Abgrenzung zur Kunst
3. Die Annahme: Das Sprechen des Dichters mit der Sprache
II. Grundstimmungen der Beziehung Dichter-Sprache
1. Die Festlegung: Du als Sprache und Ich als Dichter
2. Die Pole der Beziehung Dichter-Sprache
2.1. Zuneigung
2.2. Abneigung
3. Exkurs: Das Du als reale Person
4. Eine überleitende Frage: Celan spricht die Sprache an - wie spricht eigentlich Sprache?
III. Das zur Rede Stellen der Sprache
1. Die Theorie: Das Du als zur Rede gestellte Sprache
2. Die Praxis: Wie Paul Celan Sprache zur Rede stellt
3. Die Frage nach dem Sinn
IV. Das Prinzip des zur Rede Stellens als ‚Dialog’ mit dem Leser
1. Kann es einen Dialog geben?
2. Das „Andere“ als der Leser
3. Das Prinzip des zur Rede Stellens als Öffnung zu einem Gespräch
4. Ein vorläufiges Ende der Fragestellung
V. Paul Celans Versuch einer Identitätsbestimmung
1. Identität suchen
2. und Identität verlieren
3. Wege von Paul Celan zu Paul Celan
Schlussgedanke
Bibliographie
Siglen
In den Fußnoten werden folgende Abkürzungen verwendet:
GW Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hrsg. von Beda Allemann und Stefan Reichert in Verbindung mit Rolf Bücher. (Band 6 hrsg. von Barbara Wiedemann; Band 7 hrsg. von Bertrand Badiou, Jean-Claude Rambach und Barbara Wiedemann). Frankfurt a. M. 2000.
Auch die Gedichte aus dem Nachlass werden aus Gründen der Einheitlichkeit aus der obigen Ausgabe (GW) zitiert.
Der Abkürzung GW folgt die Bandnummer in römischen Zahlen und die Seitenzahl in arabischen Zahlen - Beispiel: GW III, 117.
PN „Mikrolithen sinds, Steinchen“. Die Prosa aus dem Nachlass. Kritische Ausgabe. Hrsg.
und kommentiert von Barbara Wiedemann und Bertrand Badiou. Frankfurt a. M. 2005. Der Abkürzung PN folgt die Nummer und die Seitenzahl - Beispiel: PN, Nr. 168, S. 103.
TCA Werke. Tübinger Celan Ausgabe (TCA). Hrsg. von Jürgen Wertheimer. Frankfurt a. M.:
Der Meridian. Endfassung - Vorstufen - Materialien. Hrsg. von Bernhard Böschenstein und Heino Schmull in Verbindung mit Michael Schwarzkopf und Christiane Wittkop. 1999.
Bei Zitaten aus der TCA wird folgendermaßen abgekürzt: Der Meridian, TCA, Nummer, Seitenzahl - Beispiel: Der Meridian, TCA, Nr. 300, S. 113.
Einleitung
„Du - ganz, ganz wirklich. […]“1
Am auffälligsten an dem Du in Celans Gedichten ist wohl dessen Unauffälligkeit. Man liest und überliest es ob seines häufigen Erscheinens mit einer gewissen Nonchalance. Doch es ist an der Zeit, ihm mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Daher widmet sich diese Arbeit der Aufgabe, dem Du in Celans Gedichten eine klarere Kontur zu verleihen. Dass dieses Du ein Grundelement für ein ‚Verstehen’ Celan’scher Dichtung sein kann, hat nicht zuletzt gerade die jüngere Forschung zu zeigen versucht2 - dies im Hinblick auf eine „Theorie des Dialogischen“ und der Frage nach dem „Spannungsverhältnis zwischen Identität und Al- terität“3. Grundlage für diese Öffnung zu einer facettenreichen „Poetik des Dialogs“4 bildet die Annahme eines dem Celan’schen Werk inhärenten Hangs zur ‚Dialogizität’ - nicht nur, aber auch durch das Auftreten des Personalpronomens Du -, die sich unter anderem auf phi- losophische Grundkonzeptionen wie die des „Anderen“, des „Fremden“ oder der Intersubjek- tivität bezieht. So kann das ‚auffällig-unauffällige’ Du als das „Andere“, der „Andere“, als konkretes oder abstraktes Gegenüber, gar als Selbstbegegnung des Dichters innerhalb des Gedichts5, oder als intertextuelle Referenz6 gelesen werden - um nur einige Ansätze zu nen- nen.
Angesichts dieser Ausgangslage ist der Titel der Arbeit doppelt erklärungsbedürftig: zum ei- nen wird das Du in Celans Gedichten als Pronomen für die Sprache verstanden; zum anderen lässt der Untertitel in seinem redensartlichen Klang einen (einseitigen) Dialog mit der Sprache vermuten, insofern Sprache zur Rede gestellt wird7. Ein zur Rede Stellen aber setzt - beson- ders im redensartlichen Sinne - ein mehr oder minder definiertes Verhältnis, eine Beziehung zweier Partner voraus: In unserem Fall die Beziehung von Celan und der Sprache als Ich und Du im Raum des Gedichts. Hierin ist die Differenz zu anderen Herangehensweisen an Celans Gedichte zu sehen, ohne deren Relevanz in Frage stellen zu wollen8. Es wird die Beziehung Dichter-Sprache als Beziehung zwischen Ich und Du nicht primär aus den Gedichten hergeleitet, sondern vielmehr mit der Annahme dieser Beziehung an sie herangegangen. Dies ist insofern legitim, als dass Celan in seiner Rede ‛Der Meridian’9 selbst die Voraussetzungen für einen Dichter definiert, der in eine Beziehung zur Sprache treten will. Ferner ist sowohl in den Materialien zum ‛Meridian’10 und nicht zuletzt in Celans Rede anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der freien Hansestadt Bremen11 ein besonderes Verhältnis zur Sprache erkennbar. Denn es geht Celan vor allem um „[…] die Bemühungen dessen [des Dichters, A.C.K.], der, überflogen von Sternen, die Menschenwerk sind, der, zeltlos auch in diesem bisher ungeahnten Sinne und damit auf das unheimlichste im Freien, mit seinem Dasein zur Sprache geht, wirklichkeitswund und Wirklichkeit suchend.“12
Schon in diesem kurzen Zitat aus der ‛Bremer Rede’ klingt die enge Beziehung zur Sprache an: Insbesondere nach der Erfahrung der Shoah - für Celan als Dichter jüdischer Herkunft, der zudem in deutscher Sprache schrieb, unzweifelhaft die existentielle Erschütterung - ist es nicht nur eine Notwendigkeit, sein „Dasein“ durch eine Beziehung zur Sprache aktiv zu bestimmen, sondern diese - als die Sprache der Täter - zur Rede zu stellen, um vielleicht so wieder zu einem wahren Ausdruck finden zu können. Dieses Paradoxon - Sprache als Mög- lichkeit eines Wirklichkeitsentwurfs aber als gleichzeitig historisch belastet - veranschaulicht die Ambivalenz der Beziehung zur Sprache im Raum des Gedichts selbst: vor allem mit An- klage, beizeiten mit Hoffnung und Zuneigung, aber auch mit Abneigung begegnet Celan der Sprache als Du.
Es ist diese Dimension der Begegnung mit der Sprache in Celans Werk, die als roter Faden durch die Arbeit führen wird - aber es auch notwendig macht, deren Prämissen zu klären. Die Begegnung zwischen Dichter und Sprache wird als Beziehung zweier Partner definiert und damit durch eine nicht alltägliche Bezüglichkeit. Weil sie aber als Grundlage des zur Re- de Stellens zur Analyse der Gedichte dient, muss zunächst gefragt werden, wie diese sich aus Celans eigenen Aussagen zu seiner Dichtung herleiten ließe. Dabei bilden die gerade erwähn- ten Reden (der ‛Meridian’ und die ‛Bremer Rede’), sowie zentrale Aussagen in Briefen13 den Ausgangspunkt für die These.
Darauf aufbauend ist zu klären, worin das besondere Wesen der Beziehung besteht: Lässt sich innerhalb der Gedichte eine Grundstimmung zwischen Dichter und Sprache erkennen, die es Celan erst ermöglicht, der Sprache konfrontativ im zur Rede Stellen zu begegnen - als ‚Um- gang’ mit der Sprache? Darüber hinaus: Inwiefern stellt Celan nicht nur Sprache im Raum des Gedichts zur Rede, sondern Sprache als Du dem Gedichttext gegenüber? Überhaupt muss beantwortet werden, warum das Ich als der Dichter und das Du als die Sprache zu lesen seien. Gegenstand dieser Arbeit ist daher die Sichtbarmachung der Beziehung zwischen Dichter und Sprache und deren besondere Begegnung in der Form des zur Rede Stellens in den Gedichten selbst; dies, um letztlich das zur Rede Stellen der Sprache im Raum des Gedichts als Öffnung hin zu einem Verstehen der Gedichte für den Leser und einer Möglichkeit der Identitätsbe- stimmung Celans zu begreifen. Damit ist auch der Rahmen dieser Arbeit abgesteckt: Es geht nicht um sichtbare oder verborgene Dialogkonzeptionen, die ihre Resonanz im Werk Celans finden. Vielmehr wird ganz konkret die erkennbare Kommunikation des Dichters mit der Sprache als Du betrachtet.
Da das Gedicht sowohl Ort der Beziehung als auch Ort des zur Rede Stellens ist, muss zur Veranschaulichung der These von den Gedichten selbst ausgegangen, und, wenn nicht zwingend notwendig, von textübergreifenden Referenzen und Beziehungen abgesehen werden - was die Methode eine induktive werden lässt. Der Fokus der Interpretation und Betrachtung liegt auf der Rolle des Du als zur Rede gestellte Sprache.
Vor diesem Hintergrund sind Celans Materialien zum ‛Meridian’ zu einer Art Heiligen Schrift dieser Arbeit geworden14, besonders bezüglich der Rechtfertigung der These, aber auch in der Analyse der Gedichte selbst. Weiterhin werden notwendigerweise jene Gedichte zu Rate ge- zogen, in denen das Personalpronomen Du erscheint. Dies ist sowohl in zahlreichen Gedich- ten der von Celan zeitlebens veröffentlichten Gedichtbände, als auch in vielen Gedichten aus dem Nachlass der Fall. Dennoch ist darauf hinzuweisen, dass das Frühwerk15 inklusive des Gedichtbandes ‛Der Sand aus den Urnen’16, sowie der Band ‛Mohn und Gedächtnis’17 keine Berücksichtigung finden. Diese Entscheidung ergab sich aus dem anderen Ton, der in diesen Bänden herrscht: Celan war noch auf der Suche nach einem eigenen Stil und befand sich erst im Prozess des Erkennens der einzigartigen Beziehung zur Sprache. Insofern kann das dort angesprochene Du - anders als in den Folgebänden - nur mit höchstem Unbehagen als Pro- nomen für die Sprache gelesen werden. Diese Ausklammerung garantiert somit, dass die ge- troffene Auswahl der Gedichte die These widerspiegelt, muss allerdings auch als Auswahl verstanden werden.
Schließlich hat sich folgende Gliederung der Arbeit als sinnvoll erweisen: Das erste Kapitel präsentiert sowohl den besonderen Status des Verhältnisses von Celan zur Sprache als eine Beziehung zu ihr (dieses Fundament strukturiert die gesamte Arbeit), als auch deren Voraus- setzungen: Die Begegnung findet zwischen einer personifizierten Sprache und einem aus sei- nem besonderen, existentiellen „Neigungswinkel“ ihr gegenübertretenden Dichter statt. Des Weiteren wird der Ort des Gedichts als Ort der Konsultation der Sprache erkennbar und wirft daher die Frage nach der Möglichkeit der Kommunikation mit der Sprache auf, die letztlich das zentrale Element dieser Arbeit bildet.
Daran anschließend bilden die folgenden beiden Kapitel einen Schwerpunkt dieser Arbeit: Zunächst wird ausgehend von der Beziehung die pronominale Konstellation von Sprache als Du und Dichter als Ich festgehalten, und deren Begegnung erstmals innerhalb der Gedichte an Grundstimmungen der Beziehung dargestellt. Wichtig hierbei ist die Betonung des einerseits affirmativen Charakters der Beziehung; andererseits weist die Begegnung zwischen Dichter und Sprache konfrontative Momente auf, welche zu einem zur Rede Stellen der Sprache hin- führen (Kapitel 2).
Im dritten Kapitel wird der Begriff des zur Rede Stellens schließlich eingeführt, um mit ihm an die Gedichte selbst heranzugehen. Es wird herausgearbeitet, inwiefern der Gedichttext selbst die Sprache charakterisiert. Im Rahmen der Interpretation der Gedichte wird chronolo- gisch nach den Gedichtbänden vorgegangen, nicht zuletzt, um das zur Rede Stellen der Spra- che als grundlegendes Prinzip des Celan’schen Oeuvres zu manifestieren18. Die Kapitel 4 und 5 beschreiben einen weiteren Schwerpunkt: die Anwendbarkeit dieses Prin- zips in der Interpretation. Dabei wendet sich das vierte Kapitel besonders der Rolle des Lesers zu, der über das Prinzip des zur Rede Stellens der Sprache seinen Weg in die Gedichte finden kann. Es wird sowohl untersucht, inwiefern Celan den Leser als ‚Angesprochenen’ berück- sichtigt, als auch, aus welchen Gründen durch das Prinzip ein Dialog zwischen Dichter und Rezipient stattfinden kann.
Schließlich untersucht das letzte Kapitel, welche Bedeutung das Prinzip für Celan persönlich haben mag - und schließt somit gedanklich den Kreis zum Beginn dieser Arbeit, indem die Beziehung zur Sprache als ein zur Rede Stellen der Sprache innerhalb der Gedichte auf einer außertextlichen Ebene relevant wird. Interessant ist dabei, dass Celan über das zur Rede Stellen der Sprache im Gedicht seine Identität in seiner Lebenswirklichkeit bestimmt. Dabei wird sowohl auf die historische Belastung der deutschen Sprache, als auch auf Ereignisse im persönlichen Leben des Dichters einzugehen sein.
Die Lokalisierung der Sprache im Du sowie die Veranschaulichung des Prinzips des zur Rede Stellens soll keine einzig ‚richtige’ Interpretation darstellen. Vielmehr ist Ziel und Leitgedan- ke der Arbeit, dieses Prinzip als eine Lesart vorzustellen, begleitet von der Frage: Was gibt es zu entdecken?
So mag der Leser verwundert darüber sein, dass gerade nicht eine Entschlüsselung sogenannter Wort(neu)schöpfungen - Tropen, Metaphern - unternommen wird, wie es nicht nur bei Celan - aber auch gerade bei Celan - häufig der Fall sein mag19. Im Gegenteil: Das zur Rede Stellen der Sprache durch den Dichter ermöglicht erst den Zugang zu Celans Gedichten, die sich prime facie häufig verschließen. Aus dieser Perspektive, darin besteht der besondere Reiz, könnte so ein anderes Lesen geschehen, denn:
„[…] Wer dem [im] Gedicht nur die Metapher findet, der [hat auch nichts anderes gesucht; er] nimmt nichts wahr; es gibt, gewiß, {e} Es gibt, gewiß, die Metaphernpflücker und die dann angebotenen parfümierten Sträuße; es gibt daß lyrische Allerlei. -“20
I. VorÜberlegungen anhand Celans Poetik: Die Person als Voraussetzung für die Bez)ehun' zur Sprac(e
„Das Gedich4 ist […] auch der Weg der Sprache zu sic( selbst, […]: womit das GedIcht zur raison d’être der Sprache wird“
Der Meridian, TCA, Nr. 80, S. 77
„D!nn wäre das Gedicht […]
gestaltgewordene Sprache eines Einzelnen“ GW III, 197
Wenig hat Celan über seine Gedichte verraten - er ließ sich ungern in die Karten schauen21. Nur zu besonderen Anlässen hat der Dichter seine eigene Dichtung offen reflektiert22 - dann allerdings umso gehaltvoller. Celans Interpreten sollten „lesen, immerzu lesen“23, so dass sich ein Verstehen seiner Gedichte gleichsam von selbst offenbare. Celan hatte Humor - diesen sollte man ernst nehmen.
Insbesondere bei einem Dichter, dessen Lyrik gern als ‚dunkel’ - im Sinne von schwer zugänglich - beschrieben wird, ist es daher wesentlich, eine Befragung seiner Dichtung mit einer Befragung seiner Poetik beginnen zu lassen. Dies auch, da jene „Dunkelheit des Dichterischen“24 - die ihren Wesenszug in der befremdenden Sprache des Gedichts sieht - von Celan selbst zu einer Grundfigur seiner Dichtung erklärt wird25.
Aber es geht nicht um eine Befragung von Celans Poetik schlechthin. Wenn die These dieser Arbeit behauptet, Celan stelle in seinen Gedichten Sprache zur Rede, interessiert primär der poetische Stellenwert der Sprache an sich. Bedauernswerterweise - dies darf schon verraten werden - hat Celan es uns nicht ganz leicht gemacht, ihn zu bestimmen: Es gibt keine konkre- te Aussage des Dichters, in der dieser erläutert, dass er, wie er und warum er Sprache zur Re- de stellen würde. Doch bedarf es ja nicht immer eines den eigenen Titel bedingenden Refe- renztextes. Häufig - so auch bei Celan - führt der Weg zur Bestimmung des poetischen Stel- lenwertes der Sprache über einen Umweg: den Dichter. So orientieren sich die Fragen notwendigerweise an der Bestimmung des Verhältnisses des Dichters zur Sprache: In welche Beziehung stellt sich Celan zu ihr? Hat Sprache möglicherweise einen nicht unbeachtlichen Einfluss auf die dichterische Existenz? Wir wollen also erfahren, ob Sprache lediglich als Ausdrucksmittel ihren Zweck erfüllt, oder ob sie für Celan nicht eine doch viel weiter rei- chende Bedeutung hat26. Dass die Person des Dichters selbst in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielt, soll nicht verneint, sondern muss verdeutlicht werden.
1. Celans Verhältnis zur Sprache als Beziehung zur Sprache
Das Verhältnis Celans zur Sprache durchzieht sein Werk - offenkundig natürlich im Ausdruck, aber auch als ein das Werk selbst bedingendes Strukturelement. Wie sich diese Beziehung in seinen Gedichten gestaltet, wird in dieser Arbeit zu klären sein. Zunächst ist zu erörtern, inwiefern wir überhaupt von einer Beziehung sprechen können.
In einem seiner umfassendsten poetologischen Zeugnisse, dem ‛Meridian’, definiert Celan die Sprache seiner Gedichte als eine einen neuen Ausdruck ermöglichende, „aktualisierte“ Spra- che. Sie könne innerhalb der ihr eigenen „Grenzen“ und „Möglichkeiten“ - als dem bereits vorhandenen sprachlichen Potential - zu einem ganzheitlichen Ausdruck im Gedicht finden27.
Diese Aktualisierung geschieht allerdings in Abhängigkeit zur Person des Sprechenden, des Dichters: Nur aus dessen „Neigungswinkel“28 heraus sprechend könne dieser ein „wirkliche[s] Gedicht“29 entstehen lassen. Genau hier wird deutlich, dass das Zusammenwirken von Dichter und Sprache im Gedicht für Celan essentiell ist: Es ermöglicht erst das „wirklich[e]“ Gedicht30. Aber trotz der Bedingung des Zusammenwirkens erkennen wir auch, dass zwei Prädispositionen aufeinandertreffen: der „Neigungswinke,“ der Person des Dich ers und die „Grenzen“ und „Möglichkeiten“ der SPrache sElbst. Daher sollte das ZusammEnwirken von Sprache uNd Dichter im Gedicht nichd nub als gemeinsames vErstanden werden, sondern seinem Wesen nach als durchaus konfrontatives31.
Doch gerade von diese2 engen Bindung zwiSchen Dichter und Sprache lebt Celans D)chtung, insofe2n sicH in jedem Gedicht Sprache un$ DicHter erneut begegnen, um in dieseM Augen- blick des Zusammenwirkens dEm Gedicht $as einzuschreiben, was es nach Celan erst zu ei- nem „wirklicHe[n] Gedicht“ macht: den Ver uch, im Gesagten das Schicksal des Dichters senen Möglichkeiten eingedenk bleibenden Individuation“. (Ich spreche hier von einem ‚ganzheitlichen Ausdruck’, um den von Celan erwähnten Prozess der Individuation zu verdeutlichen). Vgl. hierzu auch: Der Meridian, TCA, Nr. 249, S. 106: „Das Anklingen der Sprache (als Ganzes) im Gedicht […]“.
und $er Sprache mitsprechen zu lassen32. Daher sind die sprachlichen Bilder des Gedi#hts -
und meines Erachtens auch ßeine Str5kTur -, wie Celan im ‛Meridian’ ßchließt, „das immer wieder eiNmAl und nur jetzt und nur Hier Wah2genommene 5nd Wahrzunehmende“33, das erst durch das Zusammenwirken DichtEr-Sprache erscheint.
D)e Grundstruktur des Zusammenwirkens von Sprache und Dichter im Raum des GediChtS entwickelt Celan aus einem persönlichen Horizont heraus: Sein Verhältnis zur Sprache - wie der Dichter in sEiner ‛Bremer ReDe’ konßta4ier4 - gründet in der Übe2zeugung, dass e2 sie alß einzig beständige Größe seiner Existenz betrachtet. Sie, Die Sprache bleibt „er- reichbar, nah und unverloren […] „inmitten der Verluste […]“34, die Celans Lebensweg be- gleiten.
Allerdings lässt diese Überzeugung einen anderen wesentlichen Aspekt des Verhältnisses Dichter-Sprache mitsprechen: Sprache ist nicht nur beständige Größe, sondern eigenst ä ndige Größe. Celan ordnet sie nicht seiner Existenz unter, sondern nimmt sie als Partner, um sich mit ihr im Gedicht gegen die „Verluste“ behaupten zu können. Dies wiederum basiert auf seiner Vorstellung von Dichtung, die - so Celan selbst in einem Gespräch mit Dietlind Meinecke - ihren „Ursprungsmoment“ in einem „sich querstellende[n] Aufbegehren gegen die historische Zeit“ habe35.
Dieses „Aufbegehren“-Wollen der Dichtung könnte Grund dafür sein, dass Celan Sprache als eigenständig betrachtet: Wenn der Dichter sucht, sich gegen die „historische Zeit“ aufzuleh- nen, so wird er sich als Dichter mit der Sprache auflehnen wollen. Die Eigenständigkeit der Sprache ermöglicht dem Dichter, sie als Partner zu sehen, sich in eine Beziehung zur Sprache zu stellen - sich also auch und nur so in eine Beziehung zur „historischen Zeit“ stellen zu können. Sprache ist in diesem Sinne Celans fester Bezugspunkt in und zu seiner Lebenswirk- lichkeit.
Die Sprache geht, wie der Dichter auch, durch die Geschichte: „durch ihre eigenen Antwort- losigkeiten, […] durch furchtbares Verstummen, […] durch die tausend Finsternisse todbrin- gender Rede […]“ und darf nach diesem Weg, auf dem auch sie um ihre eigene Existenz ringt, „wieder zutage treten, »angereichert« von all dem“36. Das Moment der Wahrnehmung der Sprache als Partner, auf die der Gang durch die Geschichte ebenso tiefgehende Einflüsse hat wie auf die Existenz des Dichters, ist entscheidend, verdeutlicht es doch, dass Sprache und Dichter - obwohl es sich natürlich um eine Person und ein Abstraktum handelt - denselben Weg der Erfahrung zurücklegen müssen. In der Begegnung Dichter-Sprache im Raum des Gedichts finden wir daher gerade den „Neigungswinkel“ des Dichters, welcher sich für ihn nicht ausschließlich, aber teilweise !Us der gescHichTlichen Perspektive ergeben hat, Sowie die „Möglichkeiten“ der Sprache, die ebenf!lls j%nem Gang durch die Geschichte entspringen. Es zeigt sich ber%its in der ‛Bremer R%de’, dass Sprache für CelaN sowohl auf eine Vergan- genheit, $urch die sie „hindurchging“, zurückblicken, als 3ich auch auf eine Gege.wart, in der sie wieDer „zutage [tritt, A.C.K.]“, beziehen Kann. Ein derartigeR EntwicklungsprozEss steht gewöhnlich im Zusammenhang Mit einer P%rsonenbeschrei"ung, deren eigene Biographie sie erst zur Person - PerSönlichkeit - haT wer$en lassen. Allerdings schreibt Celan genau diesen Prozes3 auch der Sprache zu, hervorgehoben durch die aUf ein Individuum beziehbaren Prä- dikate „hindurchgehen“ und „zutage treten“. Cprache ist für Celan (ier SuBjek geworden, we)l si% sicH während eines Prozesses mid sich selbst konfrontieRt cah und einen qualitati- ven Wandel in3ofern vollzogen hAt, al3 dass sie ihre Exist%nz gegenüber den „[i(r] eigenen Antwortlosigkeiten“ behauPten konnte. Gerade durch diese Subjektwerdeng der Spra- che kann sie v/n Celan als eigenständig wahrgenommen werde. und eRhält für 3eine Dich- tung Relevanz. Der Dichter kann dadurch sicher3tellen, dass er selbst der Sprache in einer Ernsthaftigkeit begegnet, die ihr angemessen ist und eine AuseinandersetzunG zulässt. Denn nur in der Auseinandersetzung Mit ihr als Subjekt kann Celan innerhalb seiner Dichtung „den Bereich des Gegebenen und des Möglichen“, des Sagbaren, bestimmen, wie er bereits 1958 in seinem Antwortbrief auf eine UmfragE der ‚Librairie Fl)nk%R )n Paris’ - wohl auch für sich se,bst - erkennt37. Wenn Sprache als eigenstänDiges Subjekt gEsehen wird, als GegeN- über in der BegEgnung, so können wir schließlich von einer PErsonif)kation der SprAche sprechen 5nD entdeCken in ihr das Moment Celan’scher Poetik, welches das Zusammen- wirken von Dichter und Sprache im Raum des Gedichts bedingt.
Damit vollzieht Celan eine Trennung, die nicht alltäglich ist: Sprache erscheint losgelöst vom Dichter, ist nicht mehr nur Ausdrucksmittel des persönlichen Sprechens. Doch daher voreilig Celans Dichtung als unpersönlich oder experimentell kategorisieren zu wollen, wäre unange- bracht. Im Gegenteil: Erst mit Hilfe der durch die Personifikation der Sprache möglich ge- wordenen Trennung stellt Celan sicher, dass das Gedicht als Ergebnis des Zusammenwirkens von Dichter und Sprache Ausdruck ihrer persönlichen Beziehung ist38. Der Dichter kann sich so immer wieder erneut auf die Sprache als Gegenüber einlassen, ihr begegnen, sich mit ihr auseinandersetzen - um ihrem Wesen und ihrer eigenen Geschichtlichkeit gerecht werden zu können. Das Gedicht selbst kommt so „als ein Stück [aktualisierte, A.C.K.] Sprache zur Welt“39 und ist in dieser Gestalt Ergebnis des Zusammenwirkens von Dichter und Sprache. Wir müssen uns das Gedicht als einen Ort vorstellen, an dem Celan mit der Sprache eine Be- ziehung eingeht, unter dem Anspruch, eine „Wirklichkeit“40 zu schaffen, in der die „Sprache als Sprache des Sprechenden“ und „der Sprechende als Sprechender der Sprache“41 erschei- nen wollen. Das heißt nichts anderes, als dass Celan in seinen Gedichten nach einem Aus- druck sucht, der die „Grenzen“ und „Möglichkeiten“ der Sprache und den „Neigungswin- kel“ des Dichters berücksichtigt und einander annähert42.
Es kann also festgehalten werden: Das Zusammenwirken von Sprache und Dichter basiert auf der Grundlage, dass der Dichter selbst eine Beziehung zur Sprache sucht. So kann im Gedicht Sprache durch den Dichter wieder zur Sprache werden - als „aktualisierte“ Sprache - und der Dichter als Person ist erst im Gedicht der „zur Welt und zur Sprache“ Gekommene43.
Die Initiative für das Zusammenwirken von Sprache und Dichter im Gedicht geht - das ist nachvollziehbar - vom Schreibenden selbst aus. Doch dieser muss das Kriterium erfüllen, aus dem „besonderen Neigungswinkel seiner Existenz“ heraus zu schreiben und zu sprechen - dies betont Celan immer wieder44. Folglich bedeutet das Kriterium zum einen, dass der Dich- ter im Zusammenwirken mit der Sprache im Gedicht seine eigene Person erscheinen lassen muss; zum anderen, dass seine Person erst erscheinen kann, wenn der Dichter sich ihrer be- wusst ist. Das Bewusstsein der eigenen Person - ihr durch die Geschichte geprägter, individu- eller „Neigungswinkel“ - ist eine Bedingung für das Zusammenwirken von Sprache und Dichter im Gedicht.
Diese Bedingung erhält eine derartig starke Gewichtung, weil sich Celans Verhältnis zur Wirklichkeit und zur eigenen Person primär durch die Sprache konstituiert: „Wirklichkeit ist nicht“45, sondern der Dichter ist gezwungen, mit dem „Neigungswinkel seiner Existenz“ „zur Sprache [zu gehen, A.C.K.]“46, um Wirklichkeit zu schaffen47. Schließlich ist Sprache für Celan eine bestimmende Größe seiner Existenz - wie wir anhand der ‛Bremer Rede’ verdeutlichen konnten. Aus diesen Gründen kann Individualität48 als sein dichterisches a priori verstanden werden, eben weil sie die Vorbedingung darstellt, mit der Sprache in eine Beziehung zu treten. Celan könnte sich sonst in keiner Weise zur Sprache und zu sich selbst verhalten, bewegte sich - wenn man so will - in keiner Wirklichkeit.
2. Der „Neigungswinkel“ der Person als Prämisse für die Beziehung von Dichter und Sprache und als Abgrenzung zur Kunst
Wenn man Celans enge Beziehung zur Sprache nachvollziehen will, ist schließlich das Ver- stehen des „Neigungswinkels“ der Person unabdingbar. Aus diesem Grund ist es notwendig, sich den ‛Meridian’ genauer anzuschauen, weil der Dichter gerade in ihm veranschaulicht, wie sich der „Neigungswinkel“ einer Person darstellt und damit entschieden einer Unter- scheidung von Kunst und Dichtung nachgeht49.
Für Celan hat Kunst etwas „Unheimliches“50. Dieses empfundene Unbehagen hat seinen Ur- sprung nicht im Wesen der Kunst selbst51, sondern in ihren Darstellungsweisen: Sie erscheint
- Celan spricht, wie an vielen Stellen des ‛Meridians’, mit Büchner - in „Affengestalt“, als „Episode“, als „Automat“, als „Medusenhaupt“52, welches bekanntlich durch seinen Blick Lebendiges in Stein verwandelt. Kurz: Kunst ist - wir greifen hier auf den um 1948 entstandenen Essay ‛Edgar Jené und der Traum vom Traume’ zurück - nichts anderes als ein „Marionettentheater“53, sie ist unbeseelt54, also ‚Personen-los’.
Wir bekommen eine konkrete Idee davon, dass Celan den Begriff der Kunst mit dem Begriff der Künstlichkeit gleichsetzt. Denn, so lesen wir im ‛Meridian’, in der Kunst ist „alles schon einmal dagewesen und langweilig“55, sie erlaubt es, „Worte und Worte aneinanderzureihen“56, ohne sich in eine Beziehung zur sprechenden Person zu stellen. Im Gegenteil: Die Person wird nicht eingebunden, sondern ausgeschlossen: In der Künstlichkeit der Kunst erkennt Ce- lan ihr Problem57.
Besonders an der vom Dichter hervorgehobenen Büchner’schen „Affengestalt“58 wird deut- lich, dass Kunst gerade nicht ihre Ausdruckskraft im „Neigungswinkel“ der Person sucht, sondern sich mit der unpersönlichen Ausführung automatisierter Abläufe begnügt. Ihr Fokus liegt auf gesetzten Schemata59 und bewegt sich in einem Bereich, der durch „Mechanismus, […] Pappdeckel und Uhrfedern“60 nur Beklemmung hervorrufen kann. In diesem Schattenreich sind Sinne, Wahrnehmung, das Lebendige ausgeschlossen, denn Automaten haben kein Bewusstsein - sie sind unbeseelt. Die Kunst ist in ihrer Erscheinungsform unmenschlich, in diesem Sinne auch unsprachlich und starr.
Tatsächlich entpuppt sich für Celan der Mechanismus der Kunst in ihrer Beziehungslosigkeit: Die ihr immanente Wiederholung des Gleichen lässt ein Gespräch weder innerhalb der Kunst, noch über sie zu61. Diese Charakterisierung der Kunst als Künstlichkeit im Sinn, schreibt Ce- lan dagegen der Dichtung den Bereich des Nicht-Artifiziellen, des Menschlichen zu. Was Celan durch die Problematisierung der Kunst darstellt, ist in gleichem Maße eine Prob- lematisierung der alltäglichen dichterischen Wirklichkeit und scheint mit der Erfahrung einer dichterischen Existenz in Verbindung zu stehen, die erleben muss, dass „Artistik und Wort- kunst“62 als „das Herumexperimentieren mit dem sogenannten Wortmaterial“63 zwar „etwas Abendländisch-Abendfüllendes für sich haben“64, gleichzeitig aber die Beziehungslosigkeit der Dichter zur eigenen Person, ergo auch zur Sprache offenbaren: Wortspiele mit „Wortma- terial“ sind eben nur artifiziell - selbst wenn äußerst faszinierend65. Der Kunst das Menschli- che abhanden gekommen: Es geht um reine Produktion66, um das pure Machen von Kunst. Dieses „Machen“ wird Celan ein Jahr nach dem ‛Meridian’ in seinem Brief an Hans Bender - in dem er auch auf das besagte „Wortmaterial“ zu sprechen kommt - explizit anklagen und in
Geht aufrecht, hat Rock und Hosen, hat einen Säbel! He, Michel! Mach’ Kompliment! So ist’s brav! Gib’ Kuß. Da! (Der Affe trompetet.) ... Kein Schwindel, Alles Erziehung! […].“
diesem Zusammenhang einmal mehr darauf verweisen, dass Gedichte ein Ausdruck des Menschlichen seien, insofern der Dichter nur als Individuum, nur als Person Gedichte schreiben könne67.
In diesem Kontext kann Celans Äußerung „Wirklichkeit“ wolle „gesucht und gewonnen sein“68 aus seinem Antwortbrief auf die bereits erwähnte Umfrage der ‛Librairie Flinker in Paris’ als Selbstmahnung gelesen werden, sich nicht als Dichter im Mechanismus - in der Kunst - einzurichten69. Dichtung muss sich von der Kunst unterscheiden - aber wie70 ? Diese Selbstmahnung setzt zunächst einen existentiellen Konflikt mit der Wirklichkeit voraus, wie er auch von Celans Zeitgenossem Albert Camus in seinem Essay ‛Der Mythos des Sisy- phos’ problematisiert wird. Ohne an dieser Stelle einen Wirklichkeitsdiskurs eröffnen zu wol- len, ist dennoch die Tatsache, dass Celan Wirklichkeit nicht als gegeben, sondern als zu su- chend betrachtet, bemerkenswert, insofern Dichtung - anders als Kunst - auf die Vorläufig- keit der Realität verweist.
Die Verbindung zu Camus ist umso interessanter, als dieser im Gefühl der Absurdität die Be- wusstwerdung eines unbewussten, mechanischen Lebens - bei Celan symbolisiert durch die mechanische Kunst - als einen Schritt in die Wirklichkeit der Person, des Menschlichen il- lustriert71.
Celan greift im ‛Meridian’ auf ein verblüffend ähnliches Verständnis von Absurdität zurück, nach dem Dichtung sich von der Kunst durch die „für die Gegenwart des Menschlichen zeu- gende[n] Majestät des Absurden“72 abhebt. Sprich: Dichtung ist dann menschlich, wenn in- nerhalb der Kunst ein Moment gefunden werden kann, der ihre immanenten, automatischen Abläufe durchbricht, der „den »Draht« zerreißt“73, an dem die Marionetten - leblos - bau- meln.
Für Celan ist dies nur möglich, wenn man sich der eigenen Person, des eigenen Ichs, des eigenen „Neigungswinkels“ bewusst wird. Dichtung ist die Anwesenheit einer Person - und das Gedicht zeugt von dieser Anwesenheit74.
Die Bewusstwerdung - eigentlich das absurde Gefühl - ist das Erscheinen des Ichs als die Person selbst. Durch ihren majestätischen Zug wird diese Bewusstwerdung für Celan affirma- tiv und darf als Befreiung, Emanzipation, als ‚Freisetzung’75 der Person verstanden werden. Damit scheint die Celan’sche Poetik Richtung zu gewinnen, insofern sich die vom Dichter gesuchte Wirklichkeit in der Dichtung als die Entscheidung zum Ausbrechen aus historisch gewachsenen, unreflektierten Konventionen entpuppt76: Celans Interesse gilt dem „Akut des Heutigen“77, dem Hier und Jetzt78.
Dichtung darf also als Dichtung bezeichnet werden, wenn erkennbar ist, dass eine Person spricht, dass in dem Gesagten der Sprechende erscheint. Celan verfolgt durch die Betonung des Zusammengehörens von Wort und Sprecher, dass der Rezipient von Dichtung - von Gedichten - den Text nicht nur kontextuell verstehen soll, sondern seine Aufmerksamkeit auf den ihm durch den „Neigungswinkel“ der Person und den „Möglichkeiten“ der Sprache mitgegebenen Gehalt fokussiert79. Denn wir erinnern uns: Das Gedicht ist der Ort der Beziehung von Dichter und Sprache und versucht ja durch beider Zusammenwirken neu, „aktualisiert“ zu sprechen. Und um diese Fähigkeit von Gedichten geht es Celan.
Diese Art der Aufmerksamkeit gegenüber dem Gesagten entspricht allerdings nicht der ge- wohnheitsmäßigen, leicht konsumierbaren, beziehungslosen Wahrnehmung von Kunst. Dass
diese Aufmerksamkeit möglich ist, zeigt Celan im ‛Meridian’ an den Büchner’schen Figuren Lucile und Lenz. Beiden Figuren ist es bestimmt, sich innerhalb des Kunstwerkes, das ihnen den Handlungsrahmen bietet, durch Bewusstwerdung ihrer selbst als Person im Wort freizu- setzen80.
Lucile, die als Figur in Büchners ‛Dantons Tod’ unwesentliche Charakterzüge erhält, gelangt in eine Szene, in der sie sich plötzlich durch ein Wort, das so gar nicht zu ihr passt, wesentlich machen kann. In der Gegenwart von Revolutionären ruft sie: „Es Lebe der König“. Für Lucile ist dieser Ausspruch - so Celan - keine bloße Gegenposition zur Situation: Ihr Interesse gelte weder der „Monarchie“, noch einem „zu konservierenden Gestern“81. Die Figur Lucile gibt mit ihrem Ausruf der Verbundenheit zu ihrem Mann Ausdruck, den sie auf dem Schafott ster- ben sehen muss. Im Rahmen der Szene ist ihr Ausruf ihr eigenes Todesurteil, letztlich aber der Ausdruck der Person Lucile selbst: Sie, die „Sprache als Gestalt und Richtung und A- tem“82 wahrnimmt, spricht ein Gegenwort zum Gesagten83. Im Übrigen wirkt erst dadurch das ‚Gerede’ der Szene, in der die Figuren um Lucile ihren Tod nicht als persönlichen, als menschlichen Tod begreifen, sondern ihn „»doppelt« sterben“, „jambisch“ sterben84, versmä- ßig sterben wollen, künstlich. Lucile befreit sich aus der Szene und aus der Künstlichkeit, indem durch sie der Ausruf „es lebe der König“ eine einmalige Bedeutung erhält85: Sie spricht unter dem „Neigungswinkel“ ihrer Existenz ein „Gegenwort“86 gegen die Kunst.
Gehen wir einen Schritt weiter: Luciles Ausspruch richtet sich nicht nur gegen die Kunst, sondern steht für Lucile allein, ist ihr Wort, mit dem die Bewegung der Szene, des Stückes abrupt endet. Wir werden uns der gegensätzlichen Bedeutung von Kunst und Dichtung be- wusst, symbolisiert durch Lucile, die - man darf es so sagen - durch ihr Wort aus der Kunst herausgetreten ist. Im Gegensatz zu den übrigen Figuren ist Luciles Tod ein Freitod, ein durch ihre Person hervorgerufener87.
Auf diesen Moment der Bewusstwerdung will Celan hinaus. Erst durch die exemplarische Veranschaulichung, dass das Sprechen Luciles als das Sprechen einer Person wahrgenommen werden kann, dass ferner Lucile sich dadurch innerhalb der beziehungslosen Kunst in eine Beziehung auch zur Sprache stellt und in der Sprache ihr Schicksal formulieren kann, wird die Voraussetzung für das Gedicht durch die Gegenüberstellung von Kunst und Dichtung klar: Die Bewusstwerdung der Person als Person ist notwendig, um Sprache im Gedicht einen wirklichen Gehalt mitzugeben.
Ebenso wie Lucile sich in eine „Gegenwart des Menschlichen“88 holen kann, gelingt es auch Lenz, sich als „Person“, als „ein Ich“89 zu erleben. Seine Situation ist aber insofern eine andere, als dass der Moment der Bewusstwerdung nicht als „Gegenwort“ zum Geschehen steht, sondern er Lenz aus seiner „Ich-Ferne“90 befreit, für die Celan im ‛Meridian’ Lenzens Interesse für die Kunst verantwortlich macht91. Lenz ist weder für sich noch für Celan, sobald er über Kunst philosophiert, ja solange er Künstler sein will, Person. Er befindet sich wie Lucile im unbeseelten, unheimlichen Bereich der Kunst und daher in großer Distanz zum eigenen Ich, zum Menschen Lenz - Lenz ist selbstentfremdet92. Gleichsam als selbstvergessener Künstler bewegt er sich durch Büchners Dichtung - bis etwas mit ihm geschieht.
Mit dem für den Rezipienten zunächst von Wahnsinn zeugendem Wunsch, „auf dem Kopf“93 gehen zu wollen, bekundet Lenz das Verlangen nach einer seiner Person gemäßen, die Wirk- lichkeit ändernden Perspektive: Er sucht eine Umkehr der Weltverhältnisse, die notwendi- gerweise auch für ihn befremdlich ist, weil dieses Verlangen ihn radikal aus der Selbstent- fremdung des Künstlerdaseins auf sein eigenes Dasein zurückwirft: auf sein erst (selbst)vergessenes, dann in diesem Verlangen erscheinendes, plötzlich wahrgenommenes,
In: Werner Hamacher und Winfried Menninghaus (Hrsg.): Paul Celan. Frankfurt a. M. 1988, S. 31-60. Hier S. 40.); so auch Astrid Mader, die schreibt, das „Gegenwort“ sei „einzig und allein ein Wort gegen das Leben.“ Mader stellt einen engen Bezug zwischen Celans Dichtungskonzeption und der Shoah her. (Astrid Mader: Über die metaphysischen Implikationen von Paul Celans Poetologie und Poesie. Eine Interpretation von Jaques Derridas „Schibboleth pour Paul Celan“. Dissertation Heidelberg 2006, S. 22.)
„befremdete[s] Ich“94. Denn - so Celan - „wer auf dem Kopf geht“, vollzieht nicht nur einen Perspektivenwechsel, sondern „hat den Himmel als Abgrund unter sich“95 - und keinen sicheren Boden unter den Füßen96.
Indem Celan unter Lenz einen Abgrund auftut, führt er uns an den Kern seiner Poetik. In den Abgrund schauen zu wollen manifestiert das Ende der ‚künstlichen’ Selbstvergessenheit und damit den Schritt, durch welchen Dichtung zur Dichtung wird, weil Lenz Person ist, weil seine Person - nicht der Künstler - erscheint. Ferner ist der wahnsinnige Wunsch, „auf dem Kopf“ gehen zu wollen, das selbstentworfene Verlangen, sich von der - künstlichen - Welt zu befreien, „weltfrei“97 zu werden und selbst zu sein. Die Figur Lenz ist nun nicht mehr selbstvergessen, sondern wird sich des Selbst bewusst: Lenz, Büchners Lenz, dessen Vorlage bekanntlich der an einer psychischen Krankheit leidende Schriftsteller Jakob Michael Reinhold Lenz98 war, ist tatsächlich wahnsinnig. Büchners Leistung, also die Leistung der Dichtung, besteht darin, „die Gestalt“99, den „historischen“, den „wahren“100 Lenz in der ihm eigenen Richtung zu sehen. Dichtung „eilt [so, A.C.K] voraus“101.
Dennoch: Der Moment dieser Selbsterkenntnis ist unheimlich, nicht weil er von Künstlichkeit und Automatismus zeugt, sondern weil Lenz mit sich selbst - mit seinem Wahnsinn - konfrontiert wird. Er kehrt, erstaunt und befremdet von sich selbst, zu sich selbst zurück. Diese Befremdlichkeit gegenüber der eigenen Person ist konstitutiv, weil „mit dem hier und sol cherart freigesetzten befremdeten Ich“102 der „Neigungswinkel“ Lenzens erkennbar wird. Büchner gelang es, in Lenzens Wunsch, „auf dem Kopf“ gehen zu wollen, den „Neigungswinkel“ der historischen Person Lenz einzufangen.
In der Freisetzung der Person erhält das Menschliche der Dichtung eine qualitative Erweite- rung. Bezieht sich Luciles „Gegenwort“ noch auf ein ‚Menschlichwerden’ innerhalb der Situ- ation und im Hinblick auf andere, ist Lenz ausschließlich mit dem eigenen Dasein konfron- tiert: In seinem Schicksal wird er Person. Unabhängig davon, dass dieses Erkennen kein leichtes ist, sondern in seiner Wucht des Augenblicks ein „furchtbares Verstummen“ hervor- ruft, das „ihm [Lenz, A.C.K.] - und auch uns - den Atem und das Wort [verschlägt]“103, sieht Celan in ihm eine existentielle Umkehr. Der Dichter versteht das Erkennen der Person im eigenen Schicksal als „Atemwende“104 und zugleich als das Ziel, an dem sich Dichtung orien- tieren muss105. Das Bild der „Atemwende“ wird verständlich, wenn wir sie nach Celan als Umkehrpunkt begreifen. Sein Schicksal erkennend, befreit sich Lenz von der Last seines selbstvergessenen Daseins und kann, weil er sein Schicksal annimmt, die Freiheit seines Da- seins erleben: Sein Ich gelangt zu sich selbst. Ebenso kann auch die Dichtung der Ort sein, an dem der Dichter durch das Zusammenwirken mit der Sprache sein Verhältnis zum Dasein, zu seinem Schicksal bestimmen kann106. Schließlich ist Lenzens „Freisetzung“ ein zum Sein führender Akt.
Warum die Beschreibung von Lenzens „Auf dem Kopf gehen“-Wollen für Celan so ungemein wichtig ist, liegt auf der Hand: Der Anspruch des Gedichts ist - wie bereits gesehen - ein ähn- licher. Über den „Neigungswinkel“ des Dichters hinaus, muss in ihm auch die „Rich- tung“ seines Daseins deutlich werden107, um seine Person im Gedicht erscheinen zu lassen108. Anders formuliert: Der Moment, in dem Lenz seine Person zum Ausdruck bringt, jener Mo- ment, in dem er am „»20. Jänner durchs Gebirg ging«“109 und er selbst ist, sollte auch jedem Gedicht durch den „Neigungswinkel“ des Dichters eingeschrieben sein110. Denn Gedichte sind, so Celan, „Daseinsentwürfe […], ein Sichvorausschicken zu sich selbst, auf der Suche nach sich selbst … Eine Art Heimkehr“111: In ihnen begegnet der Dichter sich selbst112.
Vielleicht ist auch aus dieser Perspektive das Bild des „Meridians“113 im ‛Meridian’ versteh- bar. Celans Anspruch des Einschreibens der Person in die Dichtung führte ihn zu Büchner, der dies an den Figuren Lucile und Lenz gezeigt hat. Und auch der von Celan am Ende der Rede erwähnte Karl Emil Franzos, „Herausgeber jener »Ersten Kritischen Gesammt-Ausgabe von Georg Büchner’s Sämmtlichen Werken und handschriftlichem Nachlaß«“114, hat verse- hentlich das Wort „Commode“ aus Büchners ‛Leonce und Lena’ als „Kommendes“ gelesen und ihm somit eine Bedeutung mitgegeben, die nichts anderes als den momenthaften Aus- druck seiner Person widerspiegelt. Celans Anspruch, die Person erscheinen zu lassen, führte ihn zur Auseinandersetzung mit jenen Texten, denen dieser Anspruch eingeschrieben ist: Ce- lan begegnet diesen Texten. Eine solche Begegnung sollen letztlich auch Gedichte ermögli- chen, indem sie durch das Erscheinen der Person Schemata, Kunstworte, Wortmaterial und „heitererweise sogar die [sprachlichen, A.C.K.] Tropen“115 durchkreuzen, und auf diese Wei- se eine Verbindung, einen „Meridian“, zwischen Schreibendem und Rezipient herstellen116.
An dieser Stelle schließt sich auch für uns der Kreis: Wenn Gedichte, heutige Gedichte, wie Celan im ‛Meridian’ betont117, unbedingt die Person erscheinen lassen müssen, welche sie entstehen ließ, ist die Sprache dieser Gedichte die von uns - und nach Celan - am Anfang dieses Kapitels so bezeichnete „aktualisierten Sprache“, weil der Dichter erst im Zusammen- wirken mit der Sprache den Gedichten seine Person einschreiben kann118.
Für Celan als Dichter ist es also nur konsequent, mit der Sprache eine enge Beziehung einzugehen und sich mit ihr auch aufgrund ihrer eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen, weil er durch sie zur Person werden und zum Gedicht gelangen kann119. Nur durch die Beziehung zur Sprache kann sich der Dichter in ein „Verhältnis“ zu sich selbst und zum „Neigungswinkel“ seines Daseins stellen120.
Daher wäre die zwingende Schlussfolgerung anzunehmen, dass in der Begegnung von Spra- che und Dichter im Raum des Gedichts nicht nur der Dichter als Person freigesetzt wird, son- dern konsequenterweise auch die Sprache als nicht künstliche, „aktualisierte“ Sprache121. Wir haben zu Beginn dieses Kapitels allerdings darauf hingewiesen, dass der Dichter auf eine Sprache trifft, die nur innerhalb ihrer eigenen „Grenzen“ und „Möglichkeiten“ ein Gedicht hervorbringen kann. Um es vereinfacht zu sagen: Sie ist nicht ganz unbelastet. Bevor wir aber vorschnell diese Last mit der deutschen Sprache in Verbindung bringen, in der Celan als Dichter jüdischer Herkunft schreibt - das ist an dieser Stelle noch nicht relevant -, sollten wir uns vor Augen führen, dass keine Sprache dem souveränen Gebrauch eines Einzelnen unter- liegt. Insofern ist jede Sprache mehr oder weniger vorbelastet122. Es ist wichtig, dies zu er- kennen, da Celan damit den Anspruch betont, dass er gerade nicht eine von seiner Person ab- hängige neue ‚Kunstsprache’ schafft, sondern ihrem und seinem Wesen gemäß spricht.
So mag die Aktualisierung der Sprache im Gedicht durch das Zusammenwirken von Dichter und Sprache auf einer Ebene stattfinden, die zwar mit Bildern spricht, aber nicht notwendig der Sprache neue Bilder aufdrängt, sondern die Konfrontation mit ihren gebräuchlichen, im Laufe der Zeit nichtsagend gewordenen, also künstlichen „Tropen und Metaphern“ sucht, um diese „ad absurdum“123 zu führen. Daher sprechen wir in Bezug auf die „aktualisierte Spra- che“ nicht von einem Ergebnis, sondern von einem im Gedicht sichtbaren Prozess. Meines Erachtens kann nur auf diese Weise der Dichter seine Person im Gedicht erscheinen lassen, indem er sich mit der Sprache auseinandersetzt. Und auch die Sprache könnte so ‚frei’ werden124. Auch daher ist das Zusammenwirken in der Form einer Beziehung zu verstehen: Jedes neue Gedicht setzt eine neue Auseinandersetzung voraus.
Das Potential der Beziehung ist schließlich die Begegnung zwischen Dichter und Sprache selbst: Die Sprache verändert sich nicht ohne den Dichter, und der Dichter kann keinen Ausdruck seiner Person finden ohne die Sprache. Wir haben dies zu Beginn des Kapitels als Abhängigkeit bezeichnet.
Diese Abhängigkeit ist sehr entscheidend. Wenn der Dichter nur im Gedicht ein Verhältnis zum Dasein entwickeln kann, wenn nur im Gedicht die Sprache ihrem Wesen gemäß erschei- nen kann, so ist es nicht nur als Ort der Beziehung Dichter-Sprache zu bezeichnen, sondern als Ort ihrer Existenz. Ergo: Ohne das Gedicht gibt es weder das Dasein des Dichters125, noch ein ‚Sich-Öffnen’ der Sprache hin zu einem „wahren“ Sprechen. Ohne das Gedicht sind Spra- che und Dichter nicht existent126. Daher tragen beide Partner eine Verantwortung sich selbst gegenüber und eine Verantwortung für das Gedicht. Aus der Perspektive des entstandenen Gedichts sprechend, kann dieses nur bestehen und sich in der Gegenwart, im „Immer- noch“ halten, wenn es von der Beziehung Dichter-Sprache als „gestaltgewordene Sprache eines Einzelnen“127 spricht.
Aber das Gedicht selbst ist zeitwund128, seine Lebenserwartung ist von kurzer Dauer. Sobald es entstanden ist, begibt es sich auf die Suche nach einem Anderen, es ist unterwegs zu einem Anderen129. So hat auch das „wirkliche“ Gedicht diesen „unerhörten Anspruch“130, wahrge- nommen werden zu wollen. Aufgrund der dem Gedicht inhärenten antinomischen Bewegung zwischen dem „Immer-noch“ der Gegenwart, in der Sprache und Dichter zusammenwirken, und dem „Schon-nicht-mehr“131 der Nicht-Existenz, welche Folge eines Nicht- Zusammenwirkens wäre, kann es sich erst in der Zeit behaupten und gültig werden mit einem Anderen132. Verfehlt diese Begegnung mit dem Anderen, bleibt das Gedicht - das ja aus der Beziehung Sprache und Dichter überhaupt erst entsteht - unsichtbar. Sowohl das Zusammen- wirken von Sprache und Dichter im Raum des Gedichts, als auch dessen Drang zu einer Be- gegnung, bilden die Maßstäbe, an denen sich jedes „wirkliche“ Gedicht messen muss.
Celans Poetik hat einen kreisförmigen Charakter: Seine Dichtung macht Sinn, wenn man sie als fortwährende Metamorphose sieht, in der Dichter und Sprache im Gedicht und das Ge- dicht selbst den Weg zwischen Dasein und Nichtsein abschreiten, immer mit dem Ziel, den Zustand des Nichtseins zu vermeiden, und sich auszurichten auf eine mögliche Begegnung. Stattfinden kann diese nur, wenn Sprache und Dichter in eine Beziehung treten. Aber wir müssen gleichzeitig erkennen, dass diese Beziehung einen Nutzen verfolgt, der seinen Ur- sprung in der Hoffnung sieht, existieren zu können und anwesend zu sein. Aus ihm wird das Gedicht geboren und hält, entstanden aus der Beziehung Dichter-Sprache, auch diese im „Immer-noch“133. Das Gedicht sichert als Ort der Beziehung ihre Existenz - unter der Bedin- gung eines Zusammenseins.
3. Die Annahme: Das Sprechen des Dichters mit der Sprache
Einen Juristen - er war Brite - hat man nach der Beschreibung eines Falles einmal fragen hören: „And what am I supposed to do with this piece of information?“ Die gleiche Frage stellt sich natürlich auch uns.
Es ist klar geworden, dass Celan der Sprache im Gedicht mit dem Anspruch begegnet, ein „wirkliches“ Gedicht entstehen zu lassen - wahr zu sprechen. Dies kann sich nur in einem von den respektiven Prädispositionen abhängigen Zusammenwirken vollziehen134 und kommt erst zustande, wenn der Dichter mit dem „Neigungswinkel“ seiner Person der Sprache gegenübertritt. Die Relevanz dieser Vorbedingung ist deutlich geworden.
An dieser Stelle sollte allerdings auch im Hinblick auf die in dieser Arbeit aufgestellte und noch näher zu untersuchende These, Celan stelle in seinen Gedichten Sprache zur Rede, dar- auf hingewiesen werden, dass das Erkennen des „Neigungswinkels“ der Person zwar Prämis- se ist, die Person selbst im Gedicht erscheinen zu lassen, allerdings an sich nicht ausreicht. Denn der Dichter geht erst aus seinem „Neigungswinkel“, seinem Dasein, heraus im Raum des Gedichts zur Sprache, um sich in ein Verhältnis zum Sein stellen zu können. Der Dichter konsultiert Sprache bezüglich seines Daseins. Demnach können wir die Gedichte, die erst die Konsultation der Sprache ermöglichen, mehr als zuvor als Celans Existenzsicherung verste- hen, weil sie als Ort der Beziehung Dichter-Sprache auch der Ort der Konsultation sind.
Gleichzeitig könnte allerdings durch die Prädisposition der Sprache - ihrer Vorbelastung - und die Prädisposition des Dichters - seines „Neigungswinkels“ - das Zusammenwirken nicht nur konfliktfrei, sondern auch konfrontativ sein.
Es stellt sich daher die Frage, wie der Dichter dennoch sein Verhältnis zum Sein im Zusam- menwirken mit der Sprache bestimmen kann, ohne den Raum des Gedichts - seine Existenz - aufgeben zu müssen. Da Celan, wie gesehen, Sprache als eigenständig betrachtet und sie in seiner Wahrnehmung personifiziert erscheint, liegt die Vermutung nahe, dass der Dichter ihr auf einer kommunikativen Ebene begegnet. Anders: Celans Verhältnis zum Sein kann sich über die Kommunikation mit der Sprache im Gedicht für ihn erschließen. Somit wäre diese Kommunikation im Hinblick auf die „aktualisierte Sprache“ der von uns als solcher bezeich- nete sichtbare Prozess. Dieser ist eine Arbeit am „wahren“ Sprechen als Arbeit an der dichte- rischen - und sprachlichen - Existenz.
Uns stellt diese Abhängigkeit von Dichter und Sprache vor die Aufgabe zu zeigen, in welcher Gestalt die personifizierte Sprache in Celans Gedichten überhaupt erscheint, und wie die doch eigentlich existentiell-affirmative Begegnung und natürlich auch der zugrundeliegende Kon- flikt sich gestalten. Ohne das Nachvollziehen der Grundstrukturen der Beziehung kann schließlich nicht verstanden werden, inwiefern und warum Celan Sprache zur Rede stellt.
II. Grundstimmungen der Beziehung Dichter-Sprache
„Es ist alles anders als du dir denkst,
als ich es mir denke,
die Fahne weht noch,
die kleinen Geheimnisse sind noch bei sich, sie werfen noch Schatten, davon
lebst du, leb ich, leben wir“ GW I, 284
Die Frage nach der Gestalt der Sprache in Celans Gedichten ist leicht gestellt, ihre Beantwor- tung dagegen führt häufig allzu schnell zu einer eklektizistischen Analyse rhetorischer Figu- ren. Genau dies wollen wir nicht: Wir suchen nicht die Gestalt der Sprache, sondern die Spra- che als Gestalt. Diese Suche findet ihre Rechtfertigung in zwei entscheidenden Momenten Celan’scher Poetik: Die Sprache wird vom Dichter als eigenständig betrachtet, ist personifi- ziert, und der Dichter selbst stellt sich im Raum des Gedichts in eine Beziehung zu ihr, um ein Verhältnis zu seinem eigenen Dasein entwickeln zu können. Wir haben diesen Prozess am Ende des vorhergegangenen Kapitels als Konsultation der Sprache bezeichnet.
Daher ist Celan nicht als Medium zu verstehen, durch welches die Sprache spricht und somit deren Gestalt im Erscheinen rhetorischer Figuren wiederzufinden wäre. Das Gegenteil ist der Fall: Der Anspruch der Konsultation der personifizierten Sprache verweist auf eine ansprech- bare Instanz. Zudem lässt die Betonung der aufeinandertreffenden Prädispositionen von Dich- ter und Sprache vermuten135, dass Celan die Sprache gerade nicht als ein ihm zur Verfügung stehendes, untergeordnetes Ausdrucksmittel betrachtet136. Daher kann dieser nicht bedenken- los über sie verfügen, sondern muss die Konsultation suchen. Dies führt uns zurück zu Celans Grundsatz, dass sich sein eigenes Verhältnis zum Dasein über die Sprache erschließt137: Kon- sultierte der Dichter die Sprache nicht, so riskierte er, dass sein Dasein unabhängig vom eige- nen „Neigungswinkel“ ausschließlich über die „Möglichkeiten“ und „Grenzen“ der Sprache bestimmt würde138.
[...]
1 GW II, 30. (Man vergleiche die Auflösung der Siglen zu Beginn dieser Arbeit)
2 Vgl. hierzu: Jean Bollack: Poetik der Fremdheit. Wien 2000; Gilda Encarnação: "Fremde Nähe". Das Dialogische als poetisches und poetologisches Prinzip bei Paul Celan. Würzburg 2007.
3 Gilda Encarnação: "Fremde Nähe". Das Dialogische als poetisches und poetologisches Prinzip bei Paul Celan. Würzburg 2007, S. 11.; Vgl.: Thomas Böning: Alterität und Identität in literarischen Texten von Rousseau und Goethe bis Celan und Handke. Freiburg i. B. 2001.
4 Fassbind, Bernard: Poetik des Dialogs. Vorraussetzungen dialogischer Poesie bei Paul Celan und Konzepte von Intersubjektivität bei Martin Buber, Martin Heidegger und Emmanuel Levinas. München 1995.
5 Vgl. hierzu: Judith Ryan: Monologische Lyrik. Paul Celans Antwort auf Gottfried Benn. In: Basis. Jahrbuch für Deutsche Gegenwartsliteratur, II (1971), hrsg. v. Reinhold Grimm und Jost Hermand. Frankfurt a. M. S. 260-282.
6 Vgl.: Michael Jakob: Das ›Andere‹ Paul Celans oder von den Paradoxien relationalen Dichtens. München 1993.
7 Zur Bedeutung der Redensart ‚jemanden zur Rede stellen’, die vor allem meint, Rechenschaft von jemandem zu fordern und ihren Ursprung im altdeutschen Gerichtsverfahren hat, vgl. Lutz Röhrich: Art. Rede, reden. In: Ders.: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. Bd. 4. Freiburg/Basel/Wien 2001, S. 1234f.
8 Vielmehr hat die Vielfalt der Ansätze auch zum Entstehen der These beigetragen, da das Interesse für eine konkrete Besetzung des Du in Celans Gedichten zu einer Suche führte.
9 Die Rede wurde am 22. Oktober 1960 anlässlich der Entgegennahme des Georg-Büchner-Preises gehalten (Im Folgenden als ‚Meridian’ bezeichnet).
10 Die Materialien: Der Meridian. Endfassung - Vorstufen - Materialien. Hrsg. von Bernhard Böschenstein und Heino Schmull in Verbindung mit Michael Schwarzkopf und Christiane Wittkop. Frankfurt a. M. 1999.
11 Die Rede wurde am 26. Januar 1958 gehalten (im Folgenden als ‛Bremer Rede’ bezeichnet).
12 Vgl. die ‛Bremer Rede’ (GW III, 186.)
13 U. a. hervorzuheben sind: Der Brief Celans an Hans Bender vom 18. Mai 1961 (GW III, 177.); sowie Celans Antwortbrief auf eine Umfrage der ‚Librairie Flinker in Paris’ (GW III, 167f.)
14 Dies auch, weil sich in ihnen in umfassender Weise die Beziehungskonstellation Dichter-Sprache widerspiegelt. (Vgl.: Der Meridian. Endfassung - Vorstufen - Materialien. Hrsg. von Bernhard Böschenstein und Heino Schmull in Verbindung mit Michael Schwarzkopf und Christiane Wittkop. Frankfurt a. M. 1999.)
15 Vgl. hierzu: Paul Celan: Das Frühwerk. Hrsg. von Barbara Wiedemann. Band 6 der Gesammelte(n) Werke in sieben Bänden. Hrsg. von Beda Allemann und Stefan Reichert in Verbindung mit Rolf Bücher. Frankfurt a. M. 2000.
16 Paul Celan: ‛Der Sand aus den Urnen’. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hrsg. von Beda Allemann und Stefan Reichert in Verbindung mit Rolf Bücher. Bd. III. Frankfurt a. M. 2000, S. 7-64.
17 Paul Celan: ‛Mohn und Gedächtnis’. In: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hrsg. von Beda Allemann und Stefan Reichert in Verbindung mit Rolf Bücher. Bd. I. Frankfurt a. M. 2000, S. 7-78.
18 Zu den unberücksichtigten Gedichtbänden siehe weiter oben in dieser Einleitung.
19 Dagegen ist m. E. die Interpretation des Gedichts „ENGFÜHRUNG“ aus dem Gedichtband ‛Sprachgitter’ (GW I, 195.) durch Peter Szondi ein gelungenes Beispiel einer Textauslegung im Celan’schen Sinne. (Peter Szondi: Schriften II. Frankfurt a. M. 1978, S. 345-389.)
20 Vgl.: Der Meridian, TCA, Nr. 470, S. 138.
21 Vgl. hierzu Gerhart Baumanns Kommentar: „Schwer nur vermag man sich vorzustellen, daß Celan Auszüge aus den Erinnerungen an seine Gedichte zugänglich gemacht hätte. Eifersüchtig hütete er das Geheimnis der Werkstatt. Jegliche Auskunft bezeichnete einen Vorbehalt, hielt sich den Rückzug frei.“ (In: Gerhart Baumann: Erinnerungen an Paul Celan. Frankfurt a. M. 1986, S. 31.)
22 Im Hinblick auf dieses Kapitel sind die Rede anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der freien Hansestadt Bremen am 26. Januar 1958 (im Folgenden als ‛Bremer Rede’ bezeichnet) sowie die Rede ‛Der Me- ridian’, gehalten anlässlich der Entgegennahme des Georg-Büchner-Preises am 22. Oktober 1960 in Darmstadt (Im Folgenden als ‚Meridian’ bezeichnet), hervorzuheben. Neben diesen äußerte sich Celan in zahlreichen Brie- fen sowie in der Ansprache vor dem Hebräischen Schriftstellerverband am 14. Oktober 1969 in Tel Aviv zu seiner Dichtungskonzeption. Auch in seinem 1957 entstandenen Text ‛Gespräch im Gebirg’ und im um 1948 verfassten Essay ‛Edgar Jené und der Traum vom Traume’ sind poetologische Momente zu finden. Nicht zuletzt sei auf die Materialien zum ‛Meridian’ hingewiesen, die sich für dieses Kapitel als unabdingbar herausgestellt haben. (Vgl. hierzu: Paul Celan: Der Meridian. Endfassung - Vorstufen - Materialien. Hrsg. von Bernhard Bö- schenstein und Heino Schmull in Verbindung mit Michael Schwarzkopf und Christiane Wittkop. Frankfurt a. M. 1999.)
23 Vgl.: Israel Chalfen: Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend. Frankfurt a. M. 1979, S.7.
24 Celan hatte zu einem geplanten Vortag beim Wuppertaler Bund im Oktober 1959 einen Ordner mit der Aufschrift „Vo[m]n ‹der› Dunkelheit des|Dichterischen“ zusammengestellt. Einiges aus den darin enthaltenen Notizen fand seinen Weg in den ‛Meridian’. (PN, Nr. 240-267, S. 152.)
25 hierzu: Der Meridian, TCA, Nr. 103, S. 84: „Es gibt [,J, glaube ein diesseits uns jenseits vonftHeFEsoterik, Hermetik u.a., eine Dunkelheit des Gedichts. Auch das exoterische, auch das {„} offenste Gedicht - und ich glaube, daB es heute[, zumal im Deutschen," auch solche, stellenweise sogar [ausgesprochen porose," durchaus lichtdurchlassige Gedichte geschrieben werden - hat seine Dunkelheit, hat sie als Gedicht, wird ich unterstreiche: als Gedicht [kommt,j weil es das Gedicht ist, dunkel geboren. [zur Weltj. Eine kongenitale, konstitutive Dunkelheit also {.}, die das Gedicht heute hat [...]"; sowie Nr. 102, S. 84; Nr. 108, S. 85; Nr. 110, S. 85. a. a. O.; sowie GW III, 195: „[...] es ist heute gang und gabe, der Dichtung ihre »Dunkelheit « vorzuwerfen. - Erlauben Sie mir, an dieser Stelle unvermittelt - aber hat sich hier nicht jah etwas aufgetan? -, erlauben Sie mir, hier ein Wort von Pascal zu zitieren, ein Wort, das ich vor einiger Zeit bei Leo Schestow gelesen habe: »Ne nous reprochez pas le manque de clarte puisque nous en faisons profession!« - Das ist, glaube ich, wenn nicht die kongenitale, so doch wohl die der Dichtung um einer Begegnung willen aus einer - vielleicht selbstentworfenen - Ferne oder Fremde zugeordnete Dunkelheit".
26 Es mag zunächst befremdlich wirken, dass sich diese Arbeit in der Form des ‚wir’ immer wieder an den Leser wenden wird. Dieses ‚wir’ hat sich intuitiv eingeschlichen, um eine Beziehung zum Leser zu schaffen und möge mir hoffentlich verziehen, oder als lebendige Kommunikation verstanden werden - als Dialog.
27 Vgl.: GW III, 197: Celan spricht nicht von „Sprache schlechthin und vermutlich auch nicht erst vom Wort her »Entsprechung«. Sondern [von, A.C.K.] „aktualisierte[r] Sprache, freigesetzt unter dem Zeichen einer zwar radikalen, aber gleichzeitig auch der ihr von der Sprache gezogenen Grenzen, der ihr von der Sprache erschlos
28 Vgl.: Celans Antwortbrief auf eine Umfrage der ‚Librairie Flinker in Paris’ von 1958 (GW III, 167 f.): „Frei- lich ist hier niemals die Sprache selbst, die Sprache schlechthin am Werk, sondern immer nur ein unter dem besonderen Neigungswinkel seiner Existenz sprechendes Ich, dem es um Kontur und Orientierung geht.“; sowie einen Brief Celans an Hans Bender vom 18. Mai 1961 (GW III, 177.): „Handwerk ist, wie Sauberkeit überhaupt, Voraussetzung aller Dichtung. […] Handwerk - das ist Sache der Hände. Und diese Hände wiederum gehören nur einem Menschen, d. h. einem einmaligen und sterblichen Seelenwesen, das mit seiner Stimme und seiner Stummheit einen Weg sucht.“ (Bender hatte 1954 versucht, Celan für das Mitwirken an der von ihm herausge- gebenen Anthologie ‛Mein Gedicht ist mein Messer’ zu begeistern - Celan lehnte ab. Dennoch erlaubte er Ben- der, seinen Brief vom 18. Mai 1961, den er als Antwort auf eine erneute Anfrage Benders hinsichtlich einer zweiten Auflage der Anthologie verfasst hatte, abzudrucken.); sowie die ‛Bremer Rede’ (GW III, 186.): „Es sind die Bemühungen dessen, der, überflogen von Sternen, die nicht Menschenwerk sind, der, zeltlos auch in diesem bisher ungeahnten Sinne und damit auf das unheimlichste im Freien, mit seinem Dasein zur Sprache geht, wirk- lichkeitswund und Wirklichkeit suchend.“; sowie den ‛Meridian’ (GW III, 197f.): „[…] das Gedicht behauptet sich am Rande seiner selbst; es ruft und holt sich, um bestehen zu können, unausgesetzt aus seinem Schon-nicht- mehr in sein Immer-noch zurück. Dieses Immer-noch kann doch wohl nur ein Sprechen sein. Also nicht Sprache schlechthin und vermutlich auch nicht vom Wort her »Entsprechung«. Sondern aktualisierte Sprache, freigesetzt unter dem Zeichen einer zwar radikalen, aber gleichzeitig auch der ihr von der Sprache gezogenen Grenzen, der ihr von der Sprache erschlossenen Möglichkeiten eingedenk bleibenden Individuation. Dieses Immer-noch des Gedichts kann ja wohl nur in dem Gedicht dessen zu finden sein, der nicht vergisst, daß er unter dem Neigungs- winkel seines Daseins, dem Neigungswinkel seiner Kreatürlichkeit spricht. Dann wäre das Gedicht - deutlicher noch als bisher - gestaltgewordene Sprache eines Einzelnen, - und seinem innersten Wesen nach Gegenwart und Präsenz.“
29 Vgl. den ‛Meridian’ (GW III, 199.): „Aber es gibt wohl, mit jedem wirklichen Gedicht, es gibt, mit dem anspruchsloseste Gedicht, […] diesen unerhörten Anspruch.“
30 Auch Gadamer betont diese enge Verbundenheit (Vgl. hierzu: Hans-Georg Gadamer: Wer bin ich und wer bist Du? Ein Kommentar zu Paul Celans Gedichtfolge „Atemkristall“. Frankfurt a. M. 1973, S. 11.) Im Verlauf des ‛Meridians’ wird deutlich, dass Celan den Charakter eines „wirklichen Gedicht[s]“ nicht nur auf dessen Zuhalten auf eine Begegnung zurückführt (Vgl. hierzu: GW III, 198f.), sondern auch auf die Vorbedingungen, welche das Gedicht erst entstehen lassen (Vgl. hierzu: GW III, 197f.).
31 Diese Grundstruktur der Beziehung ermöglicht die Annahme unserer These, dass Celan in seinen Gedichten Sprache zur Rede stellt. Im dritten Kapitel dieser Arbeit wird sich zeigen, dass der Dichter aufgrund dieser „Grenzen“ und „Möglichkeiten“ der (deutschen) Sprache diese mit sich selbst zu konfrontieren sucht.
32 Vgl. hierzu: Der Meridian, TCA, Nr. 320, S. 115: „Im Gedicht ereignet sich etwas, passiert etwas:[In der Stunde [des Gedichts {geht} [ [passiert [ [die Sprache {als} als Dasein dessen, der das Gedicht schreibt, durch die Enge die Sprache als Dasein passiert die[(enge) Stunde[Enge] dessen, der das Gedicht schreibt; sie geht hindurch und vorbei.“
33 GW III, 199.
34 GW III, 185.
35 Vgl.: Dietlind Meine>10
36 So Celan in seiner ‛Bremer Rede’ (Vgl. GW III, 186.). Betrachten wir das Wort „»angereichert«“, so fällt auf, dass in dessen Mitte „Reich“ enthalten ist. M. E. kann dies im Zusammenhang des Gesagten als Hinweis auf die besondere Geschichte der Sprache gelesen werden: Sie, die deutsche Sprache, begleitete die Verbrechen des Dritten Reiches; Vgl. hierzu auch Celans Antwortbrief auf eine Umfrage der ‚Librairie Flinker in Paris’ von 1958 (GW III, 167.): „Die deutsche Lyrik geht, glaube ich, andere Wege als die französische. Düsterstes im Gedächtnis, Fragwürdigstes um sich her, kann sie, bei aller Vergegenwärtigung der Tradition, in der sie steht, nicht mehr die Sprache sprechen, die manches geneigte Ohr immer noch von ihr zu erwarten scheint.“
37 Vgl.: GW III, 167.; Interessant ist, dass die Sprache in diesem Brief personifiziert erscheint. Wir werden auf eine mögliche Personifikation ihrer im Verlauf dieses Kapitels noch häufiger zu sprechen kommen. Im Übrigen sollten in jener Umfrage Persönlichkeiten aus Philosophie und Literatur über ihre aktuellen und möglichen zukünftigen Arbeiten berichten.
38 Siehe hierzu Celans Brief an Werner Weber vom 26. März 1960, also gute sieben Monate vor dem ‛Meridian’(Paul Celan: Brief an Werner Weber vom 26. März 1960. In: Axel Gellhaus; et al.: „Fremde Nähe“. Celan als Übersetzer. Marbach 1997, S. 398): „Sprache, zumal im Gedicht, ist Ethos - Ethos als schicksalhafter Wahrheitsentwurf. (Und wenn es nur diese - gewiß nicht einer kleinräumigen ›Subjektivität‹ zuzuschreibende - Erfahrung gäbe: daß man der Wahrheit des Gedichts nachleben muß, - wenn es nur diese Erfahrung gäbe (und es gibt sie!), sie könnte genügen. Aber wie viele sind es denn heute, die solche Aspekte des Dichterischen über- haupt wahrnehmen?“
39 Vgl.: Der Meridian, TCA, Nr. 102, S. 84.
40 Vgl.: Celans Antwortbrief auf eine Umfrage der ‚Librairie Flinker in Paris’ von 1958 (GW III, 168.): „Wirklichkeit ist nicht, Wirklichkeit will gesucht und gewonnen sein.“; sowie die ‛Bremer Rede’(GW III, 186.): „In dieser Sprache habe ich, in jenen Jahren und in den Jahren nachher, Gedichte zu schreiben versucht: um zu sprechen, um mich zu orientieren, um zu erkunden, wo ich mich befand und wohin es mit mir wollte, um mir Wirklichkeit zu entwerfen. […] Es sind die Bemühungen dessen […], der, […] mit seinem Dasein zur Sprache geht, wirklichkeitswund und Wirklichkeit suchend. “
41 Der Meridian, TCA, Nr. 248, S. 105: „-i- Sprache als Sprache des Sprechenden // der Sprechende als Sprechender der Sprache = in dieser Antinomik - syntheselosen - steht das Gedicht“. (Die von Celan mit einem ‛-i-’ gekennzeichneten Gedanken, Entwürfe oder Notate sind von besonderer Wich- tigkeit.) Auch wenn der Begriff der „[syntheselosen] Antinomik“ zunächst irritiert, weil wir von einer Beziehung zwischen Sprache und Dichter sprechen, so ist ja gerade ihr Aufeinandertreffen als zwei eigenständige Gegenüber das fruchtbare Moment Celan’scher Dichtung.
42 Vgl. hierzu auch den Kommentar von Jean Bollack, der verdeutlicht, dass für Celan Sprache nicht gleich Sprache war (Jean Bollack: Voraussetzungen zum Verständnis der Sprache Paul Celans. In: Buhr, Gerhard und Reuß, Roland (Hrsg.): Paul Celan. „Atemwende“. Materialien. Würzburg 1991, S. 319-343. Hier S. 322): „Celan hat seine Gedichte zum großen Teil geschrieben, um einen gewissen Gebrauch - nicht nur Missbrauch - von Sprache bloßzustellen und diesen, nicht nur im Gedicht, zu verhindern.“
43 Vgl.: Der Meridian, TCA, Nr.25, S. 60.
44 Vgl. Anm. 28.
45 GW III, 168.
46 GW III, 186.
47 GW III, 168, 186.
48 Auch Roland Reuß betont diesen individuellen Aspekt: „Das Gedicht ist nicht ein Beweis für die Hinfälligkeit des Individuellen, sondern das genaue Gegenteil: ein Beweis, dass diese Hinfälligkeit nicht das letzte Wort behält.“ (Roland Reuß: Celan-Provokationen. Frankfurt a. M. 2001, S. 176)
49 Gerhard Buhr unterscheidet interessanterweise Kunst und Dichtung nicht und weist stattdessen darauf hin, dass Dichtung, die auf das „Ideale“ zusteuere, letztlich nur eine Variante der Kunst sei, welche im ‛Meridian’ für Celan weiterhin Bestand habe. (Gerhard Buhr: Von der radikalen In-Frage-Stellung der Kunst in Celans Rede ‛Der Meridian’. In: Celan-Jahrbuch 2. Heidelberg 1988, S.169-208. Hier S. 192.
50 Vgl.: GW III, 192.
51 So stellt Gerhard Buhr es allerdings dar. (Gerhard Buhr: Von der radikalen In-Frage-Stellung der Kunst in Celans Rede ‛Der Meridian’. In: Celan-Jahrbuch 2. Heidelberg 1988, S.169-208. Hier S. 179.)
52 Vgl.: GW III, 187, 190, 188, 192. (Bis auf die Bezeichnung der Kunst als „Episode“ spricht Celan mit oder in Anlehnung an Georg Büchner.)
53 Vgl.: GW III, 156: „[…] Hier gedenke ich eines Gesprächs mit einem Freunde, dem Kleists »Marionettenthea- ter« zugrunde lag. Wie sollte doch jene ursprüngliche Anmut wiedererlangt werden, deren Bestand das letzte, also wohl auch höchste Kapitel der Menschheitsgeschichte überschreibt?“; sowie den ‛Meridian’ (GW III, 187.): „Die Kunst, das ist, Sie erinnern sich, ein marionettenhaftes, jambisch-fünffüßiges […] kinderloses Wesen.“ (Da diese Arbeit aus den in der Einleitung explizierten Gründen das Frühwerk Celans, sowie den Gedichtband ‛Mohn und Gedächtnis’ nicht berücksichtigen kann, der Essay ‛Edgar Jené und der Traum vom Traume’ aller- dings auch in jene hier ausgeklammerte Zeitspanne gehört, ein Wort zur Erklärung: Was uns erlaubt, auf den Essay zurückzugreifen, ist die Beobachtung, dass Celans poetologische Texte durchaus zusammenzulesen sind und erkennbare ähnliche Ansätze aufweisen, anders als die sich im Laufe seines Lebens frappant verändernden Gedichte. Nicht zuletzt ist diese Ähnlichkeit an der Betonung des „Neigungswinkels“ deutlich geworden.)
54 Siehe hierzu auch: Der Meridian, TCA, Nr. 718, S. 179.
55 GW III, 189.
56 GW III, 188.
57 Vgl.: GW III, 188: „Die Kunst […] ist, mit allem zu ihr Gehörenden und noch Hinzukommenden, auch ein Problem, und zwar, wie man sieht, ein verwandlungsfähiges, zäh- und langlebiges, will sagen ewiges“.
58 Vgl. die Referenzstelle in Georg Büchners ‛Woyzeck’ (Georg Büchner. Sämtliche Werke und handschriftli- cher Nachlaß. Erste Kritische Gesammt-Ausgabe. Eingeleitet und hrsg. von Karl Emil Franzos. Frankfurt a. M. 1879, S. 166; zitiert nach: Michael Herrmann: Die Büchner-Preis-Rede und das „Sprachgitter“. Untersuchungen zur Strukturierung der lyrischen Sprache durch Paul Celan. Inaugural-Disserstation Erlangen-Nürnberg 1975, S. 45, Anm. 2.): „Die Creatur, wie sie Gott gemacht hat, ist nix, gar nix! Sehen sie die Kunst! Schon der Affe hier!
59 Celan wird daher etwas später fragen (GW III, 193.): „Dürfen wir, wie es jetzt vielerorts geschieht, von der Kunst als einem Vorgegebenen und unbedingt Vorauszusetzenden ausgehen, sollen wir, um es ganz konkret auszudrücken, vor allem - sagen wir - Mallarmé konsequent zu Ende denken?“
60 GW III, 188. (Wieder greift Celan in dieser Beschreibung auf Büchner zurück.)
61 GW III, 187: „Die Kunst, das ist, Sie erinnern sich, ein marionettenhaftes, jambisch-fünffüßiges […] kinderlo- ses Wesen. In dieser Gestalt bildet sie den Gegenstand einer Unterhaltung, […] die endlos fortgesetzt werden könnte […].“
62 Vgl.: Der Meridian, TCA, Nr. 282, S. 110.
63 Vgl.: Den bereits erwähnten Brief an Hans Bender (GW III, 177.)
64 Vgl.: Der Meridian, TCA, Nr. 282, S. 110.
65 In diesem Zusammenhang sei auf ein Grundmoment Celan’scher Poetik aufmerksam gemacht: die Unterscheidung von ‚Reden’ und ‚Sprechen’, die sich besonders im Prosatext ‛Gespräch im Gebirg’ (GW III, 169- 173.) zeigt. Da diese Unterscheidung für unseren Aspekt nicht oberste Priorität hat, sei auf Peter Szondi verwiesen, der in seiner Interpretation des Gedichts „ENGFÜHRUNG“ (GW I, 195-204.) Celans Unterscheidung zwischen Reden und Sprechen andeutet. (Peter Szondi: Schriften II. Frankfurt a. M. 1978, S. 365f.)
66 Vgl.: Der Meridian, TCA, Nr. 562, S. 154: „Es ist heute zur Mode geworden, sich die Frage zu beantworten, wie man Gedichte macht; man sollte sich eher fragen, wie man dazu kommt, sich eine solche Frage zu stellen […].“ In seinem Artikel zu Celans Gedichtband ‛Atemwende’ sieht Markus May in seiner Deutung des Gedichts „KEINE SANDKUNST MEHR“ (GW II, 39.) in den Worten „Nichts erwürfelt“ eine „Absage an eine dem Zu- fall der Beliebigkeit geschuldete Dichtung“ und verweist auch auf die in der Anm. 59 zitierte Stelle im ‛Meridian’. (Markus May: Atemwende. In: Ders.; Peter Goßens; Jürgen Lehmann: Celan-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart 2008, S.93).
67 Vgl. GW III, 177f., sowie Anm. 28.
68 Vgl. die Umfrage der ‚Librairie Flinker in Paris’ (GW III, 168.)
69 In diesem Zusammenhang mag man vielleicht auch Adornos Diktum, nach Auschwitz könnten keine Gedichte mehr geschrieben werden, anders lesen: Offenbart das Diktum nicht auch die Angst vor einer künstlichen, me- chanischen Dichtung, indem es versucht, Dichtung generell zu verneinen? (Theodor W. Adorno: „Kulturkritik und Gesellschaft“. In: Gesammelte Schriften 10, I, Frankfurt a. M. 1977, S. 30.); Celan notiert zu diesem Ge- danken: „[…] Kunst - ich zitiere einen Ausspruch A. Schönbergs, ich zitiere ihn nach T. Adorno -, Kunst kommt nicht von Können, Kunst kommt von Müssen […].“ (Vgl.: Der Meridian, TCA, Nr. 252, S. 106.).
70 Vgl.: GW III, 193: „Und Dichtung? Dichtung, die doch den Weg der Kunst zu gehen hat? Dann wäre hier ja wirklich der Weg zu Medusenhaupt und Automat gegeben!“
71 Vgl. hierzu Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos. Reinbek bei Hamburg 1998, S. 20: „Mehr als irgendeine andere Welt verdankt die Welt des Absurden ihren Adel [einer, A.C.K.] niederen Herkunft. […] Eines Tages aber steht das ‹Warum› da, und mit diesem Überdruß fängt alles an. ‹Fängt an› - das ist wichtig. Der Überdruß ist das Ende eines mechanischen Lebens, gleichzeitig aber auch der Anfang einer Bewußtseinsregung. […] Denn mit Bewußtsein fängt alles an, und nur durch Bewußtsein hat etwas Wert.“; siehe hierzu auch Celans Brief an seine Frau vom 6. Januar 1960, in dem er sich zu Camus’ Unfalltod am 4. Januar 1960 - also fast neun Monate vor dem ‛Meridian’ - äußert (Paul Celan/Gisèle Celan-Lestrange. Briefwechsel. Hrsg. von Bertrand Bardiou in Verbindung mit Eric Celan und Barbara Wiedemann. Bd. 1. Frankfurt a. M. 2001, S. 100.): „Der Tod Camus’: das ist, einmal mehr, die Stimme des Anti-Menschlichen, unentzifferbar.“ Celan entwirft am gleichen Tag einen Brief an seinen Freund René Char Bezug nehmend auf Camus’ Tod, in welchem unter anderem folgende Zeilen zu finden sind, die sein poetisches Credo mitsprechen lassen: „Die Zeit stürzt sich auf die, die es wagen, mensch- lich zu sein - es ist die Zeit des Gegenmenschlichen. Lebendig sind wir tot, auch wir. Es gibt keinen Himmel der Provence; es gibt die Erde, klaffend, ohne Gastfreundschaft; es gibt nur sie.“ (In: Paul Celan/Gisèle Celan- Lestrange. Briefwechsel. Hrsg. von Bertrand Bardiou in Verbindung mit Eric Celan und Barbara Wiedemann. Bd. 2. Frankfurt a. M. 2001, S. 112.); siehe hierzu auch eine Stelle im Brief an Hans Bender (GW III, 178.): „Wir leben unter finsteren Himmeln, und - es gibt wenig Menschen.“
72 GW III, 190.
73 GW III, 189.
74 Vgl.: GW III, 197f.
75 Vgl.: GW III, 196. Auf die freigesetzte Person, auf das „freigesetzt[e] Ich“, werden wir im weiteren Verlauf dieses Kapitels zurückkommen.
76.: Der Meridian, TCA, Nr. 386, S. 126: „Weltgewinn, Wirklichkeitsgewinn, [und damit meine ich nicht etwa ein Resultat, sondern eine Richtung - J das bedeutet im Gedicht gleich-zeitig auch dies: ^ Hinaustreten aus der Kontingenz."
77 GW III, 190.
78 Dieses Interesse wird - wir werden es im dritten Kapitel dieser Arbeit sehen - an einer auf der Beziehung zur Sprache beruhenden Auseinandersetzung deutlich werden.
79 Vgl. hierzu im Brief an Hans Bender (GW III, 177f.): „Gedichte, das sind auch Geschenke - Geschenke an die Aufmerksamen. Schicksal mitführende Geschenke.“
80 Büchner orientiert sich hinsichtlich Lucile und Lenz tatsächlich an historischen Vorbildern. Infolgedessen kann Celan überhaupt erst darstellen, dass hinter der Figur ihre Person erscheint.
81 GW III, 190.
82 GW III, 194.
83 Philippe Lacoue-Labarthe formuliert, Luciles „Gegenwort“ sei „weder ein Bekenntnis zur Monarchie, noch für die Gesetzlosigkeit und dennoch ist es nicht neutral. […]. Es ist eine Geste. Gegenwort ist es nur, sofern es […] wie Büchner sagt, von einer Entscheidung herrührt: Der Entscheidung oder Geste zu sterben.“ (Philippe Lacoue- Labarthe: Katastrophe. In: Werner Hamacher und Winfried Menninghaus (Hrsg.): Paul Celan. Frankfurt a. M. 1988, S. 31-60. Hier S. 40.)
84 GW III, 189.
85 Marlies Janz hat darauf aufmerksam gemacht, dass das Absurde am Gegenwort Luciles der Widerspruch zwischen Wortlaut (das, was man sagt) und Intention (das, was es bedeutet) ist. (Marlies Janz: Vom Engagement absoluter Poesie: zur Lyrik und Ästhetik Paul Celans. Königstein/Ts. 1984, S. 101.
86 GW III, 189.
87 Auch wenn es sich im Falle Luciles um eine Entscheidung für den Tod handelt, sehe ich den Fokus der Kon- sequenz der Entscheidung nicht so stark gegeben. Anders Philippe Lacoue-Labarthe, der meint, Luciles Gegen- wort sei hier als „suizidär“, „tödlich-faktisch“ zu interpretieren (Vgl.: Philippe Lacoue-Labarthe: Katastrophe.
88 Vgl.: GW III, 190.
89 Vgl.: GW III, 194.
90 Vgl.: GW III, 193.
91 Vgl.: GW III, 193: „Lenz hatte lange gesprochen […]. Und jetzt, nachdem das Gespräch zu Ende ist, heißt es von ihm, also von dem mit den Fragen der Kunst Beschäftigten, aber zugleich auch vom Künstler Lenz: »Er hatte sich ganz vergessen.« […] Wer Kunst vor Augen und im Sinn hat, […] der ist selbstvergessen. Kunst schafft Ich-Ferne.“
92 Celan macht im ‛Meridian’ sehr deutlich, dass er den von ihm verwendeten Begriff der Person (bzw. des Menschen) gegen den des Künstlers stellt (Vgl.: GW III, 194.): „Er: der wahre, der Büchnersche Lenz, […] er - nicht der Künstler und mit den Fragen der Kunst Beschäftigte, er als ein Ich.“
93 GW III, 195: „»… nur manchmal war es ihm unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte.« - Das ist er, Lenz. Das ist, glaube ich, er und sein Schritt, er und sein »Es lebe der König«.“
94 GW III, 196.
95 GW III, 195; Anja Lemke formuliert: „Wer auf dem Kopf geht, der kann im Satz vom Grund plötzlich das Nichts des Abgrunds lesen.“ (Anja Lemke: Dichtung als Zäsur - Zum Zusammenhang von Sprache, Tod und Geschichte in Celans Büchnerpreisrede und Heideggers Hölderlin-Deutung. In: Dies. und Martin Schierbaum (Hrsg.): „In die Höhe fallen“ Grenzgänge zwischen Literatur und Philosophie. Ulrich Wergin gewidmet. Würzburg 2000, S. 233-255. Hier S. 247.)
96 Bereits in seiner ‛Bremer Rede’ spielt Celan indirekt mit der uralten menschlichen Vorstellung, dass der Himmel, oder das Himmelszelt, ursprünglich positiv besetzt sind (GW III, 186.): „Es sind die Bemühungen dessen [des Dichter, A.C.K.], der, überflogen von Sternen, die Menschenwerk sind, der, zeltlos auch in diesem bisher ungeahnten Sinne und damit auf das unheimlichste im Freien, mit seinem Dasein zur Sprache geht, wirklichkeitswund und Wirklichkeit suchend.“ In den Sternen, „die Menschenwerk sind“, findet sich im Übrigen eine Anspielung auf den ersten sowjetischen Satelliten. Was zusätzlich nicht unbeachtet bleiben sollte, ist das Kompositum „wirklichkeitswund“: Diese Art der Realitätswahrnehmung lässt eine tiefe Verwundbarkeit mitsprechen, die der Dichter offenbar durch den Alltag erfährt; Wirklichkeit ist dann grausam.
97 Vgl.: Der Meridian, TCA, Nr. 391, S. 126.
98 Jakob Michael Reinhold Lenz, deutscher Schriftsteller des Sturm und Drang, *23. Januar 1751 †4. Juni 1792.
99 Celan begibt sich schließlich mit Büchner im ‛Meridian’ auf die Suche nach der Person Lenz (Vgl.: GW, III, 194): „[…] ich suche Lenz selbst, ich suche ihn - als Person, ich suche seine Gestalt: um des Ortes der Dichtung, um der Freisetzung, um des Schritts willen.“
100 Vgl.: GW III, 194.
101 GW III, 194.
102 GW III, 196.
103 GW III, 195.
104 Der Begriff der „Atemwende“ ist in Celans Dichtungskonzeption zentral - aber, wie so oft bei Celan, nicht ganz eindeutig. Dennoch scheint „Atemwende“ in unserem Zusammenhang genau den Moment zu beschreiben, in welchem sich die selbstvergessene Person befreit. Bernhard Böschenstein, der die „Atemwende“ Bezug nehmend auf ein Notat aus den Materialien zum ‛Meridian’ (Vgl.: Der Meridian, TCA, Nr. 370, S. 123: „Ich hatte einiges überlebt, - Überstehn ist ja wohl doch nicht ›alles‹, ich hatte ein schlechtes Gewissen; ich suchte - vielleicht darf ich es so nennen? - meine Atemwen- de …“.) als „eine Art Nachholen des Todes seiner [Celans, A.C.K..] Eltern“ deutet, und daher auch Lenzens und Luciles Erscheinen ihrer Person als „Todeserfahrungen“ charakterisiert, muss ich widersprechen. Gerade das von Böschenstein als Referenz angegebene Notat scheint doch zu sagen, dass Celan auf der Suche nach einem affir- mativen Verhältnis zu seinem Schicksal ist. Schließlich sollte auch „Atem“ als Lebensvollzug gesehen werden. (Bernhard Böschenstein: Der Meridian. In: Markus May; Peter Goßens; Jürgen Lehmann: Celan-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart 2008, S.170.)
105 GW III, 195: „Dichtung: das kann eine Atemwende bedeuten. Wer weiß, vielleicht legt die Dichtung den Weg - auch den Weg der Kunst - um einer solchen Atemwende willen zurück?“
106 M. E. klingt in diesem zentralen Gedanken Celans ein leises ‛Amor fati’ (lat.: ‛Liebe zum Schicksal’) an.
107 Vgl. hierzu die ‛Bremer Rede’ (GW III, 186.): „In dieser Sprache habe ich […] Gedichte zu schreiben ver- sucht: um zu sprechen, um mich zu orientieren, um zu erkeunden, wo ich mich befand und wohin es mit mir wollte, um mir Wirklichkeit zu entwerfen. Es war, Sie sehen es, Ereignis, Bewegung, Unterwegssein, es war der Versuch, Richtung zu gewinnen“; sowie im ‛Meridian’ (GW III, 194.): „Ich habe bei Lucile der Dichtung zu begegnen geglaubt, und Lucile nimmt Sprache als Gestalt und Richtung und Atem wahr […]“.
108 Vgl. GW III, 196: „Vielleicht ist das Gedicht von da her [von der Personenwerdung her, A.C.K.] es selbst… […].“
109 GW III, 194; David Brierley schreibt: „Lenzens Erlebnis oder ‛Schritt’ „am 20. Jänner“ setzt in dieser Weise der von der Kunst gezeichneten menschlichen Sprache ein Ende und ist selbst somit ‛kunstfrei’ […]. Sowohl Lenz als auch Lucile treten in Beziehung zu der im Absurden befindlichen Majestät.“ (David Brierley: »Der Meridian«. Ein Versuch zur Poetik und Dichtung Paul Celans. Frankfurt a. M./Bern/New York 1984, S. 137.)
110 Vgl.: GW III, 196: „Vielleicht darf man sagen, daß jedem Gedicht sein »20. Jänner« eingeschrieben bleibt? Vielleicht ist das Neue an den Gedichten, die heute geschrieben werden, gerade dies: daß hier am deutlichsten versucht wird, solcher Daten [der eigenen Person, A.C.K.] eingedenk zu bleiben?“ M.W. hat Marlies Janz als erste den von Celan erwähnten „»20. Jänner«“ mit der am 20. Januar 1942 stattfinde- nen Wannsee-Konferenz über die ‚Endlösung der Judenfrage’ in Verbindung gebracht. (Marlies Janz: Vom En- gagement absoluter Poesie: zur Lyrik und Ästhetik Paul Celans. Königstein/Ts. 1984, S. 105.)
111 GW III, 201.
112 Vgl. hierzu: Der Meridian, TCA, Nr. 744, S. 183: „Es gibt Wege. Wir gehen sie, indem wir uns dem Wort überantworten, indem wir der Wirklichkeit, die es entwirft, die es uns entwirft, nicht ausweichen“.
113 Vgl.: GW III, 202: „Ich finde das Verbindende und wie das Gedicht zur Begegnung Führende. […] ich fin- de… einen Meridian.“
114 GW III, 201.
115 Vgl.: GW III, 202.
116 Vgl. hierzu einen Aphorismus aus Celans nachgelassener Prosa: „Der Meridian: der geheime, zu Unsichtbarem verlebendigte Reim.“ (PN, Nr. 46.1, S. 30.)
117 Vgl.: GW III, 196, 197; in abgewandelter Form: GW III, 167, 178.
118 Peter Horst Neumann scheint dies ähnlich zu sehen, betont er doch, dass der ‛Meridian’ ein Verhältnis von Individuum und Gedicht sei. (Peter Horst Neumann: Ichgestalt und Dichtungsbegriff bei Paul Celan. In: Etudes Germaniques 25 (1970), S. 299-310.)
119 Vgl. hierzu: Der Meridian, TCA, Nr. 321, S. 116: „-i- Das Gedicht als Personwerdung des Ich […].“
120 Vgl. hierzu: Der Meridian, TCA, Nr. 732, S. 181: „ […] / -i-: Sich durch die Sprache, die - Kafka! - nur ein Haben ist, sich in ein richtiges Verhältnis zu seinem Sein setzen! - / .“ An diesem Notat zeigt sich, wie an so vielen, dass der ‛Meridian’ durch diese zusätzlichen Informationen an Klarheit gewinnt. Inwiefern die im Notat beschriebene Haltung auch Einfluss auf eine mögliche Identitätsbestimmung ausüben kann, wird das fünfte Ka- pitel dieser Arbeit zeigen.
121 Siehe hierzu die letzte Strophe des Nachlassgedichts „DIE ZERSTÖRUNGEN?“ aus dem Umkreis von ‛Eingedunkelt’ (GW VII, 136.): „Eine Sprache / gebiert sich selbst, / mit jedem aus / den Automaten gespieenen / Gedicht oder dessen / kenntlich-unkenntlichen / Teilen“.
122 In diesem Zusammenhang durchaus lesenswert, wenn auch nicht essentiell, sind die Gedanken von Christian Strub: „Die menschliche Sprache ist die Sprache der Tropen und Metaphern. Sie hat jedoch einen Ort, wo sie zeigt, daß sie eine andere Sprache, nämlich die Sprache der Individualitäten sein will: das Gedicht […].“ (Chris- tian Strub: Wohin Metaphern führen. Nach Celan. In: Franz Josef Geomain, Thomas Eder und Franz Josef Czer- nin (Hrsg.): Zur Metapher. Die Metapher in Philosophie, Wissenschaft und Literatur. München/Paderborn 2007, S. 232.) 23
123 Vgl.: GW III, 199.
124 Vgl. hierzu: Der Meridian, TCA, Nr. 259, S. 107: „Das Gedicht befremdet. […] Es steht einem [dem Rezipienten, A.C.K.] gegenüber und entgegen, stimmhaft und stimmlos zugleich, als Sprache, freiwerdende Sprache, Sprache in statu nascendi - wie Valéry einmal sagt - […].“ (Mit dem Verhältnis von Dichter und Rezipient wird sich Kapitel 4 dieser Arbeit u. a. auseinandersetzen.)
125 Ich folge in Ansätzen einem Gedankengang Otto Pöggelers, den dieser in Anlehnung an Heidegger formuliert hat: „Das Gedicht ist als das Sprechen der ‚Existenz’, die um ihre Geworfenheit weiss und den Neigungswinkel ihrer Gestimmtheit nicht vergisst.“ (Otto Pöggeler: „Ach, die Kunst!“. In: Dietlind Meinecke (Hrsg.): Über Paul Celan. Frankfurt a. M. 1970, S. 86.)
126 Vgl.: GW III, 186.
127 Vgl.: GW III, 197f.
128 Vgl. hierzu die ‛Bremer Rede’ (GW III, 186.): „[…] das Gedicht ist nicht zeitlos.“
129 Vgl.: GW III, 198: „Das Gedicht will zu einem Anderen, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegen- über.“
130 Vgl.: GW III, 199.
131 Vgl.: GW III, 197.
132 Vgl. hierzu die ‛Bremer Rede’ (GW III, 186): „Das Gedicht kann, da es ja eine Erscheinungsform der Sprache und damit seinem Wesen nach dialogisch ist, eine Flaschenpost sein […].“
133 Vgl.: GW III, 197.
134 Siehe hierzu eine Verszeile des Gedichts „SPRICH AUCH DU“ aus dem Band ‛Von Schwelle zu Schwelle’ (GW I, 135): „Wahr spricht wer Schatten spricht.“
135 Das vorangegangene Kapitel hat sich mit der jeweiligen Prädisposition ausführlich auseinandergesetzt. Zur Erinnerung: Die Prädisposition des Dichters ist sein „Neigungswinkel“, die der Sprache ihre Vorbelastung (ihre „Möglichkeiten“ und „Grenzen“).
136 Anders könnte man sagen, dass Celan die absolute Souveränität des Dichters zurücknimmt.
137 Vgl.: Der Meridian, TCA, Nr. 732, S. 181: „ […] / -i-: Sich durch die Sprache, die - Kafka! - nur ein Haben ist, sich in ein richtiges Verhältnis zu seinem Sein setzen! - / .“
138 Diesen Gedanken fortführend, könnte Celan sich gerade nicht auf die Suche nach „Wirklichkeit“ begeben, denn der Dichter manifestiert ja über das Gedicht, mit der Sprache, seine Existenz (wie im ersten Kapitel gese- hen); Vgl. hierzu die Formulierung im ‛Meridian’ (GW III, 197f.): „Dieses Immer-noch des Gedichts kann ja wohl nur in dem Gedicht dessen zu finden sein, der nicht vergisst, daß er unter dem Neigungswinkel seines Daseins, dem Neigungswinkel seiner Kreatürlichkeit spricht. Dann wäre das Gedicht – deutlicher noch als bisher - gestaltgewordene Sprache eines Einzelnen, – und seinem innersten Wesen nach Gegenwart und Präsenz.“
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