In diesem Aufsatz steht Elias Canettis poetologisches Konzept der akustischen Maske im Fokus zweier Fragestellungen.
1. Wie verleiht Canetti seinem poetologischen Konzept im Figurentext seiner drei Dramen literarische Gestalt?
2. In welche der von Canetti an vielen Stellen in seinem umfangreichen Werk verstreut, in "Masse und Macht" gebündelt entwickelten sprach-, erkenntniskritischen und kulturanthropologischen Grundsatzüberlegungen ist sein Konzept der akustischen Maske eingebettet, deren Studium zu verstehen helfen soll, die hinter ihren Masken ichfixierter, schematisierter Sprache und im Scheinwerferkegel ihrer egozentrischen Wahnvorstellungen geblendeten Dramenfiguren als obsessiv-monothematisch motivierte Typen einer absurd-grotesk inszenierten Kritik am modernen kommunikations-, weil sprach- und empathieunfähigen Menschen wahrzunehmen.
Inhaltsverzeichnis
0 Einführung
1 Sprach-, erkenntniskritische und anthropologische Motivation seines Konzepts der akustischen Maske
1.1 Karl Kraus und die Sprachwelt Wiens im jungen 20. Jahrhundert als Impulsgeber seiner Phänomenologie akustischer Masken
1.2 Zur Maske erstarrte Sprache als Ausdruck eines von Macht- und Massentrieben strukturierten Bewusstseins des von der Gabe der Verwandlung entfremdeten modernen Menschen
1.3 Korrelation zwischen Duktus akustischer Masken und der in ihnen manifesten Obsessionen vom Kampf gegen den Tod im eigentlichen und übertragenen Sinn
1.4 Canettis anthropologisch fundierter und dramentheoretisch formulierter Begriff des Maskensprungs
1.5 Literarisches Vorgehen Canettis bei der Erzeugung einer zur akustischen Maske schematisierten Sprache
1.6 Kulturhistorische, -geographische und literaturgeschichtliche Hintergründe seines Konzepts der akustischen Maske
1.7 Canettis Konzept der akustischen Maske in seinen Dramen als ein Standbein seiner Aufklärungsarbeit als „Hüter der Verwandlungen“
1.8 Canettis Kritik an der wissenschaftlichen Begriffssprache als elaboriertem Code akustischer Masken im Kontext der Sprachphilosophen Fritz Mauthner und Ludwig Wittgenstein
1.9 Literarisierung seiner Idee einer lebendigen Sprache als Gegenmodell der erstarrten Sprache akustischer Masken mithilfe der Gorilla-Figur in dem Roman Die Blendung
2 Wesentliche, eng mit dem Konzept der akustischen Maske verflochtene Merkmale der canettischen Dramatik
2.1 Canetti als ein Vorläufer des modernen absurden Theaters
2.2 Canettis dramaturgisches Mittel des Grundeinfalls
2.3 Canettis anthropologischer und dramentheoretischer Begriff der Umkehrung
3 Das poetologische Konzept der akustischen Maske in Hochzeit
3.1 Erläuterungen zum Grundeinfall des Dramas Hochzeit
3.2 Akustische Maske der Enkelin Toni
3.3 Akustische Maske der alten Hausbesitzerin Gilz
3.4 Akustische Maske des Brautvaters Oberbaurat Segenreich
3.5 Akustische Maske der Brautmutter Johanna
3.6 Akustische Maske des Direktors Schön
3.7 Akustische Maske der alten Kokosch mit besonderem Blick auf ihren letzten Satz im Drama als Zeugnis einer zwischen Menschen Brücken schlagenden Sprache
4 Das poetologische Konzept der akustischen Maske in der Komödie der Eitelkeit
4.1 Erläuterungen zum Grundeinfall des Dramas Komödie der Eitelkeit
4.2 Exkurs: Massensuggestiver Sprachgebrauch durch den Ausrufer Wenzel Wondrak sowie den Prediger Brosam
4.3 Akustische Maske des Ausrufers Wenzel Wondrak
4.4 Akustische Maske der Witwe Weihrauch
4.5 Akustische Masken der Geschwister Franzi und Franzl Nada
4.6 Gemeinsame akustische Maske der Eheleute Lya und Egon Kaldaun
4.7 Akustische Maske der Figur Leda Frisch
4.8 Akustische Maske des Lehrers Fritz Schakerl
5 Das poetologische Mittel der akustischen Maske in Die Befristeten
5.1 Erläuterungen zum Grundeinfall des Dramas Die Befristeten
5.2 Akustische Masken der Mutter Zweiunddreißig und ihres Jungen Siebzig
5.3 Akustische Masken der zwei jungen Herren, Achtundachtzig und Achtundzwanzig
5.4 Akustische Maske der rational-logisch operierenden Figur Fünfzig
5.5 Die liebende und trauernde Figur Freund als annähernde Personifikation des canettischen Konzepts der Verwandlungsgabe
6 Literaturverzeichnis
6.1 Primärliteratur
6.2 Sekundärliteratur
0 Einführung
„Oder ist in dieser intimen Verquickung aller Laute, die wir bilden, mit Lippen, Zähnen, Zunge, Kehle, eben den Gebilden des Mundes, die dem Nahrungsgeschäft dienen, - ist in dieser Verquickung ausgedrückt, daß Sprache und Fraß für immer zusammengehören müssen, daß wir nie etwas Edleres und Besseres werden können, als wir sind, daß wir im Grunde, in allen Verkleidungen, eigentlich dasselbe Schreckliche und Blutige sagen, [...]?“[1]
Es waren neun Jahre vergangen, seitdem Elias Canetti das faschistische Österreich verlassen hatte, als er 1947 im englischen Exil diesen Aphorismus notierte, zu einer Zeit, als er in seine anthropologischen Studien zu seinem dreizehn Jahre später in Deutschland veröffentlichten Werk Masse und Macht vertieft war.[2] Diese Sentenz stellt sich – so ließe sich vermuten – als eine Art metaphorisch verdichteter Quintessenz seiner anthropologisch-sprachskeptischen Überlegungen dar, warum jener Grat zwischen der biologistisch-blutig eingefärbten nationalsozialistischen Sprache und ihren ungleich grausameren Taten eingestürzt war.
Tatsächlich war der durchaus politisch denkende Literat Canetti in seinen zahlreichen Essays, Denkbildern und nicht zu vergessen in seiner eben genannten groß angelegten menschenkundlichen Studie unter anderem an sozialwissenschaftlichen Themen interessiert. Dennoch enthielt er sich des expliziten Kommentars auf vergangene oder zeitgenössische politische Problemstellungen.[3] Vielmehr war sein Erkenntnisinteresse von universeller Natur.[4] Er richtete sein Augenmerk auf das Beziehungsgeflecht von Sprache und Bewusstsein, innerhalb dessen seiner Auffassung nach frühgeschichtliche Archetypen archaischer Machtausübung kognitiv und sprachbildend wirken.
So erscheint dem literarisch versierten Erkenntnis- und Sprachkritiker sowie anthropologisch geschulten Dichter Sprache nicht als ein interpersonell sinnstiftendes System, das dem friedlichen, herrschaftsfreien Diskurs gleichberechtigter Menschen dient, sondern als eine in Worten gebundene Manifestation eines je individuellen archaischen Bewusstseins, dessen Selbst- und Weltbild auf einer Struktur beruhe, die auf biologischen Trieben der Selbsterhaltung und Machtproduktion aufgebaut sei.[5]
Stellt man sich zur Aufgabe, Canettis sprach- und erkenntniskritische sowie anthropologische Gedanken als Grundlage seines Modells einer verhängnisvollen Verzweigung sich gegenseitig bedingender regressiver Sprachentwicklung und repressiver Gesellschaftsordnung mithilfe der im Zitat anklingenden Sprach-, Fraß- und Atemmetaphorik zusammenfassend zu versinnbildlichen, so ließe sich dies wie folgt mit Anleihen an die stoische Philosophie sowie an seine Anthropologie verdeutlichen.
Wenn jene im mythischen, präzivilisatorischen Zeitalter lebenden Menschen, die im Verbund von Meuten im Einklang mit Tier- und Pflanzenwelt existierten, über den göttlichen Hauch, jenem Pneu, dem allbestimmenden Prinzip, mit allem Lebenden in der Weise verbunden waren, dass die Grenzen des eigenen Seins verschwammen und Atmen bzw. Sprechen immer dazu dienten, mit der Luft die Erkenntnis des an und für sich zu gewinnen, so ist der moderne, zivilisierte Mensch, das Individuum hierzu nicht mehr in der Lage. Dieser lebt isoliert wie unter einer Käseglocke, an der alle äußeren Eindrücke abprallen und sich der Vorgang des Ein- und Ausatmens des eigenen Seins, der eigenen Luft, also der in Sprache manifesten Projektionen des eigenen unveränderlichen Selbstbildes und der eigenen unbeweglichen Weltanschauung wiederholen, bis dass er im Erstickungszustand erstarrt.[6]
Dieses zugegebenermaßen konstruierte Bild lässt viele komplexe Gedanken Canettis um den von ihm geschaffenen Antagonismus von Leben und Tod, jenen Begriffen, hinter denen sich auf den noch zu erläuternden erkenntniskritischen, anthropologischen und poetologischen Diskursebenen Gegensatzpaare wie Einfühlung und Vernunft, Individuation und Partizipation sowie lebendige Sprache und zu akustischen Masken erstarrte Sprache verbergen[7], zu einem vereinfachenden dichotomischen Modell zusammenschnurren. Es wird hier deutlich, dass diese Arbeit Canettis poetologisches Konzept der akustischen Maske in seinen Dramen, das er im Übrigen auch in seinem einzigen Roman Die Blendung angewandt hat, nicht fassen kann, wenn es dieses allein als Mittel der in grotesker Sprache verhüllten Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen und den sprachlichen Verballhornungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum versteht.
Stattdessen ist darzulegen, dass Canetti nicht ein Deuter des Zeitgeistes sein wollte, ein Kritiker, der die Entwicklung der Sprache als steten Niedergang nachzeichnet. Vielmehr sieht sich Canetti als eine Art Seher, als einen „Hüter der Verwandlungen“[8], der um ein Stadium in der Geschichte der Menschheitswerdung weiß[9], als vormoderne Menschen im Einklang mit ihrem Massentrieb in lebendigen, weil nicht in atomisierten, sondern aufeinander bezogenen Horden, Canetti nennt sie Meuten „von zehn oder zwanzig Mann“[10], einen kommunikativen, sinnstiftenden, erkenntnisbringenden, das eigene Ich- und Weltbild stets im Wandel haltenden Umgang mit Sprache, Mitmenschen und der ihnen bekannten Welt pflegten.[11]
Erst nach dem Verlust der Gabe der Verwandlung, also jener Fähigkeit, frei nach der Maxime der Formel Panta rhei des antik-griechischen Philosophen Heraklit, sich die Welt ohne Berührungsangst anzuverwandeln, hielten mit dem Umbruch in die Zivilisation, die den Gesetzen und Selbstzwecken des kontinuierlichen Wachstums, der Kontrolle und Vereinheitlichung unterliegt, Herrschaftsstrukturen in die Diskurse von Sprache, Wissenschaft und Erkenntnis sowie menschlichem Zusammenleben Einzug.[12]
Vor dem Hintergrund der Sprachutopie Canettis einerseits, die das Modell einer lebendigen Sprache zeichnet, die das aus seiner Sicht für herrschaftsfreie Erkenntnisdiskurse unzureichende System der arbiträren, festen und unveränderlichen Zuordnung von Signifikant und Signifikat durch eines ersetzt, in dem Name und Gegenstand jeweils eine vom Betrachter nach subjektivem Empfinden hergestellte, jederzeit erneuerbare, das Wesenhafte des Benannten versprachlichende Verbindung eingehen[13], und der Verwandlungsgabe als Folie einer alternativen Daseinsweise andererseits, der zufolge der Mensch das eigene Wesen niemals allein in sich, sondern in der Vielfalt des Fremden, die er sich anverwandelt[14], findet, müssen die akustischen Masken der Figuren in Canettis Dramen in erster Linie als Mittel der Kritik an der wechselseitigen Verstärkung von regressiver Sprache und zunehmender, von Berührungsangst bewirkter Vereinzelung machtstrukturierter, hierarchischer Gesellschaften betrachtet werden..
Des weiteren verfolgt Canetti das Ziel, sein Theaterpublikum durch die von ihm als menschliche Monaden inszenierten Dramenfiguren, deren von Überlebens- und Machtstrategien geprägtes Bewusstsein hinter ihrer von individuellen Sprachschemata geprägten akustischen Maske zu Tage tritt, zu erschüttern[15] und dazu zu veranlassen, über die Möglichkeit einer alternativen Daseinsweise nachzudenken. Denn das Reden in der Gestalt erstarrter Sprache als Ausfluss eines erstarrten Bewusstseins ist, obgleich es nicht in der grotesk überspitzten Form in der realen Sprachumgebung wahrnehmbar ist, in der Canetti seine Dramenfiguren sprechen lässt, unmittelbare Folge eines historisch nicht datierbaren, aber dennoch für Canetti unwiderlegbaren vergangenen Bewusstseins- und Daseinswandel der Menschen. Deren Denken werde seit diesem Bruch nicht mehr von den Prinzipien der Vielfalt, des Wandels und des Lebens, sondern von jenen der Monotonie, der Starre und der sich in allen Herrschaftsordnungen, die nach Macht und Überleben streben, zeigenden Anerkennung des Todes als obersten Korrektivs bestimmt.
[...]
[1] Canetti 1993: 142.
[2] Vgl. Witte 1987: 1.
[3] Vgl. Zymner 1995: 594.
[4] Vgl. Canetti 1983 b: 13.
[5] Vgl. Knoll 1993: 114, 119.
[6] Vgl. Koch 1971: 34; vgl. Knoll 1993: 164.
[7] Vgl. Knoll 1993: 229.
[8] Canetti 1976.
[9] Vgl. Canetti 2006: 453; vgl. Knoll 1993: 207.
[10] Canetti 2006: 109.
[11] Vgl. Canetti 2006: 109, 127.
[12] Vgl. Knoll 1995 a: 610.
[13] Vgl. Knoll 1993: 148.
[14] Vgl. Knoll 1993: 193.
[15] Vgl. Canetti/Durzak 1983: 21; vgl. Knoll 1993: 98.
- Quote paper
- Stephan Onken (Author), 2009, Elias Canettis poetologisches Konzept der akustischen Maske in seinen Dramen "Hochzeit", "Komödie der Eitelkeit" und "Die Befristeten", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/146191
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