Die Bewusstseins-Frage ist wahrscheinlich von existenzieller Bedeutung für die Zukunft der Menschheit. Werden die Menschen ihre Kontrolle über die „Geschöpfe des Prometheus“, einschließlich der superintelligenten KI-Roboter, behalten können? Diese Frage stellen sich alle, die nachdenken. Umso wichtiger wird es, sich auf das zu besinnen, was unser Mensch-Sein ausmacht und auszeichnet – wozu zweifellos alles Bewusste und Unbewusste wesentlich gehört.
Die neuen Erkenntnisse zu diesem Themenkomplex sind in der vorliegenden Abhandlung ausführlich dargestellt. Sie betreffen unmittelbar nicht nur die Philosophie im Allgemeinen, sondern auch die bei Experten und Nicht-Experten gängigen Auffassungen. Es kann nicht gleichgültig sein, ob wir in unserem ganzen Sein, Handeln und Verhalten von dunklen, undurchschaubaren Mächten und „Dämonen“ beherrscht werden, von Trieben, die Freud als „großartig in ihrer Unbestimmtheit“ bezeichnete, – oder ob und wie weit wir uns von unserem freien Willen leiten lassen und „Herr im eigenen Haus“ sein und bleiben können. Eine Frage, die nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis z.B. von Psychoanalyse, Psychotherapie und Psychiatrie von höchster Relevanz und Bedeutung ist. Gibt es eine Neuorientierung der Bewusstseins-Philosophie, wird dies auch der psychologischen und sonstigen Praxis neue Impulse geben können.
Von Philipp Engel ist 2023 erschienen: "Bewusstsein. Geschichte eines Begriffes zwischen Psychologie und Metaphysik". Das 400 Seiten umfassende Werk besteht im Wesentlichen aus Referaten von Konzepten der sieben Autoren. Ausgangspunkte der Abhandlung sind a) die Tatsache, dass Neuro- und Kognitionswissenschaftler:innen bisher nicht in der Lage sind, die angebliche Entstehung des Bewusstseins in Gehirnvorgängen rein naturwissenschaftlich zu erklären, b) Bergsons Kritik an Kant, wonach dessen Kritizismus für den angeblichen Niedergang der Philosophie im 19. Jahrhundert verantwortlich sei.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung...4
TEIL I, zu: Philipp Engel: Bewusstsein...4
Kant (1724-1804)...4
Emil Du Bois-Reymond (1818-96)...5
Wilhelm Wundt (1832-1920)...5
William James (1842-1910)...6
Franz Brentano( 1838-1917)...6
Edmund Husserl (1859-1938)...7
Henri Bergson (1852-1941)...8
Zum „Schluss“...10
Kritische Würdigung...12
TEIL II, Neubegründung einer Bewusstseins-Philosophie...18
Was für eine Kant-Kritik ist erforderlich?...20
Die oft übersehene Grundlage: Hegels Bestimmung des Bewusstseins in der Phänomenologie des Geistes...23
Bestätigt wird der weite Bewusstseins-Begriff durch Alva Noë(geb. 1964)...26
Das Bewusstsein kann auch das Unbewusste beherrschen!...27
Bestätigung, Verstärkung und Ergänzung durch die Ulmer Forschergruppe um Markus Kiefer (2015)...29
Von Marx zu Bloch: (Klassen-)Bewusstsein und Veränderungsethik...31
Zur Kritik der Marxschen Revolutionstheorie...37
Georg Lukács (1885-1971): Verdinglichung und proletarisches Bewusstsein...39
Theodor W. Adorno (1903-1969): das verdinglichte Bewusstsein...44
Ernst Bloch (1885-1977): Noch-Nicht-Bewusstes, Tagtraum, Veränderungsethik...53
Hans-Georg Gadamer (1900-2002) und das wirkungsgeschichtliche Bewusstsein...57
Zusammenfassung: Kernsätze einer Bewusstseins-Philosophie...63
Literaturhinweise...75
Einleitung
Von Philipp Engelist 2023erschienen: Bewusstsein. Geschichte eines Begriffes zwischen Psychologie und Metaphysik (Wien / Berlin).Das 400 Seiten umfassende Werk besteht im Wesentlichen aus Referaten von Konzepten der folgenden sieben Autoren: Kant auf ca. 3 Seiten, Emil Du Bois-Reymond auf 4 Seiten, Wilhelm Wundt auf ca. 66 Seiten, William James auf ca. 80 Seiten, Franz Brentano auf ca. 6 Seiten, Edmund Husserl auf ca. 35 Seiten und Henri Bergson auf ca. 160 Seiten; gefolgt von einem 11 Seiten langen „Schluss. Die zwei >Enden< einer Wissenschaft des Bewusstseins“.
Ausgangspunkte der Abhandlung sind a) die Tatsache, dass Neuro- und Kognitionswissen-schaftler*innen bisher nicht in der Lage sind, die angebliche Entstehung des Bewusstseins in Gehirnvorgängen rein naturwissenschaftlich zu erklären, b) Bergsons Kritik an Kant, wonach dessen Kritizismus für den angeblichen Niedergang der Philosophie im 19. Jahrhundert verantwortlich sei.
TEIL I
zu: Philipp Engel: Bewusstsein …
Kant (1724-1804)
Philipp Engel betont, dass es ihm nicht darum gehe, der philosophiegeschichtlichen Bedeutung Kants gerecht zu werden, sondern um „eine bestimmte Rezeption seiner Philosophie, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf eine neue Metaphysik und Transzen-dentalphilosophie hinausläuft“ (a.a.O. S. 194, Fußnote). Im Anschluss u.a. an Heinrich von Kleist habe sich im frühen 19. Jahrhundert allgemein die Meinung verbreitet, durch Kant habe man den Kontakt sowohl zur Wahrheit als auch zur Welt und zum Leben weitgehend verloren. Engel zeigt auf, dass Technik-Bewunderung, Positivismus, Pragmatismus und Konventionalismus maßgeblich dazu beigetragen hätten, dass Metaphysik und philosophi-sche Spekulation mehr und mehr als überholt („obsolet“) galten, zumal „die technischen Wissenschaften sowohl psychische als auch biologische und physikalische Prozesse vorher-sagen und manipulieren konnten, ohne ihre Erkenntnisse dabei zuvor eingehend geprüft und begründet haben zu müssen“ (a.a.O. S. 196).
Emil Du Bois-Reymond (1818-96)
Ausgerechnet diesem eher materialistisch orientierten Naturwissenschaftler blieb es – in einem Vortrag des Jahres 1872 – vorbehalten, das Bewusstsein für „unbegreiflich“ zu erklären. Dies gelte sogar dann, wenn es je gelingen sollte, eine „umfassende mathematische Weltformel“ zu erarbeiten. Mechanische Naturerkenntnis werde niemals in der Lage sein, den Geist aus Materiellem zu erklären. (Vgl. a.a.O. S. 49-51.)
Wilhelm Wundt (1832-1920)
ist einer der Begründer der im 19. Jahrhundert neu entstandenen wissenschaftlichen Psychologie, vertritt aber nichtsdestoweniger wie Du Bois-Reymond die Auffassung, dass eine naturwissenschaftliche Reduktion des Bewusstseins unmöglich sei. Demgemäß strebt Wundt eine eigenständige Wissenschaft des Geistes an, verwirft dazu den psychophysischen Parallelismus (bzw. den Leib-Seele-Dualismus), will die Psychologie fest auf die unmittel-bare Erfahrung gründen und sucht nach genuin psychologischen Kausalitäten, wenn auch mit Akzentuierung der „Einheit des Erlebnisses“, die durchaus mit Ergänzungen durch historisch-komparatistische Kultur- und Sozialpsychologie Hand in Hand gehen könne. – Bewusstseins-zustände könne man „zerlegen“ und beschreiben, aber nicht durch bloße Selbstbeobachtung (Introspektion), sondern vor allem durch geeignete psychologische Experimente. Das Unbe-wusste (die „unbewusste Seele“) liege zwar jeglichem Bewusstsein zu Grunde (S. 73), könne aber nicht Gegenstand der neuen experimentellen Psychologie sein (S. 83). Letztlich sei das Unbewusste eine „metaphysische Hypothese“; dies erst recht, wenn von einer „unbewussten Gehirntätigkeit“ die Rede sei (ebd.).
Stattdessen unterscheidet Wundt zwischen aktiven und passiven „Syntheseleistungen“ des Bewusstseins. (S. 126), wobei er den Begriff Bewusstsein immer stärker mit dem des Geistes identifiziert (ebd.). Im Übrigen bemerkt Engel, Wundt habe vergleichsweise wenig über das Bewusstsein als solches ausgesagt,dagegen viel mehr über Themen wie Empfindung oder Vorstellung. Engels Kommentar hierzu:
„Für eine Psychologie, die ihre Aufgabe in einer Analyse der >Bewusstseinstat-sachen< sieht, steht die Frage nach dem Bewusstsein eigentümlich am Rande. Über seine >Tatsachen< scheint sie weit mehr zu sagen zu haben als über das Bewusstsein selbst.“ (S. 124)
William James (1842-1910)
ist einer der Begründer des US-amerikanischen Pragmatismus. Dementsprechend interessiert ihn weniger das Wesen als vielmehr das Tun des Bewusstseins; was die Selbstbeobachtung, d.h. die Betrachtung der eigenen Bewusstseins-Zustände keineswegs ausschließt, wobei sich jedoch das Fehlen eines speziellen Vokabulars der Inspektion als hinderlich erweist. Folglich untersucht James intensiv die sprachlichen Bedingtheiten des Psychischen (S. 92). – Die Analyse bewegt sich vom Erleben zum Berichten, vor allem auf Grund fundamentaler Daten, unter ständiger kritischer Reflexion der Introspektion. James‘ Ziel ist nicht weniger als die Entwicklung einer „neuen Psychologie“ (S. 132 ff.), aber nicht als Selbstzweck, sondern – in pragmatischer Absicht – zur Gewinnung eines Wissens, „das sich zur moralischen Bildung und Selbstverwirklichung der Individuen“ verwenden ließ (S. 135). Was nur möglich sei, wenn man das Bewusstsein nicht isoliert, sondern in seiner Interaktion mit der Umweltbetrachtet, was natürlich die Interaktion zwischen Körper und Geist mit einschließt. James‘ „nicht-reduktive evolutionsbiologische Theorie des Bewusstseins“ (S. 151) beschränkt sich also nicht auf das Nervensystem, sondern berücksichtigt dessen vielfältige Verbindungen mit de gesamten Bewusstseins-Tätigkeit, die „aus der Gesamtheit der Stimuli allein die für seine Interessen relevanten Aspekte heraussucht“ (ebd.). Erneut geht es also um Pragmatismus, Zweckmäßigkeit als Orientierung. Dabei unterläuft James den Dualismus von Subjekt und Objekt und verbindet das Geistige mit dem Körperlichen, ohne dieses mit jenem gleichzu-setzen (S. 185). Das Bewusstsein agiert, indem es sich und seine Objekte mental verändert, wobei immer wieder Neues, aber kein Bruch entsteht, denn:
„Sämtliche kognitiven Fähigkeiten, wie Empfinden und Erkennen, Erinnern und Imaginieren, Bewerten und Entscheiden, erfolgen in kontinuierlichen Übergängen (continuous transitions) als Transformationen eines gegebenen Erfahrungsstoffes.“ (S. 187)
Franz Brentano (1838-1917)
versteht sich ebenfalls als Kant-Kritiker. Was Kant als „Ding an sich“ bezeichnet, ist für Brentano zumindest teilweise unmittelbar erkennbar, und zwar zunächst durch die „innere Wahrnehmung“ mit durchaus empirischer Orientierung (S. 201). Durch empirische Psycho-logie könne man auch die „essentiellen Strukturen“ des Bewusstseins herausfinden (S. 203). Experimente, wie Wundt sie fordert, schließt Brentano nicht aus, vertraut aber vor allem auf die „intuitiv ermittelten >Wesensstrukturen< des Bewusstseins“ (S. 205). Dies alles nicht ohne weit ausgreifende Zielsetzungen. Brentano ist überzeugt, dass man, sobald man die wesentlichen Eigenschaften des Innerpsychischen erkennt, daraus eine „allgemeine Wissenschaft“ entwickeln könne, und zwar mit dem Ziel, „Grundlage der Gesellschaft und ihrer edelsten Güter, und somit auch Grundlage aller Bestrebungen der Forscher zu werden“ (S. 204). Was Brentano allerdings für ein Fern-ziel hielt. Zunächst komme es darauf an, eine neue empirische Psychologie zu fundieren (ebd.), was er schon in einem seiner frühen Hauptwerke: Psychologie vom empirischen Standpunkte (1874) darlegte, während er noch 1895, anknüpfend an Empirismus und Positivismus, erklärte, die naturwissenschaftliche Methode sei „auch für die Philosophie die einzig wahre“ (S. 199, Fußnote 16).
Edmund Husserl (1859-1938)
knüpft an Brentanos Empirismus an, geht aber philosophisch weit über ihn hinaus. Kant steht er ebenfalls kritisch gegenüber, teilt nicht dessen Auffassung, dass das Subjekt die Phänomene formal konstituiere, sondern fordert eine Hinwendung „zu den Sachen selbst“, d.h. zu einem Empirismus der Subjektivität „und damit zu einem Transzendentalen, das sich aus der Situiertheit des Bewusstseins in körperlich-materiellen Zusammenhängen ergab“ (S. 210). Erst unter dieser Voraussetzung könne jedes Objekt wieder als Objekt erkannt und bestimmt werden. Grundbegriffe hierfür sind: Intuition, Epoché und „Wesenserschauung“.
Intuition: Sie ist notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung jeglicher Erkenntnis. Die Introspektion bedarf der Ergänzung durch eine spezielle Phänomenologie, die des „inneren Zeitbewusstseins“ (S. 214).
Epoché= Enthaltung, Hemmung, Zurückhaltung, Ausblendung. Sie setzt sich von der in der Wahrnehmung enthaltenen natürlichen Einstellung ab. Ausschlaggebend seien nicht die puren Tatsachen, sondern deren Wesenserforschungen bzw. „Wesenserschauungen“, durch die auch das Bewusstsein endlich besser verstehbar werde. In der Epoché sollen bisher fraglos übernommene Überzeugungen hinterfragt, genauer: „eingeklammert“ werden, wobei plötzlich wieder die oft vernachlässigte vor- und außerwissenschaftliche Lebenswelt in den Vordergrund des Interesses rückt (S. 236). Husserl will die Dinge, „die Sachen selbst“, wieder „in ihrer anschaulichen Gegebenheit“ in den Blick nehmen (ebd.). Hierzu verhelfe nicht die objektive Wissenschaft, sondern die „reine Wesenslehre von der Lebenswelt“ (S. 227). Hierzu müsse das Bewusstsein eine „reflexive Wandlung“ durchlaufen und dabei nicht bloß natur-wissenschaftlichen Objektivismus entwickeln, sondern stets auch die Subjektivität ein-beziehen. Die Welt ist vorhanden, vorgegeben, und das Subjekt kann sie als solche erfahren, und zwar innerhalb der je eigenen Lebenswelt. Dies sei eine „transzendentale Erfahrung“. Denn das Bewusstsein sei kein bloß „psychophysisches Geschehen“ (S. 231); erst durch das Bewusstsein erhalte das Gehirn seine „verschiedenen, variierenden Geltungen“, nicht umge-kehrt (ebd.). Zu erschließen sei eine neue „Tiefendimension“ der Lebenswelt, und zwar in einem universalen „Korrelationsapriori“, durch das Welt und Welt- Bewusstsein in immer neuen wechselseitigen Beziehungen erscheinen. Woraus sich auch eine neue „Wissenschaft des Bewusstseins“ ergebe (S. 234), durch die das (Kantisch-)Transzendentale in „anschau-liche Begriffe“ übersetzt werde (S. 235). In Kurzform: „Das Faktum ist hier als das seines Wesens und nur durch sein Wesen bestimmbar.“ (Husserl, in: Engel a.a.O. S. 236)
Henri Bergson (1852-1941)
Auch für ihn steht die reale Erfahrung im Mittelpunkt. Sich ihr zu nähern, sei jedoch unmöglich, solange man das Bewusstsein nicht als „innere Dauer“ verstehe, wie Bergson in seinem Essai sur les données immédiates de la conscience von 1889 darlegt. Qualitäten des Bewusstseins will der Autor u.a. an Hand der Begriffe „intensité“ und „durée“ ermitteln. Er fragt, warum man überhaupt zwischen verschiedenen Graden von Intensität unterscheidet. Was in Sackgassen führe, solange man Intensität als bloß quantitatives Phänomen auffasse. Zudem sei es unzulässig, die Qualität eines Bewusstseinszustandes mit der Quantität eines räumlichen Objektes zu vermischen. Zu beachten seien Übergänge wie von „dunkler Begierde“ zu wirklicher Leidenschaft, wobei diese Leidenschaft nach und nach immer mehr psychische Faktoren auf sich ziehe.
Grundsätzlich dürfe man – auch in Bezug auf die Intensität – die Bewusstseinszustände als solche nicht mit ihren psychischen Begleitumständen verwechseln. Dies gelte vor allem für Empfindungen z.B. von Lust und Schmerz, die man nicht auf rein Körperliches reduzieren dürfe. Vielmehr müsse man den Gefühlen und Empfindungen völlig vorurteilsfrei begegnen. Zu unterscheiden sei zwischen sinnlichen Empfindungen und „tiefen Gefühlen“ (S. 282). Dann werde in der Intensität eine „intensive Multiplizität“ erkennbar.
Die „unmittelbaren Gegebenheiten des Bewusstseins“ durchdringen sich gegenseitig und erzeugen dadurch vielfältige psychische Qualitäten. Folglich könne Psychisches nie rein physiologisch analysiert werden, sondern nur prozessual und in der „durée“, der zeitlichen Dauer. „Das Bewusstsein dauert. Es strömt gleich einer Melodie oder einem Rhythmus.“ (S. 293) Darin sieht Engel zugleich die Quintessenz von Bergsons gesamter Philosophie. Dabei trete „diskontinuierliche Mannigfaltigkeit“ (ebd.) auf, was nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich zu betrachten sei, auch wenn damit die Vorrangigkeit der Frage nach dem Wesen der Zeit nicht geleugnet werde (S. 295).
Kant habe die Zeit vom Raum her gedacht, was aber nicht ausreiche. Für Bergson ist der Raum „das Andere der Dauer“ (S. 296), aber nicht wie bei Kant als apriorische Form, sondern als ein „Prinzip der Differenzierung“ (S. 298), durch das Relationen zwischen Objekten der Außenwelt ermittelt und gemessen werden können. Auch die Wahrnehmung erhalte ihre Räumlichkeit durch einen „reaktiven psychischen Akt“ (S. 300).
Überdies bestimmt Bergson die Zeit als „Form aller Anschauung“ (S. 301). Kant hingegen habe die Zeit verräumlicht. Das Bewusstsein erfasse jedoch die Zeit anders, nämlich je nach der eigenen Befindlichkeit. Über die natürlichen Gegebenheiten hinaus müsse die Aufeinanderfolge der Empfindungen als „eine Kontinuität von qualitativen Veränderungen“ aufgefasst werden (S. 304), oder auch als „Sukzession der Äußerlichkeit“; Dauer als „sich selbst bewahrende Kontinuität“ (S. 305). Darüber hinaus:
„Das Bewusstsein umfasse eine virtuelle Mannigfaltigkeit von Zuständen (Gefühle, Ideen, Wünsche etc.), die in ihren unterschiedlichen qualitativen Nuancen ebenso viele Motive für ein Handeln bilden. Zugleich sei das Bewusstsein aber eine Aktivität und als solche eine Einheit. Im Vorgang der Entscheidung beschränke es sich nicht länger auf eine scheinbar von sich selbst vollziehende Organisation seiner Zustände, sondern kontrahiere sie in einem effort de tension bis zu einem Grad der Anspannung, durch den sich ihre virtuelle Mannigfaltigkeit in der >dynamischen Einheit< eines Aktes realisiere.“ (S. 310 f.)
Erkennbar werde darin ein „moi réel et libre“ mit all seinen Dimensionen von „Kreativität und Kontingenz“ (S. 311). Dies bedeute Virtualität im Sinne von Freiheit des Bewusstseins, einer in der „durée vivante“ sich ständig neu schaffenden Wesenheit mit offener Zukunft (S. 312).
Wie aber lassen sich Freiheit des Bewusstseins und physische Determiniertheit miteinander vereinbaren? Um diese Frage zu beantworten, stellt Bergson dem Determinismus der Natur eine Theorie des Geistes gegenüber. Dazu müsse sich das Denken – ähnlich wie bei Husserl – von allen metaphysischen Vor-Urteilen emanzipieren. Das eigene Körper-Bild werde dann besonders relevant und interessant. Vom eigenen Körper aus erschließe sich quasi auto-matisch das Erkennen der äußeren Realität (S. 355). Dies beginne in der Wahrnehmung (‚per-ception‘), der auch das Kantische Apriori nicht übergeordnet werden dürfe. Vielmehr müsse das Bewusstsein als in der Welt situiert aufgefasst werden, so auch das Gehirn als Teil des Körpers. Wichtig sei dann nicht mehr die Frage nach der Entstehung des Psychischen aus Physischem, sondern die Welt-Situiertheit des gesamten Bewusstseins.
Als Ergänzung hierzu analysiert Bergson Phänomene wie Sprache, Gedächtnis, Erinnerung, Traum und Wiedererkennen, und zwar stets dialektisch, stets auf Grund eines Denkens in Gegensätzen, wobei Bergson seine neue Theorie des Geistes auch an die Stelle des psychophysischen Parallelismus setzt. Engel resümiert:
„Bergsons Denken war von Grund auf dualistisch. Entmischen und trennen, neue Unterscheidungen einführen und bestehende vertiefen, darin bestand für ihn die Aufgabe der philosophischen Reflexion. Seine Philosophie war nicht erfüllt von dem Bestreben, hinter den Gegensätzen einen verborgenen Einheitsgrund zu finden und Probleme in einer endgültigen Ordnung aufzulösen. In Gegensätzen zu denken bedeutete für ihn darum auch mehr als ein bloß methodisches Vorgehen. Es war die charakteristische Haltung einer Philosophie, der es darum ging, das Unterschiedene in seiner Gegensätzlichkeit radikal zu durchdenken und bis zu jenem Punkt zu verfolgen, an dem sich die Gegensätze verflüssigten und in das bipolare Wesen einer mit sich selbst differierenden Substanz verwandelten.“ (S. 388)
Zum „Schluss“
In seinem „Schluss“ (S. 389-400) fasst Philipp Engel die gesamte Abhandlung wie folgt zusammen:
Die im 19. Jahrhundert neu entwickelten wissenschaftlichen Methoden und Verfahren orien-tierten sich an einem „mechanischen Ideal der Naturerklärung“, mithin am Mainstream der seinerzeitigen Naturwissenschaft (S. 389). Genau dies führte jedoch spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer allgemeinen Krise des Verstehens und des Selbst-Verständnisses. Diese konnte erst überwinden werden, als es gelang, jede Wissenschaft als einen eigenen, kulturell vermittelten Prozess zu begreifen, in dem Subjekt und Objekt nicht mehr statisch, sondern dynamisch und dialektisch, d.h. veränderlich, relativ und in ständiger Wechselwirkung fungieren. Insbesondere Husserl, James und Bergson hätten hierzu entscheidende Beiträge geleistet.
Im Gegenzug gegen positivistische Reduktionen habe Husserl betont, dass auch Natur-wissenschaft sich in geistigen Leistungen manifestiert, die phänomenologischer, nicht bloß mathematischer Erklärung bedürfen. „Die Dinge wurden … zu Koakteuren ihrer Konstituierung. Voraussetzung ihrer Erkenntnis war ein >tätiges, lebendiges Beziehungseingehen< (S. 392), so dass, wie auch bei James und Bergson, die „lebens-praktischen Interessen und Konsequenzen der wissenschaftlichen Erkenntnis“ die Grundlage neuer Theorien des Geistes bilden konnten (ebd.). Bergson situiert das wissenschaftliche Denken zunächst räumlich, revidiert dies jedoch später, um vom Begriff der eigenen, inneren „durée“ aus zur „Einsicht in ein Mitdauern mit anderen zu gelangen“ (S. 393).
Gut pragmatistisch unterstellt James auch den Wahrheitsbegriff der Zweckmäßigkeit und der Nützlichkeit: Wahr ist demnach, was sich als nützlich erweist – und dies sei auf die gesamte Wissenschaft übertragbar! Radikal empirisch begründet James eine Psychologie, in der alles Metaphysische (die „Seele“) ausgeblendet wird. Biologische Psychologie und die Philosophie sollten sich die Aufgaben teilen, wobei die Philosophie durchaus auf Ergebnisse der Psychologie zurückgreifen konnte, während diese sich – zumal in naturwissenschaftlicher Absicht und Orientierung – nicht in die Philosophie einzumischen habe. Dabei ist auch die Psychologie pragmatisch ausgerichtet: Sie soll abzielen auf „knowing how to control people“ (S. 398). „Vorhersage und Kontrolle von Bewusstseinszuständen“ sei ihr vornehmstes Ziel (S. 399).
Schlussendlich beschäftigt Engel sich kurz mit der Ambition heutiger Neurowissenschaft-ler*innen, mit ihren Methoden, also vor allem naturwissenschaftlich, schon bald sämtliche Fragen nach dem Wesen des Bewusstseins beantworten zu können. Dabei werde, wie Engel bemerkt, nicht nur die Geschichtlichkeit des Begriffs Bewusstsein übersehen, sondern auch das Spezifikum der Philosophie, so dass Engel abschließend folgert:
„Während die Lösung eines Problems in einem analytischen Wissenschaftsverständnis darin liegt, es zum Verschwinden zu bringen und seinen Gegenstand einem prakti-
schen Zugriff zu unterwerfen, besteht die Aufgabe der philosophischen Reflexion umgekehrt darin, die für dieses Problem stehenden Begriffe so zu formulie-ren, dass sich mit ihnen auch das Problem verändert. Ein philosophisches Problem hat die Form einer unabschließbaren Frage, die man zu verschiedenen Zeiten und in unter-schiedlichen Situationen immer wieder neu und anders stellen kann. Anstatt das Problem des Bewusstseins zu lösen und zu zeigen, was es >von Natur aus< ist, geht es darum, dieses Problem zum Gegenstand einer Reflexion zu machen, aus der sich neue Formen des Denkens und Erkennens ergeben.“ (S. 400)
Kritische Würdigung
Die Frage nach dem Bewusstsein ist wahrscheinlich von existenzieller Bedeutung für die Zukunft der Menschheit. Schon jetzt wird immer wieder gefragt, ob eine Maschine wie z.B. ein KI-Roboter jemals in der Lage sein werde, ein dem des Menschen ähnliches Bewusstsein zu entwickeln. Diese – von Engel nicht beachtete – Frage kann zwar nicht Gegenstand dieser meiner Rezension sein, es besteht aber kein Zweifel, dass sie sich ohne adäquate Lösungen des Problems Bewusstsein als solchem nicht beantworten lässt – und erst recht nicht nur durch Begriffs-Verschiebungen und -Veränderungen. Schon deshalb ist eine kritische Überprüfung der von Engel referierten Konzepte unabdingbar.
Eine natürliche, von Engel leider ebenfalls ignorierte Grenze jeglicher Beschäftigung mit dem Bewusstsein liegt in der Tatsache, dass die neuronale Kombinatorik des menschlichen Gehirns weder überschaubar noch mathematisch erfassbar ist. [1] – Ebenso viel hängt von möglichen Lösungen des Leib-Seele-Problems ab, die in den von Engels referierten Konzepten anscheinend nirgendwo zu finden sind. Fortschritte sind hier wohl nur möglich, wenn man die Ergebnisse der IT-Forschung bzw. der Informationstheorie berücksichtigt und mit dem Begriff Dialektik verbindet.
Von hier aus lässt sich auch das Phänomen Bewusstsein besser verstehen. Allerdings nicht, solange die Mängel, die in den von Engel zitierten Konzepten enthalten sind, nicht wenigstens annähernd geklärt sind. Wozu eigentlich umfassende Analysen dieser Konzepte – bzw. philosophischen Systeme! – erforderlich wären, was jedoch den Rahmen einer Rezension sprengt. – Nichtsdestoweniger lassen sich einige der Mängel kurz umreißen, insofern sie offenkundig sind.
zu Wilhelm Wundt
Seine Leistung besteht vor allem in seinen Neubegründungen der Psychologie. Befremdlich ist dagegen die Tatsache, dass er es für unmöglich erachtet, das Denken auch durch Introspektion näher zu untersuchen, weil man dabei allenfalls die Empfindungen und die Vorstellungen erfassen könne. Dem hielt schon Karl Bühler (1879-1963) entgegen, man könne sehr wohl auch das begriffliche und abstrakte Denken psychologisch erforschen, und zwar auf Grund spezieller Experimente. [2]
Außerdem würdigt Wundt das Unbewusste nicht hinreichend. Neuere, auch neurowissen-schaftliche Forschungen sind hier wesentlich ergiebiger, zumal sie Aufschluss über den Einfluss des Bewusstseins auf das Unbewusste vermitteln (s.u.). [3]
zu William James
James will das Bewusstsein als ‚stream of consciousness‘ und dabei auch die Fülle der Gedanken analysieren, interessiert sich aber nur relativ wenig für die Zusammenhänge zwischen Bewusstsein und Sprache. Das halte ich für bedauerlich, denn spätestens seit Wilhelm von Humboldt (1767-1835) ist bekannt, in welch hohem Maße das Bewusstsein durch die Sprache geprägt, geformt und getragen wird. Man denke nur an die ständig präsente Innere Sprache (‚inner speech‘). – Für unzutreffend halte ich außerdem James‘ Behauptung, Sprachen seien „Ergebnisse“, die nicht auf „präexistierenden Prinzipien“ beruhen; dagegen steht u.a. die von Lothar Wendt aufgestellte Hypothese, dass informationelle Vorformen der Sprache schon in der ursprünglichen, naturwissenschaftlich erschließbaren Welt-Materie anzutreffen sind. [4]
Erkenntnistheoretisch fällt James hinter Kant zurück auf den britischen Empirismus (Hume u.a.). Was umso schwerer wiegt, als er, anders als Peirce, den Pragmatismus keineswegs nur als eine Art „Denkmethode“ oder bessere Bedeutungserforschung, sondern als seriöse philosophische Theorie ansieht, die „Radikalen Empirismus“ mit Rationalismus und sogar mit Religiosität verbinde. Ein hoher Anspruch, der aber ins Wanken gerät, sobald man ihn mit James‘ Wahrheitstheorie vergleicht, der zufolge die Wahrheit einer Sache erst mit deren „Nützlichkeit“ beginnt. Tatsächlich ist diese Wahrheit aber viel früher feststellbar, und zwar dadurch, dass eine zutreffende Aussage über die Sache gemacht wird. Dagegen betrifft z.B. die korrekte Behauptung, ein Baum sei nützlich, keineswegs die Wahrheit, das Wahr-Sein, des Baumes. Denn die Wahrheitsaussage: „Dies ist ein Baum und nichts anderes.“ betrifft nicht dessen Nützlichkeit, sondern seine pure Existenz. Die wahrheitsgemäße Existenz-Aussage ist Voraussetzung jeglicher Wertung, sodass sich James‘ Nutzentheorie der Wahrheit als falsch erweist.
Logische Folge: Auch sein Theorie-Anspruch für den Pragmatismus wird hinfällig, weil sich mit einer unzutreffenden Wahrheitstheorie überhaupt keine Theorie begründen lässt. Außerdem ist Nützlichkeit allein auch kein Kriterium für Wissenschaftlichkeit. Ohne den Anspruch auf vorläufige Wahrheit kann es Wissenschaft ebenso wenig geben wie eine irgend denkbare Erkenntnis-Funktion und -Relevanz des Common Sense. Und wenn James einerseits behauptet, der „ethical philosopher“ befinde sich „auf keinem höheren Niveau als der Common Sense“, andererseits aber die Ethik sogar in den Rang einer Naturwissenschaft erheben will, so ist dies doppelt widersprüchlich; denn: 1. Wo ausschließlich der Common Sense das Sagen hat, wird Wissenschaftlichkeit nie erreicht. 2. James behauptet zwar, in der Ethik sei, wie in den Naturwissenschaften, alles nur vorläufig gültig, kann aber – mangels akzeptabler Wahrheitstheorie – nicht einmal feststellen, wie lange eine einmal gewonnene Erkenntnis tatsächlich ihre Gültigkeit behält bzw. behalten hat.
Ohne Wissenschaftlichkeit kann es jedoch keine Ethik geben. Und die Möglichkeit, diesen eklatanten Mangel eventuell durch einen Rückgriff auf Kants exemplarische Grundlegung wettzumachen, verbaut James sich selbst endgültig dadurch, dass er ethische Imperative pauschal als „tyrannical demands“ abqualifiziert. [5]
zu Edmund Husserl
Schwer verständlich ist insbesondere sein Konzept „Epoché“. Kaum nachvollziehbar scheint, wie Husserl damit „zu den Sachen selbst“ vordringen will, um die Objekte als Objektezu erkennen. Denn dazu blendet er sowohl die natürliche Einstellung der (Sach-)Wahrnehmung als auch alle bisherigen Forschungsergebnisse und philosophischen Einsichten zum Subjekt-Objekt-Bezug aus, und zwar unter Rückgriff auf „die vor- und außerwissenschaftliche Lebenswelt“, in der er eine „reine Subjektivität“ und das „reine Bewusstsein“ ausmachen will, um sodann durch „Wesenserschauung“ zu den „Sachen selbst“ zu gelangen. – Mein Kommentar: Wesens-Ermittlung, z.B. von charakteristischen Merkmalen und Eigenschaften, scheint durchaus möglich zu sein, allerdings nicht mit der Garantie eindeutiger Ergebnisse. Denn auch und gerade in der Lebenswelt gibt es individuell unterschiedliches Vorwissen, unterschiedliche Erfahrungen und Herangehensweisen. Expertinnen und Experten erkennen an bestimmten Gegenständen möglicherweise mehr und Anderes als Nicht-Fachleute, Wissenschaftler*innen und Philosophen*innen Anderes als die Laien.
Unklar bleibt auch, was für ein „Ego“ Husserl meint, wenn er einerseits vom Ich als „Akteur der Epoché“ und andererseits vom „Ur-Ich“ oder „transzendentalem“ oder „absolutem“ Ego spricht, das sich gleichwohl „in seinen unsagbar verschlungenen Geltungsfunktionen“ ausken-nen soll. [6] Walter Schulz setzt hier seine scharfe Kritik an. Husserls Ich sei eigentümlich „weltlos“, zerspalte sich aber in „beobachtendes und beobachtetes Ich“, um schließlich doch vom Subjektivismus in den Objektivismus überzugehen. Damit erhebe Husserl sich faktisch über sich selber und erliege dabei einer Art von Bewusstseinsspaltung, zumal unklar bleibt, wie das „Eidos ego“ (auf das „ich herabschaue“!) überhaupt als „Inbegriff aller Ichmöglich-keiten“ verstehbar sein soll (vgl. Schulz a.a.O. S. 289 f.). Was praktisch einem Ichverlust gleichkommt, wozu Walter Schulz feststellt:
„ … der Rückzug in das Innere als Einstieg in die reine Wesensdimension gewährt gerade keinen Halt. Er eröffnet nicht nur unendliche Aufgaben, deren endgültige Be-wältigung gar nicht möglich ist, sondern er vollzieht sich faktisch als Ichverlust. Der Philosoph hat sich in transzendentaler Schizophrenie gespalten und ist bloß Beobachter von Erlebnissen geworden, die sich gleichsam verselbständigt haben. In Husserls Innenschau wiederholt sich auf wissenschaftlichem Niveau die Stufe der Innerlichkeit, die Kierkegaard als ästhetisches Dasein gekennzeichnet hat, denn in beiden Fällen ist das Innere eine Bühne, auf der sich das Bewußtseinsleben in sich selbst abspielt. Die Gedanken beginnen, ein eigenes Leben zu führen, dessen Ordnungen ein nur zu konstatierender Verweisungszusammenhang ist, der nicht vom Ich selbst in bewußter Aktivität gestaltet wird.“ (a.a.O. S. 290)
zu Henri Bergson
Wenn Bergson Kant für den angeblichen Niedergang der Philosophie im 19. Jahrhundert verantwortlich macht, verkennt er die Tatsache, dass von Kants Werk zahlreiche positive Im-pulse ausgegangen sind, die bis heute fortwirken, so vor allem auf den Gebieten von Ethik, Anthropologie und Erkenntnistheorie. Unzutreffend ist die Behauptung, Kant habe die Zeit verräumlicht. In Wirklichkeit bemüht er sich, so im Kapitel „Transzendentale Ästhetik“ der Kritik der reinen Vernunft (1781/87), die Zeit immanent, also aus sich zu verstehen, und zwar als Grundlage sämtlicher Erscheinungen, also auch der räumlichen. Für Kant ist die Zeit „eine notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zum Grunde liegt“ (a.a.O. § 4). Während die Erscheinungen im Raum nebeneinander auftreten, verlaufe die Zeit aufeinanderfolgend, also im Nacheinander.
Wenig einleuchtend ist dagegen Bergsons Zeitbegriff, mit dem er völlig auf die individuelle „durée“, die „innere Dauer“ abhebt, in der es, da sie von der jeweiligen Befindlichkeit der Person abhängt, keine echte Konstanz, wohl aber, ähnlich wie bei James, einen kontinuierlich-veränderlichen „Strom“ gibt.
Mit dieser Auffassung ist Bergson schon in den frühen 1920er Jahren mit Einsteins objektiver Raumzeit in Konflikt geraten. Ein Kompromiss kam nicht zustande. Beide Kontrahenten beharrten auf ihren gegensätzlichen Standpunkten. [7]
„Erkenntnistheoretisch“ will Bergson die „unmittelbaren Gegebenheiten des Bewusstseins“ erfassen. Tatsächlich aber will er dabei auf jegliche Theorie verzichten und stattdessen schon vom Körperlichen her zu den „unmittelbaren Gegebenheiten“ vordringen. Solchen Theorie-Verzicht leistet Bergson in seiner „Lebensphilosophie“ (inklusive dem „élan vital“) allenthalben. Was ihm heftige Kritik, so vor allem von Marxisten wie Max Horkheimer und Ernst Bloch,eintrug. In einem Artikel des Jahres 1933 stellte Horkheimer fest, Bergson habe Verrat an der Wissenschaft begangen, und zwar schon deswegen, weil er die Theorie zu Gunsten der sogenannten „reinen Gegebenheiten“ vernachlässigt habe. Damit habe er „die Wissenschaft völlig um ihre aufklärende Wirkung“ gebracht. [8]
Noch deutlicher und heftiger fällt die von Ernst Bloch geübte Kritik aus. Sie entzündet sich u.a. an Bergsons Auffassung der Zeit als „reine unmittelbare Dauer“, wodurch ignoriert werde, dass die Zeit – als eine Aufeinanderfolge von diskontinuierlichen Jetzt-Zuständen – fließe, „indem sie stets augenblickhaft pocht“. [9] Dagegen fehle bei Bergson jede Art von zeit-lich-räumlicher Zielgerichtetheit (Entelechie), so dass auch sein angebliches „Novum“ zu keiner wirklichen Veränderung führe, auch nicht im „Elan vital“:
„Der Elan vital Bergsons ist eine >immer von neuem, wie etwa in einer Kurve, einsetzende Richtungsänderung<; die sogenannte Intuition setzt sich in dies bewegend Überraschende hinein, ohne jedoch vor lauter schlechter Unendlichkeit und unablässiger Veränderung das Novum je als ein wirkliches anzutreffen; – wo alles immer wieder neu sein soll, bleibt ebenso alles beim alten. Darum ist auch an Bergsons Überraschungsstrom in Wahrheit alles verabredet und zur Formel erstarrt, zu jenem selber toten Gegensatz zur Wiederholung, der das Neue zu bloß ewigem, inhaltslosem Zickzack herabsetzt, zu jenem absolut gemachten Zufall, an dem weder Geburt noch Sprengung noch eine inhaltlich fruchtbare Überschreitung des bisher Gewordenen statthat. Bergson wendet sich gegen einen Prozeßgedanken mit Ziel, aber wendet sich nicht dagegen, weil das Ziel bereits vereinbart wäre, so daß der genannte Prozeß – auf höchstem Niveau – fast wie Schiebung aussieht, sondern er eliminiert alles und jedes Voran, Wohin und offen betreibbare Ziel überhaupt.“ [10]
Darin aber offenbare sich – verstärkt durch die „Intuition“ – vor allem die übliche bourgeoise Abkehr vom Materialismus:
„Die Materie ist ihm ein für allemal die mechanische, das >Leben< ist ein begriffs-mechanisches Fixum par excellence, mit unwandelbarer Wandelbarkeit, ewig verding-lichter Entdinglichung. Vor allem aber ist das Neue (da Bergson ihm die Materie ent-zieht und eine dialektische nicht einmal dem Namen nach kennt) nirgends wirklich neu, nämlich inhaltlich; es bleibt eine rasende Einöde.“ [11]
zu Engels „Schluss“-Folgerungen
Der Begriff Bewusstsein hat historischen Charakter, wie Engel in seinem „Schluss“ (S. 400) zu Recht betont. Die Referenz-Objekte dieses Begriffes sind aber Menschen aus Fleisch und Blut, mitsamt den von ihnen gebildeten Gesellschaften und Kulturkreisen. Wenn Philosophen und Philosophinnen den Begriff Bewusstsein neu denken, betrifft dies die konkreten Menschen zumindest indirekt. Demgegenüber eher nebensächlich scheint die Einsicht, dass ein philosophisches Problem „die Form einer unabschließbaren Frage“ (ebd.) hat. Zumal Philosophieren nicht nur in der Handhabung und eventuellen Neubildung von Begriffen besteht, sondern auch im Urteilen und Folgern, logischem Denken überhaupt, so dass dabei nicht nur, wie Engel meint, Veränderungen der Probleme, sondern auch Möglichkeiten, sie zu lösen, vorgeschlagen werden.
Umso gravierender sind die Mängel, die sich an den von Engel referierten Konzepten seiner „Kronzeugen“, insbesondere denjenigen von James, Husserl und Bergson, feststellen lassen. So dass die alternative Begründung einer Bewusstseins-Philosophie unbedingt erforderlich ist. Diese soll im Folgenden versucht werden.
TEIL II
Neubegründung einer Bewusstseins-Philosophie
Der Begriff Information im Sinne von ‚in-formatio‘ = In-Form-Setzung kann als Grundbegriff jeglicher Bewusstseins-Philosophie angenommen werden, und zwar aus folgenden Gründen: Information ist anscheinend kein bloßes Gedankending, sondern von Anfang an in der Natur, als ursprüngliche Welt-Information , vorhanden. Laut Rainer E. Zimmermann werden im Universum andauernd Informationen produziert. Im Jahre 2011 postulierte Zimmermann einen „Urstoff“, der allerdings nur gedacht, nicht beobachtet werden könne. Immerhin könne, wenn auch nur mathematisch-abstrakt, ein „Spin-Netzwerk“ dargestellt werden, das „auf der fundamentalen Ebene des Universums“ wie ein ständig Informationen erzeugender „Quanten-Computer“ wirke, „der zugleich hardware und software ist“. Dieses Spin-Netzwerk liege allem zu Grunde, was beobachtet werden kann. Es sei ein neuer Ausdruck für die Schöpferkraft der Natur (‚natura naturans‘) und zugleich eine Erweiterung der diesbezüglichen Erkenntnisse von Aristoteles, Spinoza, Schelling und Ernst Bloch – und speziell auch von Blochs hypothetischem „Natursubjekt“.
Ähnlich argumentiert der Theoretiker Erich Bieramperl in seiner Autoadaptions-Theorie. Auf subatomarer Ebene erkennt Bieramperl Vorgänge, die an die Arbeitsweise von Sensoren denken lassen. Elementarteilchen gewinnen Informationen über ihre Umgebung, d.h. über andere E-Teilchen, mit denen sie Kontakt aufzunehmen vermögen. Wie ein Radar tastet das E-Teilchen seine Umgebung darauf hin ab. Information, Kontakte und Verbindungen von E-Teilchen sind keineswegs neue Phänomene. Bieramperl fand aber eine neue Erklärung dafür – mit weitreichenden Konsequenzen: Die Natur organisiert sich anscheinend selbst, aber aus einem ursprünglichen „Selbst“ heraus, das bereits Subjektives in sich zu tragen scheint. Fragt man jedoch nach der Zielursache des Ganzen, wird man nicht umhin können, die informationshaltige Materie selbst, d.h. nicht unbedingt Ernst Blochs hypothetisches „Natursubjekt“ , wohl aber sein Konzept einer „unvollendeten Entelechie der Materie“, als Grundlage anzunehmen.
Für sinnvoll halte ich es außerdem, die Informationstheorie mit der Semiotik zu verknüpfen. Dann zeigt sich, dass Zeichen-, Code- und Bedeutungsprozessen stets Vorgänge der Information – als In-Form-Setzung (‚informatio‘) – zu Grunde liegen, wobei laut H. Benesch (1977) dialektisch-materialistisch zwischen „Trägern, Mustern und Bedeutungen“ zu unterscheiden ist.
Orientierung vermitteln nach wie vor auch die Bestimmungen von Gregory Bateson , der (1985) Information und Unterschied gleichsetzt, genauer: als „Unterschied, der einen Unterschied ausmacht“, noch genauer: als „Unterschied, der bei einem späteren Ereignis einen Unterschied ausmacht“. Information als solche zu erkennen, ist demnach erst auf Grund vergleichender Analyse möglich, eines Verfahrens, das bekanntlich zu den Grundformen der dialektischen Methode gehört.
Von hier aus bietet sich auch eine neue Lösung des Leib-Seele-Problems an, das Engel gar nicht thematisiert, obwohl das Zusammenspiel von Leib, Seele und Geist zweifellos allen Bewusstseins-Erscheinungen zu Grunde liegt.
Die US-amerikanischen Biomedizinerin Candace B. Pert analysiert Moleküle der Gefühle. Körper, Geist und Emotionen (Reinbek 2001). Darin untersucht sie das gesamte zelluläre bzw. energetische Geschehen in lebenden Organismen als dynamisches Informations-geschehen , wobei angeblich der latente Dualismus von Leib und Seele endgültig überwunden wird. Gefühle vermitteln zwischen Körper und Geist; anscheinend Immaterielles (z.B. Gedanken) und Materielles (z.B. Organe) stehen, u.a. über Neuropeptide, im menschlichen Körper in ständiger Verbindung, und zwar – in unterschiedlichen, variierenden Ausprägungen – in den Körperzellen, die durch informationelle Interaktion miteinander verbunden sind. Diese Einheit bezeichnet Pert auch als „Körpergeist“.
Allerdings: Die möglichen Inhalte von Geist und Bewusstsein sind damit noch nicht erklärt, zumal die Subjektivität des Menschen, sein persönlicher Geist, sich nicht auf beschreibbare Hirn-Mechanismen oder gar Hirn-Materie reduzieren lässt. Diskutabel scheint außerdem Perts Behauptung, der Geist als solcher sei etwas gänzlich Immaterielles und letztlich nur religiös Begreifbares, nämlich der „Heilige Geist“. Wenn der Geist mit Schelling als dialektische Subjekt-Objekt-Beziehung und mit Gregory Bateson als „die Welt der Informations-verarbeitung“ aufgefasst werden kann, kann der Geist nicht als etwas völlig Immaterielles bezeichnet werden.
Nimmt man beide Hypothesen der Verursachung, d.h. die der Epigenetiker (wonach sogar erworbene Fähigkeiten vererbt werden können!) und die von Candace B. Pert, zusammen, zeichnet sich eine neue Hypothese des Interaktionismus zur Lösung des Leib-Seele- Problems ab, und zwar an Hand eines dialektisch-materialistischen Informationsbegriffs.
Dialektik als Einheit von Identität und Nicht-Identität betrifft voll und ganz die leib-seelische Befindlichkeit des Menschen, wobei Grenzen der Erklärbarkeit, z.B. außerhalb der von Empfängnis und Tod begrenzten leib-seelischen Identität des Menschen, erkennbar werden. Anfang und Ende des Ganzen, dessen Teile wir sind, kennen wir ohnehin nicht. Womit auch die Grenzen benannt sind, in denen sich eine dialektisch-materialistische Theorie der leib-seelischen Existenz des Menschen bewegen kann. – Immerhin ist diese Existenz aber an Hand eines dialektisch-materialistischen Informationsbegriffs näher bestimmbar, nämlich als umfassendes Informations- und Interaktions-Geschehen im Rahmen einer Theorie der informationellen Einheit von Körper, Seele und Geist. [12]
Außerdem ist ein Kompromiss zwischen subjektiver und objektiver Zeit-Auffassung möglich, und zwar an Hand des Begriffs Weltzeit. [13] Diese wird sowohl subjektiv erfahren als auch objektiv gemessen.
Erst unter den Aspekten eines informationellen Geschehens in der Einheit von Leib, Seele und Geist ist es möglich und sinnvoll, die Beiträge namhafter Philosophen zur Bewusstseins-Frage kritisch zu würdigen. Daher zunächst die Frage:
Was für eine Kant-Kritik ist erforderlich?
Nur zu behaupten, Kant habe den Zeitbegriff unzulänglich behandelt und zum angeblichen Niedergang der Philosophie beigetragen, reicht natürlich nicht. Mehr Erfolg ist zu erwarten, wenn man Kants Begründung dafür untersucht, dass er seinen ethischen Imperativ für „kategorisch“, also unbedingt gültig hält. Zu diesem Schluss kommt er dadurch, dass er die Begriffe Gott, Freiheit, Unsterblichkeit der Seele und Ding an sich scheinbar unlöslich miteinander verbindet, so wenn er behauptet, Freiheit könne nur dann bestehen, wenn Erscheinungen nicht „Dinge an sich selbst“ sind. [14] Genau hier aber liegt wohl der Hase im Pfeffer. Denn: Kant nimmt das Ding an sich zwar als unerkennbar und daher unbestimmbar an, deutet aber trotzdem mehrfach an, was darunter zu verstehen sein könnte, so wenn er für die Beziehung zwischen dem Ding an sich und dem wahrnehmenden bzw. um Verstehen bemühten Subjekt das Verb „affizieren“ benutzt. Der (mögliche) Gegenstand der Erkenntnis „berühre“ das Subjekt dadurch, dass er „das Gemüt auf gewisse Weise affiziere“. [15] Empfindung sei die „Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungskraft, sofern wir von demselben affiziert werden“ (ebd.). – Wo und weshalb aber findet solches „Affizieren“, die Affektion, tatsächlich statt? Einerseits erzeugt das Subjekt in der Empfindung den vom Ding an sich ausgehenden Gegenstand nicht selbst, sondern wird von ihm, „berührt“; andererseits affiziert das Ich dabei einen Teil des eigenen Selbst, nämlich seinen „inneren Sinn“ (ebd.). Und er räumt sogar ein: „Die Objekte der Sinne, metaphysisch betrachtet, sind Erscheinungen; für die Physik aber sind es die Sachen an sich selbst, die den Sinn affizieren.“ [16] Mit anderen Worten: Kant weiß sehr wohl, dass es bestimmte Kräfte der Materie und des Geistes sind, die das Ding an sich ausmachen und als solches die Sinne und den Verstand des Subjekts affizieren. Dennoch hält er an der Annahme fest, dass die Materie der Welt der Erscheinungen angehört, so dass er mit diesem Begriff das Ding an sich nicht bestimmen kann. Darin sehe ich einen Widerspruch, der sich erst auflöst, wenn klar ist, dass die Materie in der Evolutionsgeschichte lange vor dem menschlichen Geist existiert hat, so dass „die unvollendete Entelechie der Materie“ (Bloch) mit ihrem In-Möglichkeiten-Sein sowohl dem Ding an sich als auch der Erscheinungswelt zu Grunde liegt. Dies bedeutet allerdings
1., dass der Begriff ‚Ding an sich‘ hinfällig wird und durch Ausdrücke wie ‚das Erschienene und das (noch) nicht Erschienene‘, ‚das Bekannte und das Unbekannte‘, ‚das Erkannte und das (noch) Unerkannte‘, das ‚Noch-Nicht‘, zu ersetzen ist, und
2., dass der Begriff ‚Ding an sich‘ ebenfalls nicht geeignet ist, die angeblich „unbedingte“ Freiheit transzendental zu fundieren. Hierfür kommt wahrscheinlich eher die „unvollendete Entelechie der Materie“ in Frage, zumal Freiheitsmomente sowohl im Geist als auch in der Natur zu beobachten sind. (Worauf ich zurückkommen werde.)
Generell kann man den Begriff ‚Ding an sich‘ wohl durch Ernst Blochs NOCH NICHT ersetzen. Gegen einen solchen radikalen Verzicht scheint die Tatsache zu sprechen, dass wir in Folge unserer Gebundenheit an Sinne und Verstand doch wirklich nicht wissen können, ob wir die Dinge so erkennen, wie sie sind. Vollständig abgedeckt und neu interpretiert wird dieser Aspekt jedoch durch Karl Poppers Falsifikationstheorie, wonach man für jedwede Aussage einen Anspruch auf Wahrheit, Stimmigkeit, Richtigkeit und Gültigkeit nur so lange erheben kann, wie keine neuen Fakten dagegen sprechen.
Entfällt der Dualismus von Ding an sich und Erscheinung, werden auch die Verabsolutierungen der Kantschen Sollensethik fragwürdig oder hinfällig, darunter vor allem die „Allgemeine Gesetzgebung“ sowie die Begriffe Pflicht und Sollen. [17]
Woraus allerdings nicht folgt, dass Kants Ethik als Ganze obsolet und daher abzulehnen wäre. Hinfällig wird jedoch, neben den genannten Konstruktionsfehlern, die „Unbedingtheit“ des Kategorischen Imperativs, wodurch dieser jedoch nicht zu einem „hypothetischen Imperativ“ wird, sondern zu einer neuen, legitimen Forderung umgeformt werden kann, die als Baustein einer Ethik der Verhaltenssteuerung dienen kann.
Meine legitime Forderung lautet:
Achte bei allem, was Du tust, darauf, Dich selbst und Deine Mit-Menschen als Rechtspersonen und Persönlichkeiten zu respektieren und möglichst stets das Sittengesetz zu befolgen.
„Möglichst“ deshalb, weil es Ausnahmesituationen gibt, wie z.B. die der Notwehr, in denen die Rechte der eigenen Person gegen existenzielle Bedrohungen und Rechtsbrüche jeder Art zu verteidigen sind.
Unter dieser Voraussetzung halte ich es für möglich, die Ethik der Person durch eine Ethik der Natur zu ergänzen, wofür ich eine Naturformel des Kategorischen Imperativs vorgeschlagen habe, in der die Tatsache berücksichtigt wird, dass im Umgang mit der Natur legitime Interessenabwägungen erforderlich sein können. Es ist eine Formel, die nicht die noch im Gange befindlichen Diskussionen über (mögliche) Rechte der Natur, der Umwelt, der Tier- und Pflanzenwelt (Natur-, Öko-, Tierrechte) präjudizieren kann oder soll. Sie lautet:
Verhalte Dich so, dass Du die Natur in jeder Person und in jeder anderen Erscheinungsform stets als Zweck – und als Mittel nur zu ethisch begründbaren und moralisch vertretbaren Zwecken – behandelst.
Wenn nun zu klären ist, welche konkreten Rechte und Pflichten sich mit dieser neuen Formel begründen lassen, stellt sich die Frage nach der Legitimierung entsprechender gesetz-geberischer Maßnahmen. Was ist legitim? Rechtspositivistisch zweifellos das aktuelle geschriebene und gesprochene Recht. Und in Fällen staatlicher Willkür? Oder gar in Unrechtsstaaten? Da hilft zunächst wohl nur die naturrechtliche Anerkennung des Eigenwerts der Natur und des Selbstzwecks der Person, die auch in Kants Zweckformel des Kategorischen Imperativs enthalten ist, wozu meine Naturformel lediglich als Ergänzung dient. [18]
Darüber hinaus kann weiterhin auch Kants Anthropologie zu Rate gezogen werden, und zwar an Hand seiner Grundfragen: Was können wir wissen? Was dürfen wir hoffen? Was sollen wir tun? Was ist der Mensch? – Näheres hierzu habe ich bereits ausgeführt, u.a. mittels Begriffen wie Kommunikation, Kontakt, Kooperation und Konkurrenz. [19]
Die oft übersehene Grundlage: Hegels Bestimmung des Bewusstseins in der Phänomenologie des Geistes
Übersehen wird oft auch die Tatsache, dass Hegel die genannte Bestimmung durch seine kritische Auseinandersetzung mit Kant gewonnen hat. In seiner Phänomenologie des Geistes (2. Fassung in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften , 1830, §§ 413 ff.) schreibt Hegel:
1. Über Bewusstsein und Selbstbewusstsein:
„Die Wahrheit des Bewußtseins ist das Selbstbewußtsein und dieses der Grund von jenem, so daß in der Existenz alles Bewußtsein eines anderen Gegenstandes Selbstbewußtsein ist; ich weiß von dem Gegenstande als dem meinigen (er ist meine Vorstellung), ich weiß daher darin von mir. – Der Ausdruck vom Selbstbewußtsein ist Ich = Ich; …“ (§ 424)
2. Über das „anerkennende Selbstbewußtsein“:
„Es ist ein Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein zunächst unmittelbar als ein Anderes für ein Anderes. Ich schaue in ihm als Ich mich selbst an, aber auch darin ein unmittelbar daseiendes, als Ich absolut gegen mich selbständiges anderes Objekt. … Dieser Widerspruch gibt den Trieb, sich als freies Selbst zu zeigen und für den Anderen als solches da zu sein, – den Prozeß des Anerkennens.“ (§ 430)
3. Über Bewusstsein und Selbstbewusstsein als Übergangsstufen zur Vernunft :
„Diese Einheit des Bewußtseins und des Selbstbewußtseins enthält zunächst die Einzelnen als ineinander scheinende. Aber ihr Unterschied ist in dieser Identität die ganz unbestimmte Verschiedenheit oder vielmehr ein Unterschied, der keiner ist. Ihre Wahrheit ist daher die an und für sich seiende Allgemeinheit und Objektivität des Selbstbewußtseins, – die Vernunft .“ (§ 437)
Die Kehrseite: das unglückliche Bewusstsein
In scharfem Kontrast zu seiner Bestimmung des Bewusstseins präsentiert Hegel die Kehrseite der Medaille: „das unglückliche Bewusstsein“, das sich gegen eine Welt stellt, die es zugleich als „unwandelbar“ akzeptiert. [20] „Der Stoizismus nimmt hin und versucht das eigene Begehren zu vergessen. Der Skeptizismus negiert alles und versucht sich Erleichterung im Nichtverstehen zu verschaffen. Beide Formen erschöpfen sich in einer Symptombekämpfung. Weder vermag der Stoizismus das Begehren dauerhaft zu überwinden, noch der Skeptizismus dauerhaft der Illusion, nichts zu verstehen, zu unterliegen. Sie pendeln und wechseln sich ab, und dieses Pendeln, als Einheit reflektiert, führt zum Begriff des unglücklichen Bewusstseins, das seine Einheit als Wechselbewegung erkennt und ein stabiles, statisches Gleichgewicht in einer sich dauerhaft verändernden Welt ersehnt.“ (Carmele a.a.O. ebd.)
Woraus unmittelbar „die Notwendigkeit des Scheiterns folgt“ (ebd.) Wie Hegel erklärt, denkt und handelt das unglückliche Bewusstsein „nicht mit Blick auf das mannigfaltige Leben, sondern unter Berücksichtigung des Leblosen, Statischen, eines erwarteten Jenseits und Grabes der eigenen Bemühungen“:
„Dem Bewußtsein kann daher nur das Grab seines Lebens zur Gegenwart kommen. Aber weil dies selbst eine Wirklichkeit und es gegen die Natur dieser ist, einen dauernden Besitz zu gewähren, so ist auch diese Gegenwart des Grabes nur der Kampf eines Bemühens, der verloren werden muß.“ (Hegel ebd.)
Das unglückliche Bewusstsein „bleibt in einer Sisyphusarbeit gefangen. Es vergisst die Fallen, in die es bereits getappt ist, und fällt immer wieder erneut auf sie herein. Es vergisst die Versuche, die unerfolgreich geblieben sind, und vermag deshalb nicht aus dem Teufelskreis auszubrechen.“ (Carmele a.a.O. S. 6)
Allerdings: „Das unglückliche Bewusstsein bleibt nur solange unglücklich, wie es sich und seine eigenen Handlungen und Entscheidungen vergisst. Von Schicksal und Notwendigkeit keine Spur und wenn, dann nur im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung aufgrund einer sich selbst auferlegten Unaufrichtigkeit oder eines mnemonischen Unvermögens. Die letztliche Auflösung des Konfliktes besteht im Bejahen eines dynamischen, sich wiederherstellenden, sich perpetuierenden Gleichgewichts durch die verschiedenen, erinnerten Momente hindurch. Genau dies gelingt dem Bewusstsein am Ende von Die Phänomenologie des Geistes.“ (Carmele a.a.O. S. 7, Hervorhebungen im vorletzten Satz durch mich.)
Erfolge dieser Art kann das Bewusstsein erzielen, solange es nicht unglücklich wird, sondern gesund bleibt, und zwar im Einklang mit den von Hegel vorgelegten Bestimmungen (s.o.); in Kurzform:
1. Das Bewusstsein ist mit dem Selbst-Bewusstsein und folglich mit dem Person-Sein als Ganzem verbunden.
2. Es bezieht – anerkennend – die Personen der Anderen und damit die gesellschaftliche Dimension mit ein.
3. Es verbindet sich mit den höheren Stufen des Geistes und daher mit der Gesamtheit der dialektischen Subjekt-Objekt-Beziehungen.
Auf Maschinen bzw. KI-Roboter ist keine dieser Bestimmungen anwendbar. Roboter verfügen nicht über die Voraussetzungen für Bewusstsein. Dieses ist bewusstes Sein, d.h. Bewusstsein als Selbst-Bewusstsein des Menschen, wobei das Selbst – mit Nietzsche – weitgehend auch als der Leib des Menschen aufgefasst werden kann. Auf der Grundlage der organischen Leiblichkeit verfügt der Mensch – im Unterschied zu jeder Maschine – über sinnliche Gewissheit, Wahrnehmung, Anschauung, Vorstellung, Verstand und Ich als Voraussetzungen für Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Verstehen, die sich erst in der Anerkennung des anderen Menschen in Vernunft und Geist voll entfalten können.
Kein Roboter ist ein Ich, keiner ein Subjekt. Denn es fehlen ihm (Selbst-) Bewusstsein, Vernunft und Geist, die sich in umfassenden, dialektischen Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt manifestieren. Was man bei KI-Robotern als „Intelligenz“ bezeichnet, sind in Wahrheit von Menschenhand erzeugte Programme, d.h. vorwiegend Sprach-Programme, die durch ihre schier unerschöpflich auftretende Quantität den Anschein erwecken, dem Menschen überlegen zu sein. [21]
Bestätigt und verstärkt wird der weite Bewusstseins-Begriff durch bestimmte Konzepte des in Berkeley (Kalifornien) lehrenden Philosophen Alva Noë (geb. 1964). Er bekräftigt, ohne den Namen Hegel zu erwähnen, dessen Auffassung vor allem an Hand von Begriffen wie Handeln, Bewegung, Welterfahrung und ‚enacted cognition‘, übersetzbar als „verkörpertes Denken“, genauer: handlungsbasiertes Erkennen . [22] Seine Grundthese lautet:
„Bewusstsein ist keine Eigenschaft neuronaler Zustände, sondern das Wechselspiel zwischen Gehirn, Körper und Welt.“ (a.a.O. ebd.)
Dazu führt Noë aus:
„Bewusstsein ist eine Leistung, die das ganze Tier, die ganze Person im Wechselspiel mit der Umwelt erbringt. Natürlich brauchen wir unser Gehirn, um etwas bewusst zu erleben. Doch Neurone allein genügen dafür nicht. Das kann man sich einfach herleiten, indem man etwa fragt: Ist eine einzelne Nervenzelle zu Bewusstsein fähig? Wohl kaum. Zwei Zellen? Auch nicht. 100 oder 10000? Nein, selbst Ensembles von einigen Millionen Zellen >machen< noch kein Bewusstsein, etwas indem sie eine bestimmte Repräsentation der Welt irgendwie >eintünchen<. Genau so stellen sich Hirnforscher das aber meistens vor.“ (a.a.O. S. 122 f.)
Ausgangspunkt hierfür ist die Erkenntnis, dass es nicht möglich ist, „bestimmten Strukturen oder Vorgängen im Gehirn Bewusstsein zuzuschreiben“ (a.a.O. S. 124). Vielmehr muss auf die Interaktionen zwischen einer bestimmten Person und ihrer Umwelt geachtet werden, Umwelt dabei im weitesten, d.h. sowohl materiellen als auch sozialen Sinne. Woraus Noë folgert:
„Ich glaube, es gibt kein Bewusstsein ohne Handeln! Bewegung, Wahrnehmung und Welterfahrung verschmelzen dabei.“ (ebd.)
Dies alles gehört natürlich zu den schon von Hegel und Schelling konstatierten dialektischen Subjekt-Objekt Beziehungen.
Das Bewusstsein kann auch das Unbewusste beherrschen!
Wie schon Benjamin Libet in seinen Experimenten der 1980er Jahre herausgefunden hat, beeinflusst das Bewusstsein in hohem Maße auch das Unbewusste. Zu diesem erklärt Libet:
„Wir betrachten eine psychologische Funktion oder ein Ereignis als unbewusst, wenn die Person kein berichtbares Bewusstsein des Ereignisses hat.“ [23]
Das Träumen rechnet Libet erstaunlicherweise zu den völlig bewussten Prozessen, obwohl es dabei zu Verzerrungen kommen könne und die Träume „gewöhnlich nur schlecht oder überhaupt nicht erinnert“ würden (S. 124, ausnahmsweise mit deutlichem Seitenhieb auf Freud!). Im Übrigen handele es sich beim Ubw wahrscheinlich um „etwas Geistiges“, wobei durchaus auch „Repräsentationen der Erfahrung“ Teile des Ubw seien. Woraus folgt, dass anscheinend sämtliche Gedächtnis-Systeme für das Verstehen des Ubw heranzuziehen sind! (Vgl. Libet a.a.O. S. 132 f.). Dementsprechend folgert Libet:
„Jegliche Veränderungen oder Modifikationen der sich entwickelnden Erfahrung sind für die jeweilige Person einzigartig. Sie spiegeln die eigene Geschichte von Erfahrungen und den emotionalen und moralischen Charakter der Person wider. Die Veränderungen finden jedoch unbewusst statt! Folglich kann man sagen, dass der einzigartige Charakter einer bestimmten Person sich selbst in unbewussten Prozessen ausdrücken kann.“ (S. 157)
Wenn dem so ist, stellt sich die Frage, in welchem Maße wir tatsächlich durch das Ubw konditioniert oder gar determiniert werden; und damit die Frage nach der Willensfreiheit. Libets Ergebnisse:
a) „Es gibt eine unerklärte Lücke zwischen der Kategorie der physischen Phänomene und der Kategorie der subjektiven Phänomene.“
b) „Die Annahme, dass die deterministische Natur der physikalisch beobachtbaren Welt subjektive bewusste Funktionen und Ereignisse erklären kann, ist ein spekulativer Glaube und keine wissenschaftlich bewiesene Aussage.“ (S. 195)
Mit erheblichen Folgen für die Einschätzung der Willensfreiheit. Libet zufolge kann der Wille zwar keine Handlung bewusst einleiten, da dies unbewusstgeschehe; dennoch könne das Bewusstsein, d.h. der freie Wille ständig ein Veto einlegen. Alles beginne mit „unbewussten Initiativen“, danach aber:
„Der bewusste Wille würde dann eine Auswahl zwischen diesen Initiativen treffen und entscheiden, welche davon sich im Handeln nieder-schlagen soll, welche unterdrückt oder abgebrochen werden sollen, so dass es nicht zur motorischen Handlung kommt.“ (S. 179)
Hieran knüpft Libet weitreichende Überlegungen, und zwar sogar zu den Fragen nach dem Wesen des Menschen, des Universums und der Naturgesetze. Da er den naturwissenschaftlichen Determinismus in Bezug auf das Ubw ablehnt, kann er dem freien Willen in jedem Fall die Möglichkeit des Eingreifens einräumen. Hierzu erklärt er:
„Die bewusste Absicht erscheint etwa 150 msec vor der motorischen Bewegung. Das lässt genügend Zeit dafür, dass die Bewusstseinsfunktion in diesen Prozess eingreift. Der Prozess kann ein Auslöser sein, der ermöglicht, dass ein Willensprozess vollendet wird; dafür gibt es jedoch keine direkten Belege. Es gibt jedoch Belege dafür, dass der bewusste Wille den Prozess stoppen oder unterdrücken kann, so dass es nicht zu einer Handlung kommt. In einem solchen Fall könnte der freie Wille das Ergebnis steuern. Das passt zu unserem Gefühl, dass wir Kontrolle über uns selbst haben, etwas, das die ethischen Systeme von uns verlangen.“ (S. 246)
Folgerichtig bejaht Libet die ethischen Implikationen des freien Willens, wobei er auch bestimmten ethischen und religiösen Auffassungen zustimmt, so auch den Zehn Geboten und der gängigen christlichen Fassung der Goldenen Regel. Theologen hätten sogar die Grenzen der Allmacht Gottes aufgewiesen; die menschliche Willensfreiheit sei demnach von Gott so gewollt.
Zusammengefasst ergibt sich folgendes Bild:
1. Libet erweitert die Einsicht in das Ubw durch seine Experimente, aus denen hervorgeht, dass in Entscheidungssituation das Ubw früher als das Bewusstsein in Aktion tritt. Nicht das Bewusstsein, sondern das Ubw leitet den Entscheidungsprozess ein.
2. Da auch sämtliche Erfahrungen ins Ubw bzw. ins Gedächtnis eingehen (können), finden im Ubw bereits Abwägungen, auch ethischer und lebenspraktischer Art, statt.
3. Das Ubw schlägt dem Bewusstsein jeweils Entscheidungs-Optionen vor.
4. Nicht der Determinismus, sondern der freie Wille des Bewusstseins entscheidet über die vom Ubw vorbereiteten Optionen.
5. Die neuen Einsichten in das Ubw bestätigen weitgehend die ethischen und die (meisten) religiösen Auffassungen hinsichtlich der Willensfreiheit und der Verantwortung des Menschen für sein Tun und Lassen.
Bestätigung, Verstärkung und Ergänzung durch die Ulmer Forschergruppe um Markus Kiefer (2015)
Wenn das Ubw in so hohem Maße vom Bw beeinflusst und sogar gesteuert wird, möchte man hierüber Genaueres erfahren. In einer Studie aus dem Jahr 2015 heißt es dazu:
„Unser Wille ist freier als gedacht
Sind wir Sklaven unseres Unbewussten und können nichts dagegen tun?
Hirnforscher sagen: Nein! Unser Bewusstsein kontrolliert unbewusste
Prozesse im Gehirn. Der Wille und die automatische Verarbeitung arbeiten Hand in Hand, nicht gegeneinander. Das hat eine Forschergruppe an der Universität Ulm herausgefunden.
<http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/24954512>. …
Unbewusste Prozesse, die im Widerspruch zu unseren Absichten stehen,
werden weitgehend von unserem Bewusstsein blockiert. "Unser Wille ist
freier als gedacht", sagt Markus Kiefer, Wissenschaftler an der Klinik
für Psychiatrie und Psychotherapie der Uni Ulm.
Seine Forschungsgruppe konnte mit Messungen der Hirnaktivität im
Magnetresonanztomographen (MRT) zeigen, dass bewusste Vorsätze die
Arbeit unserer automatischen Systeme im Gehirn steuern. Die Forscher
wiesen erstmals nach, dass solche Vorsätze für eine gewisse Zeit
Netzwerke von Bereichen im Gehirn etablieren, die den unbewussten
Informationsfluss im Gehirn steuern. …
Seit den Arbeiten des Begründers der Psychoanalyse Sigmund Freund wurde
unhinterfragt angenommen, dass unser Unbewusstes autonom und nicht vom Bewusstsein kontrollierbar ist. "Die Vorstellung des chaotischen und unkontrollierbaren Unbewussten prägt bis heute auch die akademische
Psychologie und Kognitionsforschung. Dieses Dogma wurde in der
Vergangenheit kaum kritisch hinterfragt", sagt Kiefer.
Die neuen Befunde widerlegen diese Lehrmeinung. Sie zeigen eindeutig,
dass unser Bewusstsein zu den Absichten passende unbewusste Vorgänge in unserem Gehirn verstärkt, nicht passende dagegen abschwächt. Dadurch werde gewährleistet, dass unser bewusstes "Ich" Herr im Haus bleibt und nicht durch eine Vielzahl
unbewusster Tendenzen beeinflusst wird, erklärt Kiefer: "Wir sind also keinesfalls
Sklaven unseres Unbewussten, wie lange Zeit angenommen." …
Die bewussten Absichten und Einstellungen entscheiden somit darüber, ob
ein unbewusster Prozess in unserem Gehirn überhaupt ablaufen kann.“ [24]
Diese Ergebnisse stimmen weitgehend mit denjenigen Libets überein (s.o.). Dass sie allerdings nicht für die epigenetischen und sonstigen unbewussten Körperfunktionen gelten können, liegt auf der Hand. Frappierend ist dennoch a) das hohe Ausmaß der Kontrolle durch das Bewusstsein, b) die Vielfalt der Kooperation zwischen Bw und Ubw. Ohne die weit gefassten Begriffe für beide Sphären wäre es nicht möglich, den genannten Befunden und Erkenntnissen gerecht zu werden. Mit erheblichen Folgen für die komplexen Fragen von Ethik, Lebensführung, Gesundheitsfürsorge, Psychohygiene usw.
Außerdem: Nicht zu bestreiten ist, dass die Kontrolle durch das Bewusstsein nicht immer gelingt. Man denke nur an die relativ häufigen Fälle von krankhaften Veränderungen, Ungeschicklichkeiten, Naturkatastrophen, Bosheit, Kriminalität und sonstigen angeborenen und/oder erworbenen Beeinträchtigungen. – Die Macht des Unbewussten ist – wie die des Bewussten – nicht zu überschätzen, aber auch nicht zu unterschätzen. Anscheinend aber müssen und können Balance und Maß individuell herausgefunden und hergestellt werden. –Auch wenn unklar sein mag, wo innerhalb einer Klassengesellschaft die Grenzen des freien Willens liegen.
Von Marx zu Bloch: (Klassen-)Bewusstsein und Veränderungsethik
Marxens Äußerungen zum Thema Bewusstsein hat das ‚Marx Forum‘ auf ca. 10 Seiten zu einem Lexikon-Artikel zusammengestellt. [25] Diese Äußerungen lassen sich auf engem Raum zusammenfassen und kommentieren, nicht jedoch die Zigtausende von Seiten Sekundärliteratur, in denen Themen wie Ideologie, Gesellschaftskritik, Klassen-Bewusstsein, Klassen- und Revolutions-Theorie, Entfremdung usw. ausgiebig diskutiert werden. Zum Bewusstsein stellt Marx zunächst fest:
„Das Bewusstsein kann nie etwas anderes sein als das bewusste Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozess. Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Vorstellungen wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebenso sehr aus ihrem historischen Lebensprozess hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen. Ganz im Gegensatz zur deutschen Philosophie, welche vom Himmel auf die Erde herabsteigt, wird /in der Wissenschaft/ von der Erde zum Himmel gestiegen. D. h., es wird nicht ausgegangen von dem, was die Menschen sagen, sich einbilden, sich vorstellen, ... ; es wird von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozess auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt. ... Nicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein. ... Da, wo die Spekulation aufhört, beim wirklichen Leben, beginnt also die wirkliche, positive Wissenschaft, die Darstellung der praktischen Betätigung, des praktischen Entwicklungsprozesses der Menschen. Die Phrasen vom Bewusstsein hören auf, wirkliches Wissen muss an ihre Stelle treten.“ K. Marx, Deutsche Ideologie, MEW 3, 26f.
„Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“ K. Marx, Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, 9.
Marx scheint hier seinen Bewusstseins-Begriff von vornherein auf bestimmte Aspekte zu fokussieren, so wenn er gleich zu Anfang das Bewusstsein mit dem bewussten Sein, dieses mit dem „Sein der Menschen“ und dieses schließlich mit dem „wirklichen Lebensprozess“ gleichsetzt. Womit er hinter der wesentlich umfassenderen Subjekt-Objekt-Dialektik des Be-wusstseins (s.o.) zurückbleibt. Denn die Objekt-Welt als solche erschöpft sich nicht in der Lebenswelt der Menschen.
Was mag Marx zu dieser Verkürzung bewogen haben? Offensichtlich seine Opposition zur herkömmlichen deutschen Bewusstseinsphilosophie, „welche vom Himmel auf die Erde herabsteigt“, wo also das Bewusstsein mit seinen subjektiven Vorstellungen und Phantasmen abstrakt und absolut gesetzt wird, statt vom tatsächlichen Lebensprozess der Menschen auszu-gehen, so dass „Spekulation“ und „Phrasen“ das wirkliche Wissen ignorieren – ein deutlicher Seitenhieb auf den Deutschen Idealismus, der mit spekulativen Konstrukten wie Ding an sich, reiner Phänomenalität, absolutem Wissen, absolutem Geist, Weltgeist usw. den Welt-Prozess aus rein subjektiven Gedanken und Ideologien entspringen lassen wollte. – Gegen diese Ver-kehrung setzt Marx seine These: „Nicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein.“ Modifiziert allerdings durch den späteren Satz, wonach nicht das Bewusstsein das Sein der Menschen, sondern das gesellschaftliche Sein ihr Be-wusstsein bestimme. Was wohl nur bedeuten kann, dass das tatsächliche Leben der Individuen, aus denen ja die Gesellschaft besteht, ihr Bewusstsein „bestimmt“.
Wobei sich jedoch sogleich die Frage stellt, wie denn das Leben als solches überhaupt irgend etwas „bestimmen“ kann. Und was heißt bestimmen ? Bei Kant ist das Bestimmen „eine bloße Form der Erkenntnis“, wobei das Denken das Bestimmende ist. Genauer: Es ist der Verstand , der im Denken etwas bestimmt, während schon der Sinn nur „bestimmbar“ sei. [26] Tatsächlich lassen sich Bewusstseins-Gegenstände aller Art, d.h. sowohl der Innenwelt als auch der Außenwelt, erkennen, benennen und bestimmen, wenn auch stets auf Grund von individuell unterschiedlichem, von Theorien abhängigem Vorwissen. Was Husserl als „Wesenserschau-ung“ bezeichnete, wird bei jedem Vorgang des Erkennens durch einen Akt der Wesensbestim-mung realisiert: Man erkennt und bestimmt an den Gegenständen des Bewusstseins charakte-ristische Merkmale und Eigenschaften – was sich in der Tat hauptsächlich im Denken und im Verstand abspielt.
Dagegen kann das Leben als Ganzesgar nichts bestimmen, auch nicht das Bewusstsein. Wodurch aber die Marxsche These hinfällig würde – es sei denn, Marx wären hinsichtlich des Bewusstseins-Begriffs neue Einsichten gelungen. Wofür schon die Tatsache spricht, dass er den Begriff nicht einfach fallen lässt, sondern mit neuen Inhalten füllt, so wenn er u.a. das Klassen-Bewusstsein sowie das revolutionäre und das „falsche“ Bewusstsein analysiert. Hierzu gelangt er auf unterschiedlichen Wegen, und zwar
1. durch die Einsicht, dass Gesellschaftskritik nicht durch Bewusstseinskritik ersetzt werden kann .
Dazu schreibt Marx:
„Der Bewusstseinskritiker bildet sich ... ein, dass seine moralische Forderung an die Menschen, ihr Bewusstsein zu verändern, dies veränderte Bewusstsein zustande bringen werde, und er sieht in den durch veränderte empirische Verhältnisse veränderte Menschen, die nun auch natürlich ein anderes Bewusstsein haben, nichts anderes, als ein verändertes Bewusstsein. ... Diese ganze Trennung des Bewusstseins von den ihm zugrunde liegenden Individuen und ihren wirklichen Verhältnissen ... ist nur eine alte Philosophenmarotte.“ K. Marx, Deutsche Ideologie, MEW 3, 232f., s. Marx Forum a.a.O.
Marx wendet sich also erneut gegen die Verabsolutierung des Bewusstseins und die dadurch bewirkte Trennung des Bewusstseins der Menschen von ihren wirklichen Lebensverhält-nissen. Diese können nicht durch bloß moralische Appelle verändert werden. Wer das Bestehende lediglich vom Bewusstsein aus anders interpretiert, ändert ebenfalls nichts an den realen Verhältnissen. Diese sind, wie Marx erklärt, nicht durch „theoretische Deduktionen“, sondern nur durch die Veränderung der Umstände zu verbessern.
2. Das falsche Bewusstsein der Kapitalisten
„Die Vorstellungen eines Kaufmanns, Börsenspekulanten, Bankiers sind notwendig ganz verkehrt. Die der Fabrikanten sind verfälscht durch die Zirkulationsakte, denen ihr Kapital unterworfen ist, und durch die Ausgleichung der allgemeinen Profitrate.“ K. Marx, Kapital III, MEW 25, 324f.
Demgemäß sind es im Kapitalismus die Produktionsverhältnisse, die zu Klassen und Klassen-Gegensätzen führen – und dies wiederum bewirkt das „falsche Bewusstsein“ der Kapitalisten. Mit allerdings erheblichen Folgen:
„Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende *materielle* Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende *geistige* Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, /verfügt/ damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so dass ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken sind weiter nichts, als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft.“ K. Marx, Deutsche Ideologie, MEW 3, 47.
Wodurch das falsche Bewusstsein zu einem Herrschaftsinstrument der Kapitalisten-Klasse wird, die sich sogar die Gedankenwelt der Lohnabhängigen unterwirft. Allerdings unterscheidet Marx hiervon das „Klassenbewusstsein der Kleineigentümer“, indem er bemerkt:
„Der Kleinbürger ist ... zusammengesetzt aus ein Einerseits und Andererseits ... Er ist der lebendige Widerspruch. ....Wissenschaftlicher Scharlatanismus und politische /Anpassung/ sind von solchem Standpunkt unzertrennlich. Es bleibt nur noch ein treibendes Motiv, die *Eitelkeit* des Subjekts ...“ K. Marx, Über Proudhon, MEW 16, 31f.
Und:
„Die demokratischen Kleinbürger, weit entfernt, für die revolutionären Proletarier die ganze Gesellschaft umwälzen zu wollen, erstreben eine Änderung der gesellschaft-lichen Zustände, wodurch ihnen die bestehende Gesellschaft möglichst erträglich und bequem gemacht wird. Sie verlangen daher vor allem Verminderung der Staats-ausgaben durch Beschränkung der Bürokratie und Verlegung der Hauptsteuer auf die großen Grundbesitzer und Bourgeois. Sie verlangen ferner die Beseitigung des Drucks des großen Kapitals auf das kleine durch öffentliche Kreditinstitute und Gesetze gegen den Wucher ...“
K. Marx, Rundschreiben an den Bund der Kommunisten (1850), MEW
7, 247.
Und Friedrich Engels fügt hinzu:
„Was die Kleinbürger, Handwerksmeister und Krämer betrifft, so werden sie sich immer gleich bleiben. Sie hoffen in das Großbürgertum sich emporzuschwindeln, sie fürchten ins Proletariat hinabgestoßen zu werden. Zwischen Furcht und Hoffnung werden sie während des Kampfes ihre werte Haut /schützen/ und nach dem Kampf sich dem Sieger anschließen. Das ist ihre Natur.“ F. Engels, Bauernkrieg, MEW 16, 398.
3. „Revolutionäres Bewusstsein ist das Produkt von gemeinsamer
Aktion und Diskussion
Bedarf es tiefer Einsicht, um zu begreifen, dass mit den Lebensverhältnissen der Menschen, mit ihren gesellschaftlichen Beziehungen, mit ihrem gesellschaftlichen Dasein, auch ihre Vorstellungen, Anschauungen und Begriffe, mit einem Worte auch ihr Bewusstsein sich ändert? Was beweist die Geschichte der Ideen anderes, als dass die geistige Produktion sich mit der materiellen umgestaltet? ...
Man spricht von Ideen, welche eine ganze Gesellschaft revolutionieren; man spricht damit nur die Tatsache aus, dass sich innerhalb der alten Gesellschaft die Elemente einer neuen gebildet haben, dass mit der Auflösung der alten Lebensverhältnisse die Auflösung der alten Ideen gleichen Schritt hält.“ K. Marx, Kommunistisches Manifest, MEW 4, 480.
„Es wird durch die Entwicklung der Produktivkräfte/eine Klasse hervorgerufen ..., welche alle Lasten der Gesellschaft zu tragen hat, ohne ihre Vorteile zu genießen, welche aus der Gesellschaft herausgedrängt, in den entschiedensten Gegensatz zu allen anderen Klassen /gedrängt/ wird; eine Klasse, die die /Mehrheit/ aller Gesellschafts-mitglieder bildet und von der das Bewusstsein über die Notwendigkeit einer gründlichen Revolution, das kommunistische Bewusstsein, ausgeht, das sich natürlich auch unter den anderen Klassen vermittels der /Analyse/ der Stellung dieser Klasse bilden kann.“ K. Marx, Deutsche Ideologie, MEW 3, 69.
Damit beschreibt Marx zugleich das Entstehen von Klassen-Bewusstsein . Die realen Lebensverhältnisse prägen das Bewusstsein. Werden diese Verhältnisse – vor allem in Folge der Klassen-Gegensätze – unerträglich, ändert sich das Bewusstsein der Lohnabhängigen. Sie bilden eine Klasse für sich – aber erst, wenn sie im Klassen- Bewusstsein ein Bewusstsein für ihre tatsächliche Lage entwickelt haben. Sie können dann zu einem revolutionären kommunistischen Bewusstsein gelangen, dem sich auch fortschrittlich gesonnene Nicht-Proletarier anschließen können. Dies hält Marx für die entscheidende Voraussetzung der revolutionären Neugestaltung der Gesellschaft. – Wodurch auch klar wird, in welchem Sinne Marx den Begriff Bewusstsein erweitert, der dadurch sogar maßgeblich und ausschlaggebend wird.
Daraus folgt:
4. ein neues „Gesamtbewusstsein“, wozu Friedrich Engels erklärt:
„Mit der Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die Gesellschaft ist die Warenproduktion beseitigt und damit die Herrschaft des Produkts über die Produzenten ... Der Kampf ums Einzeldasein hört auf. Damit erst scheidet der Mensch, in gewissem Sinn, endgültig aus dem Tierreich, tritt aus tierischen Daseinsbedingungen in wirklich menschliche. Der Umkreis der die Menschen umgebenden Lebensbedingungen, der die Menschen bis jetzt beherrschte, tritt jetzt unter die Herrschaft und Kontrolle der Menschen, die nun zum ersten Male bewusste, wirkliche Herren der Natur, weil und indem sie Herren ihrer eigenen Vergesellschaftung werden. Die Gesetze ihres eigenen gesellschaftlichen Tuns, die ihnen bisher als fremde, sie beherrschende Naturgesetze gegenüberstanden, werden dann von den Menschen mit voller Sachkenntnis angewandt und damit beherrscht. Die eigene Vergesellschaftung der Menschen, die ihnen bisher als von Natur und Geschichte /aufgezwungen/ gegenüberstand, wird jetzt ihre eigene freie Tat. Die objektiven, fremden Mächte, die bisher die Geschichte beherrschten, treten unter die Kontrolle der Menschen selbst. Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewusstsein selbst machen, erst von da an werden die von ihnen in Bewegung gesetzten gesellschaftlichen Ursachen vorwiegend und in stets steigendem Maße auch die von ihnen gewollten Wirkungen haben.“ F. Engels, Anti-Dühring, MEW 20, 264.
Damit wird auch annähernd klar, wie weit der freie Wille im Rahmen einer Klassen-gesellschaft reichen kann. Zur wirklich „eigenen freien Tat“ kann er in dieser Gesellschaft nicht fortschreiten. Er kann sich aber mit revolutionärem Bewusstsein verbünden, um zu erreichen, dass die Menschen – alle Menschen, und nicht bloß eine einzelne Klasse von Kapi-talisten – die wirkliche Kontrolle über die eigenen Lebensbedingungen gewinnen. Revolutio-näres stellt sich gegen falsches Bewusstsein, kommunistisches gegen kapitalistisches. Was der „freie Wille“ tatsächlich vollumfänglich wollen kann, lässt sich erst verwirklichen, wenn „die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewusstsein selbst machen“, wie Engels schreibt.
Zur Kritik der Marxschen Revolutionstheorie
Als Ziel der Revolution nannte Marx bekanntlich das Reich der Freiheit , d.h. eine „freie Assoziation freier Individuen“, erreichbar nur in einer Klassenlosen Gesellschaft, in der jeder Mensch gemäß den eigenen Bedürfnissen und Fähigkeiten leben und arbeiten kann. Dieses Ziel ist in der bisherigen Geschichte nirgendwo erreicht worden. Fragt man nach den Gründen hierfür, stößt man u.a. auf die Abhandlung des renommierten Historikers Heinrich August Winkler über das Thema ‚Marx und die Folgen – Gedanken zum Wandel der Revolution 1789–1989‘ aus dem Jahr 2017 [27], die mit einem mächtigen Paukenschlag beginnt. Behauptet Winkler doch, Marx‘ Idee einer endgültigen proletarischen Revolution stamme nicht von Marx selbst, sondern aus dem „Manifest der Gleichen“, einer Kampfschrift der „Verschwörung der Gleichen“ um die radikalen Jakobiner und Sozialisten Gracchus Babeuf und P. M. Buonarrotti, erschienen im Jahre 1796. Laut Winkler war der Grundgedanke dieser Schrift „die Idee der vollständigen Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und der Errichtung einer kommunistischen Gesellschaft, herbeizuführen durch eine zur revolutionären Tat entschlossenen Minderheit“ (a.a.O. S. 1). Trifft dies zu, enthält diese Idee bereits das nahezu vollständige Revolutionsprogramm, das Lenin ab 1917 praktiziert hat, wenn auch unter wiederholter Berufung nicht auf Babeuf, sondern auf Marx, der allerdings schon in seinen Frühschriften anscheinend häufig aus der genannten Kampfschrift der „Gleichen“ zitiert hat. Für Marx und Engels war demnach die Französische Revolution nur „das Vorspiel der eigentlichen, der kommunistischen Revolution“ (ebd.).
Gravierend kommt hinzu, dass beide, Marx und Engels, eine problematische Analogie zwischen bürgerlicher und proletarischer Revolution hergestellt haben: „Die Bourgeoisie wird und muss vor dem Proletariat ebenso zu Boden sinken, wie die Aristokratie und das unbeschränkte Königtum von der Mittelklasse den Todesstoß erhalten hat“, erklärte Engels im Jahre 1847. Und Winkler fügt hinzu: „So wie früher die feudalen Produktionsverhältnisse zu Fesseln der kapitalistischen Produktionskräfte geworden seien, so würden jetzt die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu Fesseln der modernen Produktivkräfte.“ (a.a.O. S. 2). – Was ich allerdings für hochbedeutsam halte. Beruht etwa der Ausgangspunkt der Marxschen Revolutionstheorie auf einem simplen, aber äußerst folgenschweren Denkfehler? War doch die nach 1789 vom französischen Bürgertum gestürzte Klasse von Adel und Klerus längst zu einer Ansammlung von Müßiggängern und „Scheintoten“ geworden, die keinerlei Anspruch auf politische Machtausübung mehr erheben konnten. Genau dies trifft aber auf die an die Macht gekommene kapitalistische Bourgeoisie weder zu Marxens noch zu Lenins Zeiten zu!
Wohl zu Recht folgert Winkler: „Der Rückschluss von der bürgerlichen auf die proletarische Revolution, an dem Marx und Engels zeitlebens festhielten, war von Anfang an eine höchst gewagte Konstruktion. 1789 war in Frankreich eine funktionslos gewordene herrschende Klasse, der Feudaladel, von einer aufsteigenden Klasse, dem „Dritten Stand“, entmachtet worden, der mit einem zumindest relativen Recht von sich behaupten konnte, er vertrete in dieser Auseinandersetzung die Gesamtheit der nichtprivilegierten Gesellschaft und sei in jeder Hinsicht herrschaftsfähig. In eine vergleichbar komfortable Situation ist das Proletariat weder zu Lebzeiten von Marx und Engels noch später gekommen: Ihre historische Analogie hat sich als Trugschluss erwiesen.“ (a.a.O. S. 4).– Dennoch zieht Winkler anschließend eine mehr oder weniger gerade Linie der Tradition von Marx und Engels zu Lenin und Stalin, über den „Tauwetter“-Chruschtschow und den teils neo-stalinistischen Breschnew bis hin zum „Reformer“ Gorbatschow, dessen Sturz den endgültigen Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ einleitete. Auf die alternativen sozialistischen Experimente (Jugoslawien, Frankreich etc.) sowie auf Mao Zedong, Pol Pot, Castro und andere kommunistische Diktatoren geht Winkler (aus Platzgründen?) hier nicht ein.
Was Leninaus der „Diktatur des Proletariats“ gemacht hat, nämlich das entscheidende Erkennungs-Zeichen und unabdingbare conditio sine qua non der Bolschewiki, skizziert Winkler kurz und bündig, erwähnt dann aber von den weiteren Verfälschungen der Marxschen Theorie durch Lenin lediglich die Tatsache, dass dieser 1917 die Bedingungen für eine sozialistische Revolution erfüllt sah, obwohl Marx dies nur in hochindustrialisierten bürgerlich-kapitalistischen Staaten – und nicht im vergleichsweise rückständigen Russland – für möglich gehalten hatte.
So dass Winkler keine Mühe hat, Stalins Theorie vom „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ als Reaktion auf das Ausbleiben der Revolution im Westen zu verorten, ohne auch nur andeutungsweise auf Stalins weitere Verzerrungen des Marxismus einzugehen. Stattdessen begnügt er sich mit einem Exkurs zum Revisionismus (Bernstein u.a.) und Hinweisen auf unheilvolle Auswirkungen der Oktoberrevolution auf die europäische Arbeiterbewegung und den Aufstieg des Faschismus u.a. als Reaktion auf den Bolschewismus.
Ebenso kursorisch äußert Winkler sich zur Entwicklung der UdSSR unter Chruschtschow und Breschnew, um abschließend das Wirken Gorbatschows zu würdigen. Dieser habe nicht gewagt, mit dem Leninismus zu brechen und nicht durchschaut, „dass Demokratie und Machtmonopol einer Partei völlig unvereinbar waren“. Vielmehr habe Gorbatschow „Papst und Luther in einem“ (A. Brown) sein wollen, in der Praxis aber durch Glasnost und Perestroika die friedlichen („samtenen“) Revolutionen im ganzen Ostblock befördert, die schließlich zu seinem eigenen Scheitern beitrugen (a.a.O. S. 10).
Nur kurz – und erst ganz am Schluss – kehrt Winkler zum angeblichen Ursprung der gesamten Fehlentwicklung bei Marx und Engels zurück, indem er feststellt: „Wenn es je einen falschen historischen Analogieschluss mit weltgeschichtlichen Folgen gegeben hat, waren es die verallgemeinernden Folgerungen, die Marx und Engels aus der Französischen oder, allgemeiner gesprochen, aus der bürgerlichen Revolution gezogen haben.“ Und die Bolschewiki seien letztlich daran gescheitert, „dass die Produktivkraft der Freiheit in ihrem Denken keinen Raum hatte“. Übrig geblieben sei nicht der Marxismus/Sozialismus, sondern „die Ideen von 1776 und 1789“. Und nur an diesen – zutiefst bürgerlichen Ideen – habe sich die westliche Demokratie zu orientieren (a.a.O. S. 12). –
Was Winkler hier präsentiert, ist m.E. ein Abgesang auf die Geschichte des Marxismus, dessen Untergang er mit dem Ende der UdSSR und des Ostblocks für besiegelt hält. Wenn Gorbatschow an seinem eigenen Leninismus gescheitert ist, steht er lediglich am Ende der fatalen, katastrophalen Verkettungen, die Marx angeblich durch seinen „falschen historischen Analogieschluss“ verursacht hat. Mehr als fraglich ist jedoch, ob darin tatsächlich die Quintessenz des Marxismus oder gar des Scheiterns der „Diktatur des Proletariats“ liegt. Jedenfalls ist die Marxsche Revolutionstheorie nicht in erster Linie an dem „falschen Analogieschluss“ gescheitert, sondern vor allem an bestimmten Entwicklungen des Kapitalismus im späten 19. Jahrhundert, die Marx nicht vorhergesehen bzw. nicht durch-schaut hat. [28] – Es sind allerdings Mängel, die auch zum Scheitern Lenins und der proletari-schen Revolutionen weltweit beigetragen haben.
Georg Lukács (1885-1971): Verdinglichung und proletarisches Bewusstsein
Den Essay Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats hat Lukács 1923 im Rahmen seines Monumentalwerks Geschichte und Klassenbewusstsein veröffentlicht. Während dieser Zeit befand sich der Autor in einer für einen Marxisten sehr prekären Situation: Die proletarische Revolution war weltweit entweder gescheitert oder ausgeblieben. Auf der Suche nach Gründen hierfür stieß Lukács auf die von Marx im Kapital vor-genommene Analyse des Fetischcharakters der Ware. Hierzu stellt er eingangs fest:
„Es ist keineswegs zufällig, daß beide großen und reifen Werke von MARX, die die Gesamtheit der kapitalistischen Gesellschaft darzustellen und ihren Grundcharakter aufzuzeigen unternehmen, mit der Analyse der Ware beginnen. Denn es gibt kein Problem dieser Entwicklungsstufe der Menschheit, das in letzter Analyse nicht auf diese Frage hinweisen würde, dessen Lösung nicht in der Lösung des Rätsels der Warenstruktur gesucht werden müßte. Freilich ist diese Allgemeinheit des Problems nur dann erreichbar, wenn die Problemstellung jene Weite und Tiefe erreicht, die sie in den Analysen von MARX selbst besitzt; wenn das Warenproblem nicht bloß als Einzelproblem, auch nicht bloß als Zentralproblem der einzelwissenschaftlich gefaßten Ökonomie, sondern als zentrales, strukturelles Problem der kapitalistischen Gesellschaft in allen ihren Lebensäußerungen erscheint. Denn erst in diesem Fall kann in der Struktur des Warenverhältnisses das Urbild aller Gegenständlichkeitsformen und aller ihnen entsprechenden Formen der Subjektivität in der bürgerlichen Gesellschaft aufgefunden werden.“ [29]
Schon hier ist erkennbar, was Lukács an Marxens Ansatz besonders interessiert und fasziniert: Die Möglichkeit, das Warenproblem nicht als Einzelproblem darzustellen, sondern „als zentrales, strukturelles Problem der kapitalistischen Gesellschaft in allen ihren Lebensäußerungen“ (s.o.). Es ist die von Marx vermittelte Gesamtsicht, die (mögliche) Einsicht in eine Totalität der Lebensverhältnisse, die Lukács in hohem Maße inspiriert. Was wohl auch mit seiner Affinität zum Ganzheitsdenken Hegel s zusammenhängt, der ja erklärte, das Ganze sei „das Wahre“. –
Ware entsteht im Kapitalismus, sobald ihr Gebrauchswert in einen Tauschwert verwandelt wird. Ein „dinglicher“ Vorgang, der die Tatsache ausblendet, dass der Gebrauchswert einer Ware auf zwischenmenschlichen Beziehungen beruht. Wie aber kann sich dies in einen „Fe-tischcharakter der Ware verkehren? Dieser Charakter entspringt letztlich der „Herrschaft der Ware“, wie Lukács erklärt (a.a.O. S. 2). Dazu zitiert er eine Passage aus dem Kapital, in der Marx aufzeigt, wie das zunächst rein quantitative Verhältnis des Warenaustauschs im kapitalistischen System in ein nur schwer durchschaubares qualitatives Verhältnis umschlägt, in dem zugleich dessen Charakter der Verdinglichung erkennbar wird. Durch das Warenver-hältnis des vom Kapitalbesitzer festgelegten Tauschwerts verlieren sich die Fähigkeiten der Lohnabhängigen zum „Durchblick“, und zwar unter dem Druck eines von ihnen unabhängi-gen, nicht überschaubaren „objektiven“ Sachverhalts mit eigener Gesetzlichkeit. Das Produkt der eigenen Arbeit wird dem Lohnarbeiter entzogen; es gehört nicht ihm, sondern dem Kapi-talbesitzer. Das Produkt, die Ware, wird zu einer „gesellschaftlichen“ Kategorie, die „die Gegenständlichkeitsform sowohl der Objekte wie der Subjekte der so entstehenden Gesellschaft, ihrer Beziehung zur Natur, der in ihr möglichen Beziehungen der Menschen zu-
einander entscheidend beeinflußt.“ (a.a.O. S. 5)
In der kapitalistischen Produktion entwickelt sich eine zunehmende Rationalisierung , ver-schlimmert durch Spezialisierung, Arbeitsteilung, Fließbandarbeit usw., mithin durch entfremdete Arbeit. Darin sieht Lukács nicht nur ein „Zerreißen des Objekts der Produktion“, sondern „zugleich das Zerreißen seines Subjekts“, zumal dieses, d.h. die Lohnabhängigen völlig den kapitalistischen Gesetzen der Produktion unterworfen sind. In diesem Prozeß der Verdinglichung, in den auch das Bewusstsein der Lohnabhängigen hineingezogen wird, geht die Menschenwürde immer mehr verloren; ein Schicksal, das, so Lukács, „zu einem typischen Schicksal der ganzen Gesellschaft“ wird (a.a.O. S. 8). Dies vor allem deshalb, weil, wie Marx erklärt, das Privateigentum an den Produktionsmitteln „nicht nur die Individualität der Menschen, sondern auch die der Dinge“ entfremdet (ebd.). Die verdinglichten, entfremdeten Warenbeziehungen werden „für das verdinglichte Bewußtsein zu den wahren Repräsentanten seines gesellschaftlichen Lebens“ (S. 9):
„So wie das kapitalistische System sich ökonomisch fortwährend auf erhöhter Stufe produziert und reproduziert, so senkt sich im Laufe der Entwicklung des Kapitalismus die Verdinglichungsstruktur immer tiefer, schicksalhafter und konstitutiver in das Bewußtsein der Menschen hinein.“ (ebd.)
Was von bürgerlichen Ökonomen stets verkannt und verharmlost werde.
Auf Grund dieser Sachlage analysiert Lukács auch die moderne Bürokratie , wobei er zunächst feststellt:
„Die Bürokratie bedeutet eine ähnliche Anpassung der Lebens- und Arbeitsweise und dementsprechend auch des Bewußtseins an die allgemein gesellschaftlich-öko-nomischen Voraussetzungen der kapitalistischen Wirtschaft, wie wir dies für die Arbeiter im Einzelbetrieb festgestellt haben.“ (S. 13)
„Monströs“ werde durch die Bürokratie die Spezialisierung der Arbeitsteilung gesteigert. Auch hier werde die Persönlichkeit des Arbeiters wie „ein Ding“ behandelt. – Überhaupt habe erst der Kapitalismus durch seine einheitliche Wirtschaftsstruktur „für die ganze Gesellschaft eine - formell - einheitliche Bewußtseinsstruktur für ihre Gesamtheit hervorgebracht“ (S. 14). Krass gesteigert in Krisenzeiten. Es sei eine rationalisierte „Irrationalität“, die zugleich Voraussetzung und Ergebnis der kapitalistischen Produktionsweise sei. (vgl. S. 16). –
Es gebe zwar stets noch ein Bedürfnis, das Ganze zu überblicken, doch die Fähigkeit hierzu gehe sogar in der Wissenschaft mehr und mehr verloren. „Geschlossene Teilsysteme“ treten an die Stelle der Gesamtsicht. Mit schwerwiegenden Folgen z.B. auch für die Rechtswissen-schaft (S. 20 f.). – Kann die Philosophie dem entgegenwirken, kann sie noch das Ganze wenigstens ins Auge fassen? Lukács verneint dies entschieden im Hinblick auf die bürgerliche Philosophie. – Eine
Kritische Würdigung
von Geschichte und Klassenbewußtsein präsentiert Patrick Eiden-Offe (2021) in seinem Aufsatz Verdinglichung: Ein Begriffsschicksal. [30] Darin schreibt er:
„Die Revolution scheiterte nicht, weil die Gegenkräfte zu stark waren – damit hatten die Revolutionäre rechnen müssen, weshalb diese äußerliche Erklärung für Lukács zu kurz greift. Sie scheiterte, weil das Proletariat sich nicht als Ganzes und entschieden genug erhob und sie radikal bis zum Ende durchkämpfte. Die Revolution scheiterte, um es auf den Punkt zu bringen, am mangelnden Klassenbewusstsein des Proletariats. Wenn bis heute immer wieder behauptet wird, Lukács betreibe in Geschichte und Klassenbewußtsein eine Verherrlichung des revolutionären Proletariats, so kann das nur verwundern:[5] Denn viel eher unternimmt das ganze Werk den Versuch zu erklären, warum das Proletariat immer wieder bereit war, für seine eigene Unterdrückung zu kämpfen, als ginge es dabei um sein Heil. Den Texten der Sammlung ist der Schrecken des August 1914, als nicht nur die Arbeiterparteien aller Länder, sondern auch der überwiegende Teil ihrer Gefolgschaft fröhlich singend in den proletarischen Bruderkrieg gezogen waren, ebenso anzumerken wie der der europäischen Konterrevolution, die ohne die wenigstens passive Hinnahme durch die proletarischen Massen nie hätte siegen können. Warum also steht das Proletariat nicht endlich auf? Die kurze Antwort lautet: wegen der Verdinglichung. Weil auch „das Bewußtsein des Proletariats der Verdinglichung vorläufig noch erlegen“ ist (S. 164), können die Proletarier*innen ihre Unterdrückung und Ausbeutung nicht erkennen, und so müssen die Revolutionäre zunächst „das Phänomen der Verdinglichung“ (so die Überschrift des ersten Abschnitts des Verdinglichungsaufsatzes) durchschauen lernen, um diese letzte und stärkste Kette des Proletariats sprengen zu können.“ (a.a.O. S.
Allerdings: Stark zu bezweifeln ist, ob die „Verdinglichung des Bewusstseins“ der Haupt-grund oder gar der einzige Grund für das – bislang nicht beendete – Scheitern der proletari-schen Revolution ist. Denn zumindest ebenso verheerend wirkten sich aus
a) die Mängel der Marxschen Revolutionstheorie (s.o. S. 36 ff.),
b) das Vorgehen von Diktatoren wie Lenin und Stalin.
Wozu ich u.a. zu folgendem Ergebnis gekommen bin:
Keinerlei Gesetze als verbindlich anzuerkennen, die Normativität des Rechts bis hin zur „Auflösung des Rechtsbegriffs“ zu missachten – so weit wären Marx und Engels niemals gegangen, auch wenn sie dem bürgerlichen „Rechtsstaat“ zweifellos kritisch gegenüberstanden… Aus dieser Grundposition, von der Marx und Engels nie abgewichen sind, werden auch fast alle weiteren Unterschiede erklärlich, die hinsichtlich der „Diktatur des Proletariats“ zwischen Marx und Engels einerseits und Lenin andererseits bestehen. Und zwar erst recht im Hinblick auf die maßgeblichen Hintergründe von Ethik und Moral, die Stephen Eric Bronner wie folgt analysiert: „Lenins Ethik beruhte auf dem Glauben, daß das Hauptinteresse der Partei die Revolution sei und daß diesem strategischen Ziel alle taktischen Maßnahmen unterzuordnen seien. Daraus resultierte ein rein instrumentelles Verhältnis gegenüber den Fragen von Legalität und Illegalität der Mittel, von Wahrheit und Lüge, von Gewalt oder Gewaltverzicht. Anders gesagt: Moral wurde zu einer Variablen des Klassenkampfes – moralisch war das, was den Interessen der Partei nützte, unmoralisch das, was ihnen im Wege stand. Daß die Wahl der Mittel auch die Resultate bestimmt, wurde dabei nie in Betracht gezogen.“
Es waren Praktiken, bei denen Lenin sich, wie gesagt, auf Machtfanatiker wie Machiavelli und Nietzsche berufen konnte. Genau dies kritisiert schon Rosa Luxemburg in ihrer 1918 verfassten Schrift Zur russischen Revolution (Kap. IV), indem sie feststellt: „Lenin … vergreift … sich völlig im Mittel. Dekret, diktatorische Gewalt der Fabrikaufseher, drakonische Strafen, Schreckensherrschaft, das sind alles Palliative. Der einzige Weg zur Wiedergeburt ist die Schule des öffentlichen Lebens selbst, uneingeschränkteste breiteste Demokratie, öffentliche Meinung. Gerade die Schreckensherrschaft demoralisiert.“ (In: www.org/deutsch/archiv/luxemburg/1918/russrev/index.htm)
Die Loslösung von jeglicher Gesetzlichkeit kann nur propagieren, wer Ethik mit Parteilichkeit und Moral mit einer „Variablen des Klassenkampfes“ verwechselt. Genau dies haben Marx und Engels stets vermieden, da sie nicht nur die Normativität des Rechts, z.B. bei der Erkämpfung der Menschenrechte für alle , anerkannten, sondern auch, zumindest implizit, eine „Ethik des angemessenen Lebens, Arbeitens und Zusammenlebens“ (M. Möhring-Hesse) entwickelten. – Ebenso wenig wäre es Marx und Engels je in den Sinn gekommen, ihre Lehre für „allmächtig“, weil „richtig“ zu halten, wie Lenin es im Nachhinein tat. Marx bekannte sich zum „de omnibus dubitandum“ , d.h., dass grundsätzlich an allem zu zweifeln sei, und zu Folgendem: „Unser Wahlspruch muß also sein: Reform des Bewußtseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewußtseins, trete es nun religiös oder politisch auf.“ Wie sollte ein derart umfassendes Programm ohne generellen methodischen Zweifel zu verwirklichen sein? Noch skeptischer äußerte sich Engels, als er schrieb: „Das wertvollste Resultat dürfte dies sein, uns gegen unsere heutige Erkenntnis äußerst misstrauisch zu machen, da wir ja aller Wahrscheinlichkeit nach so ziemlich am Anfang der Menscheitsgeschichte stehen, und die Generationen, die uns berichtigen werden, wohl viel zahlreicher sein dürften, als diejenigen, deren Erkenntnis wir – oft genug mit beträchtlicher Geringschätzung – zu berichtigen im Falle sind.“ (MEW 20, S. 80).
Dass sozialistische Ziele ohne Blutvergießen, d.h. gegebenenfalls auch parlamentarisch zu erreichen wären, hielten Marx und Engels für möglich. Lenin nicht. Stattdessen rechtfertigte er zeitweise brutalsten Terror – wobei eine Ironie der Geschichte wohl darin bestand, dass in seinem neuen Staat genau das wiederhergestellt bzw. beibehalten wurde, was er unbedingt abschaffen wollte: die Bürokratie. … [31]
Theodor W. Adorno (1903-1969): das verdinglichte Bewusstsein
„Es gibt kein richtiges Leben im falschen." und: „Das Ganze ist das Unwahre".
Diese beiden Zitate sind wahrscheinlich diejenigen, die in der Sekundärliteratur über Adorno am häufigsten auftauchen. Das zweite richtet sich unmittelbar gegen Hegels Ansicht, „das Ganze“ (das mehr ist als die Summe seiner Teile) sei „das Wahre“. Adorno setzt sich damit zugleich von Lukács‘ Übernahme dieser Ansicht ab. Eine nähere Begründung findet sich u.a. in der folgenden Äußerung Adornos:„Kein Experiment wohl könnte die Abhängigkeit eines jeglichen Phänomens von der Totalität bündig dartun, weil das Ganze, das die greifbaren Phänomene präformiert, selbst niemals in partikulare Versuchsanordnungen eingeht.“ [32]
Ohnehin ist inzwischen hinlänglich bekannt, dass das Ganze des Seins weder überschaubar noch erfassbar ist – dies aus vielfältigen Gründen, die hier nicht wiederholt werden müssen. – Immerhin ist es möglich, von Adornos Kritik an der Totalitätsvergötzung ausgehend einen Überblick über den größeren Zusammenhang zu gewinnen, in dem Adornos Konzept des verdinglichten Bewusstseins entstanden ist. Dazu heißt es in einem Artikel der Zeitschrift ‚Glanz & Elend“:
„Es gibt kein richtiges Leben im falschen"; „Das Ganze ist das Unwahre": diese berühmten Kernsätze aus den „Minima Moralia" haben hier und in der Erfahrung des Exils zwischen 1933 und 1949, als Adorno aus den USA nach Frankfurt am Main zurückkehrt, ihren biographischen Kern. Das Ganze als undurchschauter ideologischer Verblendungszusammenhang, der den Einzelnen unmündig macht, indem er ihm schon die bloße freie Einsicht in die Möglichkeit des Heraustretens aus dem als naturwüchsig von den Subjekten empfundenen oppressiven Zusammenhang des Ganzen verwehrt. Aber ein solches sich dem falschen Ganzen Entziehen wäre ja möglich und Freiheit im antizipatorischen Vorgriff denkbar ja nur, wenn es sich erwiese, daß das Ganze eben nicht Alles ist, daß es gleichsam eine Perspektive gäbe, die mit dem Ganzen nicht identisch ist, aus der heraus das Ganze als das Unwahre zu erkennen wäre. Bei Hegel ist das Ganze bekanntlich das Wahre, das das Wirkliche und somit auch das Vernünftige ist. Die Widersprüche, an denen der Geist im Gang seiner Entwicklung zum Bewußtsein seiner Freiheit sich abarbeitet, sind am Ende dieses Entwicklungsganges, das zugleich das Ende der Geschichte darstellt, in einer widerspruchsfreien Totalität aufgehoben, die schlechthin Alles in sich einbegreift, weil sie Alles auf den Begriff seiner selbst gebracht und mit sich selbst und dem Ganzen vermittelt identisch gemacht hat. Von Hegel ausgehend und zugleich dessen systeminhärenten Totalitarismus kritisierend, beharrt Adorno auf dem Nicht-identischen, dem nicht begrifflich zugerichteten Objekt wie dem seiner Verdinglichung qua Absolutierung sich widersetzenden Subjekt, das sich dagegen verwahrt, mit dem unwahren Ganzen identifizierend in Eins gesetzt zu werden und so seines emanzipatorischen Anspruchs auf Glück sich zu begeben. Dieses Nichtidentische ist dasjenige, von dem, wie im Bilderverbot der jüdischen Religion, die auch diejenige Adornos war, nicht gesprochen werden darf anders als in der Weise der Negation. Negative Dialektik besteht hier unerbittlich auf dem Einkassieren der Hegelschen Versöhnung; Negativität verharrt in der ganzen Schwärze ihrer Unversöhnlichkeit, um gerade in diesem Fehlen jeder Hoffnung ein utopisches Moment die Nacht der Negativität erhellen zu machen. Einstweilen aber bleibt Alles dunkel: „Freiheit hat sich in die reine Negativität zusammengezogen, und was zur Zeit des Jugendstils in Schönheit sterben ließ, hat sich reduziert auf den Wunsch, die unendliche Erniedrigung des Daseins wie die unendliche Qual des Sterbens abzukürzen in einer Welt, in der es längst Schlimmeres zu fürchten gibt als den Tod". Ein Aufheben der Negativität bedeutete nichts als eine falsch versöhnliche Affirmation ans Bestehende, das als ebenso undurchschauter wie eben darum scheinbar unentrinnbarer gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang die Beziehungen der Subjekte untereinander bis in ihre innerste Vermitteltheit nach dem merkantilen Prinzip des Tauschverhältnisses organisiert. Das Ganze in seinem Vermitteltsein transparent zu machen, ist nach Adorno eben die Aufgabe der Dialektik: die in der denkenden Arbeit am Begriff sich vollziehende Auflösung von dessen gleichsam ontologisch verfestigter Statik des an sich Seienden, die Einsicht in die Vermitteltheit des Objekts durchs Subjekt ebenso wie die, daß das Subjekt ohne das Moment der Objektivität einfach nichts ist.“ [33]
Was Adorno unter Bewusstsein versteht, hat er wie folgt dargelegt:
„Das aber, was eigentlich Bewußtsein ausmacht, ist Denken in bezug auf Realität, auf Inhalt: die Beziehung zwischen den Denkformen. und -strukturen des Subjekts und dem, was es nicht selber ist. Dieser tiefere Sinn von Denkfähigkeit ist nicht einfach der formallogische Ablauf, sondern er stimmt wörtlich mit der Fähigkeit, Erfahrung zu machen, überein. Denken und geistige Erfahrung machen, würde ich sagen, ist ein und dasselbe. Insofern sind Erziehung zur Erfahrung und Erziehung zur Mündigkeit [...] miteinander identisch." [34]
Es fällt auf, dass Adorno hier „Denken“ und „geistige Erfahrung machen“ bzw. „Denk-fähigkeit“ und die „Fähigkeit, Erfahrung zu machen“ gleichsetzt. Damit reduziert er den Geist auf das Denken und das Subjekt-Sein auf Denken und Denkfähigkeit. Beide Verkürzungen sind jedoch fragwürdig, wenn nicht unzulässig. Wenn Adorno Geist und Subjekt auf das Denken reduziert, verkürzt er auch den Bewusstseins-Begriff, denn dieser ist weitgehend identisch mit demjenigen des Geistes – verstanden als dialektische Subjekt-Objekt-Beziehung – und demjenigen des Subjekts mit seiner Fähigkeit zu eben diesem Bezug. Ein weiter Begriff des Bewusstseins umgreift die Tatsache, dass das Subjekt – auch und gerade als Ich – in der Einheit von Leib, Seele und Geist existiert.
Unter diesen Vorbehalten ist auch dasjenige zu betrachten, was Adorno unter dem „verding-lichten Bewusstsein“ versteht, während seine verkürzten Begriffe des Subjekts und des Geistes hier nicht zur Debatte stehen.
„Verdinglichtes Bewusstsein“ scheint mit dem „falschen Bewusstsein“ und zugleich mit dem kapitalistischen „Verblendungszusammenhang“ identisch zu sein. Wie Marx und Lukács beklagt Adorno die Tatsache, dass im Kapitalismus immer mehr die menschlichen Beziehungen zu Waren werden. Adorno erklärt:
„Der Tausch hat als Vorgängiges reale Objektivität und ist zugleich objektiv unwahr, vergeht sich gegen sein Prinzip, das der Gleichheit; darum schafft er notwendig falsches Bewusstsein, die Idole des Marktes.“ [35]
Dieser Zwangsläufigkeit kann sich anscheinend niemand entziehen. Für Adorno ist der Warentausch ein „gesellschaftliches Apriori“, das zwar „objektiv deduziert“ wird, dabei aber die Ware zum Fetisch macht (ebd.). So dass sogar der Markt selbst zum Fetisch wird. Mit üblen Folgen für das Ich, das Subjekt:
„Die universale Herrschaft des Tauschwerts über die Menschen, die den Subjekten a priori versagt, Subjekte zu sein, Subjektivität selber zum bloßen Objekt erniedrigt, relegiert jenes Allgemeinprinzip, das behauptet, es stifte die Vorherrschaft des Subjekts, zur Unwahrheit. Das Mehr des transzendentalen ist das Weniger des selbst höchst reduzierten empirischen Subjekts.“ [36]
Es sind „Verdinglichungsmechanismen“, die den Einzelmenschen in „existentielle Grundab-hängigkeit“ zwingen (ebd.). Subjektivität verkommt zu bloßer Objekthaftigkeit, obwohl das Ich der objektiven Gesellschaft nahezu alles verdankt. Dazu bemerkt Dirk Schuck, die Ver-dinglichung verlaufe „durch die Subjekte hindurch“, wobei dies den Subjekten zumeist gar nicht bewusst sei. Zumal das Subjekt hierbei durchweg irrational reagiere, nämlich mit Angst, wozu Adorno erklärt:
„Sicherlich kommt das rationale ökonomische Verhalten des Individuums nicht bloß durch den ökonomischen Kalkül, das Gewinnstreben, zustande. […] Wesentlicher als subjektives Motiv der objektiven Rationalität ist die Angst. Sie ist vermittelt. Wer sich nicht nach den ökonomischen Regeln verhält, wird heute selten sogleich untergehen. Aber am Horizont zeichnet die Deklassierung sich ab.“ [37]
Genau dies aber trage wesentlich zur Schwächung des Ichs bei, wozu Adorno feststellt:
„Die Ich-Schwäche heute, die gar nicht nur psychologisch ist, sondern in der der seelische Mechanismus die reale Ohnmacht des Einzelnen gegenüber der vergesell-schaften Apparatur registriert, wäre einem unerträglichen Maß an narzißtischer Krän-kung ausgesetzt, wenn sie nicht, durch Identifikation mit der Macht und Herrlichkeit des Kollektivs, sich einen Ersatz suchen würde. Eben dazu taugen die pathischen Meinungen, die unaufhaltsam aus dem infantil narzißtischen Vorurteil hervorgehen, man selber sei gut und was anders ist, minderwertig und schlecht.“ (a.a.O. S. 73)
Die reale Ohnmacht gegenüber der allgegenwärtigen Verdinglichung durch die Warenwelt versucht das Ich also zu kompensieren, indem es sich aus Vorurteilen und Ressentiments eine Scheinwelt aufbaut, in der es fälschlicherweise eine moralische Überlegenheit gegenüber den anderen beansprucht. Lobecks Rekonstruktion von Adornos Konzepten der Prozesse der Verdinglichung lässt sich anhand der folgenden Kernsätze zusammenfassen:
1. Adorno schränkt das Phänomen Verdinglichung keineswegs auf den Warentausch ein.
2. Verdinglichung ist auch „nicht nur eine gesellschaftliche Kategorie, das gesellschaft-liche Apriori“.
3. „Verdinglichung bezeichnet all das, was in irgendeiner Weise erhärtet, erstarrt, festge-fahren, schematisiert, definiert usw. ist und somit der Lebendigkeit, aus der es entstanden ist, entbehrt.“ (Lobeck a.a.O. S. 131)
4. Für Adorno tritt Verdinglichung auch dort ein, „wo spontanes Denken nicht mehr offen ist für Neues, sondern sich aufs Gängige beschränkt; dort auch, wo die Breite spontan möglicher Erfahrung menschlicher Begegnung zu einem kalten Verhaltens-schema erstarrt.“ (a.a.O. S. 132)
5. Selbst das wissenschaftliche Forschen könne durch Verdinglichung beeinträchtigt werden, so schon durch die Verengung des Beobachtungsfeldes bei empirischen bzw. experimentellen Verfahren (ebd.).
Verursacht werde all dies nicht zuletzt auch durch das, was Adorno und Horkheimer als „Kulturindustrie“ bezeichnen, wobei Adorno präventiv anmerkt:
„Der Begriff Industrie ist dabei nicht wörtlich zu nehmen. Er bezieht sich auf die Stan-dardisierung der Sache selbst – etwa die jedem Kinobesucher geläufige der Western – und auf die Rationalisierung der Verbreitungstechniken, nicht aber streng auf den Pro-duktionsvorgang.“ [38]
Dabei bezieht Adorno den Begriff Verdinglichung keineswegs nur auf das jeweilige Kultur-Phänomen, sondern weitet ihn aus u.a. auf Politik, Gesellschaft, Ökonomie und Wissenschaft. Was ihn nicht daran hindert, die Verdinglichung durch Kulturindustrie im engeren Sinn unter die Lupe zu nehmen, indem er feststellt:
„Kulturindustrie ist zugeschnitten auf die mimetische Regression, aufs Manipulieren der verdrängten Nachahmungsimpulse. Dabei bedient sie sich der Methode, die Nach-ahmung ihrer selbst durch den Betrachter vorwegzunehmen, und das Einverständnis, das sie bewirken will, als bereits bestehendes erscheinen zu lassen. […] Ihr Produkt ist gar kein Stimulus, sondern ein Modell für Reaktionsweisen auf nicht vorhandene Reize. Daher im Lichtspiel der begeisterte Musiktitel, die alberne Kindersprache, die blinzelnde Volkstümlichkeit, noch die Großaufnahme des Starts ruft gleichsam aus: wie schön! Mit diesem Verfahren rückt die Kulturmaschine dem Betrachter so nahe auf den Leib wie der frontal photographierte Schnellzug im Spannungsmoment.“ (Adorno a.a.O. S. 81, so in Minima Moralia in dem Aphorismus ‚Dienst am Kunden‘.)
Wie die Eltern, die sich in bestimmten Situationen der Kindersprache bedienen, begibt Kulturindustrie sich – zum Schein – auf die Ebene ihrer Kunden, um ihnen ein „Idealbild“ vorzugaukeln, das in Wirklichkeit in einem autoritären Bild dessen besteht, „was sie als Befriedigung zu empfinden haben“ (ebd.). Geht es dabei um das sogenannte „Amusement“, gilt Ähnliches:
„Es wird von dem gesucht, der dem mechanisierten Arbeitsprozess ausweichen will, um ihm von neuem gewachsen zu sein. Zugleich aber hat die Mechanisierung solche Macht über den Freizeitler und sein Glück, sie bestimmt so gründlich die Fabrikation der Amüsierwaren, dass er nichts anderes mehr erfahren kann als die Nachbilder des Arbeitsvorganges selbst. […] Daran krankt unheilbar alles Amusement. Das Vergnügen erstarrt zur Langeweile, weil es, um Vergnügen zu bleiben, nicht wieder Anstrengung kosten soll und daher streng in den ausgefahrenen Assoziationsgeleisen sich bewegt.“ (Adorno a.a.O. S. 53)
Was ja inzwischen auch z.B. im Fernsehen „zu einem beliebten Sendeformat“ geworden ist (ebd.). Dem entspricht die völlig konsumtive Grundhaltung der „Kunden“; wozu D. Schuck anmerkt:
„Was kulturindustrielle Rezeptionsschemata qualitativ auszeichnet, lässt sich daher nicht eindeutig auf die klare Differenz von Unbewusstsein zu Bewusstsein bringen, und erschöpft sich auch nicht in der Vorstellung einer einfachen Bedürfnismanipula-tion.“ (Schuck a.a.O. S. 53 f.)
Explizit bei Adorno:
„Der Zuschauer soll keiner eigenen Gedanken bedürfen: das Produkt zeichnet jede Reaktion vor: nicht durch seinen sachlichen Zusammenhang – dieser zerfällt, soweit er Denken beansprucht – sondern durch Signale. Jede logische Verbindung, die geistigen Atem voraussetzt, wird peinlich vermieden. Entwicklungen sollen möglichst aus der unmittelbar vorausgehenden Situation erfolgen, ja nicht aus der Idee des Ganzen.“ (a.a.O. S 54, wobei Adorno hier wohl nicht die von ihm kritisierte philosophische Kategorie des Ganzen meint, sondern die partielle Ganzheit eines bestimmten medialen Produkts.)
Die Folgen von Konsumismus und Passivierung durch die kommerziellen Unterhaltungs-produkte hält Adorno für gravierend; denn er konstatiert:
„Die neue Ideologie hat die Welt als solche zum Gegenstand. Sie macht vom Kultus der Tatsache Gebrauch, in dem sie sich darauf beschränkt, das schlechte Dasein durch möglichst genaue Darstellung ins Reich der Tatsachen zu erheben. Durch solche Übertragung wird das Dasein selber zum Surrogat von Sinn und Recht.“ (a.a.O. S. 58)
Es sind Folgen der „Ästhetisierung der Lebenswelt“ durch die Kulturindustrie (Schuck ebd.), in der die Differenz zwischen dem medial Dargestellten und dem tatsächlichen Lebensalltag mehr und mehr verschwindet, was sich negativ auch auf die Einstellung der „Kunden“ gegenüber ihrer eigenen Situation auswirkt, wozu Schuck schreibt:
„Verdinglichung“ im Zeitalter der Kulturindustrie vollzieht sich wesentlich als die mimetische Einübung von bereits gehaltvollen Haltungen oder Gesten, wie z.B. des Gestus einer realitätsgerechten Resignation vor der faktischen Unausweichlichkeit eines eigentlich zermürbenden Arbeitslebens.“ (ebd.)
Was aber keineswegs auf das „Amusement“ beschränkt bleibt, sondern, wie es in der Dialek-tik der Aufklärung heißt:
„Je weniger die Kulturindustrie zu versprechen hat, je weniger sie das Leben als sinnvoll erklären kann, um so leerer wird notwendig die Ideologie, die sie verbreitet. Selbst die abstrakten Ideale der Harmonie und Güte der Gesellschaft sind im Zeitalter der universalen Reklame zu konkret. Gerade die Abstracta hat man als Kunden-werbung zu identifizieren gelernt. Sprache, die sich bloß auf Wahrheit beruft, erweckt einzig die Ungeduld, rasch zum Geschäftszweck zu gelangen, den sie in Wirklichkeit verfolge. Das Wort, das nicht Mittel ist, erscheint als sinnlos, das andere als Fiktion, als unwahr. Werturteile werden entweder als Reklame oder als Geschwätz vernommen.“ [39]
Worin sich u.a. der „Betrugscharakter“ der Kulturindustrie offenbare. Was als „Amusement“ daherkommt, dient vor allem der Profitmaximierung der Anbieter. Das Individuum wird förmlich überwältigt, mit üblen Folgen auch für das Zusammenleben der Menschen in angeb-lich demokratischen Gemeinwesen, so dass Adorno folgerichtig auf eine zunehmende Anfälligkeit für anti-demokratische, totalitäre, plump-populistische Ideen schließt:
„Wenn sie leben wollen, bleibt ihnen nichts übrig, als dem Gegebenen sich anzupassen, sich zu fügen; sie müssen eben jene autonome Subjektivität durchstreichen, an welche die Idee von Demokratie appelliert, können sich selbst erhalten nur, wenn sie auf ihr Selbst verzichten. Den Verblendungszusammenhang zu durchschauen, mutet ihnen eben die schmerzliche Anstrengung der Erkenntnis zu, an welcher die Einrichtung des Lebens, nicht zuletzt die zur Totalität aufgeblähte Kulturindustrie, sie hindert. Die Notwendigkeit solcher Anpassung, die zur Identifikation mit Bestehendem, Gegebenem, mit Macht als solcher, schafft das totalitäre Potential. Es wird verstärkt von der Unzufriedenheit und der Wut, die der Zwang zur Anpassung selber produziert und reproduziert. Weil die Realität jene Autonomie, schließlich jenes mögliche Glück nicht einlöst, die der Begriff von Demokratie eigentlich verspricht, sind sie indifferent gegen diese, wofern sie sie nicht insgeheim hassen.“ [40]
Eine Erkenntnis, die anscheinend nichts von ihrer Aktualität verloren hat. – Wenn gegenwärtig auch noch die Künstliche Intelligenz als neues, unübertreffliches Herrschafts-instrument hinzutritt, ist der Weg nicht nur zu einer völligen Entmündigung der breiten Masse der Bevölkerung, sondern zur Abdankung der gesamten Menschheit zu Gunsten superintelligenter KI-Roboter vorgezeichnet. [41] –
An Adornos Konzepten hat es natürlich auch Kritik diverser Art und Provenienz gegeben. Zwar hat Adorno selbst gelegentlich sein Konzept der Verdinglichung relativiert, da es erkennbar keine unmittelbare Verbesserung der Situation der Lohnabhängigen herbeiführte. Dass Adorno trotzdem immer wieder die Beseitigung der Verdinglichung und ihrer Ursachen forderte, wurde allerdings keineswegs ausschließlich positiv gewürdigt. Schuck wirft ihm vor, er zeichne mit seinen „Denkbildern“ eine „Welt, die für ein selbstbestimmtes Leben in ihr meist schon eine bittere und verlorene ist“ (a.a.O. S. 87). Adornos Perspektive erweise sich in bestimmter Hinsicht als „unwahr“, denn sie habe „selbst einen Zug der Respektlosigkeit vor dem Individuum angenommen, die sie der Kulturindustrie vorwirft“. Zudem habe Adorno „seine eigene Sprecherposition oft nicht hinreichend reflektiert“ (S. 88). Mit seinem durch und durch psychoanalytischen Ansatz entferne er sich außerdem nicht nur von Marx, sondern auch von einer sachgerechten Behandlung der Themen. Ohnehin verkenne Adorno Grundle-gendes:
„Er vergisst die im Begriff der „Kulturindustrie“ nicht mehr enthaltene, konkrete soziale Umwelt des Individuums.“ (Schuck a.a.O. S. 89)
Was Schuck nicht erwähnt: Im globalisierten neoliberalen Kapitalismus der Gegenwart hat sich die Verdinglichung sozusagen verfestigt und scheinbar „alternativlos“ gemacht. Gegen-maßnahmen der Politik sind kaum erkennbar. Verbindet man Adornos Kritik mit der Systemfrage, ergibt sich möglicherweise eine neue Herkules-Aufgabe, die vielleicht nur dann überhaupt in Angriff genommen werden kann, wenn Aussicht besteht, die Menschen wirklich zu erreichen, d.h. ihnen helfen zu können, ihre wahren Interessen geltend zu machen und durchzusetzen.
Wofür substantielle Hilfe und Unterstützung wohl auch zu finden sein dürfte bei:
Ernst Bloch (1885-1977): Noch-Nicht-Bewusstes, Tagtraum, Veränderungsethik
a) das Noch-Nicht
Mit dem Noch-Nicht-Bewussten gewinnt das Unbewusste eine ganz neue Qualität, die bisher kaum beachtet wurde. In Blochs marxistischer Analyse verbindet sich das Unbewusste als Noch-Nicht-Bewusstes mit dem Bewusstsein im weitesten Sinne, nämlich mit dem bewussten Sein in umfassenden, dialektischen Subjekt-Objekt-Beziehungen – ohne dass daraus ein totalitäres System entsteht.
Für Bloch gehört das Noch-Nicht zu dem Unbewussten, das effektiv auch im Tagtraum mitschwingt (s.u.). Wodurch allerdings eine „letzte psycho-logische Bestimmtheit des Tagtraums“ zu erläutern sei. 42 Es gehe um das Unbewusste „der anderen Seite, der Dämmerung nach vorwärts“, wozu es noch keine Psychologie gebe. Dieses Unbewusste sei „unnotiert“ geblieben, „obwohl es den eigentlichen Raum der Bereitschaft zum Neuen und der Produktion des Neuen“ darstelle (ebd.).
Das Noch-Nicht-Bewusste erscheine als Substrat in „Jugend, Zeitwende, Produktivität“, und zwar in weit ausgebreiteten Feldern des Utopischen, was ein weiterer Grund dafür sein dürfte, das diese Qualität des Unbewussten so wenig Beachtung gefunden hat. Es geht um Unergründetes, auch bis dato Unbekanntes, aus dem ganz Neues entspringt:
„Das Noch-Nicht-Bewußte ist so einzig das Vorbewußte des Kommenden, der psychische Geburtsort des Neuen. Und es hält sich vor allem deshalb vorbewußt, weil eben in ihm selber ein noch nicht ganz manifest gewordener, ein aus der Zukunft erst heraufdämmernder Bewußtseinsinhalt vorliegt. Gegebenenfalls sogar ein erst objektiv in der Welt entstehender; so in allen produktiven Zuständen, die mit nie Dagewesenem in Geburt stehen. Dazu ist der Traum nach vorwärts disponiert, damit ist Noch-Nicht-Bewußtes als Bewußtseinsweise eines Anrückenden geladen; das Subjekt wittert hier keinen Kellergeruch, sondern Morgenluft.“ (a.a.O. S. 132)
Näheres und Weiteres hierzu erörtert Bloch im 15. Kapitel von Das Prinzip Hoffnung (S. 129-203).
b) das Konzept Tagtraum
Tagträume hat wohl jeder Mensch. Aber nicht jede/r ist sich dessen bewusst. Und nicht jede/r erkennt Sinn und mögliche Funktionen des Tagtraums, zumal als Brücke zwischen Bewusstem und Unbewusstem. Umso wertvoller sind die Überlegungen, die Ernst Bloch in seinem Prinzip Hoffnung (1959) dazu angestellt hat (dort im 14. Kapitel unter der Überschrift Grundsätzliche Unterscheidung der Tagträume von den Nachtträumen. Versteckte und alte Wunscherfüllung im Nachttraum, ausfabelnde und antizipierende in den Tagphantasien , S. 96-128).
Darin weist Bloch zunächst darauf hin, dass der Tagtraum keinesfalls – wie bei Freud – als „Vorstufe des nächtlichen Traums“ aufzufassen sei. Denn:
„ … die Menschen träumen nicht nur nachts, durchaus nicht. Auch der Tag hat dämmernde Ränder, auch dort sättigen sich Wünsche. Anders als der nächtliche Traum zeichnet der des Tages frei wählbare und wiederholbare Gestalten in die Luft, er kann schwärmen und faseln, aber auch sinnen und planen. Er hängt auf müßige Weise (sie kann jedoch der Muse und der Minerva nahe verwandt werden) Gedanken nach, politischen, künstlerischen, wissenschaftlichen. Der Tagtraum kann Einfälle liefern, die nicht nach Deutung, sondern nach Verarbeitung verlangen, er baut Luftschlösser auch als Planbilder und nicht immer nur fiktive.“ (a.a.O. S. 96)
An Hand dieser Abgrenzung will Bloch – nachdem er zuvor kurz über leichtere Tagträume mit „bloß erst inwendigen Bildern“ berichtet hat – nunmehr die Bedeutung der Tagträume auch und gerade für sein Hauptthema Hoffnung erforschen. Entschieden zurück weist er Freuds Meinung, die Tagträume seien lediglich „Kern und Vorbilder der nächtlichen Träume“ (a.a.O. S. 97). Nachtträume beruhten nämlich zumeist „auf zurückliegendem Triebleben“, aber ohne die „Vorauseilungen, Antizipationen“ der Tagträume, die ohnehin ganz anders strukturiert seien (S. 97 f.), mit der Folge:
„Also verlangt der Tagtraum spezifische Auswertung, denn er geht in ein ganz anderes Gebiet und öffnet es. Er reicht vom Wachtraum bequemer, läppischer, roher, fluchtar- tiger, abwegiger und lähmender Art bis zum verantwortlichen, scharf-tätig in die Sache eingesetzten und zum gestalteten der Kunst. Vor allem zeigt sich: die >Träumerei< kann zum Unterschied vom nächtlich üblichen >Traum< gegebenenfalls Mark enthalten und statt des Müßiggangs, ja der Selbstentnervung, die es gewiß hier gibt, einen unermüdenden Antrieb, damit das Vorgemalte auch erreicht werde.“ (S. 98)
Auf diese Einführung folgt Blochs nähere Analyse des Tagtraums, wobei er bei diesem vier „Charaktere“ unterscheidet, und zwar
1. „Freie Fahrt“. Anders als beim Nachttraum verfügen wir selbst über den Tagtraum.
2. „Erhaltenes Ego“. Der Tagtraum strebt ein besseres Ich an.
3. „Weltverbesserung“.
4. „Fahrt ans Ende“. Man sucht die Erfüllung.
„Fahrt ans Ende“ will sagen, dass der Tagtraum – anders als der Nachttraum – den „Erfüllungsort“ sucht. Realität erscheint nicht mehr, wie bei Freud, als mechanisch-unveränderlich, sondern als utopisch-wandelbar in der Fahrt des Tagtraums „ans gutgewordene Ende“; und speziell in Kunstwerken erscheinen „In-halte eines noch unbekannten Endzustands“. Wobei auffällt, dass Bloch hier schon seine völlig neue Kategorie, die des Noch-Nicht , erahnen lässt, wenn er bemerkt:
„Der Inhalt des Nachttraums ist versteckt und verstellt, der Inhalt der Tagphantasie ist offen, ausfabelnd, antizipierend, und sein Latentes liegt vorn.“ (S. 111)
Dabei geht es nicht zuletzt um „Selbst- und Welterweiterung …, Besserhaben-wollen, oft Besserwissenwollen durchaus“ (ebd.). Fazit:
„Der Tages-Wunschtraum bedarf keiner Ausgrabung und Deutung, sondern der Berichtigung und, sofern er dazu fähig ist, der Konkretion. Kurz, er hat zwar so wenig wie der Nachttraum ein Maß, doch er hat, zum Unterschied vom Nachtspuk, ein Ziel und macht sich zu ihm nach vorwärts heraus.“ (ebd.)
Woraus sich, nahezu naturwüchsig, ein Vorschein auf Blochs grundlegende Entdeckung des Noch-Nicht-Bewussten (s.o.) und somit wohl auch auf alle anderen Sphären des Unbewussten auftut. Blochs Konzept Tagtraum bildet jedenfalls eine Brücke zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten.
c) Veränderungsethik
Seine Konzepte des Noch-Nicht-Bewussten und des Tagtraums verbindetBloch problemlos mit seiner Veränderungsethik. Diese soll dazu dienen, reale Freiheit zu erkämpfen, wozu er in seinen Politischen Messungen (1977, S. 252) schreibt: „Einzig diese Veränderungs-Ethik hebt so die bloße Wandelgalerie der bisherigen Ethik-Geschichte auf.“ Wodurch nicht alle vorherige Ethik obsolet, sondern kritisch beerbbar wird, und zwar nicht zuletzt auch zu Gunsten konkreter politischer Praxis, wozu Bloch anmerkt: „Eine wirklich ermunternde Ethik kann so anfangen, gegen Entmenschung gerichtet, mit Theorie-Praxis hin zum Citoyen. Vermutet man mit Kant, die wahre Politik könne keinen Schritt tun, ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben, so ist das richtig, aber nur, weil auch die wahre Moral in dieser unserer Zeit keinen Schritt tun kann, ohne Politik zu sein, revolutionäre.“ (ebd.) Was nicht bedeutet, dass Moral endgültig in Politik aufzugehen habe, denn: „Politik löst weder die Individualkonflikte unterhalb ihrer vollständig auf (etwa das >kommunistische Vergißmeinnicht< der Geschlechtsliebe) noch erläutert und erhellt sie das Wozu, das Summum bonum und gar das Dunkel des Todes.“ (a.a.O. S. 253). Auch und gerade in der Veränderungsethik verleiht erst die Moral der Einzelperson ihre Würde, und zwar sowohl in der Klassengesellschaft als auch in einem zukünftigen Reich der Freiheit einer Klassenlosen Gesellschaft: „Man stirbt nicht für ein durchorganisiertes Produktionsbudget; unsere Totalität ist keine nur politisch abmachbare, geschweige bloß ein Rat- und Lehrinhalt der Politik. Dem Kämpfer fürs Reich der Freiheit fällt die Sittlichkeit von selber zu, doch daß er ein Kämpfer sei, dies steht nicht in der kommunistischen Politik, sondern nur in der kommunistischen Moral geschrieben. “ (ebd. Hervorhebungen durch mich.)
Was den Kampf für das Reich der Freiheit beflügelt, ist nicht nur revolutionäres Bewusstsein, sondern auch „Glaube, Liebe, Hoffnung in der Beziehung der Menschen“, dies sogar als „das letzte moralische Agens der Revolution“! (ebd.)
Wenn Bloch von Veränderung spricht, meint er das Heranrücken an die „Wahrheit des Sozialen“ = Sozialismus, an Marxens Reich der Freiheit bzw. „die Verwirklichung der sozialen Utopie als Vorbedingung zur Realisierung des metaphysisch höchsten Gutes“ (H.-E. Schiller), und damit ein Desiderat, das auch im 21. Jahrhundert nichts von seiner brisanten Aktualität verloren hat.
Wie aber soll die Veränderung möglich sein? Zweifellos nicht ohne konkrete Analysen der konkreten Situationen, mit denen wir heute – eminent spürbar – nicht nur durch den globalen Kapitalismus, sondern, in dessen Gefolge, immer mehr auch durch die schleichende Öko-Katastrophe konfrontiert sind. Da türmen sich Probleme – nicht zuletzt auch psychologischer bzw. „seelsorgerischer“ Art – auf, die ohne philosophische Orientierung anscheinend nicht zu bewältigen sind.
Blochs Ethik hilft auch hier weiter. Für ihn gibt es keine Moral ohne Naturrecht, aber dieses reicht nicht aus, um jene zu begründen. Vielmehr geht Bloch davon aus, dass „große Moral“ dem Naturrecht sogar überlegen, „übergeordnet“ ist. Dabei handelt es sich allerdings um eine unvollendete Moral, die auf die Utopie des Reichs der Freiheit verpflichtet bleibt und sich nur dort vollständig wird verwirklichen lassen. Und damit zugleich als sogar dem Naturrecht übergeordneter Maßstab dient, und zwar nicht nur für die Zukunft, sondern auch für jegliche Praxis im Hier und Jetzt. Dem entspricht die Tatsache, dass Bloch genuin ökologisch denkt und argumentiert; dies schon auf Grund seines Natur-Begriffs, wonach Natur zunächst als ‚natura naturans‘, d.h. als schöpferische Macht und (mögliches) „Natursubjekt“ zu begreifen ist, als eine Macht, von der Schelling erklärt, sie sei „ihre eigene Gesetzgeberin“, die als solche keineswegs bloß naturwissenschaftlich, z.B. durch Atom- und Feldtheorien, adäquat zu verstehen ist.
In Anerkennung dieser Qualitäten entwickelt Bloch eine neue Allianztechnik mit der Natur, in der diese nicht mehr in kapitalistischer Manier rücksichtslos ausbeuterisch missbraucht, sondern als mögliches (hypothetisches) Subjekt geachtet wird, wobei stets auch das Wie des Umgangs mit den Naturschätzen, z.B. bei der Rohstoffgewinnung und -verarbeitung, kritisch zu überprüfen ist. Es geht um eine Allianztechnik, die zwar erst in einer klassenlosen Gesellschaft, d.h. nicht ohne „soziale Revolution“ voll zu verwirklichen sei; zuvor aber als Kompass und Leitstern jeglicher emanzipatorischer Praxis – und damit möglicherweise auch als Grundlage jeglicher Öko-Ethik. [43] –
Unvollständig wäre dieser Überblick über das Phänomen Bewusstsein, ließe man außer Acht den Altmeister der Hermeneutik:
Hans-Georg Gadamer (1900-2002) und das wirkungsgeschichtliche Bewusstsein,
dargelegt in dem Hauptwerk Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960), in der das Bewusstsein als Träger und Vermittler von Wirkungs-geschichte auftritt. Für Gadamer ist es eine Erscheinungsform des „ unendlichen Bewusst-seins“, womit die Objekt-Seite der Subjekt-Objekt-Dialektik des Bewusstseins bis ins Unermessliche verstärkt wird. Es ist Rilke s „Ball“, den man nicht selber wirft, sondern den „eine ewige Mitspielerin“ einem zuwirft, und zwar „in genau gekonntem Schwung, in einem jener Bögen aus Gottes großem Brückenbau“, in dem Welt und Ich ineinander übergehen, miteinander „verschmelzen“, wenn auch nicht zur ganzen Welt, sondern zu „einer Welt“, wie Rilke sagt. [44]
Gadamer hat hierfür auch den Begriff „Horizontverschmelzung“ geprägt, demzufolge es legi-time Vor-Urteile gibt, die in unserem Verstehen stets mitschwingen, so dass wir gehalten sind, uns diese Vor-Urteile immer wieder bewusst zu machen und möglichst transparent anzugeben, zumal sie den je eigenen „Horizont einer Gegenwart“ mitbestimmen, den wir nicht leugnen und nicht verlassen können. Wobei es sich jedoch nicht um statische, unveränderliche Gebilde, einen angeblich “festen Bestand von Meinungen und Wertungen“, handelt, wozu Gadamer erklärt:
„In Wahrheit ist der Horizont der Gegenwart in steter Bildung begriffen, sofern wir alle unsere Vorurteile ständig erproben müssen. Zu solcher Erprobung gehört nicht zuletzt die Begegnung mit der Vergangenheit und das Verstehen der Überlieferung, aus der wir kommen. Der Horizont der Gegenwart bildet sich also gar nicht ohne die Vergangenheit. Es gibt so wenig einen Gegenwartshorizont für sich, wie es historische Horizonte gibt, die man zu gewinnen hätte. Vielmehr ist Verstehen immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte .“ (a.a.O. S. 289)
Dies führt unweigerlich auf den Begriff Verstehen, den Gadamer für grundlegend hält, und zwar nicht nur für jede analytische Tätigkeit, sondern in jeglichem Lebensvollzug. Was also heißt Verstehen? Raschen Überblick ermöglichen einige wenige Grund-Sätze (Leitsätze) der Verstehenslehre, die samt und sonders, zumindest sinngemäß, in ‚Wahrheit und Methode‘ zu finden sind. Ich meine
1. Das Missverständnis ergibt sich von selbst, während das Verstehen immer erst gesucht werden muss.
Und wieso ergibt sich das Missverständnis von selbst? Sorgen nicht unsere „Spiegel-Neuronen“ („Imitations-Neuronen“) stets für das Gegenteil? Angeblich sichern diese Neuronen nicht nur Mitgefühl, Einfühlungsvermögen und Mitleiden-Können (Empathie), sondern auch jede Art von Verstehen, zumal in sprachlicher Kommunikation. Angeblich. Die Forschungslage sieht jedoch anders aus. „Zahlreiche Unstimmigkeiten in den Theorien der Spiegelneuronen-Verfechter“ hat der Hirnforscher Gregory Hickok herausgefunden. Und Kai Vogeleyfügthinzu: „Welche Funktion Spiegelneuronen haben, ist eine offene Frage. …“ Das Verstehen lässt sich mit ihnen (noch?) nicht erklären – und auch nicht die unbestreitbare Tatsache, dass zwischen Menschen immer wieder Missverständnisse das Verstehen verhindern. Woran liegt es denn dann? Mit Sicherheit zunächst an der simplen unbestreitbaren Tatsache, dass Menschen unverwechselbare Individuen sind, deren Individualität sich schon vorgeburtlich herausbildet, und zwar u.a. durch die Anfänge des Wertens. – Damit beginnen auch meine ‚Wege zum Sinn‘ (Hamburg 2015). Werte sind offenbar vorhanden, noch ehe wir uns ihrer sprachlich bzw. intellektuell bewusst werden. Werte-Konflikte sind vorprogram-miert, können aber gelöst werden, wenn auch nicht immer. Wir können das Verstehen anstreben, aber warum? Weil Werte automatisch Sinn ergeben? Nicht ohne Weiteres! Vielleicht bedarf es sogar einer Theorie des Sinns , um Werte beurteilen zu können, so dass Wert-Konflikte lösbar, wenn nicht vermeidbar werden.
2. Man kann eine Person besser verstehen als sie sich selbst versteht.
Schleiermacher(1768-1834) bezog diesen Satz auf Schriftsteller/innen, natürlich als Personen. Gadamer sah in diesem Satz sogar „das eigentliche Problem der Hermeneutik beschlossen“. [45]
Warum? Laut Gadamer: Wer eine „Produktion“ (d.h. jegliche Art von Äußerung und Mitteilung) einer Person verstehen will, bemüht sich um „Reproduktion“, d.h. um einen Nachvollzug dessen, was die Person mitteilt. In diesem Nachvollzug entsteht aber ein „Mehr an Erkenntnis“, und zwar durch den als „Interpretation“ verstehbaren Akt des Verstehens selbst (ebd.). Wobei ein gewichtiger Unterschied ausschlaggebend zu sein scheint: Wer – als Produzierende/r – etwas äußert, mitteilt, kommuniziert, vollzieht damit noch keineswegs einen Akt des Verstehens. Der/die Produzierende ist im Augenblick des Produzierens nicht Interpret/in der Äußerung der eigenen Person. Man versteht nicht, sondern handelt, indem man produziert. Es ist vielmehr der/die Adressat/in, der/die das Gesagte, Geschriebene, Getane verstehen will, verstehen muss, wenn die Kommunikation aufrecht erhalten bleiben soll. Bei Gesprochenem erkennen wir oft erst an Mimik und Gestik, was unser Gegenüber meint und uns mitteilen will; Gesagtes will als Gemeintes verstanden werden – Verstehensleistungen, die dem/der jeweiligen Produzenten/in gar nicht abverlangt werden (können). Folglich verstehen wir – jedenfalls im Augenblick des Verstehens – die handelnde/schreibende/redende Person besser als sie sich selbst „versteht“. (Denn sie kann sich selbst ja nicht unmittelbar, sondern allenfalls im Nachhinein, gestützt auf zeitlichen Abstand, überhaupt verstehen.)
3. Man versteht anders, wenn man überhaupt versteht.
Wie kommt Gadamer zu dieser Behauptung? Fruchtbar werden soll der (Zeiten-)Abstand zwischen Urhebern und Interpreten. Verstehen bedeutet – zumindest sprachlich – Sinn-Verstehen. Sinn erschließt sich aber erst aus größeren Zusammenhängen, möglicherweise ganz anderen als denen, die für den Akt der Produktion maßgeblich waren. „Daher ist Verstehen kein nur reproduktives, sondern stets auch ein produktives Verhalten.“ (Gadamer a.a.O. S. 280), und zwar nicht im Sinne von „Besserverstehen“, sondern weil das reproduzierende Verstehen eben etwas Anderes ist als das Produzieren, so dass Gadamer folgert: „Es genügt zu sagen, daß man anders versteht, wenn man überhaupt versteht .“ (ebd.)
4. Verstehen und Verständigung
Generell sind Verstehen und Verständigung, Konsens und Übereinkunft möglich, weil die Welt nicht nur aus unterschiedlichen Subjekten besteht. Übereinkommen, sich verständigen können unterschiedliche Subjekte über gemeinsame Objekte in gemeinsamen Objekt-Welten. Über einen Vertragstext kann man sich einigen, wenn die Vertragspartner/innen den Text sprachlich verstanden und inhaltlich über Bedeutung, Sinn und Tragweite des Textes Einigkeit erzielt haben. Die Aussagen des Textes müssen zutreffen, wahrsein, d.h. mit ihren Referenz-Objekten (den Personal-Angaben, Sachverhalten, Bewertungen usw.) überein-stimmen (‚adaequatio rei et intellectus‘, die Korrespondenztheorie der Wahrheit, die sich – zumindest im Alltagsleben – nach wie vor bewährt!). Ein Mietvertrag ist objektiv und intersubjektiv gültig, ohne dass Mieter und Vermieter deshalb ihre subjektiven, persönlichen Identitäten aufzugeben hätten. „Schnittmengen“ zwischen Subjekten ergeben sich dann, wenn ihre Objekt-Welten sich überschneiden. Verstehen beruht nicht zuletzt auf Übereinkünften hinsichtlich gemeinsamer Objekte, auch wenn die Objekt- Interessen (das subjektive Interesse an bestimmten Objekten) nicht immer übereinstimmen.
Relativ stark vereinfacht oder auch: modellhaft auf Wesentliches reduziert, lässt sich diese Erkenntnis folgendermaßen veranschaulichen:
Kreise des Verstehens und der Verständigung
(S1: Subjekt 1, S2: Subjekt 2, O1: Objekt 1 – geht von S1 aus, O2: Objekt 2 – geht von S2 aus, O3: Objekt 3 = (mögliches) Ergebnis des Verstehens- und Verständigungsprozesses zwischen den Partner/innen der Kommunikation. Verständigung findet also im inneren Kreis statt.)
5. Alles verstehen heißt alles verzeihen.
Könnten wir denn überhaupt jemals alles verstehen? Wohl kaum. Sollten wir alles verzeihen? Auch Auschwitz, Hiroshima, jeglichen Terror? Wer Bosheit erleidet, Schlimmstes erlebt, soll dennoch Verständnis aufbringen? Fragen über Fragen, beängstigende Fragen! Die obendrein noch auf Grundfragen der Ethik abzielen. Auf eine Ethik der Person, die ich exemplarisch an Hand von Kants „Zweckformel“ des Kategorischen Imperativs dargestellt habe (in: Wege zum Sinn S. 250-259 bzw. S. 125 ff., 128 ff.).
Ethik bildet den Rahmen für fast alle Fragen nach Wert und Sinn allen Tuns und Handelns. Personale Ethik lässt sich nicht durch bloße Situations- oder Interessen-Ethik ersetzen. Verständnis für eine Person kann nur aufbringen, wer diese Person achtet, und zwar als Selbst-Zweck, niemals als bloßes Mittel zum Zweck. Wird dies beachtet, scheint auch jede Art von Verständigung möglich, einschließlich derjenigen zwischen Völkern und unterschiedlichen Gesellschaften. [46]
Gadamer stellt dies in den größeren Rahmen einer Theorie der Erfahrung , die hier nicht im Detail referiert werden kann. Eckpunkte:
1. Erfahrung ist „zunächst immer Erfahrung der Nichtigkeit: es ist nicht so, wie wir annahmen. Angesichts der Erfahrung, die man an einem anderen Gegenstande macht, ändert sich beides, unser Wissen und sein Gegenstand. Man weiß es nun anders und besser, und d. h.: der Gegenstand selbst >hält nicht aus<. Der neue Gegenstand enthält die Wahrheit über den alten.“ (Gadamer a.a.O. S. 337)
2. Das Bewusstsein kann sich in Fremdem und Anderem selbst erkennen.
3. „Erfahrung selber kann nie Wissenschaft sein. Sie steht in einem unaufhebbaren Gegensatz zum Wissen und zu derjenigen Belehrung, die aus theoretischem oder tech-nischem Allgemeinwissen fließt. Die Wahrheit der Erfahrung enthält stets den Bezug auf neue Erfahrung. Daher ist derjenige, den man erfahren nennt, nicht nur durch Er-fahrungen zu einem solchen geworden, sondern auch für Erfahrungen offen.“ (a.a.O. S. 338)
4. Neue Erfahrungen können alte durchkreuzen.
5. „Das historische Bewußtsein weiß um die Andersheit des Anderen, um die Vergan-genheit des Anderen so gut, wie das Verstehen des Du dasselbe als Person weiß. Es sucht im Anderen der Vergangenheit nicht den Fall einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit, sondern ein historisch Einmaliges.“ (a.a.O. S. 342)
Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit der „Offenheit für die Überlieferung“, durch die „ das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein“ gekennzeichnet ist. Als Voraussetzung hierfür nennt Gadamer die Horizontverschmelzung (s.o.). Der Sinn eines fremden Textes erschließt sich erst durch „unser eigenes Fragen“ (S. 356). Hierzu heißt es bei Gadamer:
„Die Gewärtigung einer Antwort setzt selber schon voraus, daß der Fragende von der Überlieferung erreicht und aufgerufen ist. Das ist die Wahrheit des wirkungs-geschichtlichen Bewußtseins. Es ist das geschichtlich erfahrene Bewußtsein, das, indem es dem Phantom einer völligen Aufklärung entsagt, eben damit für die Erfah-rung der Geschichte offen ist. Seine Vollzugsweise beschrieben wir als die Verschmel-zung der Horizonte des Verstehens, die zwischen Text und Interpreten vermittelt.“ (S. 359)
Wie aber geschieht diese Verschmelzung im Vollzug des Verstehens? Gadamers Antwort: Es ist dies „die eigentliche Leistung der Sprache“ (ebd.). Und diesem Phänomen, das Gadamer zunächst „zum Allerdunkelsten“ zählt, „was es für das menschliche Nachdenken gibt“, widmet der Autor mehr als 100 Seiten des Schlussteils von Wahrheit und Methode, unter dem Titel: „Ontologische Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache“ (S. 359 ff.). –
In Wirklichkeit ist es natürlich eine Leistung des gesamten Bewusstseins und somit des ganzen Menschen, der seine Sprache benutzt, um sich und etwas darzustellen und auszudrücken. Leben ist In-formation und mehr als dies. Sprache ist ursprünglich In-formation und deren Nachahmung.
Zusammenfassung: Kernsätze einer Bewusstseins-Philosophie
Die Bewusstseins-Frage ist, wie gesagt, wahrscheinlich von existenzieller Bedeutung für die Zukunft der Menschheit. Werden die Menschen ihre Kontrolle über die „Geschöpfe des Pro-metheus“ – einschließlich der superintelligenten KI-Roboter – behalten können? Diese Frage stellen sich alle, die nachdenken. Umso wichtiger wird es, sich auf das zu besinnen, was unser Mensch-Sein ausmacht und auszeichnet – wozu zweifellos alles Bewusste und Unbewusste wesentlich gehört.
Die neuen Erkenntnisse zu diesem Themenkomplex sind in der vorliegenden Abhandlung ausführlich dargestellt worden. Sie betreffen unmittelbar nicht nur die Philosophie im All-gemeinen, sondern auch die bei Experten und Nicht-Experten gängigen Auffassungen. Es kann nicht gleichgültig sein, ob wir in unserem ganzen Sein, Handeln und Verhalten von dunklen, undurchschauten Mächten und „Dämonen“ beherrscht werden, von Trieben, die Freud als „großartig in ihrer Unbestimmtheit“ bezeichnete, – oder ob und wie weit wir uns von unserem freien Willen leiten lassen und „Herr im eigenen Haus“ sein und bleiben können. Eine Frage, die nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis z.B. von Psychoanalyse, Psychotherapie und Psychiatrie von höchster Relevanz und Bedeutung ist. Gibt es eine Neuorientierung der Bewusstseins-Philosophie (s.o.), wird dies auch der psychologischen und sonstigen Praxis neue Impulse geben können.
Hierzu tragen durchaus auch die von Philipp Engel referierten Konzepte mit einer Vielzahl positiver Aspekte bei, die hier in Teil I behandelt wurden. All dies soll im Folgenden zusammengefasst werden, und zwar in systematischer Form, d.h. aufgeteilt unter einige Grunddisziplinen der Philosophie, nämlich diejenigen von Anthropologie, Erkenntnistheorie, Ethik sowie Geschichtsphilosophie und Gesellschaftstheorie.
1. aus TEIL I, zu Philipp Engel: Bewusstsein …
a) in anthropologischer Hinsicht
– Neuro- und Kognitionswissenschaftler*innen sind bisher nicht in der Lage, die angebliche Entstehung des Bewusstseins in Gehirnvorgängen rein natur-wissenschaftlich zu erklären. (S. 3)
– Die Frage nach dem Bewusstsein ist wahrscheinlich von existenzieller Bedeutung für die Zukunft der Menschheit. (S. 11)
– Lösungen des Leib-Seele-Problems, die in den von Engels referierten Konzepten anscheinend nirgendwo zu finden sind, sind wohl nur möglich, wenn man die Ergebnisse der IT-Forschung bzw. der Informationstheorie berücksichtigt und mit dem Begriff Dialektik verbindet.(ebd.)
b) erkenntnistheoretisch
– Laut Emil Du Bois-Reymondist das Bewusstsein – auch und gerade naturwissen-schaftlich – „unbegreiflich“. (S. 4)
– Wilhelm Wundtwill die Psychologie fest auf die unmittelbare Erfahrung gründen. (S. 4) Das Unbewusste (die „unbewusste Seele“) liege zwar jeglichem Bewusstsein zu Grunde, könne aber nicht Gegenstand der neuen experimentellen Psychologie sein. (ebd.)
– Engel (zu Wundt): „Für eine Psychologie, die ihre Aufgabe in einer Analyse der >Bewusstseinstatsachen< sieht, steht die Frage nach dem Bewusstsein eigen-tümlich am Rande.“ (ebd.)
–Befremdlich ist auch die Tatsache, dass Wundt es für unmöglich erachtet, das Denken auch durch Introspektion näher zu untersuchen, weil man dabei allenfalls die Empfindungen und die Vorstellungen erfassen könne. (S. 12)
– William James‘ „nicht-reduktive evolutionsbiologische Theorie des Bewusstseins“ beschränkt sich nicht auf das Nervensystem, sondern berücksichtigt dessen vielfältige Verbindungen mit de gesamten Bewusstseins-Tätigkeit, die „aus der Gesamtheit der Stimuli allein die für seine Interessen relevanten Aspekte heraussucht“ (ebd.). Erneut geht es also um Pragmatismus, Zweckmäßigkeit als Orientierung. (S. 5)
– Erkenntnistheoretisch fällt James hinter Kant zurück auf den britischen Empirismus (Hume u.a.). (S. 12)
– James zufolge beginnt die Wahrheit einer Sache erst mit deren „Nützlichkeit“. Tatsächlich ist diese Wahrheit aber viel früher feststellbar, und zwar dadurch, dass eine zutreffende Aussage über die Sache gemacht wird. (S. 13)
– James‘ Theorie-Anspruch für den Pragmatismus wird hinfällig, weil sich mit einer
– unzutreffenden Wahrheitstheorie überhaupt keine Theorie begründen lässt. (ebd.)
– Gegen James: Ohne Wissenschaftlichkeit kann es keine Ethik geben. (S. 13)
– Edmund Husserlfordert eine Hinwendung „zu den Sachen selbst“, d.h. zu einem Empirismus der Subjektivität „und damit zu einem Transzendentalen, das sich aus der Situiertheit des Bewusstseins in körperlich-materiellen Zusammenhängen ergab“. (S. 6) Grundbegriffe hierfür sind: Intuition, Epoché und „Wesens-erschauung“. (ebd.)
– Epoché= Enthaltung, Hemmung, Zurückhaltung, Ausblendung. In der Epoché sollen bisher fraglos übernommene Überzeugungen hinterfragt, genauer: „eingeklammert“ werden, wobei plötzlich wieder die oft vernachlässigte vor- und außerwissenschaftliche Lebenswelt in den Vordergrund des Interesses rückt. (ebd.)
– „Wesenserschauung“: die „reine Wesenslehre von der Lebenswelt“. (S. 7)
– Mein Kommentar zu Husserl: Wesens-Ermittlung, z.B. von charakteristischen Merkmalen und Eigenschaften, scheint durchaus möglich zu sein, allerdings nicht mit der Garantie eindeutiger Ergebnisse. Denn auch und gerade in der Lebenswelt gibt es individuell unterschiedliches Vorwissen, unterschiedliche Erfahrungen und Herangehensweisen. (S. 14)
– Walter Schulz: Husserl erhebt sich faktisch über sich selber und erliegt dabei einer Art von Bewusstseinsspaltung, zumal unklar bleibt, wie das „Eidos ego“ (auf das „ich herabschaue“!) überhaupt als „Inbegriff aller Ichmöglichkeiten“ verstehbar sein soll; was praktisch einem Ichverlust gleichkommt. (ebd.)
– Henri Bergsonwill Qualitäten des Bewusstseins u.a. an Hand der Begriffe „inten-sité“ und „durée“ ermitteln. (ebd.) Grundsätzlich dürfe man – auch in Bezug auf die Intensität – die Bewusstseinszustände als solche nicht mit ihren psychischen Begleitumständen verwechseln. (ebd.)
– Die „unmittelbaren Gegebenheiten des Bewusstseins“ durchdringen sich gegenseitig und erzeugen dadurch vielfältige psychische Qualitäten. Folglich könne Psychisches nie rein physiologisch analysiert werden, sondern nur prozessual und in der „durée“, der zeitlichen Dauer. (S. 8)
– Bergson bestimmt die Zeit als „Form aller Anschauung“. (ebd.)
– Wichtig sei nicht die Frage nach der Entstehung des Psychischen aus Physischem, sondern die Welt-Situiertheit des gesamten Bewusstseins. (ebd.)
– Horkheimer stellt fest, Bergson habe Verrat an der Wissenschaft begangen, und zwar schon deswegen, weil er die Theorie zu Gunsten der sogenannten „reinen Gegebenheiten“ vernachlässigt habe. Damit habe er „die Wissenschaft völlig um ihre aufklärende Wirkung“ gebracht. (S. 15)
– Ernst Bloch stellt fest: Bei Bergson fehlt jede Art von zeitlich-räumlicher Ziel-gerichtetheit (Entelechie), so dass auch sein angebliches „Novum“ zu keiner wirklichen Veränderung führt, auch nicht im „Elan vital“. (S. 16) „Vor allem aber ist das Neue (da Bergson ihm die Materie entzieht und eine dialektische nicht einmal dem Namen nach kennt) nirgends wirklich neu, nämlich inhaltlich; es bleibt eine rasende Einöde.“ (ebd.)
– Eine natürliche, von Engel ignorierte Grenze jeglicher Beschäftigung mit dem Bewusstsein liegt in der Tatsache, dass die neuronale Kombinatorik des mensch-lichen Gehirns weder überschaubar noch mathematisch erfassbar ist. (S. 11)
– Die Mängel, die sich an den von Engel referierten Konzepten seiner „Kronzeugen“, insbesondere denjenigen von James, Husserl und Bergson, feststellen lassen, sind so gravierend, dass die alternative Begründung einer Bewusstseins-Philosophie unbedingt erforderlich ist.
c) ethisch
– Gegen James: Ohne Wissenschaftlichkeit kann es keine Ethik geben. (S. 13)
d) geschichtsphilosophisch und gesellschaftstheoretisch
– LautBergson ist vor allem Kants Kritizismus für den angeblichen Niedergang der Philosophie im 19. Jahrhundert verantwortlich. (s.o. S. 3)
– Engel zeigt auf, dass Technik-Bewunderung, Positivismus, Pragmatismus und Konventionalismus maßgeblich dazu beigetragen hätten, dass Metaphysik und philosophische Spekulation mehr und mehr als überholt („obsolet“) galten. (S. 3)
2. aus Teil II, Neubegründung einer Bewusstseins-Philosophie
a) in anthropologischer Hinsicht
– Nimmt man beide Hypothesen der Verursachung, d.h. die der Epigenetiker (wonach sogar erworbene Fähigkeiten vererbt werden können!) und die von Candace B. Pert, zusammen, zeichnet sich eine neue Hypothese des Interaktionismus zur Lösung des Leib-Seele- Problems ab, und zwar an Hand eines dialektisch-materialistischen Informationsbegriffs. (S. 19)
– Dialektik als Einheit von Identität und Nicht-Identität betrifft voll und ganz die leib-seelische Befindlichkeit des Menschen, wobei Grenzen der Erklärbarkeit, z.B. außerhalb der von Empfängnis und Tod begrenzten leib-seelischen Identität des Menschen, erkennbar werden. (ebd.)
– Möglich ist ein Kompromiss zwischen subjektiver und objektiver Zeit-Auffassung, und zwar an Hand des Begriffs Weltzeit. Diese wird sowohl subjektiv erfahren als auch objektiv gemessen. (ebd.)
– Kants Anthropologie kann weiterhin zu Rate gezogen werden, und zwar an Hand seiner Grundfragen: Was können wir wissen? Was dürfen wir hoffen? Was sollen wir tun? Was ist der Mensch? – Näheres hierzu habe ich bereits ausgeführt, u.a. mittels Begriffen wie Kommunikation, Kontakt, Kooperation und Konkurrenz (S. 22)
– Adornos Konzept der Verdinglichung (S. 44 ff.)
1. Adorno schränkt das Phänomen Verdinglichung keineswegs auf den Warentausch ein.
2. Verdinglichung ist auch „nicht nur eine gesellschaftliche Kategorie, das gesellschaft-liche Apriori“.
3. „Verdinglichung bezeichnet all das, was in irgendeiner Weise erhärtet, erstarrt, festge-fahren, schematisiert, definiert usw. ist und somit der Lebendigkeit, aus der es entstanden ist, entbehrt.“ (Lobeck)
4. Für Adorno tritt Verdinglichung auch dort ein, „wo spontanes Denken nicht mehr offen ist für Neues, sondern sich aufs Gängige beschränkt; dort auch, wo die Breite spontan möglicher Erfahrung menschlicher Begegnung zu einem kalten Verhaltens-schema erstarrt.“ (a.a.O. S. 132)
5. Selbst das wissenschaftliche Forschen könne durch Verdinglichung beeinträchtigt werden, so schon durch die Verengung des Beobachtungsfeldes bei empirischen bzw. experimentellen Verfahren (ebd.). (S. 48 f.)
– Hans-Georg Gadamer und das wirkungsgeschichtliche Bewusstsein. (S. 57 ff.)
– Gadamer hat hierfür auch den Begriff „Horizontverschmelzung“ geprägt, dem-zufolge es legitime Vor-Urteile gibt, die in unserem Verstehen stets mitschwingen, so dass wir gehalten sind, uns diese Vor-Urteile immer wieder bewusst zu machen und möglichst transparent anzugeben, zumal sie den je eigenen „Horizont einer Gegenwart“ mitbestimmen, den wir nicht leugnen und nicht verlassen können. (S. 57)
– Grund-Sätze (Leitsätze) von Gadamers Verstehenslehre, die samt und sonders, zumindest sinngemäß, in ‚Wahrheit und Methode‘ zu finden sind:
– 1. Das Missverständnis ergibt sich von selbst, während das Verstehen immer erst gesucht werden muss. (S. 58)
– 2. Man kann eine Person besser verstehen als sie sich selbst versteht. (ebd.)
– 3. Man versteht anders, wenn man überhaupt versteht. (S. 59)
– 4. Verstehen und Verständigung. (S. 59 ff.) Übereinkommen, sich verständigen können unterschiedliche Subjekte über gemeinsame Objekte in gemeinsamen Objekt-Welten.(S. 59). Verständigung setzt Verstehen voraus.
– Kreise des Verstehens und der Verständigung. (S. 60, Grafik)
– 5. Alles verstehen heißt alles verzeihen. (S. 61)
– „ Das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein“ ist durch „Offenheit für die Über-lieferung“ gekennzeichnet. Als Voraussetzung hierfür nennt Gadamer die Horizontverschmelzung (s.o.). Der Sinn eines fremden Textes erschließt sich erst durch „unser eigenes Fragen“. (S. 62)
– Wie aber geschieht diese Verschmelzung im Vollzug des Verstehens? Gadamers Antwort: Es ist dies „die eigentliche Leistung der Sprache“. (ebd.)
– In Wirklichkeit ist es natürlich eine Leistung des gesamten Bewusstseins und somit des ganzen Menschen, der seine Sprache benutzt, um sich und etwas darzustellen und auszudrücken. Leben ist In-formation und mehr als dies. Sprache ist ursprünglich In-formation und deren Nachahmung. (ebd.)
b) erkenntnistheoretisch
– Die Informationstheorie lässt sich mit der Semiotik verknüpfen. Dann zeigt sich, dass Zeichen-, Code- und Bedeutungsprozessen stets Vorgänge der Information – als In-Form-Setzung (‚informatio‘) – zu Grunde liegen, wobei laut H. Benesch (1977) dialektisch-materialistisch zwischen „Trägern, Mustern und Bedeutungen“ zu unterscheiden ist. (S. 18)
c) ethisch
– Weil der Dualismus von Ding an sich und Erscheinung entfällt, werden auch die Verabsolutierungen der Kantschen Sollensethik fragwürdig oder hinfällig, darunter vor allem die „Allgemeine Gesetzgebung“ sowie die Begriffe Pflicht und Sollen.
– Woraus allerdings nicht folgt, dass Kants Ethik als Ganze obsolet und daher abzulehnen wäre. (S. 21)
– Meine legitime Forderung lautet: Achte bei allem, was Du tust, darauf, Dich selbst und Deine Mit-Menschen als Rechtspersonen und Persönlichkeiten zu respektieren und möglichst stets das Sittengesetz zu befolgen. (S. 21)
– Unter dieser Voraussetzung halte ich es für möglich, die Ethik der Person durch eine Ethik der Natur zu ergänzen, wofür ich eine Naturformel des Kategorischen Imperativs vorgeschlagen habe, die lautet:
Verhalte Dich so, dass Du die Natur in jeder Person und in jeder anderen Erscheinungsform stets als Zweck – und als Mittel nur zu ethisch begründbaren und moralisch vertretbaren Zwecken – behandelst. (S. 22)
– „Lenins Ethik beruhte auf dem Glauben, daß das Hauptinteresse der Partei die Revolution sei und daß diesem strategischen Ziel alle taktischen Maßnahmen unterzuordnen seien. Daraus resultierte ein rein instrumentelles Verhältnis gegenüber den Fragen von Legalität und Illegalität der Mittel, von Wahrheit und Lüge, von Gewalt oder Gewaltverzicht. Anders gesagt: Moral wurde zu einer Variablen des Klassenkampfes – moralisch war das, was den Interessen der Partei nützte, unmoralisch das, was ihnen im Wege stand.“ (S. 42 f.)
– Die Loslösung von jeglicher Gesetzlichkeit kann nur propagieren, wer Ethik mit Parteilichkeit und Moral mit einer „Variablen des Klassenkampfes“ verwechselt. Genau dies haben Marx und Engels stets vermieden, da sie nicht nur die Normativität des Rechts, z.B. bei der Erkämpfung der Menschenrechte für alle , anerkannten, sondern auch, zumindest implizit, eine „Ethik des angemessenen Lebens, Arbeitens und Zusammenlebens“ (M. Möhring-Hesse) entwickelten. (S. 43)
– Dass sozialistische Ziele ohne Blutvergießen, d.h. gegebenenfalls auch parlamentarisch zu erreichen wären, hielten Marx und Engels für möglich. Lenin nicht. Stattdessen rechtfertigte er zeitweise brutalsten Terror – wobei eine Ironie der Geschichte wohl darin bestand, dass in seinem neuen Staat genau das wiederhergestellt bzw. beibehalten wurde, was er unbedingt abschaffen wollte: die Bürokratie. (S. 43 f.)
– Ernst Blochs Veränderungsethik: „Eine wirklich ermunternde Ethik kann so anfangen, gegen Entmenschung gerichtet, mit Theorie-Praxis hin zum Citoyen.“ (S. 55)
– Auch und gerade in der Veränderungsethik verleiht erst die Moral der Einzelperson ihre Würde, und zwar sowohl in der Klassengesellschaft als auch in einem zukünftigen Reich der Freiheit einer Klassenlosen Gesellschaft. (ebd.)
– Ethik bildet den Rahmen für fast alle Fragen nach Wert und Sinn allen Tuns und Handelns. Personale Ethik lässt sich nicht durch bloße Situations- oder Interessen-Ethik ersetzen. Verständnis für eine Person kann nur aufbringen, wer diese Person achtet, und zwar als Selbst-Zweck, niemals als bloßes Mittel zum Zweck. Wird dies beachtet, scheint auch jede Art von Verständigung möglich, einschließlich derjenigen zwischen Völkern und unterschiedlichen Gesellschaften. (S. 61)
d) geschichtsphilosophisch und gesellschaftstheoretisch
– Der Begriff Information im Sinne von ‚in-formatio‘ = In-Form-Setzung kann als Grundbegriff jeglicher Bewusstseins-Philosophie angenommen werden. (S. 17)
– Die informationshaltige Materie selbst, und, darüber hinaus, Ernst Blochs Konzept einer „unvollendeten Entelechie der Materie“ können als weitere Grundlagen gelten. (S. 18)
– Die oft übersehene Grundlage: Hegels Bestimmung des Bewusstseins in der Phänomenologie des Geistes (S. 22), in Kurzform:
1. Das Bewusstsein ist mit dem Selbst-Bewusstsein und folglich mit dem Person-Sein als Ganzem verbunden.
2. Es bezieht – anerkennend – die Personen der Anderen und damit die gesellschaftliche Dimension mit ein.
3. Es verbindet sich mit den höheren Stufen des Geistes und daher mit der Gesamtheit der dialektischen Subjekt-Objekt-Beziehungen. (S. 24)
– Die Kehrseite: das unglückliche Bewusstsein. „Das unglückliche Bewusstsein bleibt nur solange unglücklich, wie es sich und seine eigenen Handlungen und Entscheidungen vergisst. … Die letztliche Auflösung des Konfliktes besteht im Bejahen eines dynamischen, sich wiederherstellenden, sich perpetuierenden Gleichgewichts durch die verschiedenen, erinnerten Momente hindurch. Genau dies gelingt dem Bewusstsein am Ende von Die Phänomenologie des Geistes.“ (ebd.)
– Auf Maschinen bzw. KI-Roboter ist keine dieser Bestimmungen anwendbar. Roboter verfügen nicht über die Voraussetzungen für Bewusstsein. (ebd.)
– Bestätigt und verstärkt wird der weite Bewusstseins-Begriff durch bestimmte Konzepte des in Berkeley (Kalifornien) lehrenden Philosophen Alva Noë (geb. 1964). (S. 25)
– Das Bewusstsein kann auch das Unbewusste beherrschen! (S. 26) Zusammengefasst ergibt sich folgendes Bild: Benjamin Libet erweitert die Einsicht in das Ubw durch seine Experimente, aus denen hervorgeht, dass in Entscheidungssituation das Ubw früher als das Bewusstsein in Aktion tritt. Nicht das Bewusstsein, sondern das Ubw leitet den Entscheidungsprozess ein.
– Da auch sämtliche Erfahrungen ins Ubw bzw. ins Gedächtnis eingehen (können), finden im Ubw bereits Abwägungen, auch ethischer und lebenspraktischer Art, statt.
– Das Ubw schlägt dem Bewusstsein jeweils Entscheidungs-Optionen vor.
– Nicht der Determinismus, sondern der freie Wille des Bewusstseins entscheidet über die vom Ubw vorbereiteten Optionen.
– Die neuen Einsichten in das Ubw bestätigen weitgehend die ethischen und die (meisten) religiösen Auffassungen hinsichtlich der Willensfreiheit und der Verantwortung des Menschen für sein Tun und Lassen. (S. 28)
– Bestätigung, Verstärkung und Ergänzung durch die Ulmer Forschergruppe um Markus Kiefer (2015) (ebd.)
– Die Macht des Unbewussten ist – wie die des Bewussten – nicht zu überschätzen, aber auch nicht zu unterschätzen. Anscheinend aber müssen und können Balance und Maß individuell herausgefunden und hergestellt werden. –Auch wenn unklar sein mag, wo innerhalb einer Klassengesellschaft die Grenzen des freien Willens liegen. (S. 29 f.)
– Von Marx zu Bloch: (Klassen-)Bewusstsein und Veränderungsethik. (S. 30 ff.)
– Revolutionäres stellt sich gegen falsches Bewusstsein, kommunistisches gegen kapitalistisches. Was der „freie Wille“ tatsächlich vollumfänglich wollen kann, lässt sich erst verwirklichen, wenn „die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewusstsein selbst machen“, wie Engels schreibt. (S. 35
– Zur Kritik der Marxschen Revolutionstheorie (S. 36 ff.). Diese ist nicht in erster Linie an einem „falschen Analogieschluss“ (Winkler) gescheitert, sondern vor allem an bestimmten Entwicklungen des Kapitalismus im späten 19. Jahrhundert, die Marx nicht vorhergesehen bzw. nicht durchschaut hat. (S. 38)
– Georg Lukács: Verdinglichung und proletarisches Bewusstsein (S. 39 ff.)
– Was Lukács an Marxens Ansatz besonders interessiert und fasziniert: Die Möglichkeit, das Warenproblem nicht als Einzelproblem darzustellen, sondern „als zentrales, strukturelles Problem der kapitalistischen Gesellschaft in allen ihren Lebensäußerungen“ (s.o.). Es ist die von Marx vermittelte Gesamtsicht, die (mögliche) Einsicht in eine Totalität der Lebensverhältnisse, die Lukács in hohem Maße inspiriert. Was wohl auch mit seiner Affinität zum Ganzheitsdenken Hegels zusammenhängt, der ja erklärte, das Ganze sei „das Wahre“. (S. 39 f.)
– In der kapitalistischen Produktion entwickelt sich eine zunehmende Rationalisierung, verschlimmert durch Spezialisierung, Arbeitsteilung, Fließband-arbeit usw., mithin durch entfremdete Arbeit . Darin sieht Lukács nicht nur ein „Zerreißen des Objekts der Produktion“, sondern „zugleich das Zerreißen seines Subjekts“, zumal dieses, d.h. die Lohnabhängigen völlig den kapitalistischen Gesetzen der Produktion unterworfen sind. (S. 40)
– Die verdinglichten, entfremdeten Warenbeziehungen werden „für das verdinglichte Bewußtsein zu den wahren Repräsentanten seines gesellschaftlichen Lebens“. (ebd.)
– „Die Bürokratie bedeutet eine ähnliche Anpassung der Lebens- und Arbeitsweise und dementsprechend auch des Bewußtseins an die allgemein gesellschaftlich-öko-nomischen Voraussetzungen der kapitalistischen Wirtschaft, wie wir dies für
die Arbeiter im Einzelbetrieb festgestellt haben.“ (G. Lukács, S. 41)
– Es gebe zwar stets noch ein Bedürfnis, das Ganze zu überblicken, doch die Fähigkeit hierzu gehe sogar in der Wissenschaft mehr und mehr verloren. „Geschlossene Teilsysteme“ treten an die Stelle der Gesamtsicht. Mit schwerwiegenden Folgen z.B. auch für die Rechtswissenschaft. (ebd.)
– Weil auch „das Bewußtsein des Proletariats der Verdinglichung vorläufig noch erlegen“ ist, können die Proletarier*innen ihre Unterdrückung und Ausbeutung nicht erkennen, und so müssen die Revolutionäre zunächst „das Phänomen der Verdinglichung“ (so die Überschrift des ersten Abschnitts des Verdinglichungs-aufsatzes) durchschauen lernen, um diese letzte und stärkste Kette des Proletariats sprengen zu können.“ (S. 42)
– Theodor W. Adorno: das verdinglichte Bewusstsein (S. 44 ff.)
– „Es gibt kein richtiges Leben im falschen." und: „Das Ganze ist das Unwahre". (Adorno S. 44)
– Was Adorno unter Bewusstsein versteht, hat er wie folgt dargelegt: „Das aber, was eigentlich Bewußtsein ausmacht, ist Denken in bezug auf Realität, auf Inhalt: die Beziehung zwischen den Denkformen. und -strukturen des Subjekts und dem, was es nicht selber ist.“ (S. 46)
– Wenn Adorno Geist und Subjekt auf das Denken reduziert, verkürzt er auch den Bewusstseins-Begriff, denn dieser ist weitgehend identisch mit demjenigen des Geistes – verstanden als dialektische Subjekt-Objekt-Beziehung – und demjenigen des Subjekts mit seiner Fähigkeit zu eben diesem Bezug. (ebd.)
– „Je weniger die Kulturindustrie zu versprechen hat, je weniger sie das Leben als sinnvoll erklären kann, um so leerer wird notwendig die Ideologie, die sie verbreitet.“ (Horkheimer / Adorno, S. 48)
– Worin sich u.a. der „Betrugscharakter“ der Kulturindustrie offenbare. Was als „Amusement“ daherkommt, dient vor allem der Profitmaximierung der Anbieter. Das Individuum wird förmlich überwältigt, mit üblen Folgen auch für das Zusammenleben der Menschen in angeblich demokratischen Gemeinwesen, so dass Adorno folgerichtig auf eine zunehmende Anfälligkeit für anti-demokratische, totalitäre, plump-populistische Ideen schließt. (S. 51)
– Verbindet man Adornos Kritik mit der Systemfrage, ergibt sich möglicherweise eine neue Herkules-Aufgabe, die vielleicht nur dann überhaupt in Angriff genommen werden kann, wenn Aussicht besteht, die Menschen wirklich zu erreichen, d.h. ihnen helfen zu können, ihre wahren Interessen geltend zu machen und durchzusetzen. (S. 52)
– Ernst Bloch: Noch-Nicht-Bewusstes, Tagtraum, Veränderungsethik (S. 52 ff.). Für Bloch gehört das Noch-Nicht zu dem Unbewussten, das effektiv auch im Tagtraum mitschwingt. (S. 52)
– Blochs Analyse des Tagtraums: 1.„Freie Fahrt“. Anders als beim Nachttraum verfügen wir selbst über den Tagtraum. 2. „Erhaltenes Ego“. Der Tagtraum strebt ein besseres Ich an. 3. „Weltverbesserung“. 4. „Fahrt ans Ende“. Man sucht die Erfüllung. (S. 54)
– Bloch entwickelt eine neue Allianztechnik mit der Natur, in der diese nicht mehr in kapitalistischer Manier rücksichtslos ausbeuterisch missbraucht, sondern als mögliches (hypothetisches) Subjekt geachtet wird, wobei stets auch das Wie des Umgangs mit den Naturschätzen, z.B. bei der Rohstoffgewinnung und -verar-beitung, kritisch zu überprüfen ist. Es geht um eine Allianztechnik, die zwar erst in einer klassenlosen Gesellschaft, d.h. nicht ohne „soziale Revolution“ voll zu verwirklichen sei; zuvor aber als Kompass und Leitstern jeglicher emanzipa-torischer Praxis – und damit möglicherweise auch als Grundlage jeglicher Öko-Ethik. (S. 56 f.)
Literaturhinweise
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Bloch, Ernst 1977: Experimentum Mundi. Frage, Kategorien des Herausbringens, Praxis , Frankfurt a.M.
Bloch, Ernst 1977 a):Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz, Frankfurt a.M.
Bloch, Ernst 1985: Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz , Frankfurt a.M.
Carmele, Alexander 2022: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: „Das unglückliche Bewusst-sein“, in: https://kommunikativeslesen.com>2022/10/15>geor...
Eiden-Offe,Patrick 2021: Verdinglichung: Ein Begriffsschicksal , in: https://www.soziopolis.de/verdinglichung.html
Eisler, Rudolf 1964: Kant-Lexikon. Hildesheim
Engel, Philipp 2023: Bewusstsein. Geschichte eines Begriffes zwischen Psychologie und Metaphysik, Wien / Berlin
Gadamer, Hans-Georg 1965(2. Aufl.): Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik , Tübingen 1960
‘Glanz und Elend’ (Zeitschrift): Das Ganze ist nicht alles. Theodor W. Adorno (1963-1969), in: http://www.glanzundelend.de>auswahl>adorno
Libet, Benjamin 2005: Mind Time.Wie das Gehirn Bewusstsein produziert,Frankfurt a.M.
Lobeck, Arnold 1977: Theorie der Verdinglichung, Zürich
Marx Forum: Bewusstsein, in: https://marx-forum.de/marx- lexikon/lexikon_b/bewusstsein. html
Noë, Alva 2023, Interview in: Bewusstsein, ‚Spektrum edition 3‘, 1/23, S. 124 ff.
Robra, Klaus 2015:Wege zum Sinn, Hamburg
Robra, Klaus 2016: Raumzeit oder Weltzeit. Ist das "Rätsel Zeit" doch lösbar?, München, https://www.grin.com/document/359339
Robra, Klaus 2017: Person und Materie. Vom Pragmatismus zum Demokratischen Öko-Sozialismus, München, https://www.grin.com/document/375344
Robra, Klaus 2019: Mit Leib, Seele und Information. Ein Vorschlag zur Lösung des Leib-Seele-Problems, München, https://www.grin.com/document/461010
Robra, Klaus o.J.: Sind die Diktatur des Proletariats und die Bürokratie das Ende des Sozialismus? Die Frage nach Auswegen aus den Sackgassen , München, https://www.grin.com/document/1032082
Robra, Klaus o.J. (2020): Ethik der Verhaltenssteuerung. Eine Neubegründung, München, https://www.grin.com/document/923015
Robra, Klaus 2023: Was kann das Unbewusste bedeuten? Ein alternativer Lösungsversuch , München, https://www.grin.com/document/1418328
Robra, Klaus 2023 a): Künstliche Intelligenz und die Zukunft der Menschheit. Möglichkeiten und Gefahren , München, https://www.grin.com/document/1383067
Schuck, Dirk 2001: Das Phänomen der Verdinglichung bei Georg Lukács und Theodor W. Adorno. Einführung für Einsteiger mit ausführlichen Darlegungen zu Weber, Marx, Simmel und Freud , Saarbrücken
Schulz, Walter 1972: Philosophie in der veränderten Welt , Pfullingen
Studie: Unser Wille ist freier als gedacht(2015), https://www.derstandard.at/story/2000011387060/studie-unser-wille
Weisbuch, Gérard 1989: Dynamique des systèmes complexes , Paris
Wendt, Lothar 1988: Das physikalisch-teleologische Weltbild , Bd. II, Heidelberg
Winkler, Heinrich August 2017: Marx und die Folgen – Gedanken zum Wandel der Revolution 1789–1989 , in:www.zeitgeschichte–digital.de>doks>files
[1] Vgl. Weisbuch 1989, S. 193
[2] Vgl. Klaus Holzkamp: Zu Wundts Kritik an der experimentellen Erforschung des Denkens , in: https://www.kritische-psychologie.de/files/FKP_6_Klaus_Holzkamp_1.pdf , S. 1-3
[3] Vgl. Robra 2023, S. 80 ff.
[4] Vgl. Wendt 1988, S. 170
[5] Vgl. Robra 2017, S. 64 f.
[6] Vgl. Schulz 1972, S. 287
[7] Vgl. Bergson versus Einstein, une dispute temporelle qui dure , in: https://www.radiofrance.fr/franceculture/bergson-versus-einstein-un...
[8] Horkheimer, in: Jean-Baptiste Vuillerod: Bergson lu par Horkheimer. La philosophie de la vie aux sources de la Théorie critique, in: https://journals.openedition.org/rg/6584?lang=de , Absatz 21
[9] Bloch 1977, S. 101
[10] Bloch 1959, S. 159
[11] Bloch 1985, S. 282
[12] Vgl. Robra, 2019, S. 2-4
[13] Vgl. Robra 2016
[14] Vgl. Robra o.J. (2020), S. 10 ff.
[15] Vgl. Eisler 1964, S. 4
[16] Zitiert von Eisler a.a.O. S. 5
[17] Vgl. Robra o.J. (2020), S. 11 f.
[18] Vgl. Robra o.J. (2020), S. 305-308
[19] Vgl. Robra 2017, S. 125 ff.
[20] Vgl. Carmele 2022, S. 5
[21] Näheres und Weiteres hierzu findet sich in meiner Studie Künstliche Intelligenz und die Zukunft der Menschheit – Möglichkeiten und Gefahren , München, GRIN-Verlag 2023, https://www.grin.com/document/1383067 .
[22] Vgl. Interview mit Alva Noë, in: Bewusstsein, Spektrum edition 3, 1/23, S. 124
[23] Libet 2005, S. 124
[24] Studie: Unser Wille ist freier als gedacht (2015), S. 1, Hervorhebungen KR. Vgl. Robra 2023, S. 80 f.
[25] in: https://marx-forum.de/marx-lexikon/lexikon_b/bewusstsein.html
[26]
Vgl. Heinrich Ratke:
Systematisches Handlexikon zu Kants Kritik der reinen Vernunft
, Hamburg 1991, S. 30 f. Kants Begriff „durchgängige Bestimmung“,
wonach „alles Existierende … durchgängig bestimmt“ sei, kritisiert
Hans Heinz Holz (1992) wie folgt: ">Alles Existierende
ist durchgängig bestimmt<: d.h. um ein Ding vollständig zu
erkennen, muss man alles Mögliche erkennen, und es dadurch, sei es
bejahend oder verneinend, bestimmen.
Die durchgängige Bestimmung ist demnach ein Begriff, den wir niemals
in concreto seiner Totalität darstellen können. Er ist lediglich
eine Idee der Vernunft, die dem Verstand die Regel seines
vollständigen Gebrauchs vorschreibt. Kants subjektzentrierte Lösung
reduziert die Welt auf Phänomenalität.“ In:
Immanuel Kant über Bestimmtheit
– Lexikon der Argumente,
https://www.philosophie-wissenschaft-kontroversen.de/details
[27] In: www.zeitgeschichte–digital.de>doks>files
[28] Vgl. Robra o.J. S. 4-7
[29] G. Lukács in: https://www.gleichsatz.de/b-u-t/spdk/honigw.html , S. 1
[30] In: https://www.soziopolis.de/verdinglichung.html
[31] Vgl. Robra o.J., S. 43-45
[32] Adorno, zit. in: Lobeck 1977, S. 133
[33] ‘Glanz und Elend’ (Zeitschrift): Das Ganze ist nicht alles. Theodor W. Adorno (1963-1969), in:
http://www.glanzundelend.de>auswahl>adorno, S. 1
[34] Adorno, in: Peter Busch: Der Erfahrungsbegriff der Moderne (1978), https://www.ampf.infospublikationen>band13, S. 13
[35] Adorno, in: Lobeck 1977, S. 125, Hervorhebungen durch mich.
[36] Adorno, in: Schuck 2011, S. 75
[37] Adorno, in: Schuck 2011, S. 64
[38] Adorno, in: Schuck 2011, S. 52
[39] Adorno / Horkheimer, in: Schuck a.a.O. S. 62
[40] Adorno, in: Schuck a.a.O. S. 82, Hervorhebungen durch mich.
[41] Näheres und Weiteres hierzu in: Robra 2023 a)
[42] Bloch 1959, S. 131
[43] Vgl. Robra o.J. (2020), S. 175-177
[44] in seinem Gedicht ‚Solang du Selbstgeworfnes fängst …‘, das Gadamer seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode als Motto voranstellt.
[45] Gadamer 1965, S. 180
[46] Vgl. Robra 2017, S. 102-108
- Quote paper
- Klaus Robra (Author), 2023, Das Bewusste und das Unbewusste. Neubegründung einer Bewusstseins-Philosophie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1435836
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