Wer könnte heutzutage in den postindustriellen Gesellschaften ohne Herd, Kühlschrank, Telefon, Fernseher, Fotoapparat oder PC leben? Jeder weiss, dass diese Geräte uns je nach Umständen Freude wie auch Unglück bereiten, aber nicht jeder ist sich wahrscheinlich bewusst, dass der grösste Teil der Menschheit in den westlichen Ländern kaum vor hundert Jahren auch ohne solche Erfindungen leben konnte, ohne weniger glücklich zu sein. Die erste, die zweite und die dritte industrielle Revolution haben unsere Umgebung, unser Verhalten und unseren Körper derart stark verändert, dass wir das Leben, die Sitten und das Aussehen unserer Vorfahren kaum verstehen bzw. nachvollziehen würden. Ist dieser Prozess alles in allem aussichtslos geschehen oder kann man dahinter eine bestimmte Logik erkennen?
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 Die Frage nach der Technik von Martin Heidegger
2 Die technologische Rationalität nach Herbert Marcuse
3 Die Kunst an die Macht
Schlusswort
Bibliographie
Einleitung
Wer könnte heutzutage in den postindustriellen Gesellschaften ohne Herd, Kühlschrank, Telefon, Fernseher, Fotoapparat oder PC leben? Jeder weiss, dass diese Geräte uns je nach Umständen Freude wie auch Unglück bereiten, aber nicht jeder ist sich wahrscheinlich bewusst, dass der grösste Teil der Menschheit in den westlichen Ländern kaum vor hundert Jahren auch ohne solche Erfindungen leben konnte, ohne weniger glücklich zu sein. Die erste, die zweite und die dritte industrielle Revolution haben unsere Umgebung, unser Verhalten und unseren Körper derart stark verändert, dass wir das Leben, die Sitten und das Aussehen unserer Vorfahren kaum verstehen bzw. nachvollziehen würden. Ist dieser Prozess alles in allem aussichtslos geschehen oder kann man dahinter eine bestimmte Logik erkennen?
Je mehr die industriellen Revolutionen mit ihren Erfindungen weltweit an Boden gewonnen haben, umso mehr hat in der Gesellschaft die Kritik an deren Verfahren und Methoden zugenommen, so dass wir heute ohne solche Einwände kaum etwas Vernünftiges sagen könnten. Die Maschinen, diese kalten Geräte, Arbeitsschädlinge, ungeheuerliche Automaten wurden dermassen kritisiert, dass manche, wie die britischen Ludditen, sich ihrer materiellen Zerstörung hingaben mit der festen Überzeugung, ihre erbärmliche Versklavung endlich abgeschafft zu haben. Es dauerte aber nicht lange, dass neue bzw. effizientere Maschinen gebaut wurden, die zerstörten ersetzten und die Weltindustrialisierung vorantrieben, wie wir diese heute noch zu erleben haben.
Woraus entsteht aber unsere Kritik, unser Verdacht, unser Misstrauen gegenüber einer Logik, diejenige der künstlichen Intelligenz, die zum grossen Teil unser alltägliches Leben erleichtert und unsere Lebenserwartungen anders als in anderen nicht industrialisierten Weltregionen verlängert? Die Analyse der psychischen Triebe bei den Menschen hat zum Teil meines Erachtens treffende Antworten auf diese Frage gegeben, wir müssen aber deren unbestrittene Tragweite nicht verabsolutieren. In den 1960er Jahren haben sich unter anderen Martin Heidegger und Herbert Marcuse, auch wenn aus verschiedenen Perspektiven, mit der Technik auseinandergesetzt: Der eine hat eine Antwort darauf in der Metaphysik, der andere in den Besonderheiten der kapitalistischen Gesellschaft gefunden. Ihre unterschiedlichen Sichtweisen schliessen sich nicht aus und mit dieser Arbeit setze ich mir das Ziel, deren besondere Merkmale ans Tageslicht zu bringen.
1 Die Frage nach der Technik von Martin Heidegger
Die Die Frage nach der Technik ist ein Vortrag, den Martin Heidegger 1949 in Bremen gehalten hat und der 1954 publiziert wurde. Zu dieser Zeit hatte die Sowjetunion ihre erste Atombombe gezündet und das politische Klima wurde weltweit zunehmend vom Gleichgewicht des Schreckens bestimmt, das zum grossen Teil der unaufhaltsamen Entwicklung der Technik zu verdanken hatte. Zwischen 1955 und 1956 nahmen die Atomtests der Grossmächte stark zu und bewirkten grosse Besorgnis in der Öffentlichkeit über die daraus folgenden radioaktiven Ausfälle: Dank seiner wissenschaftlichen Entwicklung war der Mensch endlich in der Lage, sein eigenes Geschlecht auf Erde auszulöschen. In Einklang mit diesem internationalen Wettbewerb nach atomarer Aufrüstung begann Martin Heidegger sich zu jener Zeit mit der Frage der Technik auseinanderzusetzen.
Mit dem Aufsatz Die Frage nach der Technik setzt sich Martin Heidegger das Ziel, das Wesen der Technik zu untersuchen. Es geht ihm nicht darum, die Technik als Verfahren zu kritisieren. In der Technik sieht er vor allem einen »Bezug des Seins zum Menschen«, der eines Tages vielleicht in seiner Unverborgenheit ans Licht kommt.[1] Sein Ansatz ist in erster Linie metaphysischer Natur und hat mit einer instrumentellen bzw. anthropologischen Vorstellung der Technik nichts zu tun. Die Technik ist seiner Ansicht nach nicht Neutrales: Sie ist weder ein menschliches Tun, noch ein Mittel zum Zweck: »Die richtige instrumentelle Bestimmung der Technik« zeigt uns noch lange ihr Wesen nicht.[2] Die Frage nach der Technik ist also eine Frage nach deren Sein, die folgendermassen lauten sollte: Was ist die Technik?
Wenn wir etwas von einem Objekt prädizieren, sagen wir etwas über dessen Eigenschaften, die nach Immanuel Kant auf dessen Qualität, Quantität, Relation und Modalität verweisen. Martin Heidegger greift lieber auf die aristotelische Kausalität zurück, um festzustellen, dass Materie, Form, Zweck und Erwirkung eines Gegenstandes Weisen dessen Verschuldens sind. Nach diesem Gedanken verdankt zum Beispiel eine Opferschale aus Silber dem Silber das, woraus sie besteht: Sie hätte ja auch aus Gold bestehen können. Sie ist zugleich an ihr Aussehen als Schale verschuldet: Sie hätte auch als Spange oder Ring aussehen können. Das τέλος verschuldet, was als Stoff und was als Aussehen die Schale mitverschuldet: Diese hätte auch für einen anderen Zweck bestimmt werden können. Der Silberschmied ist mitschuldig am Bereitliegen der fertigen Schale, die im Prinzip auch von einem anderen Mensch verfertigt werden könnte.[3] Diese Weisen des Verschuldens gehören zusammen: Sie sind weder moralische Verfehlungen noch Weisen des Wirkens. Sie bringen hingegen etwas ins Erscheinen, was Martin Heidegger auch als eine Art Veranlassen bzw. Hervorbringen, ποίησις, definiert: »Sie lassen das noch nicht Anwesende ins Anwesen ankommen«.[4] Das Hervorbringen bringt aus dem Verborgenen her ins Unverborgene vor: Martin Heidegger nennt diesen Verlauf ein Entbergen und versteht darunter, nicht nur handwerkliche bzw. künstlerische, sondern auch natürliche Vorgänge, die in den Bereich der φύσις einzuordnen sind.[5]
Fazit: Die Technik ist im Allgemeinen für Martin Heidegger eine Weise der Wahrheit, der άλήθεια, des Hervorbringes bzw. des Entbergens.
Das Entbergen ist ein Vorgang, der sowohl die alte als auch die moderne Technik kennzeichnet: Die letztere ist aber viel mehr auf ein Herausfordern angewiesen, das die Natur dazu zwingt, Energie zu liefern, um diese zu speichern. Die Energiegewinnung ist in der Tat nach Martin Heidegger ein Hauptkennzeichen der modernen Technik: Die Wassermühle war in der Antike noch keine Form der Energiegewinnung, sondern eine besondere Form des Naturverständnisses.[6] Dieses Herausfordern bleibt aber nach Martin Heidegger im Voraus darauf abgestellt, anderes zu fördern bis zur endgültigen Ausnutzung des Menschen und der Natur. Der Wasserkraftwerk ist in den Rheinstrom gestellt, der Rheinstrom ist etwas Bestelltes, der Rheinstrom ist in das Wasserkraftwerk verbaut. Das so bestellte hat seinen eigenen Stand: Martin Heidegger nennt ihn den Bestand.[7] Jene herausfordernde Tendenz, die den Mensch dahin führt, das Sichentbergende als Bestand zu bestellen, nennt Heidegger das Gestell.[8] Dies ist mit dem Wesen des Seins verknüpft: Wie könnten wir uns das Seiende anders als etwas »technisch Gestelltes« vorstellen?[9] Wenn das Geschick, das heisst jene Neigung, die den Menschen auf das Entbergen bringt, in der Weise des Gestells herrscht, besteht für den Menschen die Gefahr, nur noch als ausnutzbaren Bestand genommen zu werden.
So weit zur Begrifflichkeit Martin Heideggers in Bezug auf die Technik. Ich möchte nun seine Prämissen anhand eines konkreten Beispiels diskutieren. Dafür brauchen wir zwei Menschen, zwei Szenarien und einen Pflug.
Im Laufe seiner Wanderungen hat ein bestimmter H omo naturalis plötzlich realisiert, dass er durch fleissige Bodenrodung aus seinem Gesät mehr Getreide gewinnen kann. Erfreut von diesem Gedanken will er ein ihm nahe liegendes Feld beackern. Er geht in den Wald, fällt mit rudimentären Werkzeugen einen grossen Baum und baut daraus einen primitiven Pflug. Dieser Homo naturalis ist in diesem besonderen Fall ein Akteur: Er gestaltet seine Umgebung unmittelbar nach seinen Bedürfnissen. Er braucht keine Vermittlung und, wie der bekannte edle Wilde von Jean-Jacques Rousseau, ist er in seiner Seele glücklich, wobei er zum Teil hungern oder wegen unsichtbaren bzw. unangenehmen Bakterien sterben muss.
Im Gegensatz zum Homo naturalis fabriziert der Homo artificialis nicht seinen eigenen Pflug. Er lebt in einer komplexen Gesellschaft, wo jeder von der Arbeitsteilung profitiert und gleichzeitig voneinander abhängig ist. Er geht lieber auf den Markt, wo er sich einen kräftigen Pflug aus Eisen beschaffen kann. Sein Pflug ist nun aus Metall und kann den Boden in die Tiefe roden. Mit diesem kann der Homo artificialis sein Feld besser bewirtschaften und daraus mehr Getreide gewinnen. Das Metall des Pfluges kommt aber aus einer dem Homo artificialis unbekannten Region R1 der Welt. In dieser Region R1 wurde es von Bergmännern abgebaut und in die Region R2 für das Giessen ausgeführt. Das gegossene Metall wird danach in die Region R3 geliefert, wo es zerschneidet und bearbeitet werden muss, um davon verschiedene Teile für Werkzeuge zu gewinnen: Einige von diesen werden anschliessend in die Region R4 zugeschickt, um dort einen Pflug herzustellen. Der verfertigte Metallpflug wird letztendlich in die Region R5 transportiert, um dort auf dem Markt verkauft zu werden. Der Homo artificialis kann zwar jetzt einen glänzenden Pflug aus Metall auf dem Markt kaufen und sein Feld in die Tiefe roden: Aus einem Akteur ist er aber ein Subjekt geworden.[10] Er muss vielleicht nicht mehr hungern, leidet aber unter einer unerträglichen Passivität. Das ist weltweit der allgemeine Zustand des zivilisierten Menschen.
Fazit: Der Zustand, in dem der Homo naturalis lebt, ist von einer einheitlichen Kausalität kennzeichnet, wodurch Materie, Konzept, Herstellung und Zweck des Pfluges aus einer einzigen Region stammen. Der Zustand, in dem der Homo artificialis lebt, ist von einer gespaltenen Kausalität kennzeichnet, wodurch Materie, Konzept, Herstellung und Zweck des Pfluges aus verschiedenen Weltregionen stammen. Dieser Zustand macht vom Homo artificialis einen passiven Zuschauer seines eigenen Lebens, was auf Dauer für Unzufriedenheit, Langeweile und Unbehagen sorgt. Die erschienene Arbeitsteilung hat vielleicht zu einer von einem materiellen Standpunkt aus wohlhabenden bzw. opulenten Gesellschaft beigetragen, sie hat aber auch für viel Aufopferung, Entfremdung und Desorientierung unter den Menschen gesorgt, was in der Geschichte immer wieder zu krassen Formen sozialer Bewusstlosigkeit sprich politischem Totalitarismus gebracht hat. Dieser ungünstige soziale Zustand kann durch den Einsatz autonomer Intellektuellen überwindet werden, die gerade wegen ihres Mangels an Objektivität den sozialen Zusammenhalt wieder ins Leben rufen können.[11]
[...]
[1] Vgl. Martin Heidegger im Gespräch mit Richard Wisser, Antwort. Martin Heidegger im Gespräch, hg. Von
Günther Neske und Emil Kettering, Stuttgart, Neske Verlag, 1988: S. 25.
[2] Martin Heidegger, Die Frage nach der Technik, Vorträge und Aufsätze, Band 7, Frankfurt am Main,
Klostermann, 2000: S. 9.
[3] Martin Heidegger, a.a.O., S. 10.
[4] Martin Heidegger, a.a.O., S. 12.
[5] Ebd., S. 12.
[6] Diesbezüglich siehe Robert Mößigen, Technik und Wissenschaft bei Heidegger, Handeln und Technik – mit
und ohne Heidegger, hg. von Christoph Hubig, Andreas Luckner, Nadia Mazouz, Berlin, Bd. 7, LIT Verlag, 2007: S. 172.
[7] Ebd. S. 17.
[8] Ebd. S. 20.
[9] Mehr dazu in Hans-Martin Schönherr, Heideggers Technikphilosophie als Schwäche. Über einen auch
ökologischen Aspekt, Heidegger. Technik-Ethik-Politik, hg. Von Reinhard Margreiter, Karl Leidlmair,
Würzburg, Königsheusen und Neumann, 1991.
[10] Zur Geburt des Subjekts siehe Alain de Libera, Archéologie du sujet - Naissance du sujet, Paris, Vrin, 2007.
[11] Vgl. Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen
Industriegesellschaft, Berlin, Luchterhand, 1967: S.162.
- Quote paper
- Giacomo Francini (Author), 2009, Die Frage nach der Technik von Martin Heidegger und die technologische Rationalität nach Herbert Marcuse, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/143275
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