Die These Helmut Schelskys vom Abbau sozialer Ungleichheiten wird überprüft an Kriterien wie Macht, Einkommen und Bildung. Dabei zeigt sich, dass die Behauptung einer Tendenz zur Nivellierung sozialer Lagen lediglich Unterstützung findet im "subjektiven Faktor", also in einer aus der allgemeinen Anhebung des Lohnniveaus abgeleiteten Selbsteinschätzung der Bevölkerung. Diese individuelle Wahrnehmung eines wachsenden Lebensstandards vernachlässigt jedoch entscheidende, vertikale Differenzierungen. Die Verteilung wirtschaftlicher Macht, Einkommens-, Vermögensverteilung und die Verteilung von Bildungschancen zeigen eher wachsende soziale Ungleichheiten und widersprechen damit der These einer "nivellierten Mittelstandsgesellschaft".
Inhalt
1. Die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“
1.1 Die These von Helmut Schelsky
1.2 Kriterien zur Überprüfung der These
2. Soziale Nivellierung in der BRD?
2.1 Soziale Schichtung und Nivellierung
2.1.1 Verteilung wirtschaftlicher Macht
2.1.2 Einkommensund Vermögensverteilung
2.1.3 Verteilung von Berufschancen
2.1.4 Der „subjektive Faktor“
2.1.5 „Zwiebelförmige“ Schichtung
2.2 Zusammenfassende Bemerkungen
Literaturverzeichnis
1. Die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“
1.1 Die These von Helmut Schelsky
Der Begriff „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ ist erstmals 1953 von Helmut Schelsky in seiner Arbeit über die „Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart“ entwickelt worden. Als eines der Ergebnisse seiner Untersuchung zur deutschen Familie in der industriellen Gesellschaft erkennt Schelsky ein soziales Nivellment „mit den vorwiegend kleinbürgerlich-mittelständischen Verhaltensmustern und Leitbildern“ (Schelsky 1967, S. 349), das „die Klassenund Schichtenstruktur im prägnant-soziologischen Sinne“ (Schelsky 1967, S. 349) heute weitgehend aufhebt. Diese These der „Verbürgerlichung“ erläutert Schelsky detaillierter in seinem Aufsatz „Die Bedeutung des Schichtungsbegriffes für die Analyse der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft“ (1953), indem er schreibt:
„Der Nivellierung des realen wirtschaftlichen und politischen Status folgt weitgehend eine Vereinheitlichung der sozialen und kulturellen Verhaltensformen in einem Lebenszuschnitt, den man, gemessen an der alten Schichtenstufung, in der „unteren Mitte“ lokalisieren und daher als kleinbürgerlich-mittelständisch bezeichnen könnte. Dieser verhältnismäßig einheitliche Lebensstil der nivellierten Mittelstandsgesellschaft wird keineswegs mehr von der Substanz einer sozial irgendwie hierarchisch gegliederten oder geschichteten Gesellschaftsverfassung geprägt, sondern diese „mittelständische“ Lebensform erfüllt sich darin, einheitlich an den materiellen und geistigen Gütern des Zivilisationskomforts teilzunehmen.“ (Schelsky 1965a, S. 332)
Schelsky kennzeichnet seine nivellierte Mittelstandsgesellschaft vor allem durch eine allgemeine Chancengleichheit, eine sich ständig ausdehnende Sozialpolitik sowie durch die Einebnung früherer klassenbedingter Unterschiede in politischen Rechten und Bildungsmöglichkeiten (vgl. Schelsky 1965a, S. 332). Er diagnostiziert also eine „sozialstrukturelle Entwicklung, die durch den Abbau sozialer Ungleichheiten und noch bestehender Schichtgrenzen gekennzeichnet ist.“ (Brusten 1978, S. 532). Ursache dieser Entwicklung sei, so Schelsky, der „kollektive Aufstieg der Industriearbeiterschaft“ (Schelsky 1965a, S. 332), der begleitet wird von „breiten sozialen Abstiegsund Deklassierungsprozessen“ des ehemaligen Besitzund Bildungsbürgertums (vgl. Schelsky 1965a, S. 332).
Schelskys nivellierte Mittelstandsgesellschaft ist keine Stände-Gesellschaft; denn:
„Als Stand bezeichnet man in der Regel die Gesamtheit der Angehörigen einer Gesellschaftsgruppe, die einen durch (Geburts-)Herkunftszugehörigkeit, durch gesellschaftliche Funktion, durch spezifische Lebensführung und durch spezifische Rechte (Privilegien) und Pflichten bestimmten Rang in der Gesellschaft einnehmen.“ (Hartfiel 1981, S. 16).
In diesem Sinne ist eine Stände-Gesellschaft charakterisiert durch eine
„...hierarchische Gliederung der Gesellschaft in deutlich voneinander unterscheidbare Stände (nach Lebensgewohnheiten, Kleidung, Privilegien und Freiheitsrechten), die in Mitteleuropa auf der Basis religiöser Wertvorstellungen legitimiert wurden. Zugehörigkeit durch Geburt (...), dadurch war der Wechsel zwischen den Ständen schwierig (geringe vertikale Mobilität).“ (Schäfers 1976, S. 255)
Entsprechend dieser Definition macht die als nivellierte Mittelstandsgesellschaft begreifbare soziale Gruppe bestehend aus Handwerkern, kleinen Kaufleuten und Landwirten im Nachkriegsdeutschland nur noch rund 7 % der Bevölkerung aus (vgl. Claessens/Klönne/Tschoepe 1978, S. 308), und ihre Bedeutung für eine strukturelle Analyse der industriellen Gesellschaft ist gering. Bei der Differenzierung der industriellen Gesellschaft in soziale Einheiten ist heute der Begriff der „Leistungsgesellschaft“ entscheidend, der beinhaltet, daß „sich der soziale Status aller Gruppierungen und aller Mitglieder [der Gesellschaft, d. Verf.] ausschließlich nach erbrachten Leistungen für die Gesamtheit bestimmt.“ (Lammstedt 1978, S. 455). Man spricht heute in der herrschenden Lehre von „sozialen Schichten“ und definiert:
„Eine Schicht besteht aus einer Vielzahl von Individuen, die irgendein erkennbares gemeinsames Merkmal haben. Dieses Merkmal bestimmt den Rang dieser Schicht im Verhältnis zu anderen Schichten insofern, als solche Merkmale verschieden hohe soziale Wertschätzung erfahren. Jede Gesellschaft ist in mindestens zwei, meist mehrere Schichten gegliedert.“ (Reimann 1975, 54)
Dennoch betrachtet Schelsky in seiner These von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft nicht den Begriff der „sozialen Schicht“ als wesentliches Element, da er den „Schichtungsbegriff verhältnismäßig bedeutungslos und unergiebig für die soziologische Analyse [hält, d. Verf.], weil ... [dieser, d. Verf.] die wesentlichen dynamischen Gesetzlichkeiten dieser Gesellschaft gar nicht mehr erfaßt.“ (vgl. Schelsky 1965a, S. 331). Selbstverständlich behauptet Schelsky auch nicht, Merkmale einer Stände-Gesellschaft erkannt zu haben, z. B. eine spezifische Standesethik einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, in der die Gruppenmitglieder vom Bewußtsein erfüllt sind, etwa „einen sinnvollen Beitrag zum Wohle des Ganzen der Gemeinschaft“ (Hartfiel 1981, S. 18) zu erbringen. Daß er trotzdem den leicht mißverständlichen Begriff des „Mittelstandes“ verwendet, läßt sich erklären aus den auch von ihm erläuterten Schwierigkeiten, seine klassenlose Gesellschaft in Begriffen zu fassen (vgl. Schelsky 1967, S. 350). Die Schichtenlehre lehnt er deshalb auch nicht rundweg ab, sondern konstatiert:
„Selbstverständlich bleibt eine Analyse der sozialen Schichtung auch in der nivellierten Mittelstandsgesellschaft nach den alten Kriterien möglich, da deren Kennzeichen ja nicht ganz verwischt sind; es ist aber fraglich, ob damit noch Gruppierungen erfaßt werden, aus deren sozialen Status man wirklich spezifische, einheitliche und gemeinsame soziale Interessen und Bedürfnisse ableiten kann.“ (Schelsky 1965a, S. 333)
An anderer Stelle spricht Schelsky selbst von “einer sehr breiten, verhältnismäßig einheitlichen Gesellschaftsschicht.” (Schelsky 1965b, S. 339)
1.2 Kriterien zur Überprüfung der These
Schelskys nivellierte Mittelstandsgesellschaft zeigt Merkmale einer relativen Angleichung der wirtschaftlichen Positionen und eine weitgehende Vereinheitlichung des politischen Status der Individuen einer einheitlichen Gesellschaftsschicht in der unteren Mitte der alten Schichtenstufung (Schelsky 1965b, S. 339; vgl. Abschn. 1.1). Anders ausgedrückt behauptet Schelsky also einen weitgehenden Abbau der sozialen Ungleichheit breiter Bevölkerungsteile und deren Konzentration etwa in Höhe der Ebene der in der bisherigen hierarchischen Gesellschaftsstruktur als „untere Mittelschicht“ bezeichneten Gesellschaftsgruppe.
Dies ist zunächst ein gedankliches Modell, mit dem Schelsky die komplexe Realität erfaßbar macht, eine Abstraktion, ein analytisches Konstrukt. Um beurteilen zu können, inwieweit Schelskys These von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft empirisch haltbar ist, ist zunächst ein zuverlässiger Maßstab zu finden, an dem der Wahrheitsgehalt der These intersubjektiv nachvollziehbar überprüft werden kann. Dabei ist die Prämisse der intersubjektiven Überprüfbarkeit, also die Forderung nach Objektivität unverzichtbar; denn würde auf sie verzichtet, wäre ein beliebiges, nach subjektiv ausgewählten Kriterien gefälltes Urteil möglich, und Schelskys These könnte gleichzeitig als unzutreffend, teilweise unzutreffend und zutreffend gelten.
Allerdings ist eine Untersuchung ausschließlich auf der Basis objektiver Kriterien unzureichend, denn den Platz, den ein Individuum in der Schichtenhierarchie der Gesellschaft einnimmt, hängt auch von der sozialen Wertschätzung ab, die es erfährt (vgl. oben):
„Die objektive Soziallage läßt sich mit Hilfe der Begriffe des sozialen Status und des Sozialprestige beschreiben. Als sozialer Status ist die Rangstellung eines Individuums innerhalb einer Sozialstruktur zu verstehen, das Sozialprestige bezeichnet den in der Rangordnung objektiv begründeten Geltungsanspruch des Individuums. Die subjektive Soziallage eines Individuums wird ausgedrückt durch seine auf eine gesellschaftliche Rangordnung bezogene Mentalität.“ (Fürstenberg 1978, S. 140)
Demnach sind für eine Untersuchung der Gesellschaftsstruktur sowohl objektive wie subjektive Kriterien von Bedeutung.
Damit ist jedoch noch nicht geklärt, welche objektiven und subjektiven Kriterien im einzelnen für die Abbildung von Veränderungen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft herangezogen werden können. Es existieren nämlich keine allgemeingültigen, jede Gesellschaftsstruktur einwandfrei kennzeichnenden Indikatoren:
„Welche Kombinationen von Kriterien für die Zuteilung des Einzelnen zu einer Schicht maßgebend sind, hängt von der jeweiligen Gesellschaftsstruktur und den in ihr maß- geblichen Bewertungskategorien ab und muß im einzelnen untersucht werden.“ (Rüegg 1975, S. 195)
Ferner ist zu bedenken, daß durch gedankliche Zuordnung der Individuen zu einer Schicht diese erst entsteht, die „Schicht“ also rein theoretischer Art ist. Desweiteren bedingt und bestimmt Schichtenzugehörigkeit „in manchen Fällen Sprache, Religion, Freizeitverhalten, Beruf, Sexualverhalten, Konsumstil und sogar Begriff und Verständnis der Wirklichkeit selbst“ (McGee 1976, S. 208), so daß genaugenommen je nach Wahl geeigneter Indikatoren jede beliebige Schichtung der Gesellschaft konstruierbar ist. Dies wird auch aus folgender Feststellung deutlich:
„Soziale Indikatoren beziehen sich auf Bereiche gesellschaftspolitischer Bedeutsamkeit, und sie können dazu dienen, unsere Neugierde zu befriedigen, unser Verständnis zu verbessern oder unser Handeln anzuleiten ... Soziale Indikatoren sind eine Teilmenge der Daten und Konstrukte, die aktuell oder potentiell verfügbar sind; sie unterscheiden sich deshalb von anderen Statistiken nur durch ihre Relevanz und Brauchbarkeit für einen der obengenannten Zwecke.“ (Stone 1975, zit. n. Klanberg 1978, S. 70 f.)
Allgemein werden als soziale Schichten bestimmende Kriterien u.a. anerkannt: politisches Verhalten, geistiges und kulturelles Leben, Anspruchsniveau, politische Ideologie, Macht und Einfluß, Einkommens-, Konsum-, Vermögens-, Eigentumssituation, Berufsbezeichnung und Berufsstellung, Bildungsstand, Ausbildungsqualifikation und, als wertendes Element, eigene und fremde Prestigevorstellungen (soziales Ansehen) (vgl. Hartfiel 1981). Besonders hervorgehoben werden häufig
„Beruf bzw. erlangte Berufsposition, Einkommen und Schulbildung“ (z.B. Rüegg 1975, S. 206). Sämtliche genannten Kriterien könnten zur Überprüfung der These von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft herangezogen werden; denn Schelsky behauptet ja darin den Abbau sozialer Ungleichheiten (vgl. Abschn. 1.1). Und soziale Ungleichheiten sind die durch von uns angewendeten Wertund Beurteilungsmaßstäbe zustandegekommenen künstlichen Ungleichheiten, die in bestimmter, aber unterschiedlicher Weise zu Lebenschancen, Güterzuteilungen, Einflußmöglichkeiten oder Abhängigkeiten führen (vgl. Hartfiel 1981). Die folgenden Ausführungen sollen jedoch den Überlegungen von Bolte
/Kappe/Neidhardt folgend auf die „wichtigsten Dimensionen sozialer Schichtung“ begrenzt bleiben. Als solche werden benannt:
„1. Das Ausmaß an Handlungsfreiheit, einschließlich der Möglichkeit, über die eigene Umgebung und über Mitmenschen zu disponieren. Dieses Kriterium läßt sich kurz als die sozial begründete Macht eines Gesellschaftsmitglieds erfassen.
2. Der materielle Wohlstand. In unserer Gesellschaftsordnung läßt er sich durch das Einkommen bzw. das Vermögen eines Individuums hinreichend genau bestimmen.“ (Bolte/Kappe/Neidhardt 1967, S. 248)
3. Wissen und Bildung
4. Ansehen und Prestige
Demgemäß werden im Folgenden die thematisch zusammenhängenden und sich wechselseitig bedingenden Kriterien Herrschaft, Macht, Einkommen, Vermögen sowie Bildung und Beruf behandelt. Dabei steht das Prestige in unserer kapitalund konsumorientierten Leistungsgesellschaft mit der Einkommenslage, dem Machtund Bildungsbereich der Individuen in unlösbarer Verbindung (vgl. Hartfiel 1981). Auch die vertikale Mobilität, also „die Bewegung von Individuen ... zwischen Positionen oder Schichten, die subjektiv oder objektiv unterschiedlich bewertet werden“ (Schneider 1978, S. 512), wird Beachtung finden müssen; denn die vertikale Mobilität ist das Maß für die Durchlässigkeit zwischen Schichten und dient damit der Erfassung sozialer Aufund Abstiegsprozesse.
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- Arbeit zitieren
- Christian Meissner (Autor:in), 1984, Welche gesellschaftlichen Veränderungen im Nachkriegsdeutschland sprechen für, welche gegen die Annahme, die BRD sei eine "nivellierte Mittelstandsgesellschaft"?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14278
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