Einem modernen, rational denken Menschen dürfte die Praxis des Gottesurteils, wie sie im europäischen Mittelalter gelegentlich vollzogen wurde, befremdlich erscheinen. Man unterwirft sich ungern Zufällen, die das eigene Schicksal entscheiden sollen, sondern ist eher bestrebt, das eigene Glück in die eigenen Hände zu nehmen, nachdem man die Erfolgsaussichten basierend auf der Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten abgewägt hat.
Die Menschen des Mittelalters haben das etwas anders gesehen. Möglicherweise herrschte in einer Zeit, in der es für viele unerklärbare Vorgänge noch keine wissenschaftlichen Erklärungen gab, das Bedürfnis, hinter „Zufällen“ eine allwissende und allmächtige Macht zu sehen, die manipulierend eingreift und das Schicksal in seine vorherbestimmten Bahnen lenkt.
Generell gesehen dienen die Gottesurteile von ihrem Charakter her grundsätzlich erstmal der Wahrheitsfindung, soweit sind sich die Historiker, die sich mit den Quellen über die mittelal-terlichen Ordale beschäftigt haben, einig. Die Rechtstexte des Mittelalters, wie der Sachsenspiegel oder die Leges Salica, Burgundionum oder Thuringorum, sehen speziell geartete Rituale als Beweismittel oder zur Wahrheitsfindung vor, die heute unter dem Sammelbegriffen „Gottesurteil“ oder „Ordal“ gefasst werden. Im folgenden soll anhand von drei ausgewählten Fällen in mittelalterlichen historiografischen Quellen nachgeprüft werden, ob in diesen speziellen Fällen tatsächlich die Wahrheitsfindung im Vordergrund stand, oder ob das Ordal möglicherweise als politisches Machtmittel eingesetzt worden ist.
Der Umfang der Arbeit erfordert einige Einschränkungen. So handelt es sich bei den drei betrachteten Fällen um Ereignisse aus dem Frankenreich in der Zeit von 938 bis 1070.
Im einzelnen werden im zweiten Teil der Arbeit die folgenden Fälle betrachtet:
1. Ein im Mai 938 von Otto I angeordnetes Gottesurteil zwischen Eberhard von Fran-ken und Bruning von Sachsen, welches in Widukind von Corveys Sachsengeschichte beschrieben wird.
2. Das Gottesurteil zwischen Heinrich II und Hermann von Schwaben im Rahmen der Streitigkeiten um die Königswahl 1002, beschrieben in der Chronik des Thietmar von Merseburg.
3. Ein 1070 von König Heinrich IV angeordnetes Gottesurteil zwischen Otto von Nor-theim und Egino von Konradsburg, beschrieben in den Annalen des Abtes Lampert von Hersfeld.
Allen drei Ordalen ist gemein, dass es sich jeweils um Gottesurteile durch Zweikampf handelt.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Das Gottesurteil an sich
- Grundlagen
- Formen des Gottesurteils
- Schilderung dreier exemplarischer Fälle
- Das Gottesurteil beim Hoftag zu Steele, Mai 938
- Das Gottesurteil zwischen Heinrich II und Hermann von Schwaben 1002
- Das Verfahren gegen Otto von Northeim 1070
- Zusammenfassung
- Literatur
- Quellen
- Sekundärliteratur
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Praxis des Gottesurteils im frühen Mittelalter. Sie untersucht, ob die Gottesurteile, wie sie in mittelalterlichen Rechtstexten beschrieben werden, tatsächlich der Wahrheitsfindung dienten, oder ob sie als Mittel der politischen Machtausübung verwendet wurden.
- Untersuchung des Gottesurteils als Methode der Wahrheitsfindung im frühen Mittelalter
- Analyse der verschiedenen Formen und Durchführungsmethoden des Gottesurteils
- Bewertung der politischen Dimension des Gottesurteils anhand dreier Fallbeispiele
- Einordnung des Gottesurteils in die mittelalterliche Rechtspraxis
- Vergleich des Gottesurteils mit anderen Praktiken der Wahrheitsfindung in der Geschichte
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung liefert einen Überblick über das Thema und führt in die Thematik des Gottesurteils ein. Sie erläutert die Denkweise der mittelalterlichen Menschen und stellt den Gegensatz zwischen dem rationalen Menschen der Gegenwart und der religiösen Denkweise des Mittelalters heraus.
Das zweite Kapitel befasst sich mit dem Gottesurteil an sich. Es werden die verschiedenen Formen des Gottesurteils und seine Bedeutung für die mittelalterliche Rechtsordnung dargestellt. Die Ausführungen beleuchten insbesondere die Grundlagen und die religiösen Hintergründe des Gottesurteils.
Im dritten Kapitel werden drei konkrete Fallbeispiele aus der Geschichte des Frankenreiches im frühen Mittelalter analysiert. Anhand dieser Fälle wird untersucht, ob und in welcher Weise das Gottesurteil als Mittel der politischen Machtausübung eingesetzt wurde.
Schlüsselwörter
Gottesurteil, Ordal, Rechtspraxis, Wahrheitsfindung, politisches Machtmittel, mittelalterliche Geschichte, Frankenreich, Zweikampf, Thietmar von Merseburg, Widukind von Corvey, Lampert von Hersfeld.
- Quote paper
- Marc Drozella (Author), 2007, Das Gottesurteil im Mittelalter und seine politische Einsatzmöglichkeit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/142349