"Os Índios me refizeram. Lá eu aprendi a ser um ser humano digno."
antwortete der brasilianische Schriftsteller, Anthropologe und Kulturpolitiker Darcy Ribeiro in einem Interview vom 2. Februar 1997, angesprochen auf die Zeit seines Lebens, die er mit Indianerstämmen im Inneren Brasiliens verbracht hatte.
Nach einem Studium der Soziologie in São Paulo arbeitete der 1922 geborene Ribeiro ab 1947 beim brasilianischen Indianerschutzdienst (SPI= Serviço pela proteção dos Indios) und führte in den Jahren 1947 bis 1955 zahlreiche Feldstudien zur Situation der Indianer Brasiliens und zur Lebensweise einzelner Stämme durch. Diese Zeit und der große Respekt, den Ribeiro für die indianische Kultur gewann, sollten ihn nie mehr loslassen. Sie sollten sein gesamtes Leben und seine Denkweise prägen und letztlich auch den wesentlichen Grundstein seiner wissenschaftlichen und literarischen Werke bilden.
Im Gegensatz zu vielen Wissenschaftlerkollegen beschränkte Ribeiro seine Beschäftigung mit der indianischen Kultur nicht auf das bloße Sammeln von Fakten zu rein wissenschaftlichen Zwecken. Angesichts der bedrohlichen Situation, in der sich die letzten verbliebenen Stämme Brasiliens befanden und mehr denn je heute befinden, begann Ribeiro, sich politisch für die Rechte der Indianer einzusetzen. In seinen theoretischen Arbeiten beschäftigte er sich insbesondere mit den Auswirkungen des interethnischen Kontakts zwischen Indianern und Weißen auf die indianische Kultur und entwickelte Strategien, diesen unvermeidlichen Kontakt auf für die Indianer möglichst schonende Weise zu gestalten. Sein Hauptanliegen war es, das physische und kulturelle Überleben der Indianer zu sichern und ihnen Möglichkeiten zu eröffnen, innerhalb des Nationalstaates zu leben, ohne ihre Identität und Lebensweise preiszugeben. Ein schier unlösbares Vorhaben angesichts der politischen Situation Brasiliens, die geprägt war und ist von Ausbeutung und Mißachtung der indianischen Kultur und des indianischen Lebensraums.
Inhaltsübersicht
1. Einleitung
2. Die Indianer
2.1 Anacã – Die alte Ordnung
2.2 Avá/Isaías – Zwischen den Welten
2.3 Juca – Vom Unterdrückten zum Unterdrücker
2.4 Jaguar – Der Hoffnungsträger
3. Die Weißen
3.1 Der Major – Gesandter der Regierung
3.2 Die Missionare – Im Namen der Bibel
3.3 Alma – Auf der Suche nach dem wahren Leben
4.Fazit
Bibliographie
1. Einleitung
"Os Índios me refizeram. Lá eu aprendi a ser um ser humano digno."[1]
antwortete der brasilianische Schriftsteller, Anthropologe und Kulturpolitiker Darcy Ribeiro in einem Interview vom 2. Februar 1997, angesprochen auf die Zeit seines Lebens, die er mit Indianerstämmen im Inneren Brasiliens verbracht hatte.
Nach einem Studium der Soziologie in São Paulo arbeitete der 1922 geborene Ribeiro ab 1947 beim brasilianischen Indianerschutzdienst (SPI= Serviço pela proteção dos Indios) und führte in den Jahren 1947 bis 1955 zahlreiche Feldstudien zur Situation der Indianer Brasiliens und zur Lebensweise einzelner Stämme durch. Diese Zeit und der große Respekt, den Ribeiro für die indianische Kultur gewann, sollten ihn nie mehr loslassen. Sie sollten sein gesamtes Leben und seine Denkweise prägen und letztlich auch den wesentlichen Grundstein seiner wissenschaftlichen und literarischen Werke bilden.
Im Gegensatz zu vielen Wissenschaftlerkollegen beschränkte Ribeiro seine Beschäftigung mit der indianischen Kultur nicht auf das bloße Sammeln von Fakten zu rein wissenschaftlichen Zwecken. Angesichts der bedrohlichen Situation, in der sich die letzten verbliebenen Stämme Brasiliens befanden und mehr denn je heute befinden, begann Ribeiro, sich politisch für die Rechte der Indianer einzusetzen. In seinen theoretischen Arbeiten beschäftigte er sich insbesondere mit den Auswirkungen des interethnischen Kontakts zwischen Indianern und Weißen auf die indianische Kultur und entwickelte Strategien, diesen unvermeidlichen Kontakt auf für die Indianer möglichst schonende Weise zu gestalten. Sein Hauptanliegen war es, das physische und kulturelle Überleben der Indianer zu sichern und ihnen Möglichkeiten zu eröffnen, innerhalb des Nationalstaates zu leben, ohne ihre Identität und Lebensweise preiszugeben. Ein schier unlösbares Vorhaben angesichts der politischen Situation Brasiliens, die geprägt war und ist von Ausbeutung und Mißachtung der indianischen Kultur und des indianischen Lebensraums.
Ribeiros Roman 'Maíra' wurde 1976 veröffentlicht, kurz nach Darcy Ribeiros Rückkehr aus dem Exil, während dessen er sich lange Jahre in verschiedenen Ländern Lateinamerikas aufgehalten hatte.
In 'Maíra' nehmen Ribeiros Thesen über die Integration der Indianer in die Zivilisation, seine Beobachtungen der indianischen Kultur und seine Anklage der Ausbeutung und des allmählichen, fast unvermeidlichen Prozesses der Zerstörung des indianischen Lebensraumes literarische Form an. Die Charaktere des Romans stehen exemplarisch für unterschiedliche Interessen-Gruppen, die vor allem die Situation in den von Indianern bewohnten Gebieten im Norden Brasiliens prägen und am Dilemma der Eingeborenenvölker maßgeblich beteiligt sind. Mit literarischem Gespür, einem fundierten Wissen über die Lebensweise der Indianer und politischem Engagement zeichnet Ribeiro in 'Maíra' ein scharfsichtiges Panorama der Indianerproblematik. "Darcy Ribeiro nutzt die kreative Kraft der Literatur, um seine Einsichten in die Problematik der brasilianischen Gesellschaft komplex zu fiktionalisieren."[2]
Angesichts der starken politischen Beweggründe des Autors würde eine Analyse des Werks nach bloßen literarischen Gesichtspunkten der Essenz des Romans nicht gerecht werden. Ich habe mich deshalb dazu entschlossen, 'Maíra' vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Thesen Ribeiros zu sehen. In der folgenden Arbeit möchte ich mich mit den im Roman angelegten Charakteren beschäftigen und sie unter dem Gesichtspunkt ihrer Exemplarität für das Dilemma Brasiliens analysieren.
Betrachtet man die Kapitelüberschriften genauer, so stellt man fest, daß ihre Titel und Inhalte einer gewissen Symmetrie folgen, die sich grob an drei Personenkreisen orientiert: dem Indianerstamm, den Weißen als Repräsentanten der Zivilisation und den beiden Existenzen zwischen den Welten Avá/Isaías und Alma bzw. evtl. Juca.
Angesichts der Vielzahl von Charakteren und Handlungs- bzw. Erzählebenen des Romans, die auch mythologische Figuren der Mairum als Akteure mit einschließen, beschränke ich mich in folgender Untersuchung lediglich auf die, wie ich meine, wesentlichen Mitglieder der beiden entgegengesetzten Lager der Indianer und Weißen.
2. Die Indianer
Der Stamm der Mairum ist ein fiktiver Stamm. Ihre vom Aussterben bedrohte Gesellschaft gilt als Paradigma aller Indianerstämme Brasiliens. In ihrer Struktur, ihren Riten und ihrer Mythologie vereinen sie Aspekte unterschiedlichster Stämme, die Darcy Ribeiro bei Feldforschungen kennenlernte. So ist zum Beispiel die beschriebene sozial-religiöse Ordnung der Gesellschaft der Borôro-Indianer entlehnt, deren Stammesgebiet im südlichen Teil der Region Mato Grosso liegt. Bei den mythologischen Erzählungen des Romans ließ sich Ribeiro größtenteils von der Mythologie der Tupí-Guaraní-Indianer inspirieren. In der Beschreibung von Riten und Elementen des Alltagslebens bildet er ein Konglomerat aus der Lebenswelt unterschiedlichster Eingeborenen-Stämme.
Die herausragenden Charaktere auf Seiten der Indianer repräsentieren unterschiedliche Stufen der Entfremdung von der alten, traditionellen Ordnung des Stammes. Alle stehen bereits mehr oder weniger im Kontakt mit der Zivilisation, der Grad ihrer 'Infizierung' durch die christlich-kapitalistische Welt mit ihrer spezifischen Denk- und Lebensweise ist jedoch sehr unterschiedlich.
2.1 Anacã – die alte Ordnung
Der alte Häuptling, der Tuxaua, Anacã steht für die traditionelle Stammesordnung, die von Generation zu Generation der Mairum weitergegeben wurde. Er steht für die Werte, die Riten der Indianer und ihr Leben im Einklang mit der Natur. Er steht für die Weisheit des Alters und der Erfahrung eines langen, erfüllten Lebens. Von ihm wird gesagt, er habe die verstreut am Ufer des Iparanã lebenden Stämme zusammengeführt, verfeindete Stämme miteinander versöhnt und alle in einer größeren Gemeinschaft vereinigt, um sich gegen den Eingriff der zivilisierten Welt zu verbünden.
Bezeichnender Weise steht Anacãs Entschluß zu sterben am Anfang des Romans. Der alte Häuptling weiß noch Bescheid über die Rhythmen der Natur und spürt, wann seine Stunde gekommen ist. In seiner Erklärung an die Mitglieder seines Stammes schwingen die Worte der alttestamentarischen Weisheitssprüche mit: "Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: eine Zeit zum Gebären / und eine Zeit zum Sterben, / [...] eine Zeit zum Weinen, / und eine Zeit zum Lachen, / eine Zeit für die Klage / und eine Zeit für den Tanz..."[3] Anacã faßt seine Weisheit in folgende Worte: "Estou cansado, vocês sabem. Já dancei muito Coraci-laci. Já cantei muito maré-maré. Já comi muito pacu. Já bebi muito cauim. Fodi bastante. Já ri demais. Estou velho. Chegou minha hora, vou acabar."[4] Anacãs plötzliches Ableben, das er am Tag vorher voraussagt, bleibt ein Geheimnis und doch fügt sich sein Tod in die natürliche Ordnung der Dinge, in den Kreislauf des Lebens. Ähnlich der christlichen Vorstellung vom Weizenkorn, das sterben muß, um Frucht zu bringen, trägt der Tod Anacãs die doppelte Bedeutung von Tod und Erneuerung des Lebens:
"Só no fim do funeral se libertará como espírito para integrar-se no mundo dos mortos. ele ainda é o tuxaua do povo Mairum. [...] Através dele um homem vai acabando ao mesmo tempo que a vida vai se renovando. Anacã morre para que os mairuns renascam. Simultaneamente se vão dissolvendo na morte suas carnes regadas cada dia e renascendo seu povo nos ritos que reacendem em cada um o gosto de comer, a alegria de cantar, o prazer de dançar, a coragem de ousar, o gozo de foder."[5]
Detailliert beschreibt Ribeiro das Begräbnisritual, das das Volk der Mairum für den alten Häuptling vollzieht. Die Zeremonien, in denen der Tuxaua verabschiedet wird und sein Stamm im Tanz neue Kraft schöpft, um die Trauer um den Führer zu überwinden und weiterzuleben, ziehen sich durch den gesamten ersten Teil des Romans mit der Überschrift 'Antiphone'. Ihrem Fortgang ist jedes dritte Kapitel der 'Antiphone' (= Wechselgesang in der kath. Liturgie) gewidmet. Ribeiro erzählt von den Ritualen in der ersten Person Plural, als berichte einer der Beteiligten über den eigenen Stamm. So erzeugt er den Eindruck von Unmittelbarkeit und vermeidet es, aus der Perspektive eines außenstehenden Beobachters, mit dem wissenschaftlichen Blick des Anthropologen das Stammesleben zu beschreiben. Zumindest vermittelt er die Illusion es unverfälschten Blicks: "Wenn jemand uns von außen sieht, wie soll er uns verstehen? Nur wir hier drinnen, wir können es. Ganz genau, mehr oder weniger. Die Mairum sind ein geheimnisvolles Volk."[6]
Der Gestank des verwesenden Anacã schwebt über dem gesamten ersten Teil des Romans. Jedes Kapitel, das die Rituale des Stammes zum Inhalt hat, beginnt mit der Erwähnung des Geruchs, der vom Grab des alten Häuptlings ausgeht. Von den Männern mit Erde bedeckt und von den Frauen mit Wasser übergossen zersetzt sich der Körper des Häuptlings innerhalb weniger Tage. Sein allmähliches Sich-Auflösen wird mit Tänzen begleitet, in denen das gesamte Dorf seine Stammesidentität manifestiert. Ribeiro nutzt die Festlichkeiten der Bestattung, um einen Eindruck von den Traditionen und der gesellschaftlichen Struktur und hierarchischen Organisation der Mairum zu geben und vermittelt gleichzeitig ein Gefühl für den Rhythmus und die Daseinsfreude, die das Leben der Indianer im Kreislauf von Tod und Erneuerung prägen.
[...]
[1] D'Avila, Roberto, Entrevista com Darcy Ribeiro, in: Elizabeth Rondelli (Hrsg.), Comunicação & política (Rio de Janeiro: Mai-August 1997), vol IV, no.2.
[2] Wöhlbier, Katrin, Aneignung von Wirklichkeit in Maíra von Darcy Ribeiro, in: Luciano Caetano da Rosa, Axel Schönberger (Hrsg.), Lusorama (Frankfurt a. M.: Oktober 1994), Nr. 25, S. 26.
[3] Das Alte Testament, Buch Kohelet, 3, 1-8.
[4] Maíra, S. 24f.
[5] Maíra, S. 97.
[6] Maíra, S. 45d.
- Quote paper
- Ulrike Decker (Author), 2000, Darcy Ribeiro: Maira, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14202
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